Kalte Milch - Jutta Mehler - E-Book

Kalte Milch E-Book

Jutta Mehler

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Beschreibung

Fanni Rot schnallt die Skier an - eiskalte Spannung im Schatten des Großen Arber. Es hätte ein entspanntes Familientreffen im Bayerischen Wald werden sollen, mit Skifahren, Spaziergängen und gemeinsamem Abendessen. Eine Leiche war nicht vorgesehen. Und ein Anschlag auf Fannis Enkelin Minna schon gar nicht. Minna überlebt schwer verletzt, und das bringt den Täter in Zugzwang. Er muss sie ausschalten, bevor sie seine Identität verraten kann. Für Fanni und Sprudel beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit ....

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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Die Schauplätze im Arber-Gebiet sind– soweit es die Krimihandlung erlaubte– wirklichkeitsgetreu und detailgenau beschrieben. Nur wenige Orte, wie beispielsweise der Schuppen am Arber Schutzhaus und das eine oder andere Nebenkämmerchen, aber auch das »Wohlfühl-Hotel Picklerhof«, sind fiktiv.

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©2020 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Enno Kapitza/Lookphotos Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-549-7 Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

Keine Schneeflocke in der Lawine

wird sich je verantwortlich fühlen.

1

Fanni rammte ihre Skier in die Halterung an der hydraulisch betriebenen Gondeltür, die sich soeben öffnete, und warf einen missmutigen Blick auf die digitale Zeitanzeige an der Talstation der Arber-Gondelbahn.

Kurz nach zwei. Sie unterdrückte ein Stöhnen.

Noch gut eineinhalb Stunden auf und ab unter dieser trüben Dunstglocke. Milchige Schwaden waberten geisterhaft um sie herum, weil dichter weißer Nebel über den Skipisten am Großen Arber hing wie mit Feuchtigkeit vollgesogene Watte. Noch gut eineinhalb Stunden auf und ab in diesem breiigen Schnee (aufgeweicht wie eine Scheibe Toastbrot in einer Schüssel Milch), der unter den Skiern verdrossen schmatzte.

Während der vergangenen Woche hatte die Märzsonne jeden Tag von einem knallblauen Himmel gestochen. Bis Donnerstag. Da waren auf einmal dunkle Wolken aufgezogen und hatten gehalten, was sie zu versprechen schienen. Kräftiger Regen hatte eingesetzt und über Nacht kompakten Nebel, nassen Schnee und eine seltsame Lautlosigkeit entstehen lassen. Wer vorgehabt hatte, am Wochenende– womöglich ein letztes Mal in dieser Saison– am Großen Arber Ski zu fahren, sah sich genötigt, ernsthaft darüber nachzudenken, ob es nicht besser sei, die Sache abzublasen.

Die meisten Wintersportler hatten offenbar recht gut einschätzen können, was sie erwartete, und waren klugerweise zu Hause geblieben.

So kam es, dass sich an diesem verhangenen Samstag nur wenige Skifahrer auf den Weg ins Liftgebiet gemacht hatten, und selbst diese wenigen hatten mittlerweile fast alle aufgegeben. Die Mehrzahl war wieder in ihre Autos gestiegen und hatte sich davongemacht. Ein paar hatten sich in die »Skihütten« verzogen, ins Schutzhaus, in die Edelweißhütte oder den Arber Stadl.

Selbstverständlich hatte auch Fanni eine Wahl gehabt und hätte sich gegen Skisport bei dichtem Nebel und Nassschnee entscheiden können. Die Alternative wäre allerdings ein Nachmittag im Kreis der kleinen Gesellschaft im Arber Stadl gewesen, die Fannis Exmann, Hans Rot, dort versammelt hatte. Jeder, der Fanni halbwegs kannte, musste im Voraus wissen, was sie wählen würde.

Fannis rechter Skischuh schob sich durch den etwa dreißig Zentimeter breiten Spalt, den die automatisch zurückgleitenden Türflügel der Gondel inzwischen freigegeben hatten. Ihr linker Fuß befand sich noch auf dem Belag aus Gumminoppen, der den Betonboden der Station bedeckte und den starren Sohlen der Skischuhe etwas Halt gab. In Skigebieten passierten heutzutage mehr als genug Unfälle, weshalb vor allem an den Liftstationen für größtmögliche Sicherheit gesorgt wurde.

Die Türflügel der langsam weiterlaufenden Gondel waren nun bis zum Anschlag offen und rasteten mit einem Knacken in irgendein Gestänge ein. Sie würden für etwa drei Minuten in dieser Position bleiben, bis der Schließmechanismus ausgelöst werden und sie langsam wieder zuschieben würde.

Fanni beugte sich ein wenig nach vorn und schob den Oberkörper durch die Türöffnung. Dabei fiel ihr Blick auf einen Hammer. Ein Hammer am Fußboden einer Gondel erschien ihr zwar ungewöhnlich, aber nicht wirklich erstaunlich. Vermutlich hatte ein Angestellter der Betriebsgesellschaft einen Defekt beheben müssen und nach getaner Arbeit den Hammer vergessen.

Fanni zog den linken Fuß nach und wollte sich gerade aufrichten, da übermittelten ihre Sinne zwei Wahrnehmungen, die von ihrem Gehirn mit einem derart alarmierenden Ergebnis ausgewertet wurden, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte.

Zum einen verzeichnete ihr Riechorgan einen unangenehm metallischen Geruch. Zum anderen registrierte ihr Sehorgan, dass der Hammer mit rötlicher Farbe verschmiert war. Beides zusammengenommen ergab das Resultat: Auf dem Hammer war Blut.

Fanni entspannte sich kurz, als ihr ein Gedanke zuflüsterte, jener Angestellte müsse sich bei seiner Arbeit eine Verletzung zugefügt und geblutet haben. Sie versteinerte jedoch wieder, als in ihrem Kopf die Frage auftauchte, wo der Mann abgeblieben war.

Ihr Blick schoss durch den Innenraum der Gondel, als hätte sich der Verletzte hier drin irgendwo verkriechen können, verbuchte aber nur ein fehlendes Fenster und blieb schließlich auf der Sitzbank haften, wo ein Skihelm und ein Handschuh lagen. Quer über die Vorderseite des Helms verlief eine rötliche Spur. Darunter war ein Aufkleber sichtbar, der Garfield auf Skiern zeigte. Neben Garfields linkem Skistock befanden sich die Initialen R.R.

Fanni kannte den Helm, den Aufkleber und die Initialen. R.R. stand für Rainer Renker.

»Schau, Fanni.« In Sprudels Stimme klang ein Lachen mit. »Das ist die Kuschelgondel. Den ganzen Tag frag ich mich schon, ob wir sie vielleicht mal erwischen. Endlich ist es so weit. Rein mit dir, mein Schatz.«

Fannis Blick riss sich von Helm und Hammer los. Als hätte sie damit jeden Halt verloren, taumelte sie rückwärts. Sprudels Arme fingen sie auf.

»Du wirst doch nicht etwa kneifen?« Sprudel versuchte, sie in die Gondel hineinzuschieben. Als sie sich heftig dagegen zu wehren begann, ließ er sie erschrocken los. »Willst du tatsächlich nicht einsteigen?«

Die Gondel glitt an ihnen vorbei und schwenkte in die Kurve. Normalerweise stand dort noch ein ganzer Pulk Leute, lauerte auf frei gebliebene Plätze und drängte hinein, bevor die Türen sich wieder zu schließen begannen. Aber heute war ja nichts so wie sonst. Den ganzen Tag über hatte sich an den Liften nicht der kleinste Stau gebildet, und mittlerweile waren Fanni und Sprudel die Einzigen, die noch bergwärts fahren wollten.

Die Kuschelgondel hatte soeben den Scheitelpunkt der Kurve erreicht. In wenigen Augenblicken würde der Schließvorgang einsetzen.

»Stimmt was nicht?« Ein Mann vom Liftpersonal, erkennbar an der grauen Jacke mit dem Logo der Bergbahn, war aufmerksam geworden und trat heran.

Fanni deutete in stummer Anklage auf die sich im Zeitlupentempo von ihr entfernende Gondel.

Der Mann warf ihr einen verständnislosen Blick zu, wollte sich schon wieder abwenden, überlegte es sich jedoch anders, folgte der Gondel und stieg hinein.

»Was…?«, begann Sprudel an Fanni gewandt, unterbrach sich aber, als plötzlich sämtliche Gondeln stoppten. Der Mann musste jemandem in der Schaltzentrale ein entsprechendes Signal gegeben haben.

Die Kuschelgondel verharrte in der Kurve. Die Gondel vor ihr blieb beim Verlassen der Station leicht schwankend einen halben Meter über dem Boden in der Luft hängen. Eine ankommende, die soeben unter das Dach der Halle gleiten wollte, hielt mit einem Ruck an; die Gondeln, die bergwärts oder talwärts auf dem Weg waren, schaukelten an Ort und Stelle in einer leichten Seitwärtsbewegung.

»Habe ich nicht gleich gesagt, wir sollten uns aus diesem Familientreffen heraushalten?« Fanni hatte Sprudels Handgelenk ergriffen und drückte so fest zu, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Fanni, bitte.« Sprudel legte seine freie Hand auf die ihre und strich mit dem Daumen besänftigend darüber. »Erklär mir, was das jetzt soll.«

»Als die Einladung kam, habe ich sofort gesagt: ›Wenn Hans das machen will, gut und schön, aber ohne uns.‹ Erinnerst du dich? Wir hatten sogar einen Streit deswegen.«

Sprudels Daumen stockte in der Bewegung. »Natürlich erinnere ich mich. Aber–«

»Und jetzt haben wir einen Toten.«

Sprudels Kopf ruckte herum. »In der Gondel?«

Fanni verneinte. »Draußen auf der Piste. Er muss hinausgestoßen worden sein.«

»Fanni…« Sprudel rang sichtlich nach Worten. »Wie kommst du bloß darauf, irgendjemand könnte aus der Gondel gestoßen worden sein?«

»Nicht irgendjemand. Rainer. Sein Skihelm liegt auf der Sitzbank. Blutverschmiert. Auf dem Boden ein Hammer. Ebenfalls blutverschmiert. Das Heckfenster ist weg.«

Fanni konnte zusehen, wie Sprudels Hirn versuchte, die Mitteilung zu verarbeiten.

Offensichtlich war er noch lange nicht damit fertig, als der Mann, der die Kuschelgondel inspiziert hatte, wieder zu ihnen trat. »Kommen Sie bitte mit.«

Fanni nickte und folgte ihm. Ihre Finger hielten noch immer Sprudels Handgelenk umklammert.

Als sie an der Kuschelgondel vorbeigingen, deutete der Mann auf die Skier in der Halterung. »Ihre?«

Fanni nickte erneut.

»Lassen Sie sie stecken. Gescheiter, wenn alles so bleibt, wie es ist. Der Gondelbetrieb muss vermutlich eingestellt werden.« Leise zu sich selbst hörte Fanni ihn noch sagen: »Kein Problem, ist ja sowieso nichts mehr los.«

»Sie müssen nach ihm suchen«, verlangte Fanni. »In der Liftschneise.«

Der Mann nickte geistesabwesend, hatte ihr womöglich gar nicht zugehört.

Er führte sie und Sprudel ins Betriebsgebäude der Talstation, in dem sich, von außen durch eine konkave Glasscheibe gut erkennbar, ein Überwachungsraum und eine Schaltzentrale befanden. Daneben gab es einen schmalen Flur, durch den der Mann sie zu einem kleinen Kämmerchen brachte, das mit Tisch, Wandregal und zwei Stühlen ausgestattet war, auf die er einladend deutete. »Ich bin übrigens der Patrick, und ich glaube, Sie müssen hier warten, bis…« Er ließ den Rest des Satzes offen, war sich anscheinend nicht schlüssig, worauf Fanni und Sprudel warten mussten und ob es überhaupt richtig gewesen war, sie hierherzubringen.

»Wie soll denn Rainer aus der Gondel gestürzt sein?«, fragte Sprudel, noch bevor er Platz genommen hatte. »Diese hydraulischen Türen lassen sich von Hand ja gar nicht öffnen.«

Patrick hatte den Raum gerade verlassen wollen, stutzte nun aber und drehte sich um. »Wie kommen Sie darauf, dass jemand aus der Gondel gestürzt ist, und woher wollen Sie wissen, wer?«

»Ich habe den Helm erkannt«, beeilte sich Fanni zu erklären. »Haben Sie den Garfield-Aufkleber gesehen und die Initialen daneben? R.R. Kein Zweifel, dass Rainer Renker in der Gondel saß.«

»Rainer Renker«, wiederholte Patrick und horchte dem Klang nach, als erwarte er ein Echo.

Fanni rechnete mit einer Frage wie: Und wer ist das?

Aber Patrick sagte stattdessen gedankenverloren: »Auf dem Helm ist Blut.«

»Und auf dem Boden liegt ein blutverschmierter Hammer.« Fanni wurde ungeduldig. »Wollen Sie nicht die Polizei rufen?«

»Ich schätze, die Kollegen kümmern sich gerade darum.« Patrick wirkte nun wieder konzentriert. »Es sieht tatsächlich danach aus, als ob in der Gondel ein Kampf stattgefunden hätte.«

»Bei dem die Kämpfenden aus dem Fenster gefallen sind?«, fragte Sprudel ungläubig.

»Bei dem einer hinausgestoßen wurde«, entgegnete Patrick.

»Und wo ist der andere hin?«, fragte Sprudel. »In der Gondel war ja keiner mehr.«

»Rausgesprungen«, sagte Patrick.

Sprudel war deutlich anzusehen, wie wenig ihn das überzeugte.

Er hat ja recht, dachte Fanni. Die ganze Geschichte wirkt abstrus.

Aber es gab Fakten: einen blutverschmierten Skihelm und einen blutigen Hammer in einer leeren Gondel mit fehlender Heckscheibe. Die Auswahl der Schlüsse, die sich daraus ziehen ließen, schien ihr ziemlich begrenzt.

Patrick rückte die beiden Stühle vor dem kleinen Tisch, auf dem eine Thermoskanne, Teebecher und ein Teller mit Keksen standen, anders zurecht. »Setzen Sie sich doch bitte. Sie werden wohl hier warten müssen, bis die Polizei da ist. Ihre Aussagen sind sicher wichtig, vor allem weil Sie denjenigen kennen, dem der Helm gehört.« Er machte einen Schritt auf die Tür zu, dann drehte er sich noch einmal zu ihnen um. »Ich hoffe, Sie müssen nicht allzu lang hier ausharren.« Damit ließ er sie allein.

Mit einem Seufzer nahm Fanni Platz. Sie und Sprudel steckten also wieder einmal mitten in einem Kriminalfall. Wie immer ohne ihr Zutun und wie schon so oft ohne die kleinste Chance, sich herauszuhalten. Mittlerweile war es ohnehin zu spät für einen Rückzieher. Selbst wenn sie ihr Wissen darüber, wem der blutverschmierte Helm gehörte, für sich behalten hätte, wären sie in die Sache verwickelt worden. Ihre im weitesten Sinn verwandtschaftliche Beziehung zu Rainer Renker wäre früher oder später zur Sprache gekommen, und was dann? Dann hätte sie angesichts der Nachricht, Rainer sei nach Lage der Dinge bei einem Kampf in der Kuschelgondel verletzt und dann hinausgestoßen worden, so tun müssen, als würde sie aus allen Wolken fallen.

Schauspielerei war aber noch nie Fannis Stärke gewesen.

»Wenn wir Hans eine Absage erteilt hätten, säßen wir jetzt nicht hier«, sagte Sprudel zerknirscht, womit er auf ihre Äußerung »Habe ich nicht gleich gesagt, wir sollten uns aus diesem Familientreffen heraushalten?« zurückkam.

Fanni sah ihn finster an, was ihr nicht unbedingt leichtfiel, denn Sprudel hatte keinen finsteren Blick verdient. Er war gutherzig und ehrenhaft, vernünftig und klug, und sie liebte ihn sehr. Aber er hatte ihr dieses Familientreffen eingebrockt, und das kreidete sie ihm an, obwohl sie einsah, wie ungerecht es war.

»Stimmt. Eines ist nämlich sicher: Den blutigen Helm und den blutigen Hammer hätte jemand anders gefunden.«

Daraufhin wirkte Sprudel so schuldbewusst, dass sie ihre Worte am liebsten zurückgenommen hätte.

Andererseits zeigte die Entwicklung der Dinge, wie recht sie gehabt hatte, als sie sich strikt dagegen ausgesprochen hatte, der Aufforderung ihres Exmannes nachzukommen. Aber Sprudel hatte ja nichts Besseres zu tun gehabt, als ein Plädoyer für Hans Rot zu halten.

»Er hat uns nie wirklich Schwierigkeiten gemacht.«

Ha!

»Er war immer da– für die Kinder, die Enkel, sogar für uns. Erinnere dich an Situationen, in denen er uns geholfen hat.«

Hmpf!

»Wir können uns nicht einfach ausklinken.«

Doch!

»Er wünscht sich so sehr, dass alle zusammenkommen.«

Und was ist mit meinen Wünschen?

Fanni hätte inzwischen nicht mehr sagen können, wie es Sprudel schließlich gelungen war, sie herumzukriegen. Auf einmal waren sie in dem »Wohlfühl-Hotel« angemeldet gewesen, das Hans für das Familientreffen ausgesucht hatte.

»Da müssen wir halt jetzt durch, Mama«, hatte Fannis Sohn Leo (mittlerweile verheiratet, womit nie jemand gerechnet hätte, und Vater von zwei Kindern, womit erst recht niemand gerechnet hätte) über WhatsApp kundgetan. Seine Zwillingsschwester Leni (von Haus aus lockerer drauf als Fanni und Leo) hatte »wird bestimmt lustig« geantwortet und ein Tränen lachendes Emoticon angefügt.

Lustig, dachte Fanni. Ha.

Aber gegen die geballte Hartnäckigkeit von Hans Rot und Tochter Vera war ja noch nie etwas auszurichten gewesen, und der Rest der Familie hatte immer schon nachgeben und meist darunter leiden müssen.

So weit war es auch jetzt wieder gekommen. Wie hatte sie das nur zulassen können?

Du hättest rigoros Nein sagen können!

Fanni verdrehte die Augen. Die Gedankenstimme. Dass die sich ausgerechnet jetzt meldete, sprach Bände und verhieß absolut nichts Gutes.

Kommentare unerwünscht, zumal wenn sie, wie der gerade eben, absolut nichts wert sind, teilte Fanni ihr mit.

Sprudels Intervention und Fannis Loyalität zu ihren Zwillingen hatten ein rigoroses Nein verhindert.

Die Gedankenstimme schwieg, wie Fanni es sich ausgebeten hatte, produzierte jedoch ein stirnrunzelndes Emoticon in Fannis Kopf.

Fanni runzelte ebenfalls die Stirn, als sie daran dachte, wie tags zuvor– am Freitag also– alle von Hans Eingeladenen nach und nach im Picklerhof eingecheckt hatten, fast zwanzig Personen insgesamt: Leo mit Familie; Leni mit ihrem Mann Marco, Sohn Tim und Töchterchen Hanna; Vera mit ihrem Mann Bernhard, Sohn Max und Tochter Minna; Fanni und Sprudel; Hans Rot und jene vier Personen, die Fanni als seine neue Familie bezeichnete: Partnerin Erna Huber, deren Sohn Sigi und Tochter Rita samt Ehemann Rainer.

Eifersüchtig? Dazu wartete die Gedankenstimme mit einem breit grinsenden Emoticon auf.

Sicher nicht!, verwahrte sich Fanni gegen die Unterstellung.

Warum hat dich dann das kalte Grausen gepackt, als die Einladung zu dem Treffen kam? Und sag jetzt nicht, es lag an deinen Kindern und Enkeln! Das begleitende Emoticon machte schmale Augen und einen spitzen Mund.

Fanni verzichtete darauf, diese geradezu groteske Aussage zu kommentieren. Sie freute sich immer sehr auf ein Wiedersehen mit ihren Kindern und deren Familien, zog allerdings eine privatere Atmosphäre vor, in der Hans keinen Platz hatte und Erna Huber samt Sohn, Tochter und Schwiegersohn schon gar nicht.

Dabei kannte sie sie nicht einmal. Erna war sie zwar irgendwann per Zufall begegnet, als Sprudel und sie einen Umweg über Erlenweiler gemacht hatten, um für Leni eine von Hans Rots Schwemmholzskulpturen abzuholen, die er neuerdings anfertigte und die mittlerweile die Gärten ihrer Kinder zierten, hatte aber außer einem Gruß kein Wort mit ihr gewechselt.

Nicht einmal für ein paar Sätze war Zeit gewesen, und für eine längere Unterhaltung, auf die Fanni ohnehin keinen Wert gelegt hätte, erst recht nicht.

Aber eifersüchtig bin ich definitiv nicht, teilte sie ihrer Gedankenstimme mit.

Ganz im Gegenteil. Fanni hätte ihrem Exmann von ganzem Herzen die ideale Partnerin gegönnt.

Wer sagt denn, dass Erna nicht ideal für ihn ist, nur weil sie ein paar Pfunde zu viel auf die Waage bringt?

Sie ist fett und ungepflegt.

Ein stirnrunzelndes Emoticon erschien in Fannis Kopf.

Also gut, lenkte sie ein, wenn sie zwanzig Pfund abnehmen, den abblätternden Nagellack entfernen und den grauen Haaransatz nachfärben oder, besser noch, sich grundsätzlich zu grauen Haaren bekennen würde, wäre sie wohl ganz ansehnlich. Aber selbst das würde nichts daran ändern, dass…

Fanni konnte nicht mehr ausführen, woran es nichts ändern würde, denn in diesem Augenblick flog die Tür auf, und ein Streifenpolizist kam herein.

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte Fanni geradezu scharf.

Der Polizist machte eine verschlossene Miene und ignorierte ihre Frage, doch Fanni glaubte in seinen Augen eine deutliche Verneinung zu erkennen. Schließlich räusperte er sich und stellte sich mit einem Namen vor, den Fanni auf der Stelle wieder vergaß. Dann fing er an, ihre und Sprudels Personalien aufzunehmen.

Letztendlich blieb es an Sprudel hängen, die Angaben für sie beide zu machen, denn Fannis Gedanken schweiften immer wieder ab.

Er müsste doch eigentlich schon gefunden worden sein, überlegte sie und begann noch mal darüber nachzugrübeln, was sich in der Gondel abgespielt haben könnte. Sie kam zum gleichen Ergebnis wie zuvor: Es hatte einen Kampf gegeben, einer der Kontrahenten war hinausgestoßen worden. Der andere war gesprungen oder mitgerissen worden.

Da sollte man doch meinen, dachte sie, dass zumindest einer der beiden tot oder verletzt in der Seilbahnschneise liegt.

Was aber nicht heißt, gab sie insgeheim zu, dass die ganze Sache plausibel ist.

Der Hammer beispielsweise gab Rätsel auf. Wer steckte sich, wenn er zum Skifahren gehen wollte, einen Hammer ein? Ein Irrer, der einen Gondelmord begehen wollte?

Fanni kaute auf ihrer Unterlippe und starrte gedankenverloren aus dem kleinen Fenster, unter dem ihr Stuhl stand.

Wie auch immer, sagte sie sich. Rainer Renker muss, mehr oder weniger verletzt, da draußen irgendwo sein. Und sollte möglichst schnell gefunden werden.

Sie konnte zwar nicht überblicken, was sich draußen tat, hatte aber nicht den Eindruck, dass eine größere Suchaktion im Gange war.

Ein paar Angestellte der Bergbahn, die nach Rainer Ausschau halten, sind aber nicht genug, dachte sie und stellte sich vor, wie drei oder vier Skifahrer die Seilbahnschneise herunterkamen und sich nach einem halb im Schnee eingesunkenen Körper umsahen.

Sie haben wenig Chancen, wurde ihr klar. Nicht bei diesem Nebel. Es hatte mittlerweile dermaßen dicht gemacht, dass man die eigenen Skispitzen nicht sehen konnte, geschweige denn eine leblose Person in einer Mulde oder in einem Graben.

Ob Rainers Frau schon Bescheid wusste?

Wo ist sie eigentlich?, fragte sich Fanni. Zusammen mit den anderen im Arber Stadl?

Hans Rot und Erna Huber hatten gleich bei der ersten Abfahrt den Sonnenhang angepeilt. »Wir trinken im Arber Stadl einen Kaffee und warten, bis der Nebel aufreißt«, hatte Hans verkündet. »Kommt doch alle mit. Was wollt ihr denn auf der Piste bei so einer beschissenen Sicht? Wenn das Wetter nicht mitspielen will, muss man halt die Segel streichen.«

Insgeheim hatte Fanni ihrem Exmann recht geben müssen, hatte es aber nicht über sich gebracht, sich Erna und ihm anzuschließen.

Sie und Sprudel waren zur Talstation gefahren und dort in eine Gondel gestiegen, die sie wieder bergwärts schaukelte. Nach drei Abfahrten, bei denen Fanni das Gefühl hatte, als würde sie in einem Meer aus kalter Milch trudeln, hatte Sprudel dringend dafür plädiert, Hans’ und Ernas Beispiel zu folgen.

»Schau«, hatte er gesagt, als sie am Arber Stadl vorbeifuhren, und dabei auf einen Skiständer vor der Hütte gezeigt, in dem etliche bekannte Skipaare steckten. »Leni und Marco sind mit den Kindern auch da, und sogar Max und Minna haben sich reingeflüchtet. Glaub mir, bei so einem Wetter gibt es nichts Gemütlicheres als eine Berghütte.«

Aber Fanni hatte es nachgerade geschaudert. »Hüttenzauber« war noch nie ihr Ding gewesen. Niedrige, holzverkleidete Räume mit winzigen Fenstern, verräucherter Luft und Spinnweben in den Ecken raubten ihr die Luft zum Atmen, beengten sie, gaben ihr das Gefühl, eingesperrt zu sein.

Obwohl sie wusste, dass die Gaststube im Arber Stadl hell und luftig war und dass sie es da trocken und warm haben würde, konnte sie sich nicht dazu überwinden, einzulenken.

Gemütlich, dachte sie, könnte ich es in unserem Häuschen in Ligurien haben mit einem Krimi im Liegestuhl auf der Terrasse oder im Ohrensessel vor dem Kamin.

»Frau Rot?«

Fanni schreckte aus ihren Gedanken auf und bemerkte erst jetzt, dass der Streifenpolizist fort war und einem Mann in Zivil Platz gemacht hatte.

»Das ist Kommissar Wieser«, sagte Sprudel. »Er leitet die Ermittlungen.«

Anscheinend hatten sich die beiden bekannt gemacht, während Fanni geistesabwesend aus dem Fenster gestarrt hatte.

Wieser war erstaunlich jung. Hatte sie es je mit einem derart jungen Kommissar zu tun gehabt? In ihrem Kopf bildete sich ein Emoticon mit Fragezeichen anstelle von Augen. Fanni versuchte, es zu ignorieren, und konzentrierte sich auf Wieser.

Er war groß und schlank, hatte tiefschwarze Haare und dunkle Augen mit intensivem Blick.

Fanni begegnete diesem Blick und fand ihn seltsam bedrohlich.

Offenbarte Wiesers Blick etwa irgendeinen Verdacht gegen sie? Aber was bitte hätte seinen Argwohn hervorrufen können?

Die Antwort darauf blitzte wie ein Feuerwerk durch Fannis Hirn.

Wieser hat bereits mit diesem Mann vom Liftpersonal gesprochen, schrillten ihre Gedanken.

Patrick! Der Mann hat gesagt, dass er Patrick heißt!

Wieser weiß, dass sich deine und Sprudels Skier in der Halterung an der Kuschelgondel befinden. Er weiß, dass du da drin gewesen bist. Zumindest dein Oberkörper hat dringesteckt. Das muss Patrick gesehen haben. Und er weiß, dass du zugegeben hast, den Skihelm zu kennen. Patrick muss es ihm gesagt haben.

Fanni unterdrückte ein Stöhnen. Wiesers Argwohn war begreiflich. Wer konnte schon sagen, ob Sprudel und sie tatsächlich hatten einsteigen wollten? War es nicht ebenso gut möglich, dass sie zusammen mit Rainer Renker in der Kuschelgondel von oben gekommen waren? Dass sie Rainer in der Gondel niedergeschlagen und unterwegs aus dem Fenster geworfen hatten? An der Talstation hätten sie dann aussteigen können und so tun, als würden sie einsteigen wollen.

Als Wieser zum Sprechen ansetzte, erwartete Fanni, mit derartigen Anschuldigungen konfrontiert zu werden.

Überrascht hörte sie ihn sagen: »Was ist Ihnen denn als Erstes aufgefallen, als Sie in die Gondel steigen wollten?«

Sie sah ihn verwirrt an, fand sich außerstande, darauf zu antworten. Zum einen, weil ein Teil ihrer Gedanken gerade damit beschäftigt war, eine Verteidigungsstrategie gegen Wiesers mutmaßliche Anschuldigungen zu entwickeln; zum anderen, weil die Bilder in ihrem Kopf herumwirbelten und sich nicht chronologisch ordnen wollten.

Was hatte sie zuerst wahrgenommen? Den Helm oder den Hammer? Oder ihren eigenen Skischuh, dessen Spitze nur wenige Zentimeter von der Blutschliere auf dem Hammerkopf entfernt gewesen war?

Sprudel legte ihr die Hand auf den Arm und sagte eindringlich: »Herr Wieser muss die ganze Sache doch nachvollziehen können.«

Und das kann er, wenn er die Reihenfolge meiner Wahrnehmungen kennt? Fanni schluckte die Bemerkung hinunter, konzentrierte sich und schaffte es schließlich, einen detailgenauen Bericht zu liefern.

Sprudel dankte es ihr mit einem warmen Lächeln. Offenbar hatte er ihre Verstimmung bemerkt und befürchtet, sie würde gereizt und patzig reagieren und Wieser damit von Anfang an gegen sich aufbringen.

Der hatte ihr aufmerksam zugehört, hatte mehrmals genickt und stellte soeben die nächste Frage: »Warum haben Sie sich ausgerechnet für diese Gondel entschieden? Außer Ihnen scheinen keine Fahrgäste an der Talstation gewesen zu sein. Sie hätten also genauso gut die Gondel davor oder die danach nehmen können.«

Erneut fühlte Fanni sich irritiert. Es war ja nicht so, als hätten Sprudel und sie eine bewusste Entscheidung getroffen. Obwohl Sprudel anscheinend ein bisschen darauf gelauert hatte, die Kuschelgondel zu erwischen. Aber hatte er die Tatsache, dass es gelungen war, nicht erst bemerkt, als Fanni schon im Einsteigen begriffen gewesen war? Wie sollte sie Wieser das nur erklären? Hilfesuchend sah sie Sprudel an, und er sprang für sie ein: »Die Gondel davor war schon an uns vorbei, wir hätten sie nur nehmen können, wenn wir hinterhergelaufen wären. Die danach war noch nicht da. Es war doch ganz logisch, dass wir die nahmen, bei der direkt vor uns die Türen aufgingen.«

»Seltsam«, bemerkte Wieser, »dass Sie unter den vierundvierzig Gondeln gerade die mit den Blutspuren erwischt haben. Die Chance stand–«

»Eins zu vierundvierzig«, sagte Sprudel darauf trocken.

Fanni verbiss sich ein Grinsen. Wieser schien ihm langsam auf die Nerven zu gehen. Sie fragte sich, wie viele unsinnige Fragen ihnen der Kommissar noch zu stellen gedachte, und beschloss, dem Ganzen ein Ende zu machen. »Wollen Sie nicht lieber dafür sorgen, dass intensiv nach Rainer Renker gesucht wird?« Sie nickte zum Fenster hinüber, durch das allerdings nur weißer Nebel zu erkennen war. »Nach einem Großaufgebot sieht es da draußen ja nicht gerade aus.«

Wieser war erkennbar in Gedanken gewesen, aber Fannis merklich scharfer Ton schien ihn aufzurütteln. Er wandte sich ihr zu. »Wir haben drei Mann, die die Schneise abfahren. Wenn er da irgendwo liegt, finden sie ihn.«

Doch genau das wagte Fanni zu bezweifeln. Unvermittelt fiel ihr ein, dass sie irgendwo die technischen Daten der Seilbahn gesehen hatte. Sie versuchte, sie sich in Erinnerung zu rufen. »Beförderungskapazität«. Die Zahl dahinter hatte sie nicht wirklich gelesen. »Antriebsleistung«. Auch hier hatte sie das Weitere ausgeblendet. »Länge der Schneise«. Das hatte sie sich gemerkt. Neunhundertvierundsechzig Meter. Neun Stützen.

Drei Leute fahren bei dichtestem Nebel auf Skiern eine fast einen Kilometer lange Schneise hinunter, sinnierte sie. Um die Stützen herum haben sich durch das Tauwetter und den Regen Löcher und Gräben gebildet…

»Und wenn nicht?«, fragte sie Wieser. »Was machen Sie, wenn Ihre Leute ihn nicht finden?«

Wieser wollte etwas darauf sagen, aber Fanni ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Schauen Sie doch mal aus dem Fenster. Da draußen sieht man keinen halben Meter weit. Wie groß ist denn an einem Tag wie heute das Terrain, das drei Leute auf Skiern überblicken können? Drei schmale Streifen sind es, genau genommen. Wenn Rainer zwar in der Schneise, aber auch nur zwei Handbreit neben den Spuren der Skifahrer liegt und womöglich auch noch tief in den Nassschnee eingesunken ist, wird er nicht entdeckt.« Sie verzichtete darauf, hinzuzufügen, dass man sich ohnehin nicht darauf verlassen konnte, Rainer direkt in der Schneise zu finden.

Wer kann schon sagen, dachte sie, wo der Körper aufgeschlagen ist? Eine Böe könnte ihn erfasst und ein ganzes Stück abgetrieben haben. Um sicherzugehen, überlegte sie, müssten zehn Mann eine Kette bilden und zu Fuß den Hang hinunterstapfen– oder hinauf.

Das Emoticon in ihrem Kopf verdrehte die Augen. Wieso setzt du eigentlich den Kommissar wegen der Suche so unter Druck? Rainer Renker ist dir doch kein bisschen sympathisch! Hast du nicht schon bei der ersten Begegnung mit ihm gedacht: arrogantes A…

Fanni blendete die Gedankenstimme hastig aus.

»Die Männer finden ihn bestimmt«, sagte Wieser. »Außer…« Er machte eine bedeutsame Pause. »Außer es gäbe nichts zu finden. Deshalb ist es wichtig, erst einmal festzustellen, ob Rainer Renker nicht gesund und munter…«

Er ließ den Rest offen, weil von Fanni ein leises Schnauben kam. »Und wie, wenn ich fragen darf, interpretieren Sie die Sachlage in der Gondel?«

Wieser bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Falls Rainer Renker unversehrt auftaucht, wird sich schnell klären, was es mit dem Ganzen auf sich hat. Im Übrigen bin ich fürs Ermitteln zuständig, nicht fürs Interpretieren.«

Fanni verkniff sich die Bemerkung, dass beides wohl zusammengehörte. Sie wäre ohnehin nicht dazu gekommen, weil Wieser soeben nach ihrer Beziehung zu Rainer Renker fragte.

»Er ist also der Schwiegersohn der Partnerin Ihres Exmannes«, rekapitulierte Wieser, nachdem Fanni die Verhältnisse dargelegt hatte. »Und er ist zusammen mit seiner Frau hergekommen, um an einem Familientreffen teilzunehmen, zu dem Ihr Exmann eingeladen hat.« Wiesers Stimme klang halb fragend, halb ungläubig.

Sprudel bestätigte ihm, dass er Fannis Aussage richtig verstanden hatte und dass es sich um fast zwanzig Personen handelte, die sich zu dem Treffen eingefunden hatten.

»Und wo sind die alle?«, fragte Wieser streng.

Sprudel sagte es ihm.

Wieser stand auf. »Sie sind alle im Arber Stadl? Das trifft sich ja gut.« Er verabschiedete sich flüchtig und war fort.

»Er will also zum Arber Stadl und sie alle vernehmen.« Fanni sagte es mehr zu sich selbst.

Sprudel nickte. »Wohl gar keine so schlechte Idee.«

Fanni erhob sich und ging zur Tür.

Sprudel sah sie fragend an. »Und wohin willst du?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Hierbleiben will ich jedenfalls nicht. Oder hat Wieser gesagt, dass wir in diesem Kämmerchen hocken bleiben müssen, bis er wieder zurückkommt?« Bevor Sprudel antworten konnte, schüttelte sie den Kopf. »Hat er nicht. Also können wir hingehen, wo wir wollen.«

An Sprudels Schmunzeln konnte sie erkennen, dass er mittlerweile wusste, was sie vorhatte.

»Du willst dabei sein.«

2

Ihre Skier, die in den Halterungen an der Außenseite der Gondel gesteckt hatten, lehnten jetzt neben dem Eingang zum Kontrollraum. Die Kuschelgondel schwankte leise unter dem Gewicht eines Mannes von der Spurensicherung, der sich darin zu schaffen machte.

Vom Betriebspersonal war niemand zu sehen. Vermutlich beteiligten sich inzwischen so gut wie alle an der Suche nach Rainer Renker.

Fanni griff nach ihren Skiern, sah Sprudel sich kurz umblicken, bevor er sichtlich unentschlossen ihrem Beispiel folgte, und konnte sich denken, was ihn zögern ließ.

Schließlich fing sie seinen Blick ein und machte eine knappe Kopfbewegung in Richtung des Kriminaltechnikers in der Kuschelgondel. »Er braucht sie nicht. Auf unseren Skiern sind keine Spuren, die sich zu sichern lohnen könnte.«

»Das kann der Mann aber nicht wissen«, entgegnete Sprudel. »Er wird sie also untersuchen wollen.« Fanni kümmerte sich nicht um seinen Einwand und stapfte mit geschulterten Skiern ins Freie.

Draußen stellte sie fest, dass es noch mal ein wenig wärmer geworden war, und unterdrückte ein Seufzen. Durch die steigenden Temperaturen würde der Nebel– falls überhaupt möglich– noch dichter werden. Der Schnee an der Talstation hatte sich mittlerweile in eine glasige Schmiere verwandelt. In Fannis Fußstapfen bildeten sich Pfützen. Weder Skifahrer noch Fußgänger wuselten wie sonst hier herum. Und noch etwas war anders als gewohnt. Sie brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, was. Über allem lag eine gespenstische Stille. Es fehlte das Summen der Motoren, das Knirschen der Zugseile, das Knarren der Umlenkvorrichtung, das Seufzen der automatischen Türöffner.

Fanni ließ ihre Skier auf den Boden fallen, blickte die in Nebel gehüllte Seilbahnschneise hinauf und versuchte, Geräusche auszumachen. Aber die Stille war total, beinahe schmerzhaft. Vergeblich hoffte sie, Rufe der Suchmannschaft zu vernehmen oder den schlurfenden Laut, den gleitende Skier im Sulzschnee erzeugten.

»Was, wenn die Sessellifte am Sonnenhang und am Nordhang wegen der schlechten Sicht inzwischen auch nicht mehr laufen?«, sagte Sprudel. »Dann haben wir keine Möglichkeit, zum Arber Stadl hinaufzukommen.«

Automatisch ging Fannis Blick in die Richtung, in der die beiden Lifte lagen, und fand nur Nebelschwaden. Es war, als wäre die Welt um sie herum ausgelöscht. Sie konnte weder die Stützen der Sesselbahn erkennen noch deren Talstation und erst recht keine Sessel, die dort eintrafen oder von dort wegfuhren. Nicht einmal das typische Knirschen und Knarzen des Räderwerks drängte sich in die Lautlosigkeit, die sie umgab.

War der Betrieb tatsächlich eingestellt worden? Ihr besorgter Blick fand das Zifferblatt ihrer Armbanduhr. Vierzehn Uhr siebenundvierzig. Sie tippte mit der Fingerspitze auf die Anzeige. »Die Lifte müssten eigentlich bis halb vier in Betrieb sein, Sicht hin oder her.«

»Aber es fährt doch niemand mehr Ski bei der Suppe«, gab Sprudel zu bedenken.

Fanni sah ihn streng an. »Das tut nichts zur Sache. Wenn Tageskarten verkauft sind, muss auch für Beförderung gesorgt sein, solange es keinen triftigen Grund dagegen gibt.«

Es war Sprudel anzusehen, dass er dichten Nebel durchaus für einen triftigen Grund hielt.

»Wir sehen nach«, entschied Fanni. »Wenn wirklich nichts mehr läuft, dann…« Sie ließ offen, was sie dann zu tun gedachte.

Sie spürte eine Art Sog, der sie zum Arber Stadl zog, wo sie voraussichtlich diejenigen antreffen würde, die vielleicht Antworten geben konnten.

Hans, Erna, Rita, Sigi, einer von denen müsste doch eigentlich wissen, ob Rainer allein unterwegs gewesen war oder mit jemandem zusammen, überlegte sie, während sie in die Skibindung stieg.

Nachdem die Backen eingerastet waren, rammte sie die Stöcke in den Schnee, um sich kräftig abstoßen zu können, denn für die Querung zum Sessellift hinüber benötigte man genügend Schwung. Schließlich drehte sie sich noch mal zu Sprudel um und teilte ihm mit, wozu sie sich soeben entschlossen hatte. »Wenn die Sessel tatsächlich nicht mehr laufen, dann stapfen wir eben zu Fuß zum Arber Stadl hoch. So schlimm ist das gar nicht. Der Höhenunterschied beträgt höchstens zweihundert Meter.« Sie sah Sprudel erschrocken nach Luft schnappen, stieß sich hastig ab und versuchte zu verdrängen, wie mühsam ein Aufstieg zu Fuß werden würde. Die schweren, ungefügen Skischuhe würden wie Bleigewichte im Schneematsch versinken, Sprudel und sie würden rutschen und stolpern und unter ihren Anoraks vor lauter Anstrengung zu dampfen beginnen.

In Fannis Kopf erschien ein Emoticon mit gepeinigtem Gesichtsausdruck, begleitet von der Mitteilung, dass es schließlich Mobiltelefone gäbe, über die man kommunizieren und sich irgendwo verabreden konnte.

Fanni ließ sich davon nicht beirren, beugte sich vor und setzte die Stöcke noch mal kräftig ein, denn die Verbindungstrasse zwischen den Talstationen der Gondelbahn und des Sessellifts am Sonnenhang stieg zum Schluss leicht an, und sie wollte auf den letzten Metern nicht noch schieben müssen. Offenbar tat sie zu viel des Guten, denn sie geriet aus dem Gleichgewicht, ihr Talski verkantete und fuhr quer über den Bergski. Sie kippte leicht nach vorn und konnte nur mit Mühe einen Sturz verhindern. Aber der Schwung, der sie ans Ziel bringen sollte, war dahin.

Fanni versuchte, das spöttisch grinsende Emoticon auszublenden, das durch ihren Kopf segelte, und arbeitete sich mit Hilfe ihrer Stöcke langsam vorwärts. Doch bereits nach wenigen Metern musste sie feststellen, dass die Kraft ihrer Arme dem nassen Schnee nicht gewachsen war. Da begann sie steifbeinig, in einer marionettenhaft wirkenden Bewegung, weil die in der Bindung einzementierten Füße eine natürliche Gangart unmöglich machten, ihre Skier abwechselnd weiterzuschieben.

Ein Blick zurück zeigte ihr, dass es Sprudel nicht besser erging. Hatte er nicht genug Schwung genommen?

Ist es nicht eher so, dass er gezwungen war, zu bremsen, weil Fanni Rot Skiakrobatik probte?

Fanni musste einen Moment stehen bleiben, um zu verschnaufen, da hörte sie es. Gedämpft zwar, aber unverkennbar drang das charakteristische Knirschen und Rattern eines Räderwerks durch die Nebelschichten. Mit neuem Elan schob sie sich weiter und sah schon bald das Gestänge vor sich aufragen, an dem die Drehkreuze befestigt waren. Ein letzter kräftiger Schub brachte sie zu einer der Schranken, die sich öffnete, als sie die rechte Brusttasche ihres Anoraks, in der ihr Tagesskipass steckte, vor das Lesegerät an der Konsole hielt.

Fanni glitt zum Einstieg und wartete dort, bis Sprudel neben ihr auftauchte. Gemeinsam passierten sie schließlich eine niedrige Absperrung, deren Flügel gehorsam aufklappten, und folgten der Anweisung, die ihnen ein Schild über ihren Köpfen gab. Es zeigte einen durchgestrichenen Sessel, der schief am Zugseil hing, weil zwei Personen nebeneinander die zwei Sitze links außen eingenommen hatten. Fanni und Sprudel positionierten sich deshalb so, dass sich nach dem Einsteigen sämtliche freien Sitze zwischen ihnen befinden würden.

Dann schwebten sie durch milchigen Dunst.

»Siehst du«, sagte Fanni nach wenigen Minuten, »es ist wirklich nicht weit.« Denn kaum hatten sie den Sicherheitsbügel geschlossen, trat schon das Zeichen zum Öffnen aus den Nebelschwaden hervor.

»Da drüben«, rief Fanni, nachdem sie die Ausstiegstrasse hinter sich gebracht hatten. Lebhaft deutete sie seitwärts, wo sich die Silhouette der Skihütte schwach aus dem Milchtrüb abhob.

Als Fanni den ebenen Platz vor dem Arber Stadl erreichte, stellte sie irritiert fest, dass sich nicht mehr als fünf Paar Skier in den Ständern am Eingang befanden.

»Kommissar Wieser ist offenbar schon da«, sagte Sprudel und zeigte auf einen Motorschlitten, der vor einem leeren Skiständer geparkt war.

Fanni stieg aus der Bindung, zog die Handschuhe aus und lockerte die Schnallen ihrer Skischuhe. Während sie auf die Hütte zuging, nahm sie noch den Skihelm ab. Am Eingang blieb sie stehen und wartete auf Sprudel, der die Tür für sie öffnete. Fanni machte einen Schritt in den Gastraum und blieb dann dermaßen abrupt stehen, dass Sprudel auf sie auflief.

Sie drehte sich zu ihm um. »Da ist ja keiner.«

Das stimmte nicht, denn neben dem Kachelofen war ein Tisch besetzt, ebenso am Fenster.

»Wo sind sie denn alle?« Fanni setzte voraus, dass Sprudel wusste, wen sie meinte.

Er sah sich suchend um, als könne sich eine Gruppe von fast zwanzig Personen hinter einem Stützbalken verkrochen haben. Schließlich zuckte er die Schultern. »Vielleicht hat Wieser sie zur Vernehmung in einen Nebenraum zitiert.«

»Alle zusammen?«

»Eher nicht«, gab er zu.

»Es sind fünf Paar Ski im Ständer«, sagte Fanni und taxierte die Gäste an den beiden Tischen.

Das Mädchen und der junge Mann am Tisch beim Kachelofen trugen ebenso Skikleidung wie der einzelne etwas ältere Mann am Fenster. Damit waren drei Paar Ski vergeben. Zwei Paar bleiben übrig. Sie mochten Hans und Erna gehören (sicher war sich Fanni allerdings nicht), aber offensichtlich waren auch die beiden nicht da.

»Wo sind denn nur alle?«, wiederholte sie ratlos.

Sprudel hatte sich indessen an ihr vorbeigeschoben und war an den leeren Tischen vorbei bis in den hinteren Teil der Gaststube gegangen. Soeben blieb er vor einem Ecktisch stehen und blickte nachdenklich auf die zwei halb vollen Gläser, die dort standen. Dann glitt sein Blick über die Bank an der Längsseite des Tisches, und schließlich winkte er Fanni heran.

Sie eilte auf den Ecktisch zu und erkannte bereits aus einiger Entfernung, was Sprudels Aufmerksamkeit erregt hatte. Auf der Bank lagen zwei Anoraks, zwei Skihelme und zwei Paar Handschuhe. Der blaue Anorak mit dem gelben, allerdings im Lauf der Jahre ziemlich angegrauten Besatz gehörte definitiv Hans.

Den hat er schon damals gehabt, als wir noch verheiratet waren, erinnerte sich Fanni.

»Das sind die Sachen von Hans und Erna«, sagte sie laut.

Noch während Sprudel zustimmend nickte, trat Hans Rot an den Tisch. Er musste von draußen hereingekommen sein; auf seinen Haaren und Schultern glänzten winzige Tröpfchen.

Fanni wollte ihn schon fragen, was er da gemacht hatte, als ihr einfiel, dass sich die Toiletten in einem Nebengebäude befanden.

»Da seid ihr ja«, sagte Hans.

»Und wo sind die anderen?«, fragte Fanni, froh darüber, endlich jemanden gefunden zu haben, der eine Antwort darauf haben musste.

Hans ließ sich auf einen Stuhl fallen und griff nach seinem Glas. »Die sind nicht lang hiergeblieben. Max hat ein paarmal auf seinem Handy den Wetterbericht studiert, aber der ist davon nicht besser geworden. Das hat sie dann vertrieben. Soweit ich mitgekriegt habe, wollten sie zurück zum Hotel, sich umziehen und dann ins Hallenbad, damit sich die Kinder austoben können und–«

Fanni ließ ihn nicht ausreden. »Und Erna?«

»Erna?« Hans warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Vorhin ist ein Kriminaler hier aufgetaucht, hat nach Rainer gefragt. Wann wir ihn zuletzt gesehen haben und so. Warum ihn das interessiert, weißt du wahrscheinlich besser als ich.«

Wieser hatte also mit Informationen darüber, was und vor allem wer ihn auf den Plan gerufen hatte, nicht hinterm Berg gehalten.

Daher der vorwurfsvolle Blick, dachte Fanni.

Auch aus Hans’ Tonfall war jetzt deutlicher Vorwurf zu hören. »Erna wird von dem Kriminaler gerade verhört.« Er machte eine ruckartige Kopfbewegung. »Im Nebenzimmer.«

Typisch Hans Rot, dachte Fanni. Statt die Sache mit Rainer ernst zu nehmen und sich Gedanken darüber zu machen, was ihm widerfahren sein könnte, gibt er mir die Schuld an allem Ungemach.

So ist er halt! Das Emoticon zog ein mitleidiges Gesicht.

»Interessiert dich denn nicht, was mit Rainer passiert ist?«, fragte Sprudel.

»Gar nichts ist ihm passiert«, fuhr Hans auf. »Der carvt da draußen irgendwo herum oder gönnt sich einen Jagatee im Schutzhaus.«

Und seinen blutverschmierten Skihelm hat er aus Jux und Tollerei in der Kuschelgondel deponiert, hätte Fanni am liebsten entgegnet, wusste jedoch aus langen Ehejahren, dass es keinen Sinn hatte, mit Hans zu debattieren. Je mehr man ihn mit Fakten in die Enge trieb, desto störrischer wurde er.

Was er von der ganzen Geschichte hielt, war ihr ohnehin egal. Das Einzige, was sie von ihm wollte, waren ein paar Auskünfte.

»Wann genau sind die anderen aufgebrochen?« Sie klopfte auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr.

Hans zuckte die Schultern. »Eins, halb zwei, was weiß ich.«

»Und sie sind geschlossen los?«, hakte Fanni nach. »Leni, Leo und Vera mit ihren Familien, Rita und Rainer und Sigi?«