In Berlin wird noch geschossen e-book - Alana Maria Molnár - E-Book

In Berlin wird noch geschossen e-book E-Book

Alana Maria Molnár

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Beschreibung

Júlia Márton, die Ich-Erzählerin aus Band 1 "Einmal im Jahr die Sintflut" wird flügge und verlässt das Dorf, um den Traumberuf ihres Vaters zu erlernen. Die Schule ist mehrere hundert Kilometer entfernt, Besuche zu Hause gibt es nur in den Ferien, Besuche von zu Hause eher selten. Die erste große Liebe ist auch die erste große Enttäuschung, eine ernsthafte Erkrankung der Grund zum Abbruch. Júlia landet nach nicht mal zwei Jahren wieder in ihrem Dorf. Eine Reihe von Untersuchungen und Behandlungen beginnt, die mit einem Kuraufenthalt in Hévíz, Ungarns berühmtesten Kurort, endet. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann kennen. Fried Reimann ist Bürger der DDR, acht Jahre älter, mit Leib und Seele Seemann und stets erfüllt von Fernweh. Er träumt von Ländern, die er bereisen möchte, aber nicht kann. Mit Fred Reimann hält das Abenteuer im Hause Márton Einzug, oder das, was Eltern und Großmutter dafür halten. Es kommt wie es kommen soll: Kaum volljährig, gibt Júlia das Jawort, nur zusammen leben mit ihrem Ehemann kann sie nicht. Eines Tages kommt Fred mit einem Seesack auf der Schulter und der Chow-Chow-Hündin an der Leine im Dorf an. Er lernt die Sprache, um in Ungarn arbeiten zu können. Nach kürzester Zeit hat er ein beachtliches Vokabular an Schimpfwörtern, kennt bald alle Kneipen im Ort und in der Umgebung und kehrt öfter mit dekorativen blauen Flecken heim ...

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Alana Maria Molnár

In Berlin wird noch

geschossen

Roman

Imprint In Berlin wird noch geschossen – Roman Alana Maria Molnár published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2012 Alana Maria Molnár ISBN 978-3-8442-3675-0

Júlia Márton, die Ich-Erzählerin aus Band 1 „Einmal im Jahr die Sintflut“ wird flügge und verlässt das Dorf, um den Traumberuf ihres Vaters zu erlernen. Die Schule ist mehrere hundert Kilometer entfernt, sie wird im Internat des Gartenbautechnikums wohnen. Besuche zu Hause gibt es nur in den Ferien, Besuche von zu Hause eher selten, wegen der Entfernung.

Die erste große Liebe ist auch die erste große Enttäuschung, eine ernsthafte Erkrankung der Grund zum Abbruch. Júlia landet nach nicht mal zwei Jahren wieder in ihrem Dorf.

Eine Reihe von Untersuchungen und Behandlungen beginnt, die mit einem Kuraufenthalt in Hévíz endet, Ungarns berühmtesten Kurort.

Dort lernt sie ihren späteren Ehemann kennen, der mit einer ganzen Gruppe von DDR-Bürgern auch dort weilt. Fried Reimann ist acht Jahre älter, mit Leib und Seele Seemann und stets erfüllt von Fernweh. Er träumt von Ländern, die er bereisen möchte, aber nicht kann, weil sein Land ja ein Gefängnis ist - sagt er. Was Júlia nicht versteht, weil sie kein Deutsch spricht und Fred kein Ungarisch. Das ändert sich bald, als Júlia, gleich nach ihrer Rückkehr aus der Kur, mit einem Privatlehrer fleißig deutsche Vokabeln samt nötiger Grammatik paukt.

Mit Fred Reimann hält das Abenteuer im Hause Márton Einzug, oder das, was Eltern und Großmutter dafür halten.

Es kommt wie es kommen soll: Kaum volljährig, gibt Júlia das Jawort, fährt mit einem Touristenvisum zu Besuch zu ihrem Ehemann und will in die DDR.

Das weiß Fred zu verhindern. Eines Tages kommt er mit einem Seesack auf der Schulter und mit einer Chow-Chow-Hündin an der Leine im Dorf an. Er lernt die Sprache, um in Ungarn arbeiten zu können. Nach kürzester Zeit hat er ein beachtliches Vokabular an Schimpfwörtern, kennt bald alle Kneipen im Ort und in der Umgebung und kehrt öfter mit dekorativen blauen Flecken heim ...

Die Autorin:Übersetzerin für die ungarische Sprache und bildende Künstlerin, lebt seit 1972 in Berlin.

„Mit viiiiel Geduld und der

richtigen Strategie

kann man jedes Ziel erreichen.“

(frei nach R.H.)

Für meinen Mann R.H.

Was willst du werden?

Mit vierzehn Jahren ist es an der Zeit zu entscheiden, was aus einem werden soll im Leben, heißt es in der Schule. Keine Ahnung, antworte ich, wenn man mich fragt, was ich denn werden wolle. Vater nimmt die Sache in die Hand und arbeitet hart daran, mich für seine Leidenschaft Gartenbau zu erwärmen. Als praktische Beispiele meiner bereits vorhandenen Erfahrungen auf dem Gebiet erwähnt er die prächtigen Blumen, die ich aus Samen gezogen habe. Er war sehr überrascht und erfreut gewesen zu sehen, mit welchem Eifer und auch System ich an die Sache heranging. Das Heft, das ich zu diesem Zweck angelegt habe, sei der klare Beweis dafür, daß aus mir ein guter Gärtner werden kann, meint Vater.

Er weiß nicht, daß ich meine Aufzeichnungen sorgfältig kopiert und Kálmán nach Siebenbürgen geschickt habe. Die begeisterte Antwort kam an Erikas Adresse. Auch Kálmán meint, ich müsse unbedingt etwas mit Blumen machen, oder überhaupt mit Pflanzen, ich sei dafür wie vom lieben Gott geschaffen.

Wenn zwei gestandene Männer mir dazu raten, kann es nicht falsch sein. Im ganzen Land gibt es drei Schulen, Gartenbautechnikum genannt, die Vater nun anschreibt. Alle drei schicken die Bewerbungsunterlagen, denn ich muß ein Aufnahmeverfahren mit schriftlichen und mündlichen Prüfungen durchlaufen. Obwohl das meine Chancen vermindert, entscheidet Vater, daß ich mich nur in einer Schule bewerben sollte, und zwar in dem Städtchen mit dem zungenbrecherischen Namen Sátoraljaújhely, im nordöstlichsten Zipfel Ungarns. Die Stadt liegt an der slowakischen Grenze und ist gleichzeitig Grenzübergang. Die Wahl fällt nicht zufällig auf diese Schule, Vater kennt irgendwelche Leute, die wiederum einen der wichtigsten Lehrer kennen, der in der Prüfungskommission sitzt und darüber befindet, welche Bewerber aufgenommen werden.

Vater begleitet mich zur Aufnahmeprüfung. Die Reise dauert viele Stunden. Was genau geprüft wird, wissen wir nicht, in den Unterlagen waren die Angaben spärlich. Die Schule hat aber den Ruf, die beste von allen dreien zu sein, die Absolventen bekommen mit dem Abschluß automatisch die Eintrittskarte für die Hochschule für Gartenbau in Budapest. Vater plant langfristig.

Das alte Gebäude mit angeschlossenem Internat ist ein ganzes Stück vom Bahnhof entfernt, wir müssen uns beeilen.

Der erste Teil des Aufnahmeverfahrens besteht aus drei schriftlichen Prüfungen, danach kommt ein Gespräch mit jedem einzelnen Bewerber. Die Aula ist voll, die Schüler müssen für die Klausuren auf zwei Räume verteilt werden. Eine schweißtreibende Angelegenheit, vor allem in Mathematik. Die Aufgaben in den anderen Fächern fallen mir leicht. Am Nachmittag dann das Gespräch, im Beisein des Direktors und drei anderer Lehrer.

Bevor wir wieder zum Bahnhof gehen, entdeckt Vater den Freund, der für mich ein gutes Wort einlegen will. Er ist mit seinem Sohn da, mit Gáspár, einem schlacksigen Jungen mit dunklem krausem Haarschopf und einer römischen Nase. Gáspár schafft es, wie auch ich. Wegen seiner Haare heißt er vom ersten Tag an das Schaf.

Der Drachen

Die achte Schulklasse mit prachtvoller Abschlußfeier und dem obligatorischen Buchpräsent liegt hinter mir. Jedes Jahr habe ich für gute Leistungen ein Buch bekommen. Die ersten vier tragen die zierliche Perlenschrift der "kleinen Szabó". Die übrigen von Frau Hegedűs, meine Klassenlehreren ab der fünften Klasse, sie schreibt auffallend große Buchstaben. Der Direktor hält eine lange Rede, und Großmutter weiß besser, was er gesagt hat, als ich. Sie wiederholt es zu Hause, bei unserer familiären Feier. Tante Eszter und Onkel Béla sind da, meine Patentante und natürlich Großtante Klára. Laci fehlt, er ist schon irgendwo in den Ferien.

Der Sommer erscheint mir kürzer als sonst, vielleicht wegen der Vorbereitungen. Es gibt eine Menge Sachen, die wir besorgen müssen, dazu gehören auch Schulkittel für den theoretischen  Unterricht in der Schule und kräftige und auch warme Kleidung mit festen Schuhen für die Arbeiten im Freien. Vier Tage haben wir Theorie und einen Tag Praxis, nach Ende des regulären Schuljahres noch einmal zusammenhängend vier Wochen Praktika. Das bedeutet ab sofort kürzere Ferien.

Bei der Einschulung ist Mutter dabei, einen großen Koffer haben wir mit der Bahn vorher schon aufgegeben. Die Fahrt erscheint mir diesmal kürzer als damals mit Vater, aber ich denke nicht viel darüber nach. Bei der Feier morgen wird Mutter nicht mehr da sein, sie fährt, gleich nachdem sie mich einquartiert habe, wie sie sagt, gleich wieder zurück. In dieser Stadt haben wir keine Bekannte oder Freunde, bei denen sie übernachten könnte.

Das Geschlechterverhältnis in der Schule ist drei zu eins, zugunsten der Jungs. In meiner, der ersten Klasse, gibt es dreißig Jungs und zehn Mädchen. Das sei gut, sagt Mutter, dann tragen die euch auf Händen. Ihre Prophezeiung erfüllt sich nicht. Unsere Privilegien werden daraus bestehen, den Jungs die Hemden bügeln zu dürfen. Freilich erst in den höheren Klassen, und da auch nur die Hemden des Auserwählten.

In einem Zimmer wohnen sechs Mädchen, im Alter gemischt. Die Kleiderschränke stehen auf dem Flur, immer in der Nähe der Zimmer. Vor dem Schrank, der mir zugewiesen wurde, steht schon ein leerer Koffer, Mutter hilft mir beim Einräumen der Sachen.

»Ob dein Schrank nach einer Woche auch noch so aussieht?«

Die Frau, die das fragt, wird unsere Aufseherin. Sie ist auffallend dünn, hat vorstehende Augen und Haare wie ein Wischmop. Mit qualmender Zigarette in der Hand und heiserer Stimme liest sie die Namen der Neuankömmlinge von einem Blatt ab und teilt uns die Betten zu.

»Bei uns herrscht Ordnung, dafür sorge ich«, verkündet Frau Veres. »Jede Woche mache ich Schrankkontrolle und sollte etwas nicht so sein, wie es sollte, gibt es Hausarrest.«

Mutter versucht ihr Befremden über diese Frau, die wir später nur noch Drachen nennen, nicht zu zeigen. Den Gesichtsausdruck kenne ich, dem folgt meist der Ausbruch. Und den gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Ich ziehe sie in das Zimmer, in dem mein Bett steht, wir setzen uns nebeneinander auf die Kante. »Sehr spartanisch«, lautet ihr Kommentar.

»Mehr braucht man hier nicht«, mischt sich der Drachen gleich ein, »das Hauptaugenmerk unserer Schule liegt auf dem Lernen.«

Ich lege meine Hand auf Mutters Hand, sie zittert nämlich schon. Was das bedeutet, ist mir bekannt. Nur keine Szene hier, nicht jetzt. Die Löwin kann sie immer noch herauskehren, wenn es denn nötig sein sollte, aber erst später. Der Schrank ist schnell eingeräumt, der vorausgeschickte Koffer kann wieder nach Hause. Erst nach Mutters Weggang habe ich die Ruhe, mich umzusehen.

Mein neues Zuhause

Am nächsten Vormittag hält der Direktor mit leiser Stimme die Begrüßungsrede, und in der großen Aula ist es sehr still, während der kleine Mann spricht. Danach kommt eine kurze Ansprache unseres Klassenlehrers, er bittet uns, ihm in den Klassenraum zu folgen. Herr Dávid ist nicht größer als Vater, hat schwarzes, leicht gewelltes Haar und ist sehr freundlich. Er bittet die Mädchen, erst einmal in den vorderen Reihen Platz zu nehmen. Später, nachdem er uns alle kennengelernt habe, werde es eine andere Sitzordnung geben. Herr Dávid unterrichtet Biologie, eines der wichtigsten Fächer an dieser Schule. Am selben Nachmittag erhalten wir unsere Bücher, danach können wir einen ersten Erkundungsspaziergang in der Stadt machen.

Die meisten Schüler sind Interne, nur ein kleiner Rest wohnt in der Stadt oder in der nahen Umgebung und kommt jeden Tag zu Fuß oder per Bahn oder Bus hierher.

Jeden Morgen, bevor der Unterricht beginnt, eilen die Jungs aller vier Klassen zum Gartenzaun. Von dort beobachten sie den Zug der Mädchen, die in ordentlichen Zweierreihen von ihrem Internat zum Gymnasium marschieren. Auch sie tragen Schuluniform, auf den ersten Blick sehen alle gleich aus. Unsere Jungs aber scheinen Habichtaugen zu besitzen, denn nach ein paar Tagen schon unterhalten sich selbst meine Klassenkameraden lebhaft über die körperlichen Vorzüge des einen oder anderen Mädchens, bis der Drachen sie vom Zaun scheucht.

Die größeren Mädchen im Internat ersparen uns die Gemeinheiten, mit denen die Jungs der ersten Klasse begrüßt werden. Schwarze Schuhcreme in die Hände eines Schlafenden zu schmieren ist eine der harmloseren Sachen. Als der Drachen erfährt, daß ein paar von den Erstklässlern in der ersten Woche ins Bett gepinkelt haben, führt sie eine Inquisition durch. Es stellt sich heraus, daß einer aus der dritten Klasse Wasser hat plätschern lassen, bevorzugt in der Nähe der schlafenden Neuen. Der Übeltäter bekommt zwei Wochen Hausarrest, er darf das Gelände des Internats nicht verlassen. Nach der Urteilsverkündung schaut der Drachen triumphierend in die Runde aber niemand wagt es, auch nur ein bißchen zu kichern oder auch nur ein klitzekleines Lächeln zu riskieren.

Mittlerweile wissen auch schon die Erstklässler, welche Möglichkeiten es gibt, das Internat ungesehen zu verlassen und genauso wieder zurückzukommen. Die am häufigsten genutzte ist das Abseilen aus dem Fenster per zusammengedrehtem Bettlaken. Bei den Jungs ist das einfacher, die wohnen im ersten Stock des Hauses. Ein paar beherzte Mädchen aus den höheren Klassen nutzen auch regelmäßig diese Möglichkeit des Ausgangs und seilen sich aus dem zweiten Stock ab.

Das Leben im Internat läuft in geregelten Bahnen, wir sind gut beschäftigt mit Unterricht, nachmittäglichem Silencium, Praktikum, gemeinsamen Mahlzeiten und abendlichen Pressereferaten. Derzeitiges Thema ist der Vietnam-Krieg, es wird überall im Land fleißig für die Kriegsopfer und das gebeutelte Land gesammelt, Solidaritätsmarken verkauft, und über die Verwendung des Geldes berichtet.

Die einzige Zeitung, aus deren Artikeln die Referate zusammengestellt werden, ist das Parteiblatt des Landes, die Berichterstattung immer gleich, einseitig, zensiert. Das aber weiß ich noch nicht und bereite mich jedesmal gewissenhaft und mit großem Vergnügen auf meine abendlichen Auftritte. Im Gegensatz zu den anderen Schülern suche ich aus der Lokalzeitung aktuelle Themen heraus, manchmal auch etwas Lustiges. Letzteres kommt beim Lehrerkollegium und beim Drachen nicht gut an. Vielleicht ist das der Grund, warum ich immer seltener aufgefordert werde, mich auf ein Pressereferat vorzubereiten.

Während des Silenciums werden in den Unterrichtsräumen die Hausaufgaben erledigt, stets ist eine Aufsichtsperson, ein Lehrer, dabei. Hat jemand ein Problem und der Lehrer kann ihm nicht helfen, weil es nicht sein Fach ist, fragt er, ob jemand aus der Klasse einspringen kann. Ist das nicht der Fall, dann wird ein älterer Schüler herbeigeholt, der auf Wunsch auch mit anderen Interessierten das Problem erörtert. Bei uns gibt es niemals unerledigte Hausaufgaben.

Die Weihnachtsferien stehen schon vor der Tür, die Internen fahren nach Hause. Im neuen Jahr komme ich in ein anderes Zimmer und finde eine echte Freundin. Sie geht schon in die dritte Klasse und ich bin stolz, daß sie mich unter ihre Fittiche nimmt. Vera ist wie eine große Schwester für mich, sie nennt mich Kleine. Die anderen Mädchen lästern schon über uns, weil abends, nachdem das Licht gelöscht wird, wir immer noch im Bett der einen oder anderen zusammenhocken und reden. Veras Vater ist Konditor, und wenn sie ein Paket bekommt, sind alle Mädchen ganz zufällig in der Nähe, wenn sie es öffnet. Die Kekse, die jedesmal aus den schützenden Papierschichten zum Vorschein kommen, haben eine köstliche Füllung und verschwinden in Nullkommanichts in den allzeit hungrigen Mägen.

Wenn die Großen Zeit haben, unterweisen sie uns in Sachen Kosmetik, Mode und anderen nützlichen Dingen. Zum Beispiel, was man aus sehr langen Haaren machen kann. Meine sind es, und fast jeden Morgen finden sie eine andere Frisörin. Wenn wir zum Frühstück die Treppe hinunterschweben, stehen die Jungs schon unten und kommentieren unseren Einzug.

Daß ich mit immer neuer Frisur erscheine, entgeht unserem Drachen auch nicht. Eines Tages bestellt sie mich ins Lehrerzimmer und nach einigem Hin und Her kommt sie zur Sache. Ob ich schon darüber nachgedacht hätte, wie unpraktisch so lange Haare seien. Man könne da Abhilfe schaffen, sie habe Sonderkonditionen bei dem besten Friseursalon der Stadt. Einige der älteren Mädchen aus dem Internat hätten das schon in Anspruch genommen. Ich bedanke mich und gehe. Trotz der beschwerlichen Haarwäsche und des Trocknens im Winter denke ich nicht daran, die Pracht abschneiden zu lassen.

In den Modezeitschriften werden die Röcke kürzer, das ist ein Thema, das die größeren Mädchen in letzter Zeit beschäftigt. Das Wetter ist jetzt wärmer, man könnte schon einen Minirock tragen. Wenn der Drachen nicht wäre. Sie erlaubt das garantiert nicht. Dann hat eine der Älteren die ultimative Lösung.

Am Wochenende wird in allen Zimmern emsig mit Schere, Nähnadel und Faden hantiert. Eine von uns steht vor der Eingangsstür Schmiere und meldet, wenn der Drachen naht. Dann verschwinden die Utensilien der Schneiderzunft blitzschnell unter den Bettdecken. Am Montag ist es dann soweit. Das morgendliche Defilée fällt diesmal spektakulär aus. Die Jungs johlen anerkennend, der Drachen läuft angesichts so vieler hochgerutschter Uniformkittelsäume bläulichrot an und ist zum ersten Mal, seitdem ich sie kenne, sprachlos. Machen kann sie nichts, weil wir alle die gleiche Saumlänge tragen. Eine kollektive Strafe in Form von Hausarrest will sie nicht verhängen, vielleicht weil sie befürchtet, wir heckten dabei die nächste Dusseligkeit aus.

Die mutige Tat findet im Mädchengymnasium schnell Nachahmerinnen. Unsere Jungs haben eine Woche später Gelegenheit, auch die Form der Knie der Grazien zu begutachten, die immer noch jeden morgen auf der anderen Straßenseite vorbeispazieren.

László

Vera ist schwer verliebt. Das Objekt ihrer Anbetung ist ein Junge, der vor einem Jahr schon das Abitur bei uns gemacht hat. Sie zerrt mich zum Tableau mit den Fotos seines Jahrgangs und zeigt auf einen mit blonden Haaren. Der Name kommt dort zweimal vor, denn auch sein Zwillingsbruder, der ihm kein bißchen ähnlich sieht, ist dabei. Vera schwärmt morgens und besonders abends, wenn wir eng aneinander gequetscht und flüsternd in ihrem oder meinem Bett liegen, ausführlich von ihm. Vielleicht kommt er zur Abitursfeier im Mai, seufzt sie. Und László kommt.

Es gehört zur Tradition der Schule, daß Absolventen früherer Jahrgänge zu den Abschlußfesten erscheinen. Offensichtlich waren viele gern hier. Veras Angebeteter ist auch unter den Besuchern, sie hat vor Aufregung hektische Flecken im Gesicht. Ihre großen Rehaugen glänzen mit den Lichtern in der Aula um die Wette, ihr Blick saugt sich an der Gestalt eines sehr großen blonden jungen Mannes fest.

Unsere Klasse hat noch Unterricht, eine Stunde Biologie ist auch dabei. Der Platz neben mir ist an diesem Vormittag leer, aber das ändert sich nach der großen Pause. Der große blonde junge Mann kommt mit dem Biologielehrer in den Raum. Herr Dávid stellt ihn vor und zeigt auf den freien Platz neben mir. Unser Klassenlehrer will offensichtlich mit seiner Musterschülerin angeben, weil er mich zur Tafel holt. Die Vorstellung hat ihm gefallen, ich bekomme dafür die beste Note. László, der Blonde, applaudiert lautlos dazu und ich denke, was für ein Blödmann.

Diese Meinung ändere ich im Laufe des Tages gründlich. Nach der Biologiestunde müssen wir den Klassenraum aufräumen und für die Feier schmücken. László will helfen, steht aber immer nur im Weg. Dann habe ich eine Idee. Obwohl er sich reichlich ziert, schleppe ich ihn zum Klassenraum von Vera. Meine Wahlschwester hantiert gerade mit einem großen Besen. Ich finde eine Kehrschaufel, drücke sie László in die Hand und verschwinde. Nach der feierlichen Ansprache des Direktors und anderer Leute in der Aula kann jeder machen, was er will, ich gehe zurück in meinen Klassenraum. Auf meinem Platz sitzt der große Blonde und blättert in meinen Büchern und Heften.

»Nicht schlecht für ein Mädchen in deinem Alter.«

»Was ist nicht schlecht?«

»Na, dein Versuch, mich mit deiner Freundin zu verkuppeln.«

»Wieso verkuppeln? Ihr kennt euch doch schon. Außerdem ist Vera...« Ich kann gerade noch stoppen.

»Ich weiß. Aber ich nicht.« László hält den Kopf schief, während er mich ansieht. Die Geste erinnert mich an meine Mutter, und weil sie bei ihm so komisch aussieht, muß ich darüber lachen.

»Kommst du mit in die Stadt? Ich kenne ein nettes kleines Café, wo nicht jeder Interner hingeht.«

Im Gewühl der Gäste in der Schule fallen wir nicht auf. Heute herrscht unkontrolliertes Kommen und Gehen, so merkt es niemand, daß wir gemeinsam das Schulgebäude verlassen.

Das Café ist wirklich nett, winzig und liegt in einer Straße, die ich nicht kenne. Einer der beiden Tische ist noch frei. László bestellt Espresso für uns beide, ohne zu fragen, ob ich mag. Mein Referat in der Biologiestunde habe ihm gefallen. Überhaupt möge er kluge Mädchen gern, sagt er und sieht mich an, wie mich noch kein Junge angesehen hat. Er ist allerdings kein Junge mehr, sondern zwanzig Jahre alt und Student der Hochschule für Gartenbau in Budapest. Seine Eltern wohnen in Eger, siebzehn Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Ein Nachbar sozusagen.

»Heute ist mein Geburtstag«, sage ich. In der Aufregung des Tages habe ich es fast selbst vergessen.

»Ich möchte dir schreiben«, sagt László. »Dann kann ich dir einen nachträglichen Geburtstagsgruß schicken. Aber jetzt möchte ich ein Foto von dir machen. Darf ich?«

»Nicht in dieser häßlichen Schuluniform. Ich schicke dir eines.«

»Also willst du mir auch schreiben.« Seine Augen lächeln mich an, er rückt seinen Stuhl näher an meinen.

Eine warme Hand auf meiner Hand, dann zwei. Dann die flüchtige Berührung seiner Lippen in der Handfläche. Eine der Hände schließt meine mit dem Kuß darin und verweilt ein paar Sekunden am Handgelenk. »Sehen wir uns morgen? Am frühen Abend geht mein Zug.«

In den hellblauen Augen sehe ich ein kleines Stück Himmel, das mir geschenkt wurde an diesem Nachmittag.

Jeden Tag ein Liebesbrief

Vera spricht nicht mit mir, als ich zurückkomme, und ich kann und will ihr auch nichts erklären. Niemandem will ich was erzählen von dem, was mir passiert ist, oder besser gesagt, gerade passiert. Wir sehen uns wieder, László und ich, danach kommt er nicht mehr in die Schule zurück. Um vier Uhr am Nachmittag muß ich im Internat sein. Es ist Sonntag, und Mai, ich bin gestern fünfzehn geworden. Plötzlich ist alles anders. Ganz anders.

Zwei Tage später werde ich ins Lehrerzimmer bestellt, der Drachen hat Sehnsucht nach mir. Mir scheint, ihre Haare stehen zu Berge, als ich das Zimmer betrete, unsere Aufpasserin kommt gleich zur Sache. Ob ich nicht wisse, daß es verboten sei, Briefe von Männern zu bekommen. Sie sei schließlich dafür da, darüber zu wachen, daß Mädchen und Jungs keine Dummheiten machten. Das sei sie unseren Eltern schuldig. Sie hält mir einen Briefumschlag mit komplizierter Handschrift und einer auffallend schönen Marke unter die Nase.

Ob ich die Schrift kenne.

»Nein«, sage ich, und das stimmt.

Aber sie, sagt der Drachen, sie kennt diese Schrift sehr gut. Sie stammt von einem gewissen großen blonden jungen Mann, der ...

Ohgottogott. Wie kann ich bloß den kostbaren Brief diesem Raubtier entreißen? Ich habe keinen blassen Schimmer. Mein Herz hämmert vor Aufregung, ich mime aber die Unaufgeregte.

»Sie können den Brief ruhig öffnen, Frau Veres. Da steht nichts drin, was Sie nicht lesen könnten« und schaue den Drachen treuherzig an.

Was Frau Veres veranlaßt hat, mir den Brief ungeöffnet auszuhändigen, weiß ich bis heute nicht. Ich darf ab jetzt sogar einen Brief pro Woche von diesem jungen Mann erhalten, vorausgesetzt, ich besorge die Einwilligung meiner Eltern dazu.

Das Schreiben meiner Eltern liegt in einer Woche dem Drachen vor und ich bekomme von ihr Lászlós Briefe persönlich ausgehändigt. Die anderen, denn jeden Tag kommt mindestens einer, bringt mir eine Schulkameradin mit, die in der Stadt wohnt. Judit wedelt jeden Morgen grinsend mit einem dicken Umschlag mit schöner Briefmarke darauf, wir müssen allerdings darauf achten, daß es niemand mitbekommt.

In den Sommerferien kommt László oft mit einem kleinen knatternden Mofa, in unserer Gegend Gänseschreck genannt, zu Besuch, vorher aber plündert er jedesmal den Rosengarten seines Vaters. Vater ist entzückt, der junge Mann ist nach seinem Geschmack. Großmutter ist geradezu bezaubert von ihm, nur Mutter verhält sich abwartend, sie sagt vorsichtshalber wenig. Dafür stellt sie ein paar Nachforschungen an. Sie findet heraus, daß Lászlós Mutter ein kleines Milchgeschäft in Eger leitet und als sie mich zum erstenmal mitnimmt, begrüßen sich die beiden Frauen als wären sie alte Freundinnen.

László liebt Gedichte, in den vielen Seiten seiner Briefe findet sich immer eines, meist von französischen Lyrikern; ich verschlinge sie. Die Übersetzungen stammen von bekannten ungarischen Dichtern. In Ungarn erscheint in diesen Jahren regelmäßig eine Anthologie von Zeitgenossen unter dem Titel Schöne Gedichte, László schenkt mir die ersten.

Ein Jahr im Rausch, das Lernen tritt dabei etwas in den Hintergrund. Als ich einen Monat vor Abschluß des Schuljahres von Herrn Dávid meine voraussichtlichen Zensuren erfrage, bekomme ich einen gehörigen Schrecken. Dann setze ich mich auf den Hosenboden und büffele, was das Zeug hält und bitte um eine Chance der Nachbesserung. Die wird mir gewährt.

Danach habe ich in allen Fächern Bestnoten, bis auf Sport. Unser Sportlehrer erklärt mit sauertöpfischer Miene, daß er mir nur deshalb ein Gut ins Zeugnis geschrieben hat, weil er es nicht mit einem Ungenügend verunzieren wollte. Für ihn bin ich der hoffnungsloseste Fall, dem er in seiner gesamten Laufbahn begegnet ist.

Die Predigt lasse ich über mich ergehen, freue mich über das Zeugnis und noch mehr über die Anerkennung von László, als er erfährt, daß ich mich in allen Fächern verbessert habe. Um seinen Ehrgeiz ranken sich Legenden in der Schule, Herr Dávid, dessen Lieblingsschüler er war, singt Lobeshymnen über ihn. Er weiß natürlich vom Briefwechsel zwischen László und mir, und als ich um die Verbesserung meiner Noten bemüht war, kam er mir wohlwollend entgegen und meinte, der László Farkas, der hätte das genauso gemacht.

Der Ruf einer Streberin haftet mir nur deshalb nicht an, weil hier alle bestrebt sind zu lernen. Lernen, das Zauberwort in ungarischen Schulen. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht daran erinnert werden, daß es ein Privileg ist, lernen zu dürfen, was bei früheren Generationen nicht selbstverständlich war. Und daß Mädchen alles werden können, was sie nur wollen, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Und daß Bildung allen offensteht.

Daß ich allerdings Glück gehabt habe, einer verarmten Großgrundbesitzer-Familie zu entstammen, wird mir später klar. Kindern von ehemals Reichen und aus Intellektuellen-Familien stehen die Türen und Tore zur Bildung nicht offen, sie bleiben ausgesperrt. Wollen die Eltern, daß ihre Kinder trotzdem in den Genuß eines Studiums kommen, müssen sie entsprechende Beziehungsnetze aufbauen, in diverse Trickkisten greifen, - und oft tief in die Geldbörse.

Denn Vitamin B funktioniert auch in einer sozialistischen Gesellschaft und die Vorzüge von Beziehungen kosten eben Geld. Oder eine andere Gegenleistung. Seitdem ich mich erinnern kann, führt bei uns jeder ein imaginäres Kassenbuch über erhaltene und zu erwartende Gefälligkeiten. Selbst Arztbesuche müssen der in Anspruch genommenen Leistung entsprechend sondervergütet werden. Im Krankenhaus und bei Untersuchungen in den Polikliniken wandern diskret verschlossene Briefumschläge aus der Hand des Patienten in die Tasche des weißen Kittels des behandelnden oder konsultierten Arztes. In Ermangelung von Barem wechseln auf dem Land Naturalien ihre Besitzer und es kommt schon vor, daß die verehrte Frau Doktor, die Gattin des Arztes, das Zusatzhonorar in Gestalt eines Huhns oder einer Gans eigenhändig ins Jenseits befördern muß, will die Familie am Sonntag einen Festtagsbraten vorgesetzt bekommen.