ins weiße meer der schrift - Evelyn Schlag - E-Book

ins weiße meer der schrift E-Book

Evelyn Schlag

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Beschreibung

Der Auftakt von Evelyn Schlags neuem Lyrikband – kirschenzauber – wiegt uns in Sicherheit. Er evoziert Sommer, Kindheit und eine Zeit, als das Sprechen noch geholfen hat. Doch wir ahnen, das alles ist vorbei. Was folgt, ist im krieg. 13 Gedichte, die klarsichtig, ohne Pathos und Larmoyanz von der Ungeheuerlichkeit des Tötens und Auslöschens erzählen. "ich will nicht dass du ein verlust wirst! liebster … es gab heute 54 auf unserer seite, alle verloren. bis wohin muss ich zählen bis es dein körper in einem weißen sack ist?" Diese Gedichte 'treffen', weil hier eine schreibt, die – obwohl seit mehr als vier Jahrzehnten eine fixe Größe in der deutschsprachigen Lyrik – auch den sehr Jungen eine Stimme geben kann. Die im fotoalbum new york gruppierten Gedichte sind eine literarische Spurensuche nach den Eltern und dem Großvater, die in ihrem letzten Roman Please Come Flying (2022) in die geliebte fremde Sprache führte. In der ballad for the shooting stars zeigt sie einem Fotografen einen Tropfen Blut an ihrem Finger, entlockt ihm ein verzücktes "welch schönes blut du hast" und verabredet sich für die Sternschnuppennacht mit ihm. Wer würde denn einen 13. August vorübergehen lassen?

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Seitenzahl: 38

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ins weiße meer der schrift

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

Evelyn Schlag

ins weiße meer der schrift. gedichte

Hollitzer Verlag, Wien 2024

Umschlag: Nikola Stevanović

(Foto: Frozen Sea, iStock)

Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien

www.hollitzer.at

ISBN Druckausgabe: 978-3-99094-195-9

ISBN ePub: 978-3-99094-196-6

Evelyn Schlag

ins weiße meer der schrift

gedichte

ein kirschenlied hat

zwei bügel

sprichs dahinter

im krieg

ersteinsatz

ein verwundeter soldat auf einem

notbett, drei männer stehen mit mir

um ihn herum. einer hat ein größeres

problem bei seinem gummihandschuh.

mit solchen fingernägeln bleibst du

stecken! rückzug! rückzug! jetzt!

der zweite kamerad (im grauen

mantel) ist geschickter. bei dem passt

alles auf den millimeter. königsblau

ist sein op-handschuh, der gummi

ziemlich sicher unterfüttert – der

und sein handschuh sind ein anderes

kaliber. welches! gute frage. rang=

abzeichen braucht so einer nicht.

er ist mir nicht geheuer, kapiert?

der verwundete liegt auf dem

rücken, nackter oberkörper, sein

mund wie todesoffen. die augen

sind geschlossen – oder sieht das

jemand anders? seine hand ruht

(ruht ist gut) in einer nierenschale

auf dem flachen bauch. sie gehört

noch ihm, ist noch nicht abgetrennt.

ein blutiges gemisch aus fleisch

und knochen. reichlich ungenau,

das geht jetzt aber nicht genauer.

fleisch wie in „menschenfleisch“,

okay? ein mann in schwarz mit grauer

mähne – soll das vielleicht ein arzt

sein? – dreht die gequetschte hand

in form. platziert die finger so wie

sie … gleich muss ich – – – WOAAAHH!

woaaahh! haarscharf daneben – – –

das ist ein vollbluttrickster! der hat

bestimmt mehr follower als gesund

ist. und jede menge weiber. klar.

letzter auftritt

die alte dame steht allein auf einer

großen bühne und hält das publikum

in bann. sie hat noch kein wort gesagt.

nichts regt sich alles wartet. man

kennt die stimme aus dem radio

und von den großen rollen ihres fachs.

ihr kostüm ein kühner paletot mit

weitem kragen, darunter das wickel-

kleid einer modebewussten frau.

das bühnenbild – „ein wohnblock in

ruinen“ – hat keinem techniker eine

schlaflose nacht bereitet. verlangt

war: fenster aus den rahmen sprengen,

leitungen freilegen und lianengleich

zum nachbarn knüpfen oder im freien

baumeln lassen. drei rippen vom heiz-

körper sind genug, der nikotinfarbene

schaumstoff kann bleiben wo er ist,

in spalten und zwischenräumen.

ein paar duschkabinen dürfen sich

am abgrund halten. spricht nichts

dagegen. da wurden viele tropfende

hemden aufgehängt und – wie nennt

man das – die kleine unterwäsche.

wie lange sie da noch stehen wird,

erstarrt im schreck? alles umsonst

gewesen. das stück ist abgesetzt.

verlust

je mehr ich von dir weiß liebster –

deinen wein, deine nacht, oder

wann du eine bestimmte menge

sprengstoff zu einem treffpunkt

bringen sollst – desto mehr steigt

meine angst vor einem hinterhalt.

muss vier immer eine gerade zahl

sein, ein veilchen der feind eines

flieders? lässliche farbbezeichnung,

schon steigt die fehlerquote – die

verluste. ich will nicht dass du ein

verlust wirst! liebster … es gab heute

54 auf unserer seite. alle verloren.

bis wohin muss ich zählen bis es dein

körper in einem weißen sack ist?

manchmal sehne ich mich nach

dem vorkrieg – im „vorkrieg“ lagen

wir als kleine schlachthasen im halb=

schatten. das war liebe. bei vielen

sogar die liebe ihres lebens. (wenn

du stirbst – ist das der tod meines

lebens) … sauschlechtes wetter.

der laser sieht nichts mehr. dann

ist der himmel fort. wenn auch dein

name verschwindet gebe ich dir einen

neuen und lege ihn auf deine brust.

das haus meiner tante

ich wollte unbedingt dorthin.

zwei kameraden nahmen

mich auf ihrem urlaub mit.

wir wussten nicht was

uns erwartete. das dorf war

erst vor kurzem wieder frei.

ihre familien – beide hatten

kinder – waren seit beginn des

kriegs in polen. ich hatte nur

die tante. ich dachte dass sie

jetzt für uns gemeinsam

eine tante sein könnte.

ich lieh sie ihnen gerne als

zeichen meines dankes. sie

überlebt bei einer schwägerin.

„sprich schön“ sagt sie. schön

sprechen. im krieg. wir suchten.

alles weg bis auf die narben

eines sockels. hier stand ihr

haus mit einem grünen windrad

in das ich meinen finger steckte

um es anzuhalten. die bank

auf der die tante saß und ihr

gemüse putzte … alles weg.

wir haben hier nichts mehr zu

suchen. meine tante weiß noch

alle plätze und verstecke. sie

sagt „ich könnte hineingehen“.

nadiya

er hatte sich heimlich entfernt

am himmel war kein mond

eine glanzlose nacht ohne nacht

ein rätselhaftes nichts zu dem

es kein gegenstück gab

er suchte nach seinen eltern