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Kati Hiekkapelto

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Beschreibung

Eiskalt und tödlich

Kaum hat Anna Fekete ihre erste Stelle als Kriminalkommissarin angetreten, landet auch schon ein Mordfall auf ihrem Tisch: eine junge Frau, die beim Joggen im Wald auf grauenvolle Weise getötet wurde. Anna nimmt die Ermittlungen auf. Ihr zur Seite gestellt ist Esko Niemi, ein alter Haudegen, der seine junge Kollegin torpediert, wo er kann. Bis ein zweiter Mord geschieht und Esko klar wird, dass sie den Killer nur gemeinsam finden werden. Doch Anna ist bereits auf eigene Faust unterwegs.

Die 19-jährige Riikka wird beim Joggen im Wald brutal ermordet. In den Taschen ihres Sportanzugs findet sich ein Amulett, dem die Polizei jedoch keine weitere Beachtung schenkt. Anna Fekete und ihr Kollege Esko Niemi übernehmen die Ermittlungen. Beim Verhör von Riikkas Freundeskreis erfahren sie, dass Riikka sich kurz zuvor von ihrem Freund getrennt hat. Allerdings ergibt die Autopsie, dass sie am Tag ihres Todes Geschlechtsverkehr hatte. Der Fall verkompliziert sich, als ein zweites Opfer gefunden wird. Wieder taucht ein Amulett beim Leichnam auf. Doch es gibt keinen Hinweis, dass die beiden Opfer sich gekannt haben. Wie sich zeigt, stellen die Amulette einen blutrünstigen Aztekengott dar. Handelt es sich bei dem Täter um einen Serienmörder, der seine Opfer zufällig auswählt? Bevor Anna Fekete und Esko Niemi eine Antwort finden, geschieht ein dritter Mord. Der Tatort entpuppt sich als kaltblütige Falle.

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Seitenzahl: 557

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Ähnliche


Kati

Hiekkapelto

KOLIBRI

Thriller

Aus dem Finnischen

von Gabriele Schrey-Vasara

Die Originalausgabe erschien

unter dem Titel Kolibri bei Otava, Helsinki

Die Übersetzung wurde

gefördert von FILI, Helsinki.

Copyright © 2013 by Kati Hiekkapelto

ja Kustannusosakeyhtiö Otava

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung und Motiv: Johannes Wiebel/punchdesign, München,

unter Verwendung eines Motivs von Suze/photocase.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-14291-9

www.heyne.de

Für Aino, Ilona und Robert

In dieser Nacht war das Sandmännchen ein Handlanger der Gestapo. Als es surr, surr zu seiner Runde aufbrach, warf es seine blauen Klamotten in den Wäschekorb und zog einen langen Ledermantel und glänzende Stiefel an, schleppte mich zum Auto und brachte mich weg. An seinem Gürtel steckte eine Schnalle, die sich blitzschnell öffnen ließ. Warum wohl. Ich traute mich nicht einzuschlafen, obwohl die Fahrt ewig dauerte.

Ich habe als Kind verstümmelte und gesteinigte Menschen gesehen, ganz ehrlich, und eigentlich müsste ich irgendwie traumatisiert sein, bin es aber nicht. Aber ich weiß, wie mein Körper einmal aussehen wird, wenn ich tot bin. Ich habe von den Mädchen gehört, die vom Balkon gestürzt sind, die Engel von Rinkeby und Clichy-sous-Bois, die eben doch nicht fliegen konnten. Und ich kenne ein Mädchen, das einfach verschwand, walla-hi. Alle wussten, dass es in seine alte Heimat zurückgeschickt worden war, als Frau irgendeines schmerbäuchigen Perversen mit Goldzahn und dicken Wurstfingern. So blieb die Ehre der Familie gewahrt, o ja, die ganze Familie seufzte erleichtert auf und klebte sich ein Alles-prächtig-Lächeln auf die Lippen, forever. Alle außer dem Mädchen natürlich. Und der Perverse bekam ein hübsches Spielzeug, in das er seine stinkigen Würste stecken konnte.

Das Sandmännchen brachte mich zu Onkel und Tante in eine andere Stadt, in eine Trabantensiedlung, auf das Wohnzimmersofa, und dort lag ich, total benommen, und dachte bei jedem Geräusch, jetzt kommen sie und bringen mich um. Ich hörte, wie meine Tante in der Küche das Wasser laufen ließ. Am Telefon flüsterte. Mit dem Onkel tuschelte. Mit irgendetwas raschelte. Keine Ahnung, inwiefern sie aus finnischer Sicht Onkel und Tante für mich waren. Soweit ich weiß, wohnen Mutters Geschwister alle in Schweden, und Vaters einziger Bruder ist schon lange tot. Die beiden waren Onkel und Tante nach unserer Definition. Alte Bekannte. Irgendwie mit Vater verwandt. Sie gingen nie schlafen und haben bestimmt nicht mal gegessen. Mir stellten sie nur irgendein Brot auf den Wohnzimmertisch. Die ganze Zeit waren sie irgendwie in Alarmbereitschaft. Auf welchen Befehl haben sie gewartet? Schmeißt das Mädchen runter, huch, ein Unfall. Oder: In zwei Stunden geht der Flieger, wir haben die Tickets.

Das Sofa roch nach Kurdistan. Ich begreife nicht, wie die es schaffen, dass dieser Geruch immer da ist und an allen Sachen haftet: an Sofas, Teppichen, Vorhängen, Kleidern und Kleiderschränken, Speisekammern, Betten, Laken, Tapeten, im Fernseher, in der Seife, in den Haaren, auf der Haut. Worin bringen sie ihn mit? In einer Dose? Und wieso hält er sich über Hunderte von Jahren und Tausende von Kilometern? Oder ist es wirklich so wie in dem Lied, das sie singen: Kurdistan ist die Luft, die man atmet?

Onkel und Tante belauerten mich die ganze Zeit, ich durfte nicht mal die Klotür schließen, wenn ich pinkeln ging. Als hätte ich in der Kanalisation oder im Lüftungsrohr verschwinden können. Dabei hatte ich überhaupt keine Chance zu fliehen. Ich hatte zwar die Schritte gezählt und mir ausgerechnet, wie viel Zeit ich brauchen würde, um durch den Flur und zur Tür zu rennen, das Schloss aufzufummeln, im Treppenhaus um Hilfe zu rufen und in die Freiheit zu laufen. Aber Onkel und Tante hielten Wache in der Küche direkt an diesem ewig langen Weg, die Küche offen wie ein klaffender Schlund gleich neben der Wohnungstür. Sie hätten mich erwischt, noch ehe ich an der Tür gewesen wäre. Und ich wusste, dass sie von innen verriegelt war und mein Onkel den Schlüssel hatte. Das hatten sie mir unmissverständlich klargemacht, als sie abgeschlossen, die Sicherheitskette vorgelegt und die Zwischentür zugedrückt hatten wie den Riegel einer Zelle. In Finnland sollte ich in Sicherheit sein. Und doch hatte ich mehr Angst als früher, als ich noch klein war, dort, wo die Straßen voll Blut gewesen waren, aber Mutter und Vater wenigstens manchmal noch gelacht hatten.

Ich konnte nicht einfach daliegen und darauf warten, dass der verdammte KGB-Sandmann durch die Tür geschlichen kam und JETZT sagte, und dann taten sie mir was wirklich Schlimmes an. Ich musste handeln. Ich holte mein Handy aus der Handtasche. Das erste Wunder: dass sie vergessen hatten, es mir wegzunehmen. Ein unbegreiflicher Patzer. Sie waren wahrscheinlich auch total nervös gewesen.

Ich tippte die Nummer ein, die sie mir gleich am ersten Schultag beigebracht hatten, Sicherheit geht vor, yeah, das ist Finnland. Damals flippte ich schon aus, wenn ich bloß daran dachte, dass ich dort anrufen müsste, weil es brennt oder meine Mutter einen Herzanfall hat oder so, und ich nicht hätte sagen können, was passiert ist. Weil die mich ja doch nicht verstanden hätten. Die Nummer hat mein Sicherheitsgefühl kein bisschen verstärkt, sondern nur noch mehr angeknackst, sodass es schwankte und knirschte und knarrte. Ich hatte Albträume von allen möglichen Notfällen. Dann dachte ich darüber nach, einfach zu den Nachbarn zu laufen, wie ich’s zu Hause getan hätte, aber nach ein paar Wochen kam mir das genauso unsicher vor, weil mir klar wurde, dass ich überhaupt keinen von den Nachbarn kannte, außer der alten Tante im Erdgeschoss, die immer vor mir ausspuckte.

Jetzt weiß ich die richtigen Worte. Ich beherrsche eine neue Sprache, und die spreche ich besser als die frühere. Ich könnte zum Beispiel bei der Landeszentrale der Forstverwaltung anrufen, und die würden aus meinem Kiefernwaldgesäusel kein bisschenKurdistan heraushören.

Und ich weiß auch, dass man der Polizei hier trauen kann, jedenfalls im Prinzip und wenn man nicht gerade ein Dublin-Fall ist oder sonst jemand, den die Migrationsdiktatoren als schadhaften Müll betrachten und zurückschicken wollen. Bin ich aber nicht. Ich hab die Staatsbürgerschaft. OMG, es ist wirklich lachhaft, aber ich muss es sagen. Ich bin ganz offiziell Finnin. Ein Lottogewinn, obwohl ich nicht hier geboren bin, also keine sechs Richtige, aber immerhin fünf plus Zusatzzahl. Ich hatte keine andere Chance, ich musste zumindest versuchen, an Wunder zu glauben. Also wählte ich den Notruf.

August

1

Kein Laut war aus dem Wald zu hören, der am Rand der Joggingbahn als Weidengebüsch begann. Die Schatten der Äste verwischten in der einsetzenden Dämmerung. Die hellen Joggingschuhe pochten dumpf auf die mit Sägespänen bedeckte Strecke. Die Beine hämmerten über den Boden, ihre starken, trainierten Muskeln arbeiteten effektiv, und das Herz schlug genau im richtigen Takt. Um das zu erkennen, brauchte sie keine Pulsuhr. Sie würde sich niemals eine anschaffen. Sie kannte ihren Körper und wusste, was sie ihm abverlangen konnte. Nach dem ersten Kilometer wich die anfängliche Steifheit, die Beine wurden leichter, und der Atem ging gleichmäßiger, sie fand den genussvollen, lockeren Rhythmus, in dem sie für immer weiterlaufen könnte, bis ans Ende der Welt.

Die regenfrische, sauerstoffreiche Luft war leicht zu atmen. Die Lunge sog sie ein und stieß sie aus wie ein Blasebalg, der nicht ermüden würde. Ihr ganzer Körper war bereits mit einem Schweißfilm überzogen. Wenn ich jetzt anhielte und mich auszöge, dann würde ich glitzern wie der nasse Wald, dachte sie. Ihre Zehen fühlten sich heiß an. Die Handschuhe hatte sie sich längst in die Tasche gesteckt, dabei hatte sie beim Aufbruch kalte Hände gehabt. Das Stirnband saugte die herabrollenden Schweißtropfen auf, die dunklen, kräftigen Haare waren am Ansatz klitschnass. Gleichmäßige Schritte trommelten auf dem Sägemehl, die Welt kondensierte geradezu an dem monotonen Rhythmus, und ihre Gedanken gaben eine Weile Ruhe. Es gab nur Schritt, Schritt, Schritt, Schritt, nichts sonst in dieser schrecklichen Welt.

Dann spürte sie das Knie. Ihr Atem beschleunigte sich, und Erschöpfung machte sich bemerkbar. Sie musste das Tempo ein wenig drosseln, um durchzuhalten bis nach Hause. Es war nicht mehr weit. Dort hinten zeichnete sich schon der umgestürzte Baum ab, bei dem sie immer mit dem Endspurt begann. Sein schwärzlicher, dicker Stamm hatte im Fall ein paar dünne Birken mitgerissen. Der Wurzelstock ragte wild wie ein Troll in die Höhe. Sie hatte sich schon oft gedacht, dass man sich dahinter leicht verstecken könnte.

Auf einer anderen Joggingbahn störte nur das Knistern des Trainingsanzugs einer einsamen Läuferin die Stille. Der Wald schwieg, das Rauschen des Meeres war nicht zu hören. Die Vögel sind noch nicht fortgezogen, vielleicht schlafen sie, dachte die Joggerin, als im selben Moment direkt neben ihr eine Krähe schrie. Sie erschrak über das unerwartete Geräusch, ihr Herz verkrampfte sich, und gleich darauf hörte sie von der Seite ein Rascheln, als würden sich Zweige biegen und wieder zurückschnellen. Im Wald bewegte sich irgendjemand. Nein, nicht jemand, sondern etwas: ein Vogel, ein Igel, irgendein Insekt. Quatsch, ein Insekt macht nicht so ein Geräusch. Vielleicht ein Fuchs oder ein Dachs, die Wälder sind doch immer voller Tiere, vor denen braucht man keine Angst zu haben, redete sie sich ein, versuchte, sich zu beruhigen, schaffte es aber nicht. Sie steigerte das Tempo und lief zu schnell. All die verqueren Geschichten in ihrem Leben kreisten wirr in ihrem Kopf, sie lief, um das ganze Durcheinander loszuwerden, war den ganzen Sommer lang gelaufen wie besessen. Wenn das Semester doch bald anfinge, dachte sie, dann käme ich hier raus, weg von allem Bisherigen, könnte ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen, neu durchstarten. Seit sie die Aufnahmebestätigung von der Universität bekommen hatte, hatte sie sich diese Phrasen immer wieder aufgesagt. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht loszukommen.

Als die Haustür ins Schloss fiel, war sie schon im ersten Stock. Die letzte Plackerei, in vollem Tempo hinauf in den vierten, und obwohl ihre Waden bereits höllisch brannten, wusste sie, dass sie es schaffen würde. Die heutige Runde war eine der leichtesten in ihrem Trainingsprogramm, eine knappe Stunde Joggen in gemäßigtem Tempo, pure Freude und Genuss. Sie zog die verschwitzten Klamotten aus und warf sie im Flur auf den Boden, stellte sich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über die rot pulsierende Haut strömen, ließ die salzigen Schweißtropfen und den Seifenschaum abfließen, in die Kanalisationsrohre, die sich unter der Stadt kreuzten, in die Kläranlage, wo sie viele Männer beschäftigten. Der Gedanke belustigte sie. Nach dem Duschen hüllte sie sich in einen dicken weißen Bademantel, wickelte ein Handtuch um ihr schwarzes Haar, öffnete eine Bierdose und ging zum Rauchen auf den Balkon. Karger Beton und reihenweise dunkle Fenster. Trabantenstadt. Welcher verdammte, dumme Impuls hatte sie hierher zurückgebracht? Sie lachte laut über die Siedlung, die ihr irgendetwas vorzugaukeln versuchte, wie es ihre Art war. Jetzt gerade stellte sie sich schlafend. Doch sie wusste, dass das eine Lüge war. Sie hatte gesehen, was sich hinter diesen Betonmauern verbarg. Nach dem Laufen quälte es sie zum Glück nur selten, und seltsamerweise bereitete ihr auch der morgige Tag kein Unbehagen. Die Endorphine hatten ihr Nervensystem in einen Vergnügungspark verwandelt, und sie fühlte sich immer noch himmlisch, als sie ins Bett ging. Jó éjszakát, flüsterte sie sich zu und schlief ein.

Außer Atem lief die Joggerin durch den inzwischen wieder stillen, sich verdunkelnden Wald. Auf den sattgrünen Blättern glitzerten die Regentropfen, die den Boden nicht erreicht hatten. Hinter ihr knackte es laut. Ein Elch oder ein Fuchs, redete sie sich ein, glaubte es aber immer noch nicht.

Sie sah sich um. Es ist zu still, dachte sie, unnatürlich still. In Gedanken verfluchte sie ihr schnelles Anfangstempo, jetzt konnte sie nicht mehr, und obwohl sie mittlerweile wirklich Angst hatte und nur noch wegwollte, musste sie ins Schritttempo übergehen. So verbrennt man kein Fett, ich kriege bloß einen Muskelkater, und morgen bin ich zu gar nichts mehr in der Lage. Dabei müsste ich abnehmen. Ich muss. Alles muss anders werden, beschwor sie sich, um nicht an den bedrohlichen Wald zu denken, in dessen Schatten sie jemand zu belauern schien. Du spinnst, sagte sie laut zu sich selbst. Ich werde bestimmt noch verrückt, und das geschieht mir ganz recht. Ich muss das alles vergessen, aufhören zu sündigen, meine Wunden lecken, ach Scheiße, was für Klischees, denk dir mal was Originelleres aus. Ihre Stimme übertönte das Rascheln im Wald.

Auf den letzten fünfhundert Metern zum Wagen atmete sie schwer, hatte das Gefühl, sie würde es nie schaffen, der Weg würde nie enden. Gerade als das gelbe Auto durch das Gebüsch schimmerte und sie über ihre albernen Schreckensbilder lächelte, entdeckte sie die dunkle Gestalt, die vor ihr auf der Joggingbahn kauerte. Urplötzlich richtete sich die Gestalt auf und stürzte auf sie zu.

2

Die dicke Wolke, die nun schon seit vier Tagen den Himmel verdunkelte, schleuderte unermüdlich Regen auf die Stadt. Es war grau und kühl. Die Fußgänger, die sich mit ihren Schirmen durch das morgendliche Gedränge kämpften, wichen den Fontänen aus, die von den Autoreifen aufspritzten. Die Klügsten trugen Gummistiefel. Der Sommer schien unwiderruflich vorbei zu sein, obwohl die Haut noch längst nicht auf die Hitze und die Berührung des Meerwassers verzichten wollte. Die Schule hatte wieder begonnen, die Berufstätigen waren aus dem Urlaub zurück, und die Gesellschaft lief wieder auf vollen Touren: zur Arbeit, nach Hause, zur Arbeit, nach Hause, keine Faulenzerei auf den Badestegen und kein Pusteblumenpusten mehr.

Um Viertel vor acht öffnete Anna die Tür zu dem großen Amtsgebäude in ihrer ehemaligen Heimatstadt und betrat das konstant hellwache Foyer. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass ihr neuer Chef sich verspätet hatte. Sie holte die Puderdose aus der Handtasche, zupfte die Ponyfransen zurecht und legte ein wenig Lipgloss auf. Dann atmete sie tief durch. Ihr Magen zwickte, und sie hatte Druck auf der Blase.

Die Neonleuchten sirrten hinter den Gittern der Lampenschirme. Anna hatte letztlich doch schlecht geschlafen. Sie war schon in den frühen Morgenstunden aufgewacht und immer nervöser geworden. Das Adrenalin putschte ihre Sinne auf.

Vor einer Woche war ihr einstiger Wohnort wieder zum aktuellen geworden, als Anna mit einem gemieteten Kleintransporter und der Hilfe von zwei Kollegen ihre wenigen Möbel und Habseligkeiten viele Hundert Kilometer von der Stadt wegbrachte, in der sie ihre Ausbildung durchlaufen und nach dem Abschluss verschiedene befristete Jobs gehabt hatte. Das meiste hatte sie schon vor zehn Jahren besessen, als sie mit der Ausbildung begonnen hatte.

Anna hatte eine Wohnung in Koivuharju gemietet, der Vorortsiedlung, in der sie ihre Jugend verbracht hatte und wo Ákos immer noch wohnte. Die Gegend hatte keinen besonders guten Ruf, aber die Mieten waren erschwinglich. Annas Familienname, der mit Plastikbuchstaben an ihrem Briefschlitz angebracht war, erzeugte bei den anderen Hausbewohnern keinerlei Irritation. Nicht einmal ihr relativ hoher Bildungsstand wich wesentlich vom Mittelwert des Mieterprofils ab, denn in Koivuharju wohnten überraschend viele Lehrer, Ärzte, Ingenieure und Physiker mit Migrationshintergrund. Der einzige statistisch bedeutende Unterschied war, dass Anna berufstätig war und eine ihrer Ausbildung entsprechende Festanstellung gefunden hatte. Die Physiker aus Koivuharju waren schon froh, wenn sie irgendwo aushilfsweise putzen gehen durften.

Koivuharju war keine Gegend, für die man sich freiwillig entschied. Man geriet dorthin. Diejenigen, die in der Innenstadt oder an deren Peripherie wohnten, kannten Namen und Ruf des Vororts, wussten aber nicht, wie es dort aussah. Das bunte Spektrum der schwer auszusprechenden Namen in den Treppenhäusern hätte ihnen vielleicht sogar Angst gemacht.

Anna sehnte sich nicht nach den teuren Wohnungen mit den hohen Decken im Stadtzentrum. Jenseits der glänzenden Fassaden, in den Schatten und Nebenstraßen hatte sie sich von jeher heimischer gefühlt.

Vielleicht war sie deshalb Polizistin geworden.

Kriminalhauptkommissar Pertti Virkkunen kam fast zehn Minuten zu spät. Der kleine schnauzbärtige Mann, der die fünfzig bereits überschritten hatte, wirkte ausgesprochen fit. Er begrüßte Anna mit einem strahlenden Lächeln und schüttelte ihr so kräftig die Hand, dass ihr Schultergelenk knackte.

»Wir sind so froh, dass Sie bei uns gelandet sind«, sagte er. »Wirklich toll, eine Polizistin mit Migrationshintergrund in unserem Team zu haben. In den Strategiepapieren ist davon ja schon seit Jahren die Rede, aber hier hat sich bisher nicht ein Einziger blicken lassen, nicht einmal als Polizeimeister. Kein Migrant, meine ich. Ansonsten machen wir mit Leuten wie Ihnen ja durchaus Bekanntschaft, also, ähm …«

Virkkunen brach verlegen ab. Anna hätte gern eine bissige Antwort gegeben und den Mann dazu gebracht, sich vor Scham zu winden, doch da ihr auf die Schnelle nichts einfiel, ließ sie es auf sich beruhen.

»Lassen Sie es in den ersten paar Tagen locker angehen, lernen Sie das Haus und die Leute kennen. Wir haben momentan keine dringlichen Fälle, daher können Sie sich in aller Ruhe einarbeiten«, erklärte Virkkunen. Er führte Anna von einer Abteilung zur anderen. »Das hier ist ja Ihre erste feste Stelle und überhaupt Ihr erster Job bei der Kripo, insofern brauchen Sie sicher Zeit, sich einzugewöhnen und sich mit unseren Arbeitsmethoden vertraut zu machen. Wir beginnen um acht Uhr mit der Morgenbesprechung. Dabei geht es hauptsächlich um Lageberichte und die Aufgabenverteilung. Die Besprechung der Analysegruppe findet einmal wöchentlich statt. Die genaueren Zeitpläne und Ihren Schichtplan bekommen Sie von unserer Sekretärin.«

Anna nickte. Während sie Virkkunen folgte, versuchte sie, sich die Anordnung der Gänge und Abteilungen einzuprägen, eine Art Grundriss zu skizzieren. Im Sommer nach dem Abitur hatte sie hier als Aushilfe bei der Meldestelle gearbeitet, in einem großen Büro im Erdgeschoss, und bei der Bearbeitung einer Flut von Passanträgen geholfen – dass ihr Pass abgelaufen war, merkten die meisten immer erst kurz vor einer Urlaubsreise. Sie hatte die Anträge abgeheftet und abgestempelt, Regale aufgeräumt und Kaffee gekocht und zum Schluss sogar die Abläufe bei der Passherstellung selbst kennengelernt. Aber ansonsten war ihr das Gebäude fremd geblieben. Es hatte wie ein Labyrinth auf sie gewirkt, wie es große Gebäude am Anfang immer taten.

Virkkunen führte Anna in den dritten Stock, in das Dezernat für Gewaltdelikte und in sein Dienstzimmer, einen großen, hellen Raum auf halber Höhe des Korridors gegenüber der Kaffeeküche. Unterlagen und Ordner standen wohlsortiert in den wandhohen Regalen, der Computer war ausgeschaltet. Am Fenster hingen drei Ampeln mit üppigen Grünpflanzen, und auf dem Fußboden stand eine baumgroße Yuccapalme. An der Wand hing das Foto einer blonden Frau und dreier blonder Kinder an einem sonnigen, exotischen Sandstrand. Sie lächelten, wie es sich für eine glückliche Familie gehörte.

Auf einem Servierwagen aus Edelstahl standen eine Thermoskanne und Kaffeetassen bereit. Das obligatorische Hefegebäck in einem Korb war mit einem Tuch bedeckt. Anna überlegte, ob sie so unhöflich sein durfte, das Gebäck abzulehnen. Der Raum war so groß, dass neben Virkkunens Schreibtisch auch ein Besprechungstisch Platz hatte. An diesem Tisch saßen drei Personen. Polizisten in Zivilkleidung.

»Guten Morgen allerseits«, sagte Virkkunen. »Darf ich euch unsere neue Kriminalmeisterin vorstellen, Anna Fekete.«

Zwei der drei standen sofort auf und traten auf Anna zu.

»Guten Morgen und herzlich willkommen bei uns! Wie gut, dass wir jetzt eine zweite Frau im Team haben, die Kerle gehen mir manchmal wirklich auf die Nerven. Ich bin Sari. Sari Jokikokko-Pennanen. Warum musste ich mir bloß dieses Monster von einem Namen antun?«

Die große blonde Frau, ungefähr im gleichen Alter wie Anna, schien mit ihrem ganzen Wesen zu lächeln. Sie streckte ihren schlanken Arm aus und nahm mit angenehm festem und warmem Griff Annas Hand.

»Hallo allerseits. Meinen Namen spricht man übrigens wie Fäkätä aus. Echt toll, dass ich hier arbeiten darf, allerdings bin ich ein bisschen nervös.«

»Dazu hast du überhaupt keinen Grund. Nach allem, was man hört, bist du eine verdammt gute Polizistin, und wir sind wirklich froh, dass du bei uns gelandet bist. Aber hör mal, du sprichst ja irrsinnig gut Finnisch, man hört gar keinen Akzent«, sagte Sari.

»Danke. Ich lebe schon ziemlich lange in Finnland.«

»Ach so, wie lange denn?«

»Seit zwanzig Jahren.«

»Dann warst du ja noch ein Kind, als du gekommen bist.«

»Ich war neun. Wir sind im Frühjahr hergezogen, im Sommer wurde ich zehn.«

»Wow. Davon musst du mir irgendwann mehr erzählen. Das hier ist Rauno Forsman.«

Der ebenfalls etwa dreißigjährige, freundlich aussehende Mann streckte die Hand aus und begrüßte Anna. Seine blauen Augen musterten sie neugierig.

»Guten Morgen und auch meinerseits herzlich willkommen.«

»Guten Morgen, freut mich«, sagte Anna und spürte, wie die Schmetterlinge in ihrem Bauch allmählich aufhörten zu flattern und ihre Nackenmuskeln sich entspannten. Sie mochte diese Leute, besonders Sari.

Die dritte Person war am Tisch sitzen geblieben. Ein Mann, der gerade in dem Moment den Mund aufmachte, als Virkkunen sich empört zu ihm umwandte.

»Tag«, sagte er vage in Annas Richtung und wandte sich dann an Virkkunen: »Die Notrufzentrale hat letzte Nacht einen Anruf reinbekommen. Irgendeine Neufinnin, oder wie man die heutzutage nennt, meinte, man wolle sie umbringen. Machen wir uns also langsam mal an die Arbeit?«

Virkkunen räusperte sich. »Esko Niemi«, sagte er zu Anna. »Ihr Partner.«

Esko, dessen von Couperose gemaserte Wangen schlaff herabhingen, schnaubte. Vielleicht hat er Schnupfen, dachte Anna und begrüßte ihn. Der Mann stand auf und gab ihr die Hand. Sie war groß und rau, eine Hand, die Verbrecher mit stählernem Griff ins Kittchen beförderte, doch zu Annas Überraschung war Eskos Händedruck widerlich schlapp. Wer immer Anna derart kraftlos die Hand gab, wirkte von Anfang an unzuverlässig auf sie. Und dieser Mann mied überdies ihren Blick. Virkkunen erinnerte sie an den Kaffee, und sie traten an den Servierwagen, von dem ein verlockender Duft ausging. Die leichte Anspannung löste sich, beruhigendes Stimmengewirr umgab Anna. Das frische, noch warme Hefegebäck schmeckte gut.

Nachdem sie sich mit Kaffee und Gebäck gestärkt hatten, bat Virkkunen Esko um einen genaueren Bericht über den nächtlichen Anruf.

»Das Mädchen hatte seine Adresse angegeben. Noch in der Nacht ist eine Streife hingefahren, aber das Mädchen war nicht da. In der Wohnung befanden sich der Vater, die Mutter und zwei jüngere Geschwister, aber nicht die Anruferin. Die Familie – Kurden übrigens – hat einen solchen Zinnober gemacht, dass das ganze Haus davon wach geworden ist«, berichtete Esko.

»Das Mädchen? Die Drohung war gegen ein Mädchen gerichtet?«, fragte Anna.

»Hab ich doch gerade gesagt«, erwiderte Esko, ohne Anna anzusehen, und fuhr fort: »Der Vater des Mädchens sagte, die Tochter sei zu Besuch bei Verwandten in Vantaa. Im Bericht steht dann noch, dass der Vater das Reden übernommen habe. Der Sohn der Familie, der vierzehnjährige … Diese Namen kann sich ja keiner merken …«, murmelte Esko und suchte in seinen Notizen nach dem Namen des Jungen. »Mehvan. Also, der vierzehnjährige Mehvan hat gedolmetscht.«

»Wurde gar kein offizieller Dolmetscher gerufen?«, fragte Anna. »Man darf doch Kinder nicht als Dolmetscher einsetzen, erst recht nicht bei einer so schlimmen Geschichte.«

»Die Streife hat es versucht, aber der diensthabende Dolmetscher war gerade bei einem anderen Einsatz in der Klinik. Die zweite Dolmetscherin war auf die Schnelle nicht zu erreichen, und es wäre ja auch eine ziemliche Verschwendung von Steuergeldern gewesen. Nachtzuschläge und all das für zwei Dolmetscher! Die Männer von der Streife hatten den Auftrag, soweit es ging, die Situation umgehend zu klären. Und sie wurde ja auch geklärt. Wenn es ernst ist, fackelt man nicht lange. Die Jungs haben exakt nach Befehl gehandelt.«

»Genau wie in Bosnien«, flüsterte Anna.

»Wie bitte?«, fragte Esko.

Endlich sah er Anna aus verquollenen, geröteten Augen an. Sie versuchte, unverwandt zurückzustarren. Der Kerl widerte sie jetzt schon an, obwohl sie ihn erst seit wenigen Minuten kannte.

»Nichts. Ich hab nichts gesagt.«

Anna senkte den Blick.

Mit einem Ausdruck von Zufriedenheit im Gesicht holte Esko sich einen weiteren Kaffee.

»Na, jedenfalls schien in der Wohnung letztlich alles in Ordnung gewesen zu sein«, sagte Esko in versöhnlicherem Ton. »Keins der Familienmitglieder konnte sich erklären, was die Tochter da getan hatte und warum. Die Kollegen in Vantaa sind zu den Verwandten gefahren. Das Mädchen – es heißt übrigens … Moment … Bihar – war genau da, wo es sein sollte. Frisch und munter. Gegenüber den Beamten in Vantaa erklärte sie, womöglich hätte jemand zum Spaß unter ihrem Namen angerufen. Oder vielleicht hätte sie auch einen Albtraum gehabt und im Halbschlaf telefoniert. Angeblich schlafwandelt sie manchmal. Und redet im Schlaf. Hinterher erinnert sie sich an nichts.«

»Ziemlich verdächtig«, meinte Anna.

»Finde ich auch«, stimmte Sari zu.

»Was soll daran verdächtig sein, wenn das Mädchen selbst sagt, es hätte aus Versehen angerufen?«, entgegnete Esko.

»Wer, bitte schön, wählt aus Versehen den Notruf?«, fragte Sari.

»Verdammt noch mal, es gibt Leute, die rufen an, weil sie den Hausschlüssel in der Wohnung liegen gelassen haben oder weil ihr kleiner Pudel ein Staubkorn im Auge hat«, schimpfte Esko.

»Das ist doch was ganz anderes. Wir sprechen hiervon einem versehentlichen Notruf«, wandte Sari ein.

»Wie alt ist diese Bihar?«, fragte Anna.

»Siebzehn«, gab Rauno Auskunft.

»Eine siebzehnjährige Kurdin, die den Notruf wählt, weil man sie töten will. In meinen Ohren klingt das nach einem Albtraum aus dem echten Leben«, meinte Anna.

»Und wieso hat man sie überhaupt allein nach Vantaa geschickt?«, fügte Sari hinzu.

Esko sagte nichts mehr.

»Hören wir uns doch mal die Aufzeichnung an«, schlug Virkkunen vor. »Esko, lass das Band ablaufen.«

Zuerst eine Sekunde Rauschen. Die sachliche Stimme des Telefondienstes. Dann, sehr leise, das Flüstern eines Mädchens.

»Die bringen mich um. Helft mir! Mein Vater bringt mich um!«

Die Beamtin bittet sie, ihre Worte zu wiederholen.

Das Mädchen sagt nichts.

Die Beamtin fragt, wo sich das Mädchen befindet. Sie nennt die Adresse und legt auf.

»Das Mädchen hatte Angst«, sagte Anna.

»Das glaube ich auch.« Sari nickte. »Sie hatte entsetzliche Angst, dass man sie hören könnte.«

»Warum hat sie nicht gesagt, wo sie wirklich ist?«, fragte Rauno.

»Vielleicht wusste sie es nicht«, mutmaßte Sari.

»Oder sie wollte die Polizei direkt ins Wespennest schicken«, meinte Rauno.

»Oder aber sie kannte ihren aktuellen Aufenthaltsort nicht genau, und ihre eigentliche Adresse war die einzige, die sie mit Sicherheit richtig benennen konnte. Und es musste schnell gehen, sie war in Panik«, sagte Anna.

»Vielleicht wollte sie auch nur ihren Papa ärgern«, schnaubte Esko.

»Wurde die Mutter befragt?«, erkundigte sich Anna.

»Die Streifenbeamten haben es versucht, aber in dem Bericht steht, dass immer nur der Mann geantwortet hat. Und dieser Mehvan«, sagte Rauno.

»Natürlich.«

»Was machen wir jetzt mit der Sache?«

»Wir leiten eine Ermittlung ein. Die finnische Strafgesetzgebung kennt keine Ehrenverbrechen, aber es könnte sich um den Tatbestand der Bedrohung handeln, vielleicht sogar um Freiheitsberaubung. Es ist Montagmorgen, und das Mädchen ist in Vantaa. Müsste sie nicht in der Schule sein?«, fragte Virkkunen.

Esko gähnte vernehmlich und fummelte verdrossen an seinem Handy herum. »Meines Wissens endet die Schulpflicht mit siebzehn«, brummte er.

»Esko, du kümmerst dich noch heute um die Vorladungen«, ordnete Virkkunen an.

»Hmm.« Esko wischte sich Gebäckkrümel aus den Mundwinkeln.

»Bihar, der Vater, die Mutter, der Bruder und die kleine Schwester, die ganze Familie kommt hierher zur Befragung, und zwar so schnell wie möglich. Und du bestellst einen Dolmetscher oder gleich zwei, wenn nötig. Rauno und Sari, informiert euch über die Verwandten, bittet in Vantaa um Amtshilfe. Anna, Sie könnten eruieren, wie früher in vergleichbaren Fällen vorgegangen wurde.«

»In Ordnung«, antwortete Anna.

»Ich hab ein mulmiges Gefühl«, sagte Sari. »Wie eine schlechte Vorahnung.«

In diesem Moment klopfte es an der Tür, eine Frau steckte den Kopf durch den Türspalt und grüßte in die Runde.

»Auf dem Joggingpfad Selkämaa in Saloinen wurde eine Leiche gefunden.«

Alle verstummten. Sari und Rauno sahen einander ungläubig an. Eskos Kaffeetasse verharrte auf dem Weg zum Mund in der Luft. Und Virkkunens Stimme zerriss die Stille.

»So viel zum ruhigen Anfang, Anna.«

3

Anna Fekete schnupperte. Der Regen verstärkte die Gerüche des Waldes. Der Geruch der Waldstreu unter den Bäumen vermischte sich mit dem des nassen Sägemehls. Die Schimmelsporen hatten ihr herbstliches Fest bereits eingeläutet, aber die Luft wirkte dennoch frisch. Der Wind rauschte durch die Äste der verkrüppelten Birken und dichten Weidensträucher. Ihre immer noch grünen Blätter raschelten im Regen.

Die zwanzig Kilometer lange Fahrt nach Saloinen hatte über die stark befahrene Landstraße nach Süden geführt. Vor dem rasch wachsenden Dorfkern war Anna auf einen Kiesweg abgebogen, der ans Ufer führte. Er hatte sich etwa drei Kilometer durch Wäldchen und brach liegende Felder geschlängelt, bis er an einem kleinen rechteckigen, grasbewachsenen Parkplatz endete. Am Rand des Parkplatzes spross eine schleimige Traube von Butterpilzen. Davor parkten ein blau-weißer Polizei-Saab und Eskos unmarkierter Dienstwagen. Neben ihm standen die uniformierten Streifenbeamten.

Heute ist Intervalltraining, dachte Anna, als sie den Joggingpfad betrachtete, der hinter dem mit gelben Bändern umspannten Parkplatz begann. Er verlor sich im Wald wie das Band, das ihn markierte. Gut zweihundert Meter weiter liege die Leiche, berichteten die Uniformierten, aber so weit reichte ihr Blick nicht.

Die Leiche war am Morgen kurz vor neun Uhr gefunden worden. Die 86-jährige Aune Toivola, eine Witwe, die in der Nähe wohnte, hatte sie bei ihrem Morgenspaziergang entdeckt. Sie stand jeden Morgen um sieben Uhr auf, kochte eine Kanne Kaffee und trank die eine Hälfte vor, die andere nach ihrem täglichen Spaziergang. Wie gewöhnlich hatte sie auch diesmal den Joggingpfad in Ufernähe gewählt. Und mit dem Handy, das ihre fürsorglichen Angehörigen für sie besorgt hatten, hatte sie die Polizei alarmiert.

Esko war allein mit seinem Dienstwagen losgefahren. Anna hatte sich darüber geärgert, auch wenn sie nicht unbedingt auf Zweisamkeit erpicht gewesen war. Trotzdem …

Sie ging zu dem Streifenwagen hinüber, in dem Aune Toivola mit Esko saß. Die Uniformierten unterhielten sich miteinander, während sie darauf warteten, wieder fahren zu dürfen. Der jüngere und attraktivere der beiden hatte sie seit ihrer Ankunft nicht mehr aus den Augen gelassen. Sein Blick glitt zu ihrem Hintern, als sie sich zu der alten Frau hinunterbeugte.

Auf Aunes faltigem Gesicht lag Frustration. Anna kam nicht einmal dazu, sich vorzustellen.

»Ich habe diesen netten jungen Männern schon alles erzählt«, sagte Aune missmutig. »Jetzt möchte ich nach Hause. Mein Kaffee wird kalt. Ich habe Kopfschmerzen. Außerdem kommt bald meine Pflegerin, und die bekommt einen Riesenschreck, wenn ich nicht da bin.«

Esko saß lächelnd auf dem Vordersitz.

»Aune und ich sind schon alles durchgegangen. Alles hier drin«, sagte er und klopfte auf das blaue Notizbuch in seiner Hand.

Das kann doch gar nicht sein, dachte Anna. Du warst doch höchstens zehn Minuten vor mir hier.

»Trotzdem würde ich Ihnen gern selbst noch ein paar Fragen stellen«, wandte sie sich an Aune. »Danach können Sie nach Hause gehen. Es dauert auch nicht lange.«

Die alte Frau schnaubte, sagte aber nichts. Eskos Lächeln verschwand.

»Wohnen Sie in der Nähe?«

»Knapp einen Kilometer von hier. Selkämaantie 55, an dem Kiesweg, der von der Landstraße hierherführt«, antwortete sie mürrisch und deutete mit ihrer runzligen Hand zu dem Weg, über den Anna gekommen war.

»Haben Sie dort jemanden gesehen? Irgendwen, der zum Joggingpfad unterwegs war oder von dort heraufkam?«

»Nein. Mein Haus liegt nicht direkt an der Straße. Und ich spioniere nicht, das habe ich noch nie getan«, sagte die alte Frau.

»Und gehört?«

»Was?«, fragte die Frau, wobei sie die Stimme hob, sodass das Wort wie ein schrilles Miauen klang.

»Haben Sie heute früh irgendetwas Ungewöhnliches gehört? Oder gestern Abend? In der Nacht? Motorengeräusche? Einen Schuss?«

Anna sah, wie die Frau sich mit knotigen Fingern über das rechte Ohr strich, hinter dem ein Hörgerät steckte.

»Nein, gehört habe ich nichts. Gestern Abend habe ich vor dem Fernseher gesessen, der läuft bei mir ziemlich laut.«

»Und haben Sie die Person, die Sie gefunden haben, früher schon einmal gesehen?«

»Morgens ist hier nie jemand. Vielleicht laufen abends Leute hier herum, aber davon weiß ich nichts. Ich bin nie abends hier. Kann ich jetzt gehen? Sonst macht sich die Pflegerin Sorgen und ruft meinen Sohn an.«

»Nur noch zwei Fragen. Wohnt noch irgendjemand sonst hier in der Nähe?«

»Nur Yki Raappana, aber nach dem hat mich Ihr Kollege schon gefragt.«

»Und der Wagen, der dort steht, haben Sie den schon mal gesehen?«

»Ich weiß nicht. Natürlich fahren manchmal Autos vorbei. Ich bin ja nicht die Einzige, die hier spazieren geht, immerhin ist der Pfad beleuchtet.«

»Danke. Sie können jetzt gehen, aber wir werden Sie in den nächsten Tagen noch einmal befragen. Wenn Ihnen der Vorfall zu schaffen macht und Sie darüber reden möchten, wenden Sie sich bitte an die Gemeinde. Dort gibt es Helfer, die dafür da sind. Hier sind die Kontaktdaten.«

»Wenn ich endlich nach Hause zu meinem Kaffee komme, dann wird es schon werden«, murmelte die alte Frau. »Das war doch gar nichts im Vergleich zu all dem, was ich als junge Fronthelferin in Karelien erlebt habe. Männer auf Pritschen, die schrien und kreischten, einer hatte die Beine verloren, ein anderer Granatsplitter im Kopf.«

»Auch darüber können Sie ja mit dem Krisenhelfer reden, das wird Ihnen sicherlich guttun«, sagte Anna höflich und bat die Streifenbeamten, die alte Dame nach Hause zu bringen. »Und ruft am besten gleich auch bei der Gemeinde an«, sagte sie und zwinkerte dem Jüngeren, Attraktiveren zu. Er verlor sichtlich die Fassung.

Hätte ich doch im Streifendienst bleiben sollen?, überlegte Anna, als sie Esko Niemi beim Aussteigen beobachtete.

Die schütteren, fettigen Haare standen wirr vom Kopf des in der zweiten Lebenshälfte stehenden Ekels ab, das zerknitterte Hemd war nachlässig in die ungebügelte Hose gestopft. Über seiner üppigen Leibesmitte spannte sich der Hemdenstoff um die Knöpfe und legte ein Stück des behaarten Bauches bloß. Das abgetragene Jackett ging wahrscheinlich nicht einmal zu. Esko Niemi war nicht charmant gealtert, wie es Männer angeblich taten. Frauen verschrumpeln spätestens mit vierzig, während Männer bis an ihr Lebensende immer nur attraktiver werden, hatte Anna oft gehört. Es war ihr unbegreiflich, wie die Leute, Frauen vor allem, diesen Blödsinn für bare Münze halten konnten.

Als er sich aus dem Wagen gehievt hatte, dehnte Esko seinen steifen Rücken und bekam einen fürchterlichen Hustenanfall. Sobald er wieder Luft bekam, steckte er sich eine Zigarette an.

Wie soll ich mit dem nur kommunizieren?, fragte sich Anna verunsichert.

Esko schützte seine Zigarette mit einer Hand vor dem Regen, zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte grünlichen Schleim auf die Erde.

Bassza meg, was für ein Schwein!

»Ich gehe mir jetzt den Tatort und die Leiche ansehen«, erklärte Esko.

»In Ordnung, gehen wir«, sagte Anna.

»Nein. Du wartest im Wagen. Du schickst die Kriminaltechniker zu mir, wenn sie kommen. Kannst du so viel Finnisch?«

»Esko, ich werde garantiert nicht …«

»Ich kann mich nicht erinnern, dir das Du angeboten zu haben. Außerdem ist das ein Befehl. Sieh von mir aus inzwischen nach, wem das Auto dort gehört. Aber pass auf, dass du dabei keine Spuren verwischst.«

Esko warf Anna den Autoschlüssel zu, ließ die Kippe in seine Spuckepfütze fallen und trat sie mit der Schuhsohle aus. Anna drehte sich der Magen um.

»Die Jungs von der Streife haben die Leiche nach Papieren abgesucht. Das ist ein anderes Wort für Personalausweis. Sie haben keinen Ausweis gefunden, dafür aber den Autoschlüssel. Sieh zu, dass du nichts durcheinanderbringst«, wiederholte Esko, als spräche er mit einem Kind. Dann hob er das gelbe Band an, bückte sich ächzend darunter hindurch und ging langsam zum Joggingpfad hinüber. Anna blieb stocksteif stehen und starrte Eskos Rücken an, bis er hinter den Weidenbüschen verschwand. Sie hasste diesen Mann. Sie ballte die Fäuste und kämpfte gegen den Impuls an, laut zu schreien. Der scharfe Rand des Zündschlüssels drückte eine tiefe rote Furche in ihre Handfläche. Sie sah zu dem einsamen Fiat hinüber. Reiß dich zusammen und mach dich an die Arbeit, befahl sie sich.

Der verlassene, erkaltete Wagen erschien ihr wie ein Abglanz des Schreckens, der über dem Joggingpfad lag. Anna streifte Latexhandschuhe über und griff vorsichtig nach dem Türgriff. Das kalte Metall gab ihr Selbstvertrauen. Das hier konnte sie. Es war ihr vertraut. Schon im Streifendienst hatte sie manchmal Gelegenheit gehabt, kriminaltechnische Untersuchungen an Fahrzeugen durchzuführen, die mit zertrümmerter Motorhaube und noch warmem Motor an irgendeinem Straßenrand gefunden worden waren. Betrunkene oder bekiffte Fahrer, die geflüchtet waren. Diebesgut im Kofferraum. Tatortuntersuchungen an Autos waren an der Tagesordnung.

Doch diesmal führte Anna keine Tatortuntersuchung durch. Die Techniker würden den Wagen Millimeter für Millimeter absuchen. Wenn sich darin irgendein wichtiges Indiz befand, würden sie es entdecken. Anna hingegen suchte etwas ganz anderes.

Die Tür war verriegelt. Anna drückte auf den Knopf am Schlüssel, auf dem undeutlich ein geöffnetes Vorhängeschloss abgebildet war. Der Fiat gab ein Knacken von sich. Sie öffnete die Beifahrertür. Das Wageninnere wirkte sauber. Die dunkelbraunen Bezüge waren fleckenlos, und auf dem Boden lagen weder Sand noch Abfälle. In diesem Wagen hatten keine Kinder gesessen. Und keine Säufer. Anna widerstand dem Drang, sich in den Wagen zu setzen und zu horchen, ob er ihr irgendetwas erzählte. Stattdessen öffnete sie vorsichtig das Handschuhfach und nahm den Fahrzeugschein heraus.

Als Besitzer des Wagens war Juhani Rautio eingetragen. Vaahterapolku 17. Saloinen.

Jemand, der in der Nähe wohnte. Ganz in der Nähe. Aufregung machte sich in Annas Brustkorb breit.

Widerstrebend ging sie zu ihrem eigenen Wagen und setzte sich hinein.

Sie erschrak, als an ihr Fenster geklopft wurde. Esko war zurück. Er zog schon wieder an einer Zigarette und bedeutete Anna auszusteigen. Sie fror. In ihrer klammen Kleidung fühlte sich der Wind doppelt kalt an.

»Die Technik braucht noch eine Weile. Ich habe auch die Rechtsmedizinerin herbestellt. Du darfst jetzt gucken gehen.«

»Wie bitte?«

»Nun geh schon hin und mach keine Zicken.«

Einen Moment fühlte Anna sich versucht, sich zu weigern, trotzig zu entgegnen, dass sie ganz bestimmt nicht hingehen werde, und sich so zu benehmen wie das Kind, als das Esko sie behandelte. Aber was würde es ihm schon ausmachen, wenn sie Nein sagte. Damit schnitt sie sich nur ins eigene Fleisch. Sie musste das Opfer mit eigenen Augen sehen, um an den Ermittlungen teilnehmen zu können.

Anna kochte vor Wut, riss sich aber zusammen, als sie Eskos zufriedenes Grinsen sah. Dieses Spiel werde ich nicht nach deinen Regeln spielen, beschloss sie.

Das gelbe Polizeiband flatterte im Wind wie die Streckenmarkierungen bei einem Wettlauf.

Anna ging den Weg entlang. Ihre Hände wurden feucht, das Herz pochte wild. Die ersten hundert Meter führten in einem weiten Bogen in den Wald hinein. Am Ende der anschließenden Geraden sah Anna ein menschliches Bündel auf der Erde liegen. Du hast es nicht bis ins Ziel geschafft, dachte sie und spürte einen flüchtigen Moment lang, wie die Kraft aus ihren Gliedern schwand. Ihr war schwindlig. Der Regen und der Wind kühlten sie aus.

Sie streifte sich neue Handschuhe über und machte sich daran, vorsichtig die Leiche zu untersuchen. Eine Frau, weiß, etwa eins fünfundsechzig groß, schätzungsweise gut siebzig Kilo schwer. Aus nächster Nähe mit einem Schrotgewehr erschossen. Sie dürfte sofort tot gewesen sein. Der Kopf war buchstäblich zerfetzt, der Hals ebenso. Sie hatte schon einige Zeit hier gelegen. Der Körper war von der Nacht kalt und nass und durch die Leichenstarre hart und steif. Er glich einer ekelhaft realistischen Installation, wie er dort starr auf dem Joggingpfad lag, völlig unversehrt bis auf den zur Unkenntlichkeit zerschossenen Kopf. Es zehrte an Anna, die blutige Masse zu betrachten, die gestern noch ein Gesicht gewesen war.

Der Regen hatte die limettengrüne Trainingshose dunkel gefärbt. Die Beine, die darin steckten, schienen heil zu sein, hatten sich jedoch unnatürlich verdreht, als der Tod die Frau auf den Joggingpfad geworfen hatte. Die Hände sahen aus wie bei jeder beliebigen jungen Frau: sauber und gepflegt. Allerdings waren die pflaumenfarben lackierten Fingernägel abgekaut.

Oberhalb der Taille war das Bild ein anderes, auch wenn die Grenze nicht klar zu ziehen war. Die Trainingsjacke war mit dunklen Flecken übersät und stellenweise zerfetzt. Die Risse klebten an den Rändern im nassen Stoff der Jacke. Am Brustbein und an den Schultern war sie nicht mehr grün, sondern in verschiedenen Schattierungen von Rostbraun und Rot gesprenkelt. Zum Glück hatte der Regen auch hier die schlimmsten Kontraste abgeschwächt. Und schließlich der Kopf. Er war eigentlich nicht mehr vorhanden. Spritzer, die sich ein Stück weit über den Weg erstreckten. Bei genauerem Hinsehen erkannte man zwischen dem Blut graue Hirnmasse. Pampe. Das grässliche Wort ließ an Babynahrung und Haferschleim denken, war aber treffend. Gehirn wurde zu Pampe, wenn es aus dem Schädel floss.

Die Frau war jung gewesen, kein Zweifel, höchstens dreißig. Wahrscheinlich wesentlich jünger. Das war aus der kindlich glatten Haut am Handrücken zu schließen, aus der unschuldigen Zartheit der leicht molligen Finger, aus irgendeinem unerklärlichen Gefühl, das Anna nicht in Worte hätte kleiden können. Die Leiche strahlte einfach eine Jugendlichkeit und Lebenslust aus, die selbst der Tod nicht restlos hatte vernichten können. Anna betrachtete die abgenagten Nagelränder. Warst du nervös?, fragte sie sich. Oder hattest du die schlechten Angewohnheiten aus deiner Kindheit noch nicht abgelegt? Wie alt warst du eigentlich?

Der Trainingsanzug war modisch und hübsch, aber eindeutig Billigware. Vielleicht hattest du gerade erst angefangen, Sport zu treiben?, überlegte Anna. Die Schuhe verrieten, dass die Frau tatsächlich Joggerin war. Nicht die teuerste Marke, aber doch Qualitätsschuhe mit Dämpfung, eindeutig zum Laufen gedacht. Eine Spaziergängerin würde sich solche Schuhe nicht anschaffen. Die Sohlen waren schmutzig und ein wenig abgetreten. Du warst also doch keine blutige Anfängerin. Eine gewisse Abhängigkeit war sicher schon entstanden. Damit kannte Anna sich aus.

Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle, ob Spaziergängerin oder Joggerin, Anfängerin oder Marathonläuferin? Da liegst du nun und wirst keinen Schritt mehr machen, wisperte Anna und kämpfte gegen ihre Beklemmung an.

Vorsichtig strich sie über den Knöchel der Toten, der zwischen dem hochgerutschten Hosenbein und dem engen Bund der Tennissocke freilag, als wäre er absichtlich zur Schau gestellt. Die Haut war gebräunt, glatt und kalt, in perfektem Zustand für den Auftritt. Nicht das feinste Härchen war zu spüren, als Anna mit der Hand behutsam über das Bein der Frau fuhr. Hast du dir vor dem Joggen die Beine rasiert? Warum? Ich rasiere mich immer erst danach, unter der Dusche. Anna hielt ihre Beobachtungen in ihrem kleinen Notizbuch fest.

Sie wusste, dass die Streifenbeamten die Taschen des Trainingsanzugs abgesucht hatten, Esko wahrscheinlich ebenfalls. Auch die Kriminaltechniker würden es tun. Aber sie wollte selbst sehen, was die Tote bei sich trug. Vorsichtig zog sie die Reißverschlüsse auf. Hausschlüssel, nasse Taschentücher. Ein dünnes Lederband mit einem flachen schwarzen Anhänger, ein Steinimitat, auf das eine seltsame gefiederte Gestalt aufgedruckt war. Ein Handy mit fast leerem Akku.

Anna vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, und ging rasch die Liste der SMS und Telefonate durch. Letzter getätigter Anruf 21.8., 11.15 Uhr, Mutti. Letzter angenommener Anruf 21.8., 18.27 Uhr, unterdrückte Nummer. Anna wurde kalt ums Herz. Eingetroffene SMS: leer. Versandte SMS: leer. Wer hat dich gestern Abend angerufen? Und warum sind alle SMS gelöscht?

Anna untersuchte den Boden rund um die Tote. Das Blut war verhältnismäßig weit verspritzt. In unmittelbarer Nähe der Leiche war es noch gut zu erkennen, während es weiter weg bereits in dem bräunlichen Sägemehl versickerte und sich im Regen auflöste. Da würde die Technik einiges zu tun haben. Konnte man zwischen alledem irgendetwas identifizieren, das der Täter zurückgelassen hatte? Ein Haar? Speichel? Fasern? Einzelne Fußspuren waren zumindest mit bloßem Auge nicht auszumachen. Anna sah zum Himmel und leckte die Regentropfen ab, die über ihre Lippen liefen. Du spülst die Indizien weg, flüsterte sie dem Regen zu. Du wäschst sie ab. Dann ließ sie den Blick über den Wald schweifen, der den Tatort unerschütterlich umrahmte. Du stille Landschaft. Du siehst alles und schweigst dennoch.

»Wer ist denn so verrückt, jemanden mit einem Schrotgewehr zu erschießen?«, fragte Anna Esko, als sie wieder auf dem Parkplatz stand. Sie hatte beschlossen, sich Mühe zu geben. Zu reden. Zu kommunizieren. So zu tun, als wäre nichts vorgefallen.

Esko rauchte, zog dabei die Wangen ein und starrte an Anna vorbei in den Wald.

»Das ist doch wahnsinnig laut«, fügte Anna hinzu und bemühte sich um einen freundlichen Ton.

»Der Wievielte ist heute?«, fragte Esko.

Anna zuckte zusammen. Der spricht ja doch mit mir. »Der zweiundzwanzigste«, antwortete sie.

»Und welcher Monat?«

»Hast du Alzheimer?«

»Sag einfach, welcher Monat, und pöbel mich nicht an.«

»Na, August natürlich.«

»Eben.«

»Eben? Eben was?«

»Herrgott noch mal«, sagte Esko und warf die Kippe auf die Erde. Anna sah, dass schon fünf dort lagen.

»Die Entenjagd hat am Zwanzigsten begonnen, also vorgestern. Weiß das Fräulein Kriminalmeisterin wenigstens, womit man Enten schießt?«

Anna schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ja, das weiß ich.«

»Und nun überleg mal, wo sich dieser gottverdammte Joggingpfad befindet.«

»Richtig«, sagte Anna und blickte nach Westen. Die schwache Brise trug das Rauschen zwar nicht über den Wald hinweg, doch man konnte die Nähe des Meeres am Salzgeruch der feuchten Luft erahnen, an den vereinzelten krummen Wacholdersträuchen und den dichten Weiden, die wie eine undurchdringliche grüne Wand wirkten.

»Ich würde jedenfalls ernsthaft in Erwägung ziehen, ein Schrotgewehr zu benutzen, wenn ich jemanden in Ufernähe, am Abend und in der Jagdsaison umbringen wollte«, sagte Esko, und wie zur Bestätigung krachten am Ufer drei Schüsse.

»Daneben. Wenn die ersten zwei nicht treffen, wird nichts mehr daraus. Insofern sind diese halb automatischen Flinten völlig überflüssiger Firlefanz.«

»Jagst du auch?«, fragte Anna. »Bei uns ist das ein ziemlich elitäres Hobby, ich meine, dort, wo ich herkomme.«

Esko schwieg. Er starrte mürrisch auf den gelben Wagen, an dessen Windschutzscheibe ein Mosaik aus Blättern und Borkenstückchen klebte.

»In der letzten Nacht hat es heftiger geregnet als jetzt«, stellte er nach einer Weile fest.

»Gestern hat es den ganzen Tag stark geregnet. Und am Abend war es sehr windig.«

»Wer geht denn bei so einem Wetter joggen?«, fragte Esko und steckte sich die nächste Zigarette an.

»Du jedenfalls nicht«, sagte Anna so leise, dass Esko sie nicht hören konnte.

4

Die Spätsommerlandschaft, in der bereits die ersten Vorboten des Herbstes zu erkennen waren, flog an den Fenstern vorüber, als sie in die Stadt zurückfuhren, Esko vorweg, Anna hinter ihm. Als die Rechtsmedizinerin und die Technik am Tatort eingetroffen waren, war die Regenwolke urplötzlich aufgerissen und hatte unter Beweis gestellt, dass es doch noch einen blauen Himmel dort oben gab. Die Wolke hatte sich in längliche Streifen zerteilt und war zur Freude des Kriminaltechnikers, der die Leiche und den Tatort fotografieren sollte, davongezogen. Nun schien die Sonne wieder mit voller Kraft und ließ die Feuchtigkeit verschwinden. Die Blätter hatten sich noch nicht gelb gefärbt, doch eine Vorahnung des nahenden Todes steckte bereits in ihnen. Noch ein paar Wochen, und der Sommer würde sich endgültig verabschieden. Anna hatte schon seit Langem aufgehört, von einem Altweibersommer zu träumen. So etwas war in diesen Breitengraden nicht zu erwarten. Bald würden sich die Wäldchen und die dahingeklecksten Wohnsiedlungen in die Arme der Polarnacht schmiegen und sich verdunkeln, während sich die Stadt mit Neonlicht und Leuchtröhren notdürftig zur Wehr setzte und alle auf den rettenden Schnee warteten, der die Helligkeit zurückbrachte. Aber der erste Schnee fiel neuerdings spät. Die Grenze zwischen Herbst und Winter war in dem grauen Einerlei kaum mehr zu erkennen.

Denk jetzt nicht daran, schalt Anna sich selbst und brachte ihren Wagen, der zu weit nach rechts abgekommen war, hastig wieder auf die Spur. Ein entgegenkommender Laster hupte.

Noch scheint die Sonne. Konzentrier dich aufs Fahren und gräm dich nicht über das, was kommen mag.

Die Ärztin hatte die Todeszeit vorläufig auf etwa zehn Uhr am Vorabend geschätzt. Auch sie hatte sich darüber gewundert, dass jemand so spät und bei so miesem Wetter joggen gegangen war. Anna hatte nichts gesagt, obwohl sie an der Uhrzeit nichts Merkwürdiges fand. Sie selbst lief immer abends, und das Wetter hatte sie noch nie davon abgehalten. Die Techniker hatten versprochen, ihren Bericht so schnell wie möglich zu liefern, und die Rechtsmedizinerin hatte Esko und Anna zur Obduktion am nächsten Tag eingeladen. Anna schüttelte sich. Ihr stand eine neue Erfahrung bevor. Besorgt fragte sie sich, ob sie es schaffen würde, eine professionelle Haltung zu wahren, obwohl ihr bereits bei dem Gedanken an die Leichenkammer übel wurde. Oder vielmehr bei dem Gedanken daran, dass das Mädchen vom Joggingpfad darin zerstückelt werden sollte wie ein Schlachttier. Als nähme ihre Schändung kein Ende, als machten die Behörden und die Gesellschaft da weiter, wo der Mörder aufgehört hatte.

Nacheinander stellten Anna und Esko ihre Wagen auf dem Hof des Polizeigebäudes ab, schlugen die Türen zu, gingen hinein und machten sich auf den Weg in den dritten Stock, Anna über die Treppe, Esko im Lift. Sie zogen sich in ihre Dienstzimmer zurück, als wären sie Luft füreinander, als hätte es den Schauplatz des Mordes nicht gegeben.

Das ist doch lächerlich, dachte Anna. Wir müssten miteinander reden. Die Situation analysieren. Die nächsten Schritte planen. Jemanden zu den Anwohnern in der unmittelbaren Umgebung schicken. Juhani Rautio suchen. Die Telefondaten des Mädchens und den Ablauf ihres letzten Tages klären. Wo war sie gestern gewesen und mit wem? Wer war sie überhaupt? Was hatte Aune Toivola den Streifenbeamten und Esko erzählt? Und was wird aus dem Fall des Kurdenmädchens? Wer übernimmt welche Aufgabe? Esko und ich müssten zumindest versuchen, miteinander bekannt zu werden. Gemeinsam essen gehen. So kann man nicht zusammenarbeiten. Und einen erschreckenden Moment lang ahnte Anna: Ich werde scheitern.

Anna ging allein zum Essen in die Kantine des Polizeigebäudes. Sie verzehrte ein deprimierendes Mahl: verkochte Spaghetti mit blässlicher Hackfleischsoße und Rotkohl-Orangen-Salat. Ein Essen wie im Winter, dabei war gerade die beste Erntezeit. Bitteres alkoholfreies Bier und trockene Brötchen. Seit dem Sommer, als ich hier gejobbt habe, ist das Essen viel schlechter geworden, dachte sie, anscheinend wird auch hier gespart. Sie beschloss, künftig in der Stadt essen zu gehen.

Gerade als sie ihr Tablett mit dem Geschirr zur Rückgabe brachte, betrat ein fröhlich plauderndes Grüppchen die Kantine. Esko, Sari, Rauno und Hauptkommissar Virkkunen. Anna schoss das Blut in die Wangen.

»Oje, Anna, hier bist du also? Hast du schon gegessen?«, rief Sari bestürzt.

»Wir müssen über den Fall sprechen«, wandte sich Anna an Esko.

»Das haben wir gerade getan. Warum bist du nicht dazugekommen? Die Sache nimmt Gestalt an, wir haben sie im Griff. Kümmer du dich mal um deine Aufgaben«, antwortete Esko, während er Besteck auf sein Tablett legte.

»Wie soll ich wissen, was meine Aufgaben sind, wenn man es mir nicht sagt«, entgegnete Anna und bemühte sich, nicht laut zu werden.

»Anna, wir hatten Sie zu unserer Kurzbesprechung erwartet«, sagte Virkkunen.

»Ich habe leider keine telepathischen Fähigkeiten, und soweit ich weiß, habe ich auch in meiner Bewerbung nichts dergleichen behauptet.«

Virkkunen warf Esko einen verwunderten Blick zu. »Esko hat Ihnen doch mitgeteilt, dass wir uns gleich nach Ihrer Rückkehr in meinem Zimmer treffen?«

»Nichts hat er mir mitgeteilt.«

»Doch, habe ich, als wir aus Saloinen zurückgekommen sind«, behauptete Esko.

»Wir haben kein Wort miteinander gewechselt. Außerdem habe ich ein Handy, warum habt ihr mich nicht einfach angerufen?«

Alle schwiegen. Virkkunen wirkte verlegen. Rauno und Sari waren taktvoll in den Hintergrund getreten. Esko studierte die Liste der Tagesgerichte. Eine selbstzufriedene Überheblichkeit lag auf seinem aufgedunsenen Gesicht.

Er sieht aus wie ein Säufer, dachte Anna.

»Das war offenbar ein bedauerliches Missverständnis«, sagte Virkkunen schließlich. »Es tut mir wirklich leid, dass es so gekommen ist.«

»Mir auch«, antwortete Anna.

Sie war den Tränen nahe.

»Ich nehme die Spaghetti. Das ist der einzige Fraß, wo Fleisch drin ist«, erklärte Esko.

Der Nachmittag bescherte ihnen fast schon Hitzegrade. Das Thermometer am Fenster von Annas Dienstzimmer stand auf 22 Grad. Von den Straßen und Blechdächern stieg feuchter Dampf auf. Das Wetter hatte eine rasante Kehrtwendung hingelegt, zurück in den Sommer, auf einen Schlag. Plötzliche, heftige Wetterumschwünge waren in den letzten Jahren immer häufiger vorgekommen.

Anna öffnete das Fenster. Eine schwache Brise trug Abgasgeruch herein. Anna ließ sich die Sonne aufs Gesicht brennen. Sie schloss die Augen und lauschte dem Verkehrslärm.

Das Polizeigebäude befand sich im belebtesten Teil der Innenstadt, in der Nähe des Hauptbahnhofs und des zentralen Busbahnhofs, umgeben von Restaurants, Warenhäusern, Bürogebäuden und Wohnhäusern. Es war ein hässlicher, hoher Kasten aus den späten Sechzigerjahren.

Anna versuchte, aus der Kakofonie des Straßenverkehrs etwas herauszufiltern, das sie wiedererkannte, das eine verborgene Erinnerung weckte an irgendein Ereignis aus ihrer Kindheit und Jugend, an ihr früheres Leben in dieser Stadt. Doch die Geräusche klangen nicht anders als in jeder beliebigen größeren Ortschaft, und die Erinnerung regte sich nicht.

Mein erster Arbeitstag ist noch nicht zu Ende, und ich habe schon ein potenzielles Ehrenverbrechen, einen brutalen Mord und einen widerwärtigen Kollegen am Hals, dachte sie und schlug die Augen wieder auf. Sieht nicht gut aus. Es wird nicht leicht werden. Aber hatte ich etwas anderes erwartet?

Plötzlich kam ihr Ákos in den Sinn. Sie würde sich bald mit ihm treffen müssen.

Anna schob sich näher an das Fenster heran und blinzelte ins Licht. Sie war nervös. Und sie hatte unbändige Lust auf eine Zigarette.

In der vergangenen Nacht ist so viel Schlimmes passiert, dachte sie. Es ist meine Aufgabe herauszufinden, wer das getan hat und warum. Den Schuldigen und Beweise zu suchen. Dafür werde ich bezahlt. Egal ob heute der erste oder der fünfhundertste Tag ist. Arbeit ist Arbeit. Ich bin gut in diesem Job. Oder, na ja, im Streifendienst war ich gut. Wie es hier wird, weiß man noch nicht, aber so völlig anders kann es ja nicht sein. Und von Arschlöchern habe ich mich noch nie unterkriegen lassen.

Widerwillig entließ sie ihre Nikotinlust in den Abgasgestank der Straßenschlucht. Diesen Haken durfte sie nicht schlucken. Höchstens eine Zigarette pro Tag war erlaubt, aber nicht während der Arbeitszeit. Sie seufzte und schloss das Fenster. Jetzt war der Lärm der Stadt nur noch gedämpft zu hören. Die Wanduhr tickte leise.

Anna wandte sich vom Fenster ab.

Eine große, dunkle Gestalt stand hinter ihr.

»Úr Isten!«, rief Anna. Der Schreck schoss ihr durch die Adern wie Gift.

»Man hat Juhani Rautio ausfindig gemacht. Pack Lippenstift und Tampons ein, wir fahren wieder in dieses Kaff, in dem wir heute früh schon waren«, sagte Esko.

»Spinnst du eigentlich? Schleich dich nie wieder …«

Doch Esko hatte das Zimmer bereits verlassen.

»Kommst du endlich?«, rief er vom Aufzug herüber.

5

Juhani Rautio war gerade dabei, ein ausgedehntes Mittagessen zu beenden, in dessen Verlauf ein vielversprechender Handelsvertrag abgeschlossen worden war, als sein Handy klingelte. Er fluchte innerlich über seine Zerstreutheit: Er hatte vergessen, das Ding auszuschalten. Noch vor zehn Jahren war es das Merkmal eines erfolgreichen Geschäftsmannes gewesen, immer und überall Anrufe entgegenzunehmen, aber inzwischen galt dies eher als unhöflich. Juhani war nicht unhöflich, zumindest nicht seiner eigenen Einschätzung nach. Bei geschäftlichen Gesprächen wollte er seinen Kunden den Eindruck vermitteln, dass er sich voll und ganz auf sie konzentrierte, nur für sie da war. Nicht einmal ein Kind mochte es, wenn Vater oder Mutter am Handy sprachen oder Zeitung lasen oder Fernsehen guckten, während es ihnen gerade etwas Wichtiges erzählte. Man musste mit all seinen Sinnen präsent sein.

Juhani wollte schon die rote Taste drücken und die Tischrunde verlegen um Entschuldigung bitten, aber ein unbestimmtes Gefühl veranlasste ihn, das Gespräch doch entgegenzunehmen. Im Nachhinein betrachtete er diese Entscheidung als den schicksalhaften Ausdruck seines Vaterinstinkts.

Der Anruf kam von der Polizei. Man bat ihn, umgehend heimzukommen. Auch seine Frau Irmeli sei bereits unterwegs nach Hause.

Diesmal nahm Esko Anna in seinem Wagen mit. Wahrscheinlich hatte Virkkunen ihm die Leviten gelesen. Allerdings sprachen sie auf der Fahrt kein Wort miteinander. Vielleicht kann man sich an diese Art von Zusammenarbeit ja gewöhnen, dachte Anna verbittert, man schweigt sich an, sagt nichts, und wenn man doch spricht, motzt man den anderen an. Habe ich den größten Fehler meines Lebens begangen?, fragte sie sich.

Das rote Backsteinhaus von Juhani und Irmeli Rautio befand sich im Zentrum von Saloinen, in einem alten Wohngebiet mit großen Einfamilienhäusern und Gärten, allesamt sorgsam gepflegt. Die hohen Bäume, die üppigen Hecken und die zahlreichen Blumenbeete machten das Viertel wohnlich. Fast in jedem Garten sah man auch Beerensträucher und Gemüsebeete mit der reichen Ernte des Spätsommers. Anna musste an die Aussicht von ihrem Balkon denken. Sie versuchte, sich zu vergegenwärtigen, ob sie irgendwo in ihrer Siedlung Balkonpflanzen gesehen hatte. Ihre Mutter hatte immer Balkonkästen bepflanzt. Anna erinnerte sich an die Geschäftigkeit, die sich in jedem Frühjahr wiederholt hatte, an die von der Erde geschwärzten Hände ihrer Mutter, an die zarten jungen Pflänzchen in den langen, schmalen Kästen, an den kalten Betonboden des Balkons, den Grasteppich, der aufgerollt danebenlag, bis alle Blumen eingepflanzt waren. Und an den Stolz, mit dem die Mutter ihren Balkon von unten herauf betrachtete, wenn sie zum Einkaufen ging. Er war wirklich schön, besonders im Spätsommer, wenn das Blütenmeer sich über das Geländer ergoss. Seit sie zu Hause ausgezogen war, hatte Anna keine einzige Blume gepflanzt. Erst jetzt wunderte sie sich darüber.

Juhani traf zur gleichen Zeit ein wie Esko und Anna. Sie gaben sich die Hand, stellten sich vor und betraten das Haus. Darin war es sauber und wohnlich. Der Wohlstand der Familie stach nicht sofort ins Auge, war jedoch an der geschmackvollen, dezenten Inneneinrichtung abzulesen. Entweder war hier ein Innenarchitekt am Werk, oder Frau Rautio ist ungewöhnlich talentiert, dachte Anna, als Juhani sie in das elegante Wohnzimmer führte, in dem jeder Gegenstand genau am richtigen Platz zu stehen schien.

»Sie besitzen einen gelben Fiat Punto«, kam Esko direkt zur Sache.

»Ja«, antwortete Juhani mit besorgter Stimme.

»Kennzeichen AKR-643?«

»Ja, ja.«

»Wissen Sie, wo Ihr Wagen momentan ist?«

»Was ist passiert? Ist er gestohlen worden?«

»Beantworten Sie bitte einfach meine Frage, dann sehen wir, ob irgendetwas passiert ist, das Sie betrifft«, sagte Esko ruhig.

»Hat Riikka einen Unfall gehabt? Ist sie in Ordnung? Sagen Sie mir, was mit ihr los ist!«, rief Juhani.

Anna und Esko sahen einander an. Im selben Moment ging die Haustür auf, und Irmeli Rautio kam herein, das Gesicht gerötet und verschwitzt, den Fahrradhelm noch in der Hand.

»Juhani, was geht hier vor? Warum hat man uns nach Hause gerufen?« Die Stimme der Frau klang belegt.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte Esko freundlich, aber bestimmt.

Anscheinend kann er sich auch ganz normal benehmen, dachte Anna.

»Es ist so: Ihr Wagen wurde an einem Joggingpfad nicht weit von hier gefunden. Wir hätten dazu ein paar Fragen …«

»Den Wagen benutzt unsere Tochter Riikka. Seit letztem Jahr, als sie achtzehn wurde. Wir hatten ihn eigentlich für meine Frau gekauft, als Zweitwagen. Aber sie braucht ihn nicht.«

»Ich fahre lieber mit dem Rad«, erklärte Irmeli Rautio. »Da tue ich auch gleich was für die Fitness. Aber wo ist Riikka? Ich rufe sie an«, fuhr sie fort und wollte schon aufstehen.

»Bleiben Sie bitte sitzen«, mahnte Esko, und Irmeli ließ sich zurück auf das Sofa sinken.

»Wo sollte Ihre Tochter denn jetzt gerade sein?«, erkundigte sich Anna.

»In der Stadt. Denke ich«, antwortete Irmeli und sah ihren Mann fragend an.

»Wohnt sie dort?«

»Na ja, eigentlich hier. Offiziell ist sie hier bei uns gemeldet, aber meistens übernachtet sie bei ihrem Freund in der Stadt.«

»Ihre Tochter ist jetzt also neunzehn?«

»Ja«, antwortete Juhani.

»War sie gestern hier?«

»Nein, wir haben sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Wann war sie zuletzt hier, Irmeli, erinnerst du dich?«

»Letzte Woche, um Wäsche zu waschen, ich glaube, das war am Mittwoch. Jere, also, ihr Freund, hat keine Waschmaschine. Er hat im Keller zwar eine Waschküche, aber die benutzt Riikka nicht gern.« Irmeli lächelte gequält.

»Wann haben Sie zuletzt mit ihr telefoniert?«

»Sie hat mich gestern Vormittag angerufen, um zu fragen, ob sie die alte Kommode nach Jyväskylä mitnehmen darf. Sie fängt dort an zu studieren. Psychologie. Sie zieht bald um.«

»Joggt Ihre Tochter?«, fragte Anna und spürte, wie sich ihre Schultern spannten.

Irmeli und Juhani schwiegen einen Moment. Das Unausgesprochene vibrierte bereits als Ahnung im Bewusstsein der Eltern.

»Ja«, antwortete Irmeli schließlich. »Sie hat im Juni damit angefangen, ich habe ihr ordentliche Schuhe gekauft. Richtige Joggingschuhe, für den Geldbeutel einer Studentin sind die zu teuer. Sie … Sie bildet sich ein, sie wäre zu dick. Aber das ist nichts Krankhaftes, keine Anorexie oder so. Der ganz normale Wunsch einer jungen Frau, ihren Körper in Schuss zu halten, gut auszusehen.«

Irmeli flocht mit zitternden Fingern Zöpfe aus den Fransen der Wolldecke, die auf dem Sofa lag, und sah mit ängstlich-wachsamen Augen von Anna zu Esko. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine Furche gebildet, ein Sorgengraben.

»Erinnern Sie sich an die Marke der Schuhe?«, fragte Anna.

Als die Frau die Marke nannte, blickte Esko zum Fenster und ballte die Hand so fest zur Faust, dass die Knöchel weiß wurden. Anna versuchte, den zähen Speichel hinunterzuschlucken, der ihr in der Kehle saß.