Kriegerin der Schatten - Lara Adrian - E-Book
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Kriegerin der Schatten E-Book

Lara Adrian

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Beschreibung

Ein neuer Feind erhebt sich ...

Behütet aufgewachsen in einem Dunklen Hafen in Boston, schien Jordana Gates’ Lebensweg stets klar vor ihr zu liegen. Doch dann trifft sie auf den Stammeskrieger Nathan - einen der tödlichsten Kämpfer des Ordens, der seine Missionen stets mit eiskalter Präzision ausführt. Ein impulsiver Kuss entfacht eine tiefe Leidenschaft zwischen den beiden. Doch Jordana ist einem anderen versprochen ...

Band 12 der erfolgreichen Midnight Breed-Reihe von Bestseller-Autorin Lara Adrian!

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Seitenzahl: 469

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Lara Adrian bei LYX

Impressum

LARA ADRIAN

Kriegerin der Schatten

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Katrin Kremmler und Lisa Kuppler

Zu diesem Buch

Behütet aufgewachsen in einem Dunklen Hafen in Boston, schien Jordana Gates’ Lebensweg stets klar vor ihr zu liegen – so wie es den Vorstellungen ihres Vaters entsprach. Doch dann trifft sie auf den Stammeskrieger Nathan, einen der tödlichsten Kämpfer des Ordens. Ein impulsiver Kuss entfacht eine tiefe Leidenschaft zwischen ihnen. Plötzlich stellt Jordana ihre heile und wohlgeordnete Welt infrage, eine Welt, in der ein Krieger wie Nathan niemals zu Hause sein kann. Denn Nathan bedeutet Gefahr, Begehren, einen Mahlstrom der Gefühle, dem sie sich nicht gewachsen fühlt. Aber auch Nathan ist zerrissen von seinem Verlangen nach Jordana. Er ist nicht bereit, die junge Frau, die so unschuldig und arglos ist, der Dunkelheit auszusetzen, die ihn zu dem eiskalten Killer gemacht hat, der er einst war. Und könnte er sie wirklich in die gefährliche Welt des Ordens hineinziehen, der seit Kurzem einem neuen und scheinbar übermächtigen Gegner gegenübersteht? Doch bald wird klar, dass Jordana bereits im Zentrum des Konflikts steht, und Nathan muss alles daran setzen, sie vor dem Feind zu beschützen, der längst ihre Spur aufgenommen hat.

1

Die Menschenmenge, die sich zum Rhythmus der dröhnenden Musik auf der Tanzfläche des Bostoner Nachtclubs bewegte, schien zu spüren, dass der Tod das Gebäude betreten hatte.

Nathan bemerkte die plötzliche Veränderung in der Atmosphäre, sobald sie den Club betreten hatten. Er hatte sich schon längst an die instinktive Reaktion gewöhnt, die er bei Sterblichen auslöste. Weil er ein Ordenskrieger und ein Stammesvampir der Ersten Generation war – die mächtigsten Vampire, die es gab –, versetzte er selbst andere Vampire durch seine Gegenwart in Alarmbereitschaft. Aber die Angst, die er auf der Tanzfläche spüren konnte, hatte mit einem anderen Teil seiner Natur zu tun. Er war von Geburt an zu einem Jäger abgerichtet worden, zu einem Soldaten der dunklen Legion, der zum Töten gezüchtet worden war und dem man jegliches Gefühl und jegliche Zuneigung zu irgendjemandem abtrainiert hatte. In dem schummrigen, nur durch die sich drehenden Discokugeln beleuchteten Club blickten viele Gäste verstohlen zu ihm hinüber. In ihren Augen lag die unaussprechliche, aber mit jeder Faser ihres Körpers spürbare Furcht vor dem Jäger in ihm.

»Die sehen nicht gerade glücklich aus, dass wir hier sind«, sagte Rafe. Er war Nathans Gefolgsmann und einer der drei Stammeskrieger, die ihm als Captain des Teams unterstellt waren.

»Cassian Gray wird den Orden auch nicht gerade mit offenen Armen empfangen.« Elijah sprach wie immer langsam, mit einem texanischen Akzent, der darüber hinwegtäuschte, wie schnell und kompetent der Vampir mit den Messern und Schießwaffen umgehen konnte, die er in seinem Waffengurt stecken hatte.

Auf der anderen Seite von Eli stand Jax, das dritte Mitglied der Patrouille am heutigen Abend. Er zog eine schmale schwarze Braue über seinen mandelförmigen Augen hoch. »Unser letzter Besuch hat nicht gerade unter den besten Umständen geendet.«

Wo Jax recht hatte, hatte er recht. Das LaNotte, einer der beliebtesten – wenn auch berüchtigsten – Szeneclubs befand sich in einer ehemaligen Kirche. Und als Nathan und sein Team das letzte Mal hier aufgetaucht waren, endete die Sache damit, dass der Besitzer des Clubs, Cassian Gray, die Joint Urban Security Taskforce Initiative Squad, kurz JUSTIS, gerufen hatte – eine Polizeitruppe der Regierung, die aus handverlesenen Vampiren und Menschen bestand. Der Orden hatte damals nicht die Zeit gehabt, um sich irgendwie öffentlich oder politisch mit JUSTIS anzulegen.

Doch wenn Cass dachte, er könne sich für immer hinter JUSTIS verstecken, nur weil er dort mit vollen Händen Schmiergelder austeilte, dann täuschte er sich. Und zwar gewaltig, wenn er das Spiel wirklich auf diese Weise spielen wollte. Der Orden hatte vor Kurzem aus einer verlässlichen Quelle erfahren, dass Cass anscheinend noch andere, unbekannte Verbündete auf seiner Gehaltsliste hatte. Verbündete, neben denen seine Kontaktleute bei der Polizei und in der Unterwelt angeblich nicht mehr als unbedeutende Marionetten waren.

Nathan und sein Team hatten den Auftrag, den geheimnisvollen Clubbesitzer ins Bostoner Hauptquartier zu bringen, um ihn zu befragen.

»Los geht’s. Irgendwo hier muss der Mistkerl ja stecken.« Nathan ignorierte den scharfen Geruch von Adrenalin und Angstschweiß, der sich mit dem von Alkohol, abgestandenem Rauch und Parfüm zu einer Wolke vermischte, die wie Nebel unter der Decke des Clubs hing. Mit einer Handbewegung wies er sein Team an, ihm weiter hinein ins Innere zu folgen. »Eli, du und Jax, ihr durchsucht die öffentlich zugänglichen Räume. Rafe und ich schauen uns in den Büros hinten um.«

Die beiden Krieger gehorchten seinem Befehl ohne ein weiteres Wort und marschierten los. Rafe drängte sich neben Nathan durch die Menge, um zu den Privaträumen des Besitzers vom LaNotte zu gelangen. Selbst als sie vor Cass’ Büros standen, tauchten nirgends Leibwächter auf, um sie aufzuhalten. Entweder hatte er sich unter die Gäste seines Clubs gemischt oder er war heute Abend gar nicht hier.

Nathan hoffte, dass Cass seiner Lieblingsbeschäftigung nachging und wichtigen Gästen Honig um den Mund schmierte. Wenn nicht, dann würde er so oder so von ihrem unangekündigten Besuch erfahren. Der Orden wollte auf keinen Fall, dass der Scheißkerl vorgewarnt war. Sie konnten nicht riskieren, dass er untertauchte, bevor sie ihn darüber befragen konnten, wer – oder besser gesagt was – er wirklich war.

Nathan schritt auf die schwarz gestrichene Stahltür zu, in die jemand mit der Spitze eines Sägemessers das Wort PRIVAT geritzt hatte. Das Bolzenschloss und die zusätzliche Verriegelung waren kein Problem für seine übersinnliche Gabe. Eine knappe Sekunde Konzentration, und schon öffnete sich der Bolzen und der Riegel fiel zur Seite.

Er drückte die Tür auf, Rafe folgte ihm in das dunkle Büro. Sie brauchten kein Licht anzumachen, denn als Stammesvampire verfügten sie über ein außergewöhnliches Sehvermögen, das im Dunkeln nur noch schärfer wurde.

Schnell blickte sich Nathan in dem leeren Raum um und fluchte. »Er ist schon abgehauen.«

Nirgends war eine Spur von Cassian Gray zu entdecken. Alle Papiere und persönlichen Dinge waren vom Schreibtisch geräumt worden. Nicht einmal mehr ein Tablet-PC lag herum, den sie praktischerweise hätten konfiszieren können. Das Büro war sorgsam leer geräumt worden und Cass schon mindestens seit ein paar Stunden weg, vermutete Nathan. Vielleicht sogar schon seit einem ganzen Tag oder noch länger.

»Verdammt«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Auf der anderen Seite des Zimmers hatte Rafe einen Büroschrank mit Akten und Wirtschaftsbüchern aufgebrochen. »Hier sind nur Buchhaltung und Quittungen. Bar-Ausstattung, Rechnungen für Schnaps, Verträge mit Bands, die im Club aufgetreten sind.« Der blonde Vampir warf Nathan einen schiefen Blick zu. »Was glaubst du, wo bewahrt Cass wohl die Unterlagen von den Geschäften auf, mit denen er wirklich Kohle einfährt? Hier steht kein Wort von der Kampfarena im Keller, nichts von illegalem Glücksspiel, Prostitution oder Bluthandel. Hier finden wir auch nichts über die anderen Aktivitäten, die das LaNotte sonst noch im Angebot hat.«

Nathan grunzte nur. Es war nicht gerade ein Geheimnis, dass Cass illegale und andere, ungewöhnliche Dienste in den Kellerräumen seines Clubs anbot, zu denen die Allgemeinheit keinen Zutritt hatte. Doch illegal oder nicht, Cass wahrte mit großer Sorgfalt seine eigenen Interessen und die seiner Kunden. Die Unterlagen über diese Bereiche seines Geschäfts lagerte er hundertprozentig nicht in den Büroräumen seines Clubs, sondern an einem weitaus sichereren Ort.

Nein, Cassian Gray war ein Mann, der genau wusste, wann und wie er seine Geheimnisse schützen konnte.

Rafe gab die Durchsuchung des Aktenschranks auf und schritt weiter nach hinten in das finstere Büro. »Hey, schau dir das mal an«, rief er Nathan über die Schulter zu. »Hier ist noch eine Tür.«

Er öffnete sie und stieß einen leisen Pfiff aus. »Mann, das musst du dir ansehen.«

Hinter der Tür befand sich ein Schlafzimmer. Ein übergroßes Himmelbett mit schwarzer Satinbettwäsche beherrschte den Raum. An den Leisten zwischen den Bettpfosten hingen jede Menge Lederriemen und eine ganze Reihe von Handschellen und Fesseln mit Schnallen, von denen einige mit scharfen Metalldornen versehen waren.

Rafe stieß ein dunkles Lachen aus. »Eins ist schon mal klar: Cassian Gray ist ein perverser Arsch, was immer er auch sonst sein mag.«

Nathan starrte auf die Requisiten für abartige Sexspiele und Folterungen, während sein Freund und Gefährte näher trat und eine der dornenbewehrten Fesseln zum Klirren brachte. »Lass das Zeug, Rafe. Hier verschwenden wir nur Zeit. Cass ist offensichtlich nicht da. Komm, wir suchen die anderen und hauen ab.«

Rafe ließ den Lederriemen aufs Bett fallen, und sie wandten sich gerade beide zur Tür, als Jax ihnen entgegenstürzte. Sein Gesichtausdruck war ernst und angespannt. »Wir haben ein Problem.«

»Habt ihr Cass gefunden?«, fragte Nathan.

Jax schüttelte den Kopf. »Aric Chase. Er ist unten bei den Käfigen. Mit Rune.«

»Verfluchte Scheiße«, zischte Rafe und stellte sich neben Nathan.

»Eli versucht gerade, die beiden auseinanderzubringen«, sagte Jax. »Aber Aric will nicht aufhören. Das wird gleich ziemlich hässlich da unten.«

Nathan stieß einen knurrenden Fluch aus. »Ist Carys auch hier?«

»Heute Nacht nicht«, sagte Rafe. »Sie ist im Kunstmuseum mit Jordana Gates. Die beiden veranstalten einen Empfang für die Förderer des Museums. Sie haben den Abend seit Monaten organisiert.«

Nathan nickte knapp, wenigstens waren von dieser Seite keine Probleme zu befürchten. Auf keinen Fall sollte Carys Chase mit ansehen, wie ihr Zwillingsbruder von dem brutalen Käfigkämpfer zusammengeschlagen wurde, mit dem sie seit Kurzem das Bett teilte.

Aber falls der Käfigkämpfer und die Tagwandlerin mehr als nur das Bett teilten – falls sie womöglich eine Blutsverbindung eingegangen waren –, dann war Aric sicher nicht der Einzige von den Chases, der Rune einen Tritt in seinen schwarzen Arsch verpassen wollte. Oder sich zumindest mit Rune anlegte. Shit, Nathan würde wahrscheinlich selbst mit auf ihn einprügeln.

Zusammen mit Rafe und Jax rannte er so schnell er konnte in Richtung der stahlvergitterten Kampfarena im Kellergeschoss des LaNotte. Röhrende Schreie und blutrünstiger Applaus donnerten durch den untersten Stock der ehemaligen Kirche. Kaum hatten sie die illegale Arena erreicht, da erblickte Nathan Aric und Rune. Sie standen vor den Käfigen. Eli hatte sich zwischen sie gestellt und war damit beschäftigt, Aric zurückzuhalten. Die beiden Stammesvampire hatten ihre Fangzähne ausgefahren. In der düsteren Kampfarena glühten ihre Augen wie heller Bernstein.

Nathan warf Jax einen finsteren Blick zu. »Was ist hier verflucht noch mal los?«

»Ich weiß es nicht genau. Die Stimmung war schon geladen, als Eli und ich hier runterkamen.«

Ein anderer Kämpfer aus dem LaNotte, ein langhaariger blonder Stammesvampir namens Syn, stand ganz in der Nähe und erwiderte Nathans wütenden Blick. Der Lärm der Zuschauer um die Arena herum wurde immer lauter. »Ihr pfeift besser euer Kriegerbaby zurück, sonst lässt Rune nur blutige Fetzen von ihm übrig.«

»Was für ein Problem hat Rune denn heute mit Aric?«

Syn grinste. »Rune hat kein Problem.« Er schüttelte den Kopf. »Er hat keinen gestört, sich hier nur noch ein bisschen ausgeruht und ein paar Erfrischungen zu sich genommen vor dem ersten Kampf heute.«

So wie er das Wort Erfrischungen betonte, war Nathan klar, dass Rune, als Aric ihn entdeckte, wahrscheinlich von einer bezahlten Blutwirtin getrunken hatte. Cass hatte hier unten menschliche Blutwirte für seine Kämpfer und VIPs angestellt.

»Euer Junge hier hat Scheiße geredet«, sagte Syn. »Der Orden hat ihn angeblich auf dem Kieker, hat er Rune erzählt. Und dass er sich in Acht nehmen soll, sonst wäre er bald nur noch Asche.«

Himmel noch mal. Wahrscheinlich sollte Nathan sich nicht wundern, dass es zur Konfrontation zwischen den beiden gekommen war. Doch Arics persönliche Abneigung gegen den brutalen Käfigkämpfer hatte nichts mit den Angelegenheiten des Ordens zu tun.

Zumindest bis jetzt noch nicht. Falls der Vater von Aric und Carys, Sterling Chase, jemals erfuhr, dass seine Tochter sich mit einem skrupellosen Kriminellen wie Rune eingelassen hatte, dann – da war Nathan sich sicher – würde der Orden auf jeden Fall etwas dazu zu sagen haben.

Nathan, Rafe und Jax drängten sich durch die johlende Menge nach vorn. Sie kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Aric an Elijah vorbei auf Rune zustürzte. Mit vollem Körpereinsatz warf er sich auf den muskelbepackten Kämpfer, mit ausgefahrenen Fängen und wutentbranntem Blick. Rune knallte mit dem Rücken gegen den nächsten Käfig. Aric prügelte mit unkoordinierten Faustschlägen auf ihn ein, die Rune gekonnt abwehrte. Aric allerdings war so wütend, dass er jeden Selbstschutz vergaß. Seine fehlende Deckung lud geradezu zu einem vernichtenden Fausthieb ein.

Aber Rune schlug nicht zurück. Er warf Aric tödliche Blicke zu, seine brutalen Gesichtszüge waren wutverzerrt. Doch der bislang ungeschlagene Käfigkämpfer, der mehr tödliche Siege in der Tasche hatte als jeder andere, hielt sich zurück.

Nathan stieß die Zuschauer beiseite, damit er und Rafe Aric von Rune wegreißen konnten. Das war leichter gesagt als getan. Aric war jung, gerade mal zwanzig, aber er war ein Gen Eins wie Nathan. Er war sehr muskulös gebaut und strotzte nur so vor Kraft. Und im Moment war sein ganzer Körper wie elektrisiert, er kochte vor Feindseligkeit gegen den inakzeptablen Liebhaber seiner Schwester.

»Hast du den Arsch offen, Mann?«, brüllte Rafe seinen Freund an. »Drehst du jetzt völlig durch, Aric? Was hast du hier unten überhaupt verloren?«

Aric ließ von Rune ab, aber er starrte ihn immer noch voller Hass an. Mit dem Finger deutete er auf den Kämpfer, der so gelassen dastand, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. »Du hältst dich an deinesgleichen. Lass die Finger von ihr. Sie ist besser als das hier, besser als du.«

Rune verzog langsam die Lippen, ein spöttisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Das sag ich ihr die ganze Zeit. Aber sie denkt anscheinend anders darüber.«

Während Rune noch redete, kam eine Blutwirtin des LaNotte auf ihn zugetänzelt und schlang ihren fast nackten Körper um ihn. Sie nahm sein Ohrläppchen zwischen die Zähne, drückte ihren Mund an seine dunkle, unrasierte Wange und flüsterte ihm etwas zu. Rune verpasste ihr einen Klaps auf den Hintern und wies sie an, in einer der Sitznischen auf ihn zu warten.

Aric drehte durch. Er kochte vor Wut und knurrte wie ein wildes Tier. Mit aller Kraft versuchte er, sich aus Nathans und Rafes Armen loszureißen.

»Raus mit ihm, bevor das hier noch ein böses Ende nimmt«, sagte Nathan.

»Eine kluge Entscheidung.« Syn nickte ihnen zu, als Nathan und sein Team Aric mit Gewalt von den Käfigen und Rune wegzerrten.

Sie schleppten den aufgebrachten Vampir aus dem Club hinaus auf die Straße. Als sie ihn losließen, wollte Aric sofort zurück zum Eingang stürzen, aber Nathan und Rafe stellten sich ihm in den Weg. Er baute sich vor ihnen auf, wobei er sein Gewicht auf die Stiefelabsätze verlagerte.

»Sie muss kapieren, dass es so nicht weitergehen kann. Carys muss kapieren, dass er ihrer nicht würdig ist. Ich kann doch nicht danebenstehen und zusehen, wie ein solcher Abschaum wie Rune ihr das Herz bricht.« Aric stieß einen leisen, deftigen Fluch aus. »Verdammt noch mal, ich lasse das nicht zu.«

Dann drehte er sich um und rannte davon. Nicht zurück zum Club, sondern die Straße hinunter.

»Shit«, brummte Rafe und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Er schaute hoch zu Nathan. »Du weißt, wo er hingeht.«

Der Empfang im Museum. Man musste kein Gedankenleser sein, um das zu erraten. Aber Nathan ärgerte es, dass Aric auf dem Weg zum Kunstmuseum war. Noch mehr ärgerte es ihn, dass er und sein Team die geplante Suche nach Cassian Gray heute Nacht abbrechen und sich stattdessen um einen der ihren kümmern mussten.

Einen der ihren, der den ganzen Zorn seiner geliebten Schwester auf sich ziehen würde, wenn er seine Drohung wahr machte und Carys und Rune auseinanderbringen wollte.

Und wenn sie jetzt Aric nachsetzten, dann würden sie im Museum jemanden treffen, dem Nathan lieber aus dem Weg gegangen wäre, besonders unter diesen Umständen.

Jordana Gates.

Die schöne junge Frau aus den Dunklen Häfen, an die er die ganze letzte Woche hatte denken müssen, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Er bekam sie nicht mehr aus dem Kopf, seit sie ihre Lippen auf seine gepresst hatte, in einem völlig unerwarteten, absolut unvergesslichen Kuss. Der Kuss hatte ihn aus der Bahn geworfen, und ja, das machte ihn wütend.

Der Kuss hatte ihn auf eine Weise durcheinandergebracht, die Nathan kaum verstehen konnte.

»Das Kunstmuseum liegt an der Huntington Avenue«, sagte Rafe neben ihm.

»Ich weiß, wo das Museum ist.« Nathan wusste mehr über die hübsche Jordana Gates, als er wissen sollte – auch über die Orte, an denen sie sich aufhielt. Vor allem, damit er ihr aus dem Weg gehen konnte. Aber jetzt war ein Treffen nicht zu vermeiden. Nicht, wenn Aric in den Empfang im Museum hineinplatzte, um die Tugend seiner Schwester zu verteidigen.

»Los, gehen wir«, knurrte Nathan.

Er mochte sich darüber ärgern, wohin diese beschissene Nacht sie führte, aber er war doch der Erste, der vom Bordstein trat und in Richtung Museum losrannte.

2

Mit der übernatürlichen Geschwindigkeit ihrer Stammesgene brauchten Nathan und sein Team zum Museum am anderen Ende der Stadt nur drei Minuten.

Aric eilte ihnen voraus und stieß gerade den erschrockenen menschlichen Türsteher beiseite und stürzte ins Gebäude. Nathan, Rafe, Jax und Eli folgten ihm, konnten ihn aber nicht mehr davon abhalten, die exklusive geschlossene Veranstaltung zu stören.

Aric stürmte mitten durch die kleinen Gruppen von Herren im Smoking und Damen in eleganten Abendkleidern und mit glitzernden Juwelen, und brüllte den Namen seiner Schwester. »Carys!«

Alle Gespräche verstummten abrupt. Überall drehten sich die Köpfe zu ihm, von Stammesvampiren und Menschen. Nur das Streichquintett oben auf der Galerie ignorierte Arics Eindringen in die geschlossene Veranstaltung und spielte ungerührt weiter Mozarts fröhliche Kleine Nachtmusik, eine seltsame Hintergrundmusik für den Aufruhr, die sich jetzt im ganzen Erdgeschoss des Museums ausbreitete.

Während Nathan und sein Team von Kriegern ihm unmittelbar folgten, stapfte Aric an den Skulpturen und Kunstwerken vorbei, die heute Abend eigens für die reichen Mäzene ausgestellt wurden. »Carys Chase!«, brüllte er. »Verdammt, wo steckst du?«

Jetzt war Nathan direkt hinter Aric. Er legte ihm schwer die Hand auf die Schulter, um ihn zum Stehenbleiben zu zwingen. »Das ist hier nicht die Zeit noch der Ort«, warnte er seinen Kameraden leise, bereit, den jungen Stammeskrieger notfalls mit Gewalt aus dem Museum zu zerren.

Das hätte er getan. Aber im selben Augenblick kamen Nathans Sinne abrupt zum Stillstand, als sie sich aus einer schützenden Menschentraube löste.

Nicht Arics Schwester Carys.

Jordana Gates.

Groß, schlank und feingliedrig, gehüllt in ein Abendkleid aus einem hauchzarten, hellblauen Stoff, das ihren Körper umschwebte wie eine seidene Wolke, trat sie aus der Menge der privilegiertesten gesellschaftlichen Elite und sah Nathan aus ein paar Metern Entfernung in die Augen. Ihre waren meerblau unter dem zu einer komplizierten Hochfrisur aufgetürmten weißblonden Haar und richteten sich mit einem Ausdruck auf ihn, den er zuerst für Überraschung und dann Verwirrung hielt.

Ihr durchscheinendes Kleid betonte ihre Brüste, ihre schlanke Taille und die sanfte Rundung ihrer Hüften. Sie war atemberaubend. Und nervös. Nicht, weil Aric ihre elegante Society-Party gestört hatte, sondern wegen Nathan.

Weil er jetzt hier vor ihr stand.

Sogar auf diese Entfernung konnte er sehen, wie bei seinem Anblick ihr Puls in der Grube an ihrem zarten weißen Halsansatz schneller zu schlagen begann. Er konnte praktisch spüren, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, als er ihren Blick ungerührt erwiderte, ihren Anblick von Kopf bis Fuß in sich aufnahm. Er konnte fast wieder ihren Mund auf seinem spüren, weiche Lippen, die sich überraschend auf seine pressten, wie er es ihr nie erlaubt hätte. Ein süßer, verwegener Kuss, der nie hätte geschehen dürfen.

Nicht mit einem wie ihm.

Nein, Jordanas Nervosität war absolut gerechtfertigt.

Sie hatte keine Ahnung, was sie angerichtet hatte, als sie ihn so geküsst hatte. So obsessiv, wie er in diesen letzten Tagen an sie gedacht hatte, hatte sie verdammt guten Grund, in seiner Gegenwart nervös zu sein.

»Carys!«, rief Aric noch einmal in die Menge.

Seine tiefe, dröhnende Stimme ließ Jordana zusammenfahren, sie hob erschrocken eine zarte Hand an den Hals. Oben auf der Galerie verstummte die Musik. Das Publikum begann unruhig zu murmeln und begaffte Arics Auftritt, doch keiner der Männer im Smoking schien erpicht darauf, den Helden zu spielen und sich ohne Verstärkung einem wutschnaubenden Ordenskrieger entgegenzustellen.

Wieder rief Aric nach seiner Schwester und versuchte, Nathans Hand abzuschütteln.

»Keine Chance«, sagte Nathan und krallte die Finger tiefer in Arics muskulöse Schulter. Rafe, Eli und Jax waren direkt hinter ihm und warteten auf seine Befehle. »Komm«, sagte er zu Aric. »Du musst dich abregen. Lass uns rausgehen. Alles, was du erreichst, ist, dass sie stinksauer wird …«

»Aric?« Carys Chase eilte durch die reglose Menge, Panik in ihrer sonst so ruhigen Stimme. So elegant gekleidet wie Jordana und die anderen Frauen, in ihrem geometrisch geschnittenen blutroten Abendkleid und passenden Riemchensandalen, eilte sie auf ihren Bruder zu und starrte ihn mit offenem Mund an. »Was machst du hier? Was ist los?«

Während Jordanas Schönheit vom eisigen Glanz eines Diamanten war, war Carys Chase eine Kombination von Erde und Feuer. In ihren Augen blitzte ein scharfer Verstand, und ihre karamellfarbene Mähne schwang ihr wie flüssige Bronze um Gesicht und Schultern.

Natürlich waren die Unterschiede zwischen den beiden Frauen nicht nur physischer Natur.

Während Jordana Gates eine Stammesgefährtin war – zur Hälfte Mensch, zur anderen Hälfte von einer schwerer zu bestimmenden Abstammung als ihre normalsterblichen Schwestern –, war Carys Chase etwas noch Selteneres. Sie war Stammesvampirin, und eine Tagwandlerin noch dazu.

So wie auch ihr Zwillingsbruder.

»Aric, bist du okay?«, fragte sie ihn und legte ihm die Hand an den verkrampften Kiefer. Sie musterte ihn rasch und machte die klugen Augen schmal. »Wo bist du heute Nacht gewesen? Warum ist dein Hemd zerrissen?«

»Wir müssen reden«, fuhr Aric sie an.

Carys blinzelte. »Jetzt? Siehst du nicht, dass ich gerade mitten in einem –«

»Jetzt sofort«, fauchte er, riss sich endlich aus Nathans Griff und packte seine Schwester am Arm. »Das ist verdammt ernst, Car. Das kann nicht warten.«

Er versuchte, sie von den Zuschauern wegzuführen, aber Carys in ihren Zwölf-Zentimeter-Absätzen rührte sich keinen Zentimeter. »Spinnst du? Lass sofort meinen Arm los!« Sie entwand sich ihm, ihre Augen blitzten vor Empörung, und Nathan erhaschte einen Blick auf die Spitzen ihrer hervortretenden Fänge. »Um Himmels willen, Aric. Du machst mich hier vor allen Leuten lächerlich.«

Auf der anderen Seite des Raumes löste sich Jordana aus der Menge und kam auf ihre wütende Freundin zu. Doch dann trat ein Mann hinter sie und hinderte sie am Weitergehen. Es war ein Stammesvampir, groß und attraktiv, mit klaren blauen Augen und goldenem Haar.

Einer der Society-Typen, die hier zum Stammpublikum gehörten. Der Mann legte Jordana beschützend die Hand um die Taille und zog sie an sich, hielt sie unauffällig fest. Als ob sie zu ihm gehörte.

Nathan beobachtete es mit kühlem Kopf, obwohl ihm Verachtung für diesen Mann durch die Adern schoss, der Jordana berührte, als wäre sie sein Eigentum.

Er starrte sie an, sah, wie sich ihre Wangen unter seinem musternden Blick etwas tiefer röteten, dann senkte sie abrupt den Blick.

War etwa das der Grund für ihre Nervosität? Nicht nur Nathans Auftauchen hier, sondern dass sie in seiner Anwesenheit mit einem anderen zusammen war?

Dieser Mann, dessen Hand von ihrer Wespentaille zu ihrer verlockend geschwungenen Hüfte gewandert war, streichelte sie beiläufig mit den Fingern, während er aus der Brusttasche seines Smokings ein kleines Funkgerät nahm und an den Mund hielt.

Jordana hob den Blick nicht. Nicht einmal, als der Wortwechsel zwischen Aric Chase und seiner Schwester immer lauter wurde.

»Er benutzt dich, Carys. Siehst du das denn nicht? Abschaum wie er wird dich nur verletzen.«

Sie schnaubte verächtlich und stieß einen leisen Fluch aus. »Wovon redest du?«

»Rune.« Aric schleuderte ihr den Namen förmlich entgegen. »Du musst mit ihm Schluss machen, sofort. Bevor ich den Bastard dafür töten muss, dass er denkt, er darf dich anfassen.«

»Du weißt gar nichts über Rune und mich.« Sie starrte ihn wütend an. »Und du hast kein Recht, dich einzumischen –«

Aric unterbrach sie mit einem scharfen Fauchen. »Ich bin dein Bruder – dein Zwillingsbruder, Carys. Und ich liebe dich. Das gibt mir jedes Recht dazu.«

Langsam schüttelte sie den Kopf und warf einen Blick zu den stummen Zuschauern, die die ungeplante zweite Attraktion des Abends gebannt und mit unverhohlenem Interesse verfolgten. Als Carys Aric wieder ansah, hatten sich ihre Pupillen zu dünnen vertikalen Schlitzen zusammengezogen. Obwohl sie nach außen völlig ruhig wirkte, konnten Nathan und jeder andere Vampir im Raum nur zu deutlich sehen, wie wütend die Stammesvampirin war.

Carys sprach jetzt leise, aber in der gedämpften Saalbeleuchtung der Empfangshalle des Museums glänzten ihre langen Fänge rasiermesserscharf und tödlich. »Geh nach Hause, Aric. Diesen Auftritt verzeihe ich dir noch mal, weil du sagst, du tust das aus Liebe zu mir. Aber dieses Gespräch ist zu Ende.«

Der Mann an Jordanas Seite räusperte sich, eine plumpe Unterbrechung, die außerdem viel zu spät kam. »Soll ich JUSTIS verständigen, Carys?«

»Das wird nicht nötig sein«, antwortete sie kühl. »Mein Bruder und seine Freunde wollten sowieso gerade gehen.«

Rafe trat neben Aric und packte seine andere Schulter. Die beiden Krieger standen sich so nahe wie Brüder, genau wie ihre Väter vor ihnen, Dante Malebranche und Sterling Chase, beides langjährige Mitglieder des Ordens. Als Aric sich nicht rührte, boxte Rafe ihn nicht gerade sanft gegen den Bizeps. »Na komm schon, Mann. Das hast du verbockt, und du weißt es. Lass uns hier verschwinden.«

Aric entspannte sich ein wenig, starrte aber seine Schwester weiter wütend an. »Mach Schluss mit ihm, Carys. Ich will es nicht für dich tun müssen.«

Sie starrte zurück, verletzt, aber unbeugsam. »Wenn du das auch nur versuchst, dann habe ich keinen Bruder mehr.«

Die Geschwister lieferten sich ein Blickduell, keiner wollte nachgeben. Nathan hatte die Zwillinge in der Großfamilie des Ordens aufwachsen sehen und oft miterlebt, wie sie sich in die Haare geraten waren, aber noch nie so. Ihre Verbindung als Bruder und Schwester war immer eisenstark und unzerstörbar gewesen, egal, wie hart sie aneinandergerieten.

Heute Nacht hatte Aric bei seiner Schwester erstmals eine Grenze überschritten. Und so, wie es aussah, würde er keinen Rückzieher machen.

Schließlich war Carys die Erste, die ihre Wut zügelte. Mit hoch erhobenem Kopf drehte sie sich langsam um und ging zu ihrer Freundin Jordana und dem Rest der verdutzten Versammlung zurück, als wäre nichts geschehen.

Aric starrte ihr für einen Moment nach, dann fuhr er herum und stapfte aus dem Museum. Rafe, Eli und Jax folgten ihm und ließen Nathan alleine mit der einzigen anderen Person, die auch jetzt noch immer reglos und wie festgebannt am anderen Ende des Raumes stand.

Schließlich hob Jordana den Blick und sah ihn noch einmal an.

Ein wilder, ungezähmter Teil von ihm stellte sich vor, wie sie sich anfühlen würde, wenn er jetzt einfach zu ihr hinüberginge, sie in seine Arme riss und küsste, ohne zu fragen – dieses Mal er sie. Zu seinen Bedingungen.

Ganz seiner Gnade ausgeliefert.

Eine gefährliche Versuchung.

Aber deshalb nicht weniger verlockend.

Jordana hielt seinen Blick länger, als er ihr zugetraut hätte. Länger, als jede andere Frau es gewagt hätte, wenn sie spürte, welch düstere Richtung seine Gedanken gerade nahmen.

Sie öffnete die vollen Lippen, als sie ihn ansah, aber sagte nichts. Sie stand einfach reglos da und sah ihm in die Augen, während oben auf der Galerie die Musik wieder einsetzte und der Empfang um sie herum weiterging. Wieder summten Gespräche, die Mäzene und Gäste hatten den Vorfall schon hinter sich gelassen.

Und immer noch weigerten sich diese meerblauen Augen, Nathan loszulassen.

Erst als der Stammesvampir an Jordanas Seite die Hand um ihren Nacken legte, wandte sie schließlich den Blick ab. Sie lächelte liebenswürdig zu ihrem Begleiter auf und nickte ihm leicht zu. Dann nahm er ihre Hand und führte sie sanft zu ihrer Herde zurück, wo sie hingehörte, zum Rest der Bostoner High Society.

3

Obwohl sie wusste, dass es nicht klug war, musste Jordana sich einfach noch einmal umsehen, als sie vom Schauplatz des unangenehmen Vorfalls weggeführt wurde.

Nathan war immer noch da.

Er beobachtete sie weiterhin, seine Augen dunkel unter den schroff gerunzelten schwarzen Brauen, sehr persönlich und durchdringend mitten in der Öffentlichkeit der Menschenmenge. Die Hitze in seinen Augen war unverkennbar; er sah aus, als wolle er sie verschlingen. Als wäre die Menge um sie herum völlig ohne Bedeutung für ihn.

Jordana fand unter diesem durchdringenden Blick nur mit Mühe ihren Atem wieder. Ihre Sinne sagten es ihr nur allzu deutlich: Wenn dieser mächtige Stammesvampir – dieser Krieger, den sie neulich so leichtsinnig geküsst hatte – beschließen sollte, dass er hier und jetzt etwas von ihr wollte, konnten nicht einmal die hundert Männer in ihren Smokings heute Abend im Museum ihn von ihr fernhalten.

Noch beunruhigender war, wie ihr Herz auf diesen Gedanken reagierte.

Rette mich, schien ihr Puls in ihren Adern zu trommeln.

Nimm mich. Bring mich weg.

Diese Gedanken überraschten sie. Beunruhigten sie, so unerwünscht und lächerlich waren sie.

Sie retten wovor?

Sie nehmen, wohin … oder wie?

Ihr Körper beantwortete diese Frage mit einem heißen Pulsieren zwischen ihren Beinen. Die Erinnerung an ihren kurzen Kuss lief vor ihrem inneren Auge ab, nur schmückte ihre Fantasie jetzt die Details aus. Aus dem impulsiven Zusammentreffen ihrer Lippen wurde ein leidenschaftliches Durcheinander von Mündern, Gliedern und schweißüberströmten nackten Körpern.

Gott.

Was war nur los mit ihr? Was waren das für Gedanken?

Und doch blühte ein rasches, intensives Begehren in ihr auf, als die Vorstellung ihre Sinne mit einem schrecklichen, schmerzhaften Verlangen füllte.

»Mir gefällt nicht, wie er dich ansieht.«

Das Murmeln der Baritonstimme unmittelbar neben ihr riss Jordana aus ihrem unwillkommenen Tagtraum wie eine kalte Dusche. Sie sah fort vom dunklen, verstörenden Nathan und in das gut aussehende Gesicht des blonden, vertrauten Elliott Bentley-Squire, ihres selbsternannten Beschützers und heutigen Begleiters. Er runzelte missbilligend die Stirn. »Was weißt du über diesen Krieger, Jordana?«

»Gar nichts«, stieß sie hervor, nervös, dass es auch Elliott aufgefallen war, und weil sie spürte, dass Nathan sie immer noch ansah. Sein Blick brannte ihr wie Feuer auf der Haut. Obwohl ihre Antwort nicht direkt eine Lüge war, hinterließ sie einen bitteren Nachgeschmack. Sie schüttelte den Kopf und zuckte vage mit den Schultern. »Ich kenne ihn gar nicht.«

»Gut. Glaub mir, den willst du gar nicht kennen. Er ist ein Killer, Jordana, das ist kein Geheimnis. Eines dieser im Labor gezüchteten Monster, die der Orden heutzutage offenbar so gerne einstellt.«

Während er redete und sie weiter in Richtung der Museumsgäste steuerte, riskierte Jordana einen letzten Blick auf Nathan.

Er war fort.

Warum sie das so enttäuschte, darüber wollte sie jetzt lieber gar nicht nachdenken.

Was Elliotts Warnung anging, wusste sie, dass er nicht übertrieb. Nathan war in der Tat unter schrecklichen Bedingungen geboren worden und aufgewachsen. In den letzten paar Tagen hatte sie Carys ein wenig über seinen Hintergrund entlockt, indem sie sich betont beiläufig nach ihm erkundigt hatte. Nicht einmal Carys wagte sie zu verraten, dass ihr Interesse an Nathan nicht nur vorübergehend war.

Nein, es war nur ein vorübergehendes Interesse, versuchte sie sich jetzt einzureden, trotz des Anflugs von Mitgefühl, das sie für den kühlen, distanzierten Krieger empfand, der eine so schreckliche Kindheit gehabt hatte.

Als Sohn einer Stammesgefährtin, die als junge Frau von einem Wahnsinnigen namens Dragos entführt und zur Gebärmaschine versklavt worden war wie viele andere, war Nathan nur zu einem einzigen Zweck erschaffen worden: zu töten. Als Baby waren er und die anderen Jungen des Zuchtprogramms ihren Müttern weggenommen und zu Soldaten in Dragos’ Privatarmee erzogen worden.

Noch schlimmer – man hatte sie zu emotionslosen Maschinen abgerichtet. Zu Killern, die Dragos nach Lust und Laune zur Ermordung seiner Feinde ausschickte, ohne Gnade oder Reue.

Schließlich war Nathan von seiner Mutter und dem Orden gerettet worden und führte nun eine Einheit von Ordenskriegern in Boston an.

»Er ist ein Jäger«, murmelte Jordana.

Wieder runzelte Elliott die Stirn. »Ein was?«

»Jäger. So wurden sie genannt.«

Er schnaubte verächtlich. »Jäger ist noch zu höflich ausgedrückt für das, was er ist.«

»Was er war«, korrigierte Jordana ihn leise, aber Elliott hörte nicht zu. Jetzt, wo Nathan fort war, interessierte er ihn nicht länger.

»Es tut mir leid, dass sie dir den Empfang verdorben haben«, sagte er. »Du hast so hart dafür gearbeitet, dass er perfekt wird.«

Sie tat seine Besorgnis mit einem Lächeln ab, das sie nicht wirklich fühlte. »Er ist nicht ruiniert.« Sie zeigte auf den Raum voller wohlhabender Mäzene bei dieser geschlossenen Veranstaltung anlässlich ihrer bevorstehenden Ausstellungseröffnung. Um sie herum Gesprächsgewirr, vereinzelt sogar unbeschwertes Gelächter im Ausstellungsraum des Museums. »Siehst du? Die Leute amüsieren sich wieder. Das solltest du auch, Elliott. Du machst dir manchmal zu viele Sorgen um mich.«

»Weil du mir eben wichtig bist.« Er streckte die Hand aus und streichelte ihr die Wange. »Und du solltest dir mehr Gedanken machen, besonders darüber, in welchen Kreisen du verkehrst. Was vorhin passiert ist, wird wochenlang Klatschthema sein, wenn nicht länger.«

Jordana entzog sich seiner Berührung und seinem Tadel. »Soll man doch klatschen, das ist Gratiswerbung für die Ausstellung. Unsere Einnahmen werden sich wahrscheinlich verdoppeln.«

Elliott wirkte skeptisch, aber er lächelte sie an. »Ich denke immer noch, dass es ein Fehler war, den Abend gemeinsam mit Carys Chase zu gestalten. Die Ausstellung ist dein Baby, Jordana. Du hast über sechs Monate daran gearbeitet – zu lange, um etwas oder jemanden ihren Erfolg gefährden zu lassen. Wie oft hast du mir schließlich abgesagt oder mich versetzt, weil du Überstunden im Museum machen musstest?«

Zu oft, um zu zählen, und Jordana wand sich innerlich wegen der Mahnung. Obwohl Elliotts Stimme weiterhin unbeschwert klang, wusste sie, dass es ihn verletzt hatte, dass sie in den letzten Monaten so beschäftigt und distanziert gewesen war. Sie wollte ihm nicht wehtun oder ihn enttäuschen.

Obwohl sie in dem Jahr, das sie nun miteinander ausgingen, nie intim geworden waren, hatte Jordana ihn sehr gern. Sie liebte ihn. Natürlich liebten alle Elliott Bentley-Squire. Er war nett und attraktiv, reich und großzügig. Alles, was eine Frau sich an einem Gefährten nur wünschen konnte.

Als langjähriger Anwalt und Geschäftspartner ihres Vaters, Martin Gates, war er außerdem ein alter Freund ihrer Familie. Jordanas Vater, der sich in seinem hundertjährigen Leben keine Stammesgefährtin genommen hatte, hatte nie ein Geheimnis aus seiner Hoffnung gemacht, sie würde Elliott lieben lernen. Obwohl er mindestens dreimal so alt war wie sie, war Elliott Bentley-Squire als Stammesvampir genau wie ihr Vater körperlich so fit und jugendlich wie ein Dreißigjähriger.

Was Jordana anging, stand in weniger als zwei Monaten ihr fünfundzwanzigster Geburtstag an – ihr Vater hatte dieses Datum seit ihrer Kindheit betont und sie ständig an den beträchtlichen Fonds erinnert, den sie an diesem Tag erhalten würde. Aber nur, wenn sie bis dahin eine Blutsverbindung eingegangen war und in stabilen, respektablen Verhältnissen lebte.

Nicht, dass sie sich etwas aus dem Geld machte. Und genauso wenig tat das Elliott, der sich bereits sein eigenes beachtliches Vermögen erworben hatte.

Nein, ihre Beziehung beruhte nicht auf materiellen Interessen oder sozialer Position. Es war einfach das Natürlichste auf der Welt gewesen, anzunehmen, dass sie und Elliott ihre lange Freundschaft eines Tages mit einer Blutsverbindung besiegeln würden.

Nur dass …

Nur dass, je näher dieser wichtige Augenblick ihrer Beziehung rückte, Jordana immer mehr von ihrer Arbeit in Anspruch genommen wurde. Es war nichts Ungewöhnliches für sie, sieben Tage die Woche im Museum zu sein, und auch fast jeden Abend. Und in ihrer Freizeit war sie in mehreren Wohltätigkeitsorganisationen und Komitees zur Verschönerung der Innenstadt aktiv.

Sie hatte plötzlich ein starkes Interesse an einer Reihe von Dingen entwickelt, die sie völlig auf Trab hielten und ihr für ein Privatleben keine Zeit mehr ließen. Ihr bevorstehendes Ausstellungsdebüt war nur der größte, anspruchsvollste Posten auf der langen Liste ihrer Verpflichtungen gewesen.

»Tut mir leid, dass ich so mit der Ausstellung beschäftigt war, Elliott. Aber du musst wissen, dass Carys genauso hart daran gearbeitet hat wie ich. Sie hat es verdient, heute Abend mit mir zusammen Gastgeberin zu sein. Außerdem ist sie meine beste Freundin.«

Jordana suchte Carys in der Menge und fand sie im hinteren Teil der Ausstellung, wo sie lächelnd mit einem steinreichen Arzt und seiner Gattin plauderte. Obwohl sie jetzt der Inbegriff von sicherem Auftreten und Professionalität war, musste Arics peinlicher Auftritt vorhin sie ziemlich mitgenommen haben.

»Ich sollte mal nach ihr sehen«, sagte Jordana.

Elliott stoppte sie mit einem leichten Kopfschütteln. »Du solltest dich deinen Gästen widmen, Jordana«, riet er sanft. »Sie sind wegen dir gekommen. Schau dich um, alle warten auf dich. Carys wird sich wacker schlagen, bis alle Gäste gegangen sind und die Party vorbei ist.«

Er hatte recht, und obwohl es sie etwas ärgerte, dass er sie jetzt am Ellbogen genommen hatte und führte, nickte Jordana und ging neben ihm her zu einer Reihe von Mäzenen, mit denen sie sich heute Abend noch nicht unterhalten hatte.

»Carys Chase ist nicht wie du, Jordana«, sagte Elliott leise, als sie zusammen den Raum durchquerten. »Das muss dir doch klar sein, Liebling? Sie ist zu wild, zu leichtsinnig. Ob das an ihren ungewöhnlichen Stammesgenen oder einer zu nachsichtigen Erziehung liegt, da kann ich nur raten.«

»Zu nachsichtig?« Jordana musste unwillkürlich lachen. »Hast du mal ihren Vater, Sterling Chase, getroffen? Oder ihre Mutter Tavia, die auch Stammesvampirin ist? Carys’ Eltern haben an ihre Kinder immer sehr hohe Anforderungen gestellt.« Mit ein Grund, warum Jordana und ihre Freundin einander so nahe waren. Obwohl sie nach außen sehr unterschiedlich wirkten, Carys etwas zu abenteuerlustig war und Jordana unter ihrer chronischen Reserviertheit litt, hatten die beiden jungen Frauen viel gemeinsam. »Carys und ich sind vielleicht unterschiedlich, aber das gefällt mir eben so an ihr. Ist es denn so schlimm, ein wenig wild und leichtsinnig zu sein?«

Sie hatte es spielerisch gesagt, ein kleiner Flirtversuch in Elliotts Richtung, nur um die Stimmung auszutesten. Er machte den Mund schmal und warf ihr aus seinen blauen Augen einen Seitenblick zu. »Wild und leichtsinnig zu sein bringt meistens Kummer. Du bist zu klug dafür, Jordana.« Er streckte die Hand aus und stupste sie leicht gegen die Nasenspitze. »Und das gefällt mir so an dir.«

»Counselor«, rief ein jovialer älterer Herr, der eine der größten Banken von Boston leitete. Außer dass er einer von Elliotts menschlichen Klienten war, war er auch einer der großzügigsten Gönner des Museums. Seine Spende für Jordanas Ausstellung hatte ihr geholfen, der Skulpturensammlung des achtzehnten Jahrhunderts zehn weitere Exemplare hinzuzufügen. »Counselor, schön, Sie zu sehen!«, rief der alte Mann aus, der inmitten einer Gruppe gleichermaßen prominenter Kollegen, die die Elite sowohl der menschlichen als auch der Stammesgesellschaft bildeten, stand. »Kommen Sie zu uns und geben Sie uns einen Vorwand, uns mit Ihrer reizenden Verlobten über italienische Bildhauer zu unterhalten.«

»Es wäre mir ein Vergnügen, Mr Bonneville.« Elliott lachte leise und steuerte mit Jordana auf die Männer zu. Sie zwang sich zu einem liebenswürdigen Lächeln und überließ Elliott ihre Hand, der sie praktisch neben sich herzerrte. Pflichtbewusst schüttelte sie dem Banker, seinen Kollegen und den anderen Förderern die Hände, die sich bald zu ihrem kleinen Kreis gesellten.

Jordana lächelte, lachte an den passenden Stellen und hoffte, dass niemand ihr ansah, dass ihr Herz gerade so wild und verzweifelt in ihrer Brust herumflatterte wie ein Vogel im Käfig, der hinauswollte.

Auf das Drängen von Elliott und ihrem wachsenden Publikum setzte sie zu einem Vortrag über ihre Lieblingsstücke der Ausstellung an, geschaffen von den italienischen Meistern Bernini, Canova, Cornacchini und anderen, weniger bekannten Künstlern.

Die Ablenkung konnte sie weiß Gott gebrauchen.

Denn wenn sie nichts hatte, das ihre Füße an den Boden nagelte, würde Jordana, so fürchtete sie, in Versuchung geraten, etwas wirklich Wildes und Leichtsinniges zu tun.

Sie würde vielleicht das Museum und damit ihr ganzes perfektes Leben hinter sich lassen, ohne sich noch einmal umzusehen.

4

Am nächsten Morgen saßen Nathan und sein Team um den riesigen Tisch im Konferenzraum der Kommandozentrale des Ordens in Boston, besprachen ihre fehlgeschlagene Mission, Cassian Gray aufzuspüren, und planten die Patrouille der heutigen Nacht. Der Bezirkschef von Boston, Sterling Chase, hatte jedes Recht, Nathan und seine Männer abzukanzeln, weil sie letzte Nacht mit leeren Händen zur Basis zurückgekehrt waren, aber heute wirkte er irgendwie zerstreut, nicht ganz bei der Sache.

Das war ungewöhnlich für den erfahrenen Krieger, der zwanzig Dienstjahre beim Orden und davor mehrere Jahrzehnte bei der Agentur des Stammes auf dem Buckel hatte.

Tavia Chase, Sterlings Gefährtin und selbst Ordenskriegerin, nahm ebenfalls an der morgendlichen Teambesprechung teil, und auch sie wirkte leicht abwesend. Sie saß mit geradem Rücken und verschränkten Armen da, doch mit den Fingern einer Hand trommelte sie unaufhörlich auf ihrem straffen Bizeps herum, und ihre grünen Augen, von leichter Sorge überschattet, blickten geistesabwesend in die Ferne.

War Arics und Carys’ Auseinandersetzung von gestern Abend zu Hause weitergegangen? Nathan war alles andere als ein Experte darin, die Emotionen oder Familienstreitigkeiten von anderen zu erspüren, aber er fragte sich trotzdem, ob das heute Chases und Tavias Problem war.

Aric hatte seine Schwester jedenfalls nicht an seine Eltern verraten; so viel wusste Nathan.

Der jüngere Krieger war sofort zum Waffenraum der Kommandozentrale gegangen, um sich abzureagieren, nachdem Nathan und die anderen ihn zum Hauptquartier zurückgebracht hatten. Dort war Aric eine Weile beschäftigt gewesen. Nicht nur deshalb, weil er vor Wut geschäumt hatte, sondern auch, weil er generell nicht an der Morgenbesprechung teilnahm. Er hatte eben erst seine Ausbildung beendet und war noch kein vollwertiges Ordensmitglied; in ein paar Wochen würde er seine eigene Einheit von Kriegern in Seattle haben, unter dem Befehl von Dante Malebranche, Rafes Vater, dem Leiter der Kommandozentrale des Ordens im Westen.

Als die gedrückte Stimmung im Raum sich hinzog, räusperte Chase sich schließlich und kam zur Tagesordnung zurück. »Wenn wir hier fertig sind, muss ich Lucan Thorne in D.C. anrufen und ihm sagen, dass Cassian Gray uns letzte Nacht durch die Lappen gegangen ist.« Chase sah sich in der Runde um, seine klugen blauen Augen verweilten am längsten auf Nathan. »Ich brauche euch nicht zu sagen, dass der Gründer des Ordens keine Fehlschläge mag. Ich auch nicht, verdammt. Aber Entschuldigungen hasse ich noch mehr. Also werde ich nicht fragen, wieso das beste Team, das ich jemals ausgebildet habe, und mein effizientester Anführer eine Patrouille noch vor Sonnenaufgang erfolglos abgebrochen haben.«

Weder Nathan noch seine Kameraden sagten etwas. Selbst wenn Chase sie direkt gefragt hätte, keiner von ihnen hätte Aric verpfiffen.

Außerdem musste Nathan seinem Commander zustimmen: Vorwürfe brachten gar nichts. Und die Wahrheit war: Nathan fühlte sich genauso schuldig. Er war Aric einfach zu dem Empfang im Museum gefolgt.

Und wo er schon bei einer internen Generalbeichte war, gehörte auch dazu, dass seine Neugier auf Jordana Gates sich nicht gelegt hatte, nachdem er mit seinem Team ins Hauptquartier zurückgekehrt war.

Während Aric seine Wut im Waffenraum abreagiert hatte, hatte Nathan mehrere Stunden im Netz verbracht und in der Internationalen Datenbank des Stammes Nachforschungen über Jordanas Begleiter bei der Veranstaltung angestellt.

Oder vielmehr ihren zukünftigen Gefährten, Elliott Bentley-Squire.

Nathan hatte sich in jede dokumentierte Information vertieft, die er finden konnte – stundenlang. Aber er hatte nichts gefunden, das seine Antipathie gegen den reichen, gesellschaftlich etablierten Mann rechtfertigte.

Auch wollte er sich nicht eingestehen, dass er einfach nur deshalb nach einem Grund gesucht hatte, den guten Freund der Familie Gates zu verachten, weil Jordana sich so von ihm hatte berühren lassen – während sie nicht geschafft hatte, ihren Blick von Nathan loszureißen, von dem Moment an, als sie sich auf der Party erblickt hatten.

Der Ausdruck in ihren Augen verfolgte ihn selbst jetzt noch. Als hätte sie ihn stumm angefleht, sie zu retten … sie zu sich zu rufen.

Bis ihr Zukünftiger es bemerkt hatte und Jordana so getan hatte, als würde sie Nathan nicht kennen.

Wenn er einen Grund brauchte, um sich zu sagen, dass die wunderschöne, verlockende Jordana Gates eine schlechte Idee war, dann war das einer. Nathan bevorzugte unkomplizierte und unpersönliche Bettgeschichten. Eine biologische Befriedigung, die sein Körper brauchte, um Topleistungen zu bringen.

Ficken war für ihn nichts anderes als Nahrungsaufnahme.

Und er zog es vor, beides nicht mit Frauen aus seinem persönlichen Umfeld zu tun.

»Wir haben letzte Nacht etwas über Cassian Gray erfahren«, sagte Nathan und zwang seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. »Cass’ Büro im LaNotte war aufgeräumt. Viel zu ordentlich. Alles, was Rückschlüsse auf ihn oder seine Interessen hätte geben können, wurde entfernt.«

Rafe, der links von Nathan am Tisch saß, fügte mit einem Grinsen hinzu: »Auch sein Privatquartier wurde ausgeräumt, da ist nichts mehr von Interesse. Außer einer interessanten Sammlung von Fesseln und Nietenhalsbändern im Schlafzimmer.«

Elijah und Jax lachten leise mit Rafe, aber Nathan blieb ernst, froh, seine Gedanken wieder mit dem Job beschäftigen zu können. »Cass weiß schon, dass er verfolgt wird. Seine Angestellten im Club sagten, wir hätten ihn nur knapp verpasst, aber wahrscheinlich haben sie gelogen. Ich schätze, er ist schon vor Tagen abgehauen.«

»Ich frage mich, ob Cass wohl gemerkt hat, dass er aufgeflogen ist, als Kellan ihn berührte.« Das war Tavias erster Kommentar des heutigen Morgens. »Vielleicht weiß er, dass der Orden vermutet, er sei kein Mensch, und ihn deshalb schon bald suchen würde.«

Nathan und die anderen um den Tisch versammelten Krieger nickten. Kellan Archer war kürzlich wieder zum Orden gestoßen und seither der Gefährte von Mira, einer der wenigen weiblichen Captains. Das Paar war vor etwa einer Woche auf einer eigenen Mission im LaNotte gewesen, und Kellan und Cassian Gray hatten sich eine spontane Auseinandersetzung geliefert. Als Kellan den Clubeigentümer weggestoßen hatte, war seine übersinnliche Gabe aktiviert worden, die Absichten von Menschen durch Berührung zu lesen.

Und bei Cassian Gray hatte seine Gabe nichts angezeigt.

Cass war kein Stammesvampir, das war absolut sicher. Aber Kellan hatte erkannt, dass der Mann auch kein Mensch war. Er war nicht sicher gewesen, was Cass sonst sein konnte – das hatte niemand gewusst –, bis vor ein paar Nächten in Washington D.C. der Globale Friedensgipfel mit einem Terroranschlag geendet hatte. Man hatte versucht, die Veranstaltung zu sabotieren und Hunderte von Stammesvampiren zu töten.

Einschließlich Lucan Thorne und der meisten Ordensältesten.

Der Mann, der diesen Anschlagsversuch im Zeichen einer undurchsichtigen Organisation namens Opus Nostrum geplant hatte, war weder Mensch noch Stammesvampir gewesen.

Nein, Reginald Crowe war etwas völlig anderes gewesen: ein Atlantide. Als milliardenschwerer Businessmagnat mit Besitztümern auf dem ganzen Globus bekannt, war Crowe in Wirklichkeit Angehöriger einer mächtigen Spezies von Unsterblichen, die seit Jahrtausenden unerkannt auf der Erde existiert hatten. Ihre Existenz war für die menschliche Bevölkerung so verborgen gewesen wie die des Stammes früher.

Und jetzt wusste der Orden, dass die Atlantiden eine noch größere Gefahr darstellten als jeder Feind, mit dem sie es je zu tun gehabt hatten.

»Crowes Tod ist drei Tage her, und immer noch bringen es die internationalen Medien rauf und runter«, sagte Jax und ließ einen seiner japanischen Wurfsterne auf dem Konferenztisch kreisen. »Wenn Cass Atlantide ist, dann hat er schon deshalb Grund genug, in den Untergrund zu gehen, weil der Orden einen seiner Leute getötet hat.«

Eli stieß einen gedehnten Fluch aus. »Dummerweise war Crowes Tod – und die ganze Scheiße davor – ein Tick zu öffentlich, um geheim gehalten zu werden.«

Die UV-Bombe beim Friedensgipfel war nur eines von Crowes Verbrechen gewesen. Bevor der Anführer von Opus Nostrum versucht hatte, den Gipfel zu sabotieren und jeden Stammesvertreter im Gebäude einzuäschern, hatte Crowes Bruderschaft den Mord an einem brillanten menschlichen Wissenschaftler und dessen Onkel arrangiert, einem ranghohen Mitglied des Rates der Globalen Nationen, dem Regierungsgremium, das für die friedlichen Beziehungen zwischen der Vampir- und Menschenbevölkerung der Welt zuständig war.

»Es stimmt, wir sind gerade im Nachteil«, warf Chase ein. »Aber durch die Vereitelung von Crowes Anschlag und seinen Tod ist die Öffentlichkeit, Vampire wie Menschen, jetzt vereint in ihrer Angst vor Opus Nostrum. Nur der Orden weiß von den Atlantiden und der größeren Gefahr, die Crowe ausgeplaudert hat, bevor er starb.«

Die Bedrohung durch einen globalen Krieg, der sich zusammenbraute, geplant von den Atlantiden und ihrer Königin im Exil.

»Eine Schlacht hat der Orden schon gekämpft und gewonnen – gegen ein abtrünniges Mitglied unserer eigenen Spezies«, murmelte Tavia leise. »Zu denken, dass die ganze Zeit über ein noch heimtückischerer Feind im Schatten gelauert hat …« Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Und wir werden wieder gewinnen, Liebste.« Chase streckte die Hand aus und streichelte seiner Gefährtin die Wange, dann richtete er seinen stählernen, entschlossenen Blick auf Nathan und die anderen. »Lucan macht gerade eine große Show daraus, mit den Behörden der Menschen und des Stammes zusammenzuarbeiten, um Opus Nostrum auszumerzen. Aber unsere eigentliche, geheime Priorität ist etwas viel Wichtigeres. Wenn nämlich stimmt, was Crowe sagt, dann war alles, was wir bis jetzt durchgemacht haben – einschließlich unseres hart erkämpften Sieges gegen Dragos –, nur ein kleiner Vorgeschmack auf den Krieg, der uns noch bevorsteht.«

»Wenn Cassian Gray etwas über Crowes Pläne weiß«, fügte Tavia hinzu, »oder noch schlimmer, wenn er selbst beteiligt ist, dann muss er unbedingt gefasst werden. Wir dürfen ihn nicht entwischen lassen.«

»Der entwischt uns nicht«, beteuerte Chase ihr. »Lucan hat veranlasst, jede von Crowes Exfrauen – seine Witwe und die fünf Exfrauen vor ihr – im Hauptquartier in Washington D.C. zu befragen, ohne dass die Medien davon Wind bekommen.«

Rafe knurrte und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. »Einladungen zum Tee, gefolgt von einer kleinen Partie eines netten Frage-und-Antwort-Spiels, und anschließend werden ihnen die Erinnerungen gelöscht?«

»So was in der Art.« Chase warf ihm einen spöttischen Seitenblick zu. »Wenn die Frauen, die Crowe am besten kannten, von seiner wahren Natur oder seinen Machenschaften bei Opus Nostrum wissen, werden wir das schon sehr bald erfahren.«

»Was Cass angeht«, sagte Nathan, »den finden wir auch. Seine Angestellten, seine bekannten Verbündeten und Geschäftspartner – wir gehen allen Spuren nach. Sag Lucan, wir kriegen Cass und erfahren alles, was er zu verbergen hat.«

Chase nickte ihm knapp zu. »Hervorragend.« Er schlug mit den Handflächen auf die Tischplatte und signalisierte damit den Abschluss der Besprechung. Dann stand er von seinem Stuhl auf, und der Rest der Gruppe erhob sich mit ihm. »Wenn sonst nichts ist, Tavia und ich müssen uns heute Morgen um einige persönliche Angelegenheiten kümmern.«

»Es geht um Carys«, sagte Tavia. »Sie zieht aus. Heute.«

»Ach was?«, murmelte Nathan vorsichtig. Er war überrascht von den Neuigkeiten, aber nicht ganz so sehr wie Carys’ Eltern. »Klingt nach einem ziemlich plötzlichen Entschluss.«

Als er redete, registrierte er, dass seine Teamkameraden unbehagliche Blicke austauschten. Dann verließen alle drei hastig den Konferenzraum.

Mistkerle.

Die würde er sich später zur Brust nehmen dafür, dass sie ihn hier mitten in diesem ungewollten Drama hatten sitzen lassen.

»Carys sagt, sie hat schon eine Weile darüber nachgedacht«, antwortete Chase. »Aber ich kenne doch meine Tochter, sie verschweigt uns etwas. Ich habe Aric schon gefragt, ob ihm ein Grund einfällt – ob sie Probleme hat oder auf uns sauer ist, aber er ist auch nicht auskunftsfreudiger.«

»Wisst ihr, wohin sie ziehen will?«

Tavia antwortete ihm. »Zu Jordana in ihre Wohnung am anderen Ende der Stadt. Nathan, weißt du etwas darüber?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Das höre ich zum ersten Mal«, sagte er, so nah an der Wahrheit, wie er es gerade noch verantworten konnte, ohne die Auseinandersetzung des gestrigen Abends zu verraten.

»Mir ist klar, dass Carys erwachsen ist und ihr eigenes Leben haben möchte«, überlegte Tavia laut. »Sie war schon immer impulsiv, aber das sieht ihr jetzt so gar nicht ähnlich. Und außerdem weiß ich nicht, ob ich bereit bin, sie ziehen zu lassen«, fügte sie hinzu und warf Chase einen unglücklichen Blick zu. »Ich weiß schon, ich wäre wahrscheinlich nie für diesen Tag bereit, aber besonders jetzt nicht, wo ich weiß, dass so gefährliche Gestalten wie Cassian Gray herumlaufen. Wer weiß, was er oder seine brutalen Käfigkämpfer tun, wenn sie erfahren, dass eines der Kinder des Ordens – und noch dazu eine Frau – irgendwo in der Stadt wohnt, wo wir sie nicht beschützen können?«

Aus Chases Brustkorb stieg ein dunkles Knurren auf. »Ich verbiete ihr einfach, auszuziehen.«

»Das kannst du nicht, und das weißt du auch«, sagte Tavia. »Wenn du das versuchst, wird sie sich nur umso entschiedener widersetzen. Carys ist eine eigensinnige junge Frau – darin schlägt sie ganz ihren Eltern nach.«

»Stimmt«, antwortete Chase. »Aber wenn sie geht, weil sie wegen etwas sauer ist oder wenn sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt …«

»Wenn sie in Schwierigkeiten ist, dann weißt du, dass sie versuchen wird, uns davon abzuschirmen, damit wir uns keine Sorgen um sie machen«, sagte Tavia. »Nathan, was denkst du? Sind wir zu besorgt, wenn wir versuchen, sie zum Bleiben zu überreden?«

Scheiße. Wie war ausgerechnet er in der Rolle des Familientherapeuten gelandet? Nathan hatte keine Ahnung.

Aber es war schwer, von Chases und Tavias offenkundiger Liebe und Sorge um ihr Kind nicht bewegt zu sein, auch wenn Carys eine erwachsene Frau von zwanzig Jahren war. Als Gen-Eins-Stammesvampirin war sie stärker als die meisten Männer der späteren Generationen und absolut in der Lage, auf sich aufzupassen.

»Ihr habt sie zur Unabhängigkeit erzogen – und auch Aric. Wenn Carys alleine leben will, wird sie es machen. Egal was andere sagen oder denken. Aber wenn ihr heute besser schlafen könnt, wenn ihr wisst, dass mein Team und ich ein Auge auf sie haben, dann machen wir das.«

»Danke, Nathan.« Tavia stieß einen erleichterten Seufzer aus, während Chase seine Gefährtin fest an sich zog und Nathan zum Dank kurz zunickte. Sie gingen zusammen aus dem Konferenzraum hinaus auf den Korridor. Dort blieben sie stehen, und Tavia hob den Kopf von Chases Brust. »Ich glaube trotzdem, es kann nicht schaden, wenn ich ihr noch mal ins Gewissen rede.«

Chase grinste. »Deine Überzeugungskünste funktionieren zwar wunderbar bei mir, Liebste, aber viel Glück mit deiner Tochter. Und du solltest dich beeilen. Sie ist oben und packt mit Jordana ihre Sachen.«

Nathan sah dem Paar nach, das Hand in Hand davonschlenderte.

Jordana Gates war hier, oben im Anwesen. Sie half Carys, ihre Sachen zu packen, was bedeutete, dass er und sie mindestens ein paar Stunden unter demselben Dach waren.

Himmel.

Er drehte sich abrupt um und stapfte den Korridor hinunter, in die entgegengesetzte Richtung wie Chase und Tavia, auf den Durchgang zum Waffenraum zu.

Damit war er in maximaler Entfernung zu den Wohnquartieren des Anwesens. Ein paar Stunden schweißtreibendes Training war genau, was er jetzt brauchte. Hölle noch mal, so wie sein Blut gerade durch seine Adern raste, würde er erst heute Abend zur Patrouille wieder rauskommen.

Mit etwas Glück würden Carys und ihre neue Mitbewohnerin bis dahin lange fort sein.

5

Jordana stieß einen Seufzer aus, als sie in einem langen, leeren Korridor stehen blieb – einem von so vielen Fluren im labyrinthartigen Anwesen der Chases.

Hatte Carys links-links-rechts-links gesagt, sobald sie im Flügel des Anwesens angekommen war, wo sich die Kommandozentrale des Ordens befand, oder links-rechts-links-links?

Scheiße.

Die einfache Aufgabe, ihrer Freundin noch mehr Packband zu besorgen, hatte Jordana tief in die Domäne der Krieger geführt. Durchaus kein Ort, wo sie gerne sein wollte. Nicht, wenn die Chancen, Nathan zu treffen, in diesem Teil des Anwesens doch ein wenig zu gut für ihren Seelenfrieden standen.

Aber Carys hatte darauf bestanden. So wie sie es gesagt hatte, klang es ganz einfach: »Gehst du schnell zum zentralen Vorratsraum runter und holst mir noch eine Rolle Klebeband? Dauert maximal zehn Minuten hin und zurück, und bis du wieder da bist, habe ich diese Kiste mit Schuhen fertig gepackt.«

Fünfzehn Minuten später wanderte Jordana immer noch durch endlose Korridore und wurde bei jedem Schritt nervöser.

Sie war sich sicher, dass sie Carys’ Wegbeschreibung korrekt befolgt hatte.

Aber Wegbeschreibung hin oder her, inzwischen hatte sie sich definitiv verirrt. Vor ihr endete der Durchgang mit einer doppelten Stahltür, die nur mit einem elektronischen Tastenfeld zu öffnen war. Darüber starrte das dunkle Auge einer Überwachungskamera auf sie herunter.

»Verdammt, Carys«, flüsterte sie. »Nächstes Mal holst du dir deinen Kram gefälligst selbst.«

Jordana wich einige Schritte zurück und hoffte, dass sie auf dem Überwachungsmonitor nicht so unbehaglich oder idiotisch aussah, wie sie sich gerade fühlte. Aber wahrscheinlich war es schon zu spät, sich darüber Sorgen zu machen. Sie musste einfach nur hier raus.

Sie drehte auf dem Absatz um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Bis sie das Ende des Korridors erreicht hatte, war sie in einen raschen Laufschritt verfallen. Sie bog um die Ecke.

Und prallte in vollem Lauf gegen eine Wand aus warmen Muskeln und Knochen.

Nathan.

Oh Gott.