Lob der Sprache, Glück des Schreibens - Karl-Markus Gauß - E-Book

Lob der Sprache, Glück des Schreibens E-Book

Karl-Markus Gauß

4,7

Beschreibung

Karl-Markus Gauß, “einer der größten Stilisten der Gegenwartsliteratur“ (Günther Kaindlstorfer), verfügt über viele Formen und Tonlagen. Der "Welt-Alltag“ ist das unbekannte Terrain, das er seit dreißig Jahren literarisch erkundet, scharfsinnig, gelehrt und witzig. In dieser ersten Sammlung seiner kleinen Prosa erzählt er von den einfachen und den verwirrenden Dingen des Lebens, von den Verheißungen des Fortschritts und seinen eigenen Vorurteilen, von weltberühmten Medienfiguren und vergessenen Schriftstellern. Worüber er auch schreibt, über die Aufrüstung der Sexualität, die Abschaffung der Peinlichkeit, die Muttersprachen als Urgrund von Selbstbewusstsein, Phantasie und Revolte, stets überzeugt er mit der Originalität seiner Gedanken, der Eleganz seiner Sprache. In seinen wie mit leichter Hand verfertigten Feuilletons und seinen weitgespannten Essays wird das Bekannte fremd, das Unbekannte vertraut, und durch alle Kritik hindurch findet der Autor immer wieder zur Feier des alltäglichen Lebens, zum Lob der Sprache und zum Glück des Schreibens.

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Karl-Markus Gauß

LOB DER SPRACHE, GLÜCK DES SCHREIBENS

Karl-Markus Gauß

Lob der Sprache,Glück des Schreibens

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1214-6eISBN 978-3-7013-6214-1

© 2014 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Covergestaltung: Hermann Resch; Foto: Kurt Kaindl

Inhaltsverzeichnis

1.   Frau Jagger verliert einen Ring

Frau Jagger verliert einen Ring

Zweierlei Fundamentalisten

Mein Kasache

Die Inländer des Auslands

Der innere Terror

Laut und vorlaut

Die Rowdys von Benalmadena

Wie alt wir sind

Kopernikus

Meine Hauptstadt Europas

Rührung, global

Wurst, nicht wurscht

Becher und Deckel

Das Zimmerfahrrad

Eigentlich

Antwort auf eine Umfrage

Die Textil- und die Textbranche

Der Mann, der am Kopf stand

Freiheit und Liebe

Gelächter aus dem Abgrund

Flucht vor dem Teufel

Ruf aus der Vergangenheit

2.   Vom Sex und seiner Besserung

Zwang und Ironie. Vom Sex und seiner Besserung

Vom Erröten. Versuch über die Peinlichkeit

Was ich erdulde und was nicht. Über die Toleranz

Tiberius verlässt Rom und fährt nach Rhodos, um zu dichten. Eine römische Postkarte

3.   Ich war noch nie in Unken

Wer die Donauschwaben waren. Ein Nekrolog

Ich war noch nie in Unken

Nach Tarvis, um zu schmuggeln

Auf in die Schweiz

Von Casablanca nach Amsterdam

Als ich Japan nicht verstehen lernte

Wie ich auf den Hund gekommen bin

4.   Sprache, Schrift, Buch

Hier wird Deutsch gelacht. Schulordnung und Sprachverbot

Wo Europa beginnt. Die Muttersprachen der Vaterländer

Europa, unentdeckter Kontinent. Warum die Union die kleinen Nationalitäten braucht

Wie wir sprechen. Ein Nachspiel

Neunzig Sekunden Lektüre. Vom Lesen

Lob der Sprache, Glück des Schreibens

I. Frau Jagger verliert einen Ring

 

Frau Jagger verliert einen Ring

Als Bianca Jagger in Salzburg einen Ring verlor, dessen Wert lumpige 200.000 Euro betragen soll, wurde der bedauerliche Verlust zugleich mit der Nachricht vermeldet, dass es sich bei der Besitzerin um eine weltberühmte Menschenrechtskämpferin handle. Dadurch entstand der Eindruck, der Kampf um Menschenrechte wäre ein einträgliches Gewerbe, mit dem man sich nebenbei eine passable Ausstattung an Schmuck zulegen könne. Kein Wunder, dass unter Salzburger Kindern, die nach ihrem Berufswunsch gefragt werden, die notorischen Astronauten, Fernsehmoderatoren, Popstars so was von out sind und neuerdings ein jedes meint, wenn es erst groß wäre, würde es sein Geld am liebsten auch als weltberühmter Menschenrechtsaktivist verdienen.

Der Wunsch ist verständlich, denn welcher Beruf ist heute schon edel und einträglich zugleich? Vielleicht der des Investmentbankers? Nein, der ist zwar edel, aber nicht mehr einträglich, denn ein solcher Banker bleibt sein Leben lang von staatlicher Unterstützung abhängig – und wer will das schon außer den wirklich Reichen? Wer sich für den Beruf des Menschenrechtsaktivisten entscheidet, setzt hingegen darauf, dass sich das Ansehen der Mutter Teresa ohne Schwierigkeiten mit der Ausstattung von Tante Bianca verbinden lasse. Und wenn einem der immerwährende Einsatz für die Entrechteten und Gedemütigten, die einem Gottseidank so schnell nicht ausgehen werden, wieder einmal zu langweilig geworden ist, dann heißt es eben Shoppen, bis die Ringe von den Fingern rutschen.

Früher, in barbarischen Zeiten, wurden die Kämpfer und Kämpferinnen für die Menschenrechte ja noch ermordet, inhaftiert, verfolgt; oder sie waren, bestenfalls und in demokratischen Staaten, übel beleumundet als Störenfriede, die den guten Geschäftsgang mit Diktaturen und Despotien störten. Die vollständige Kommerzialisierung unseres Lebens hat jedoch eine eigene Schicht erschaffen, der der Protest ein Geschäft, die Spende ein steuerlicher Abschreibposten und das humanistische Getue profitables Marketing ist.

Man kann den Fernseher nicht mehr einschalten, die Zeitung nicht mehr aufschlagen, ohne sie um die Wette grinsen zu sehen: all die guten und gut herausgeputzten Menschen, die der edlen Sache wegen völlern. Ihre soziale Herz- und Magensache heißt Charity, eine Veranstaltung, die den sozialen Gegensatz mittels Haubenköchen überwinden möchte. Da gilt es Champagner zu trinken, nicht weil er schmeckt, sondern weil es den Bedürftigen zugute kommt; selbst Trüffel entfaltet ein unerwartet soziales Aroma, wenn man ihn nicht um des Gaumenkitzels auf den Teller raspeln lässt, sondern weil man sich in tätiger Menschenliebe üben will.

Zum Humanismus der Charity-Gesellschaft braucht es dreierlei: Erstens Kameras, zweitens Leute, die begierig sind, aufs Bild zu kommen, und drittens Hungernde, Kranke, Obdachlose – Menschen also, deren Lage schlecht genug ist, dass sie sich nicht dagegen wehren können, als Objekte einer Hilfe ausgebeutet zu werden, die medial inszeniert und einzig wegen dieser medialen Inszenierung geleistet wird. Ja, und Türsteher und Rausschmeißer braucht es natürlich auch, wenn es um richtige Charity geht: Denn herrlich ist es nur, für die Obdachlosen, nicht mit ihnen zu dinieren.

Zweierlei Fundamentalisten

Der Fundamentalist, den wir vom Fernsehen kennen, hat einen wallenden Prophetenbart, seine leidensverzückten Züge sind von langer Askese ausgezehrt und in den tief liegenden Augen flackert der heilige Wahnsinn. In einer Welt, in der jeder nur seinem eigenen Vorteil nachjagt, ist er ein letzter, vollständig irre gewordener Idealist, der die Dinge um ihrer selbst willen tut und nicht, weil sie ihm nützten. Was ihm ein Gott befohlen hat, das führt er aus, und wären es dabei auch er selbst, seine eigene Familie, sein Stamm, seine Nation, ja am besten gleich die ganze Menschheit, die daran Schaden nähmen.

Er tut es trotzdem, einfach weil es einen geben muss, den nicht Leid und nicht Vernunft, nicht das eigene Glück und nicht das Elend aller davon abhalten können, göttlichem Auftrag zu gehorchen. Gerade deswegen ist er ja Fundamentalist, dass seine Zwangsideale ihm die Verantwortung abnehmen für das, was er tut, und er seine Hände jedenfalls in Unschuld waschen kann, wie blutig sie über der Arbeit, die sie verrichten, auch geworden sind.

Es gibt aber auch einen anderen Fundamentalisten, er trägt westliche Mode und steht in fast allem konträr zu den Überzeugungen des religiösen Fundamentalisten, vor denen es ihm nicht grundlos graut. Was sie jedoch vereint, ist die bedingungslose Hingabe an ein Ziel, von dem die allermeisten Mitmenschen der Meinung sind, es lohne nicht; weiters der Glaube an den einen einzigen Gott, mag er denn Allah oder Mammon heißen, und der inbrünstige Eifer, dass alles, was getan wird, der Herrlichkeit dieses Gottes zu dienen habe. Was beider Glaubensfestigkeit am wenigsten erschüttert, das ist die Wirklichkeit selbst, gegen die sie ein heftiges Ressentiment hegen, weil sie ein einziger Verrat an der Idee ist, der sie ihr Leben geweiht haben.

Kürzlich sah ich in einem Nachrichtenmagazin einen Mann mit den besten Manieren, modischer Krawatte und gut gescheiteltem Haar. Es handelte sich um den österreichischen Generaldirektor des internationalen Lebensmittelkonzerns Nestlé, der gerade mit flammendem Pathos predigte, dass es die Armen der Welt erst dann nicht mehr dürsten werde, wenn der letzte Tropfen Wasser auf Erden in privaten Besitz übergegangen sein wird. Man hielt dem Mann entgegen, dass nachweislich überall, wo die Wasserversorgung privatisiert wurde, alsbald die Qualität des Wassers sank und die Preise stiegen, so etwas Banales wie die Realität focht ihn nicht an. Sichtlich ging es ihm nicht allein um den Milliardenprofit, der sich machen lässt, wenn die Versorgung mit Trinkwasser erst seinem Konzern übertragen sein wird. Nein, was ihn antrieb, war vielmehr der heilige Furor des Fundamentalisten, der davon überzeugt ist, dass es nichts auf der Welt geben darf, das nicht seinen Eigentümer und seinen Preis hat. Hingerissen beobachtete ich einen Mann, der hingerissen davon war, sein Leben für die Privatisierung der Welt zu verschwenden, und wie er sich zu seinem irdischen Auftrag bekannte, war unverkennbar, dass er ihn als göttliche Mission empfand.

Mein Kasache

Letzte Woche hatte ich in Wien zu tun, und als ich den Frühzug in Salzburg bestieg, war im offenen Abteil nur mehr ein einziger Platz frei, sodass ich gegenüber einem muskulösen Mann von dreißig Jahren zu sitzen kam. Sein Schädel war kahl rasiert, der rechte Unterarm radikal tätowiert, die Lederjacke, die er umgehängt hatte, mit seltsamen Emblemen verziert, und die Dose Bier, die er in seiner Pranke hielt, jede halbe Stunde eine neue. Kurz, es handelte sich um einen Kerl, dem man abends in einer stillen Straße so ungern begegnet, wie man ihm vormittags drei Stunden im Zug gegenübersitzt.

Als ich ihn bis Wels verstohlen gemustert hatte, sagte ich mir: ein Kasache! Diese Backenknochen, diese Augen – das musste ein Kasache sein! Alle Kasachen, denen ich begegnet war, hatten solche Backenknochen und Augen gehabt. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn erstens verbiete ich mir rassekundliche Einschätzungen prinzipiell; sie stoßen mir nur manchmal gewissermaßen zu, ganz gegen meine Absicht. Und zweitens: Ein Ausländer – und ausgerechnet ich verspürte eine instinktive Abwehr, die auf nichts als Äußerlichkeiten beruhte, denn der Kasache sprach ja die ganze Zeit über kein einziges Wort. Waren denn die Ressentiments, die ich bei meinen Landsleuten im Speziellen und den Europäern im Allgemeinen zu geißeln pflege, auch die meinen?

Dann geschah etwas Aufregendes. Als der Zug St. Pölten gerade verlassen hatte, stürmten zwei Mann und eine Frau den Waggon, sie schauten nicht links, nicht rechts, und sie suchten nicht, denn sie wussten, wo sie wen zu finden hatten. Meinen Kasachen natürlich. Ohne weitere Erklärung herrschten sie ihn an: „Austrian police. Control. Passport.“ Der wilde Kasache war so eingeschüchtert, dass er nicht wusste, was zu tun war. „Documents! Police!“ Der eine Beamte, der ausschaute, als würde er seine Zeit seltener im Amt als in der Kraftkammer verbringen, war einen Schritt näher getreten. Der zweite, ältere, einen zurück. Alles deutete darauf hin, dass die Situation in Kürze nach filmischem Muster eskalieren würde.

Zitternd fingerte der Kasache endlich einen roten Pass aus der Lederjacke. Der ruhigere, ältere Polizist öffnete ihn, las verwundert einen urwienerischen Namen vor, verglich das Foto mit dem Reisenden und reichte das Dokument dann mit einem knappen „Danke“ zurück. Die fesche Polizistin, die einen aufgeklappten Laptop bei sich trug, brauchte gar nicht erst im Computer nachzuschauen. Mein Kasache war ein Favoritner. Kein zugezogener Neu-Favoritner, sondern einer von Urgroßvaters Zeiten an, den das rätselhafte Schicksal mit einem originalkasachischen Gesicht versehen hatte. Als die Polizisten ebenso rasch, wie sie gekommen, wieder verschwunden waren, fragte ich ihn perplex: „Was war denn das jetzt?“ „Naja“, antwortete er mit einer Verachtung, die sich nicht auf die Amtshandlung bezog, „irgend so einen Asylanten werden sie gesucht haben“. Da wurde mir ganz heimelig ums Gemüt. Mein Landsmann war mir von Herzen unsympathisch, und ich brauchte nicht die Spur von schlechtem Gewissen dabei zu haben.

Die Inländer des Auslands

Vor einiger Zeit erzählte mir ein erboster österreichischer Pensionist, dass es mit seiner Liebe zu Mallorca vorbei sei und er die Wohnung, die er dort vor Jahren erstanden habe, wieder verkaufen werde. Was hatte ihm sein Paradies aus Sonne, Sangria und Sichtbeton verleidet? Zu viele Ausländer, klärte er mich auf. Das konnte ich ihm nachfühlen, denn warum soll man auf eine spanische Insel übersiedeln, wenn man dort erst wieder lauter Duisburger oder Eferdinger als Nachbarn hat und vom Besuch beim deutschen Zahnarzt bis zum Besäufnis im englischen Pub ausschließlich unter Ausländern bleibt? Mein wackerer Gesprächspartner hatte es aber anders gemeint.

Ihn ärgerte nicht, dass er es kaum je mit spanischen Inländern zu tun bekam, sondern dass neuerdings so viele Rumänen, Ukrainer und, ja, sogar Afrikaner auf Mallorca arbeiteten. Sein rassistischer Dünkel à la mode, der nicht mehr nach den Abstufungen der Hautfarbe, sondern jenen des Wohlstands geht, wuchs an der Tatsache, dass da Leute als Bauarbeiter, Kellner, Tagelöhner schufteten und trotzdem viel weniger Geld hatten als er, der gar nicht mehr zu arbeiten brauchte. Der schiere Anblick der Hungerleider war dazu angetan, ihm die Freude an dem Geld, das ihm zum Monatsersten überwiesen wurde, und an der Insel, auf der er sich mit seiner Bankomat-Karte ein natürliches Heimatrecht erworben zu haben meinte, zu vergällen.

An die Begegnung mit dem Österreicher, der sein spanisches Paradies der Muße verließ, weil dort zu viele Ausländer arbeiteten, wurde ich erinnert, als ich las, warum im vergangenen Jahr immerhin 200.000 Engländer ihre Heimat verlassen haben. Die englische Regierung hat eine Studie in Auftrag gegeben und herausgefunden, dass erstaunlich viele von ihnen in die Fremde zogen, weil sie sich über die vielen Fremden zuhause ärgerten. Wer es sich leisten kann, verkauft seine Wohnung in Birmingham, um ein Appartement an der sonnigen Algarve zu erwerben, und flieht so nicht nur den Regen, sondern auch die Ausländer, indem er selber zu einem wird.

Verrückt? Nein, denn an der Algarve oder an der Costa Brava bleibt er unter seinesgleichen, und woher seinesgleichen auch immer stammt, es ist stets dieselbe Preisklasse. Und der zeitgemäße, von alten Vorurteilen freie Begriff des Ausländers hängt ja nicht mehr von Nationalität oder Staatsbürgerschaft ab, sondern vom Bankkonto. Ausländer ist, wer weniger Geld hat als man selbst und daher im begründeten Verdacht steht, es einem aus der Tasche ziehen zu wollen. Hat man hingegen die finanziellen Mittel dazu, darf man durch die Welt hetzen und sich doch überall als globalisierter Inländer heimisch fühlen. Zugleich aber bleiben Millionen, gleich wie lange sie sich schon an einem bestimmten Ort abrackern, auf ewig jene Ausländer, als die sie einst gekommen sind, und ihnen werden zahllose Inländer zugesellt, deren materielle Verhältnisse so prekär sind, dass sie in Gefahr geraten, im eigenen Land den Status von Inländern des Wohlstands einzubüßen.

Der innere Terror

Aus Columbia erreicht mich eine erschreckende Nachricht: Der oberste Leiter der amerikanischen Gesundheitsbehörden, Richard Cameron, hat in einem Vortrag an der Universität von South Carolina eingestanden, dass der Krieg gegen den Terror für die USA nicht zu gewinnen sei; schlimmer, dass der böseste Feind bisher gar nicht erkannt und also auch nicht bekämpft worden ist. Der Terror von außen wäre nämlich harmlos im Vergleich zum „Terror im Inneren“, der gegen die Gesundheit der amerikanischen Bevölkerung und die Zukunft der Nation wüte. Was ist geschehen? Hat Osama bin Ladin sein Hauptquartier in Washington aufgeschlagen? Ist ausgerechnet Timothy McVeigh, der 1995 in Oklahoma ein Bürogebäude in die Luft sprengte und zahllose Menschen ermordete, zum Idol der orientierungslosen Jugend geworden?

Nein, der Terror im Inneren hat kein Gesicht, nur ein Gewicht und einen dazugehörigen monströsen Körper, denn sein Name lautet: Fettsucht. Diese wird im neuen strategischen Dossier der Gesundheitsbehörden nicht mehr als Krankheit eingestuft, die immer mehr Menschen befällt, die sich auf bestimmte, nun ja: nicht völlig unamerikanische Weise ernähren, sondern als „nationales Sicherheitsrisiko“. Fett zu sein, ist also nicht nur ungesund, und unschick sowieso, sondern neuerdings auch unpatriotisch.

„Wo werden wir unsere Soldaten und Piloten herbekommen“, fragt Cameron, und man kann sich diese Wuchteln, die sich durch die Straßen der amerikanischen Städte schleppen, tatsächlich nur schwer in einem Bomber vorstellen oder beim Straßenkampf, in dem es Haus um Haus einer umkämpften Stadt zu befreien gilt. Interessant ist, dass die erste Assoziation, die einem Gesundheitspolitiker bei der endemischen Fettsucht seiner Bevölkerung kommt, gleich jene ist, dass man mit Fettwänsten keine Kriege führen kann. Das, nebenbei, könnte einmal das einzige sein, was für die Dickleibigkeit gesprochen haben wird.

Laut und vorlaut

Wenn ich die Sache richtig verstehe, dann haben wir zwei Riesenprobleme. Wir haben zu wenige Kinder, und die paar, die wir noch haben, sind viel zu laut. Dem einen kann man gar nicht so leicht abhelfen, wie man sich das vorstellt. Die letzte Ministerin für Unterricht hat den Jugendlichen zum Beispiel empfohlen, nicht so oft auf Partys zu gehen (obwohl gerade dort die Voraussetzungen für Zeugungsakte durchaus günstige sind), sondern sich stattdessen lieber an die Gründung von Familien zu machen. Obwohl ihr Vorschlag gut gemeint war, soll er dennoch zu keiner signifikanten Steigerung der Geburtenrate geführt haben. Dem anderen hingegen, dass die Kinder, von denen es zu wenige gibt, zu viel Lärm machen, kann man schon wirkungsvoll begegnen. Man braucht dazu nur Erwachsene, denen Kinderlärm als Störung der ewigen Ruhe erscheint, auf die sie sich bereits zu Lebzeiten vorbereiten möchten, und Rechtsanwälte, die sich nicht schämen, deren Klagen gegen Kindergärten, Wohnbaugenossenschaften, Familien einzubringen; ja, und natürlich braucht man dazu auch noch Kindergärten, Wohnbaugenossenschaften und Familien, die bereit sind, sich vor solchen Klagen zu fürchten.

Vor etlichen, empörend schnell vergangenen Jahren haben auch meine Kinder einen Kindergarten besucht. Eines Tages hat ein Ehepaar, das gegenüber dem Kindergarten ein Haus besaß, diesen wegen fortgesetzter Lärmbelästigung geklagt. Wir glaubten es kaum, aber auf diese Klage hin saßen Eltern, Kindergärtnerinnen und allerlei Amtspersonen stundenlang zusammen, um darüber zu grübeln, wie sich der Konflikt bereinigen lasse. Ernstlich wurde erwogen, die Kinder auch bei Schönwetter nicht mehr in den Garten zu lassen; oder sie dort jedenfalls zu einem Stillespiel anzuhalten: wer am längsten nicht lacht, hat gewonnen. Schon damals ergrimmte mich, wie viel sich Eltern gefallen und wie leicht sie sich einschüchtern lassen, wenn es gilt, nicht nur die Interessen ihrer Kinder, sondern ein humanes Anliegen der Gesellschaft selbst zu verteidigen.

Es hat sich nichts geändert seit damals. Noch immer werden Kindergärten wegen Störung der Friedhofsruhe angezeigt, und Hoteliers, die damit protzen, ihre Unternehmen kinderfrei zu halten, müssen nicht fürchten, dass jeder zivilisierte Mensch künftig einen Bogen um sie macht. Beziehungsweise: es gibt ja genügend unzivilisierte, mit denen sie ihre Geschäfte machen können. Nun war kürzlich in der lokalen Presse zu lesen, dass im Salzburger Stadtteil Alt-Maxglan den Kindern einer ganzen Siedlung das „Lärmen“ und Spielen auf einer brachliegenden Wiese anwaltlich untersagt wurde. Diese Siedlung wollte ich mir anschauen. Was war an einem schönen Nachmittag zu sehen und zu hören? Wenig. Eine Wiese, wie geschaffen, damit man auf ihr Fußball spiele, die trostlos verödet und ungenützt lag. Keine Kinder weit und breit. Doch, etwas abseits, an einem Straßenstück zogen ein paar mit ihren Fahrrädern lustlose Kreise. Schön, dachte ich mir, aus den Kindern, die dort, wo sie wohnen, keine Kinder sein dürfen, werden in ein paar Jahren die Jugendlichen geworden sein, die diese Stadt sich verdient. Und nur großes Aufgebot an Polizei wird sie davon abhalten können, dort zu randalieren, wo es nicht nur ein paar vorlaute Kinderfeinde stört.

Die Rowdys von Benalmadena

Wenn das Schule macht, was in der spanischen Kleinstadt Benalmadena erprobt wird! Jugendliche Rowdys, die es an gutem Benehmen im Straßenverkehr und Alltag mangeln lassen, ohne deswegen gleich kriminell geworden zu sein, sollen dort künftig die Wahl haben, ob sie lieber zahlen oder lesen möchten. Anstatt zu einer Geldstrafe, die sie empfindlich trifft, kann sie der Richter auf ihren eigenen Wunsch hin auch dazu verurteilen, ein Buch bei der städtischen Leihbücherei zu entlehnen, dessen Lektüre sie einen Monat später in einer schriftlichen Prüfung nachweisen müssen.

Der Fall gibt zu einigen Überlegungen Anlass. Hatten die Stadtpolitiker und Richter die pädagogische Alternative „Lesen statt Strafen“ im Auge oder ging es ihnen um eine Gleichsetzung, die da „Lesen als Strafe“ bedeutet? Werden sich die rohesten Burschen von Benalmadena künftig als die reinsten Lamperln erweisen, weil sie zähneklappernd fürchten, sonst zum Lesen verdonnert zu werden? Wovor wird ihnen mehr grauen, vor der leeren Tasche oder dem mit Buchstaben von der ersten bis zur letzten Seite voll geschriebenen Buch? Wird mancher Lehrling, der unbefugt ein Mofa in Betrieb nahm, freudig seinen Monatslohn hinblättern, um der gnadenlosen Zwangslektüre zu entkommen? Oder ist es nicht vermessen zu hoffen, man könne die Liebe zum Buch wecken, indem man dessen Lektüre verordnet?

Fragen über Fragen. In Österreich hatten Behindertenorganisationen vor Jahren heftig protestiert, als Juristen empfahlen, Straftäter statt in den Häfen in Spitäler, Altersheime, Behindertenzentren zu schicken, wo sie Hilflosen strafweise den Hintern putzen und so ihre Schuld an der Gemeinschaft abbüßen könnten. Die Behinderten und ihre Vertreter kritisierten, der soziale Dienst dürfe nicht als Bestrafung verstanden und die Nächstenliebe nicht kraft richterlicher Verurteilung geübt werden. So ist aus dem Plan nicht viel geworden, wiewohl man sich sehr gut vorstellen kann, wie in den härtesten Burschen die Menschenfreundlichkeit reift, sobald sie zu dieser von Amts wegen verdonnert wurden.

Mit den Rowdys von Benalmadena, die lesen müssen, wenn sie nicht blechen wollen, mag es ganz anders kommen, und die Kleinstadt, die jetzt noch unter den fortgesetzten Vandalenakten ihrer eigenen Kinder ächzt, wird diesen schon bald ihren guten Ruf in der Welt verdanken. Die vereinigten Pädagogen Europas werden kommen und staunen, was in einer Stadt der Literatur nicht alles möglich ist. Überall in den Parks sitzen Jugendliche mit Lederjacke und in Springerstiefeln, die, anstatt die Anwohner zu terrorisieren oder sich wenigstens untereinander zu prügeln, schmale Gedichtbände in ihren groben Fäusten halten oder mitsamt ihrem jugendlich gestählten Körper in die Romanwelt versunken sind, die sich vor ihnen lockend aufgetan hat.

Wie alt wir sind

Entweder ich werde rapide älter oder die Welt wird stetig jünger. Mein Großvater war siebzig, als er mir von einer ähnlichen Erfahrung berichtete, ich hingegen erst vierzig, als ich es das erste Mal bemerkt habe. Aber damals war nur ein irritierendes Gefühl, was mittlerweile unabweisbare Gewissheit ist. Ich erkenne es daran, dass ich so vieles nicht mehr erkenne, verstehe, begreife. Ich bin von Dingen umgeben, deren Wirkungsweise mir unbekannt ist, und von Zeichen, die ich nicht entschlüsseln kann, schlimmer, von denen ich nicht einmal bemerke, dass sie Zeichen sind und auf irgendetwas verweisen. Ringsum wächst die Welt, an der ich nicht mehr teilhaben kann. Zum Beispiel das Berufs- und Erwerbsleben. Nein, nicht dass ich mich verändern wollte, ich habe ja einen Beruf. Aber zu gerne würde ich wissen, womit man als Career-Designer sein Geld verdient. Oder wie man als E-Commerce-Consultant den Tag verbringt, ganz zu schweigen davon, was man als Info-Broker oder Tele-Tutor beruflich so treibt. Ein Bekannter hat mir einmal erklärt, warum der Beruf des Content-Managers eine hochbezahlte Zukunft habe; aber ich glaube, er hat sich über mich lustig gemacht, denn es ist unmöglich, dass jemand mit derlei seine Existenz wird bestreiten können.

Die Welt wird stetig jünger oder ich werde rapide älter. Oder beides wirkt unheilvoll ineinander. Da ist mir kürzlich eine Statistik in die Hände gefallen. Wie alt ist eigentlich die Menschheit von heute? Ich meine, wie hoch ist das Durchschnittsalter aller Menschen, die jetzt leben? 26 Jahre und vier Monate. Dass die Welt immer jünger wird, obwohl die Bewohner der reichen Kontinente immer älter werden, hat zwei Gründe. Der eine ist, dass in den armen Ländern so unglaublich viele Kinder geboren werden; der andere, dass sie sterben, ehe sie darüber grübeln könnten, was es bedeutet, in einer immer jüngeren Welt immer älter zu werden.

Kopernikus

Was ein einziger Mann alles sein kann! Mathematiker, Arzt, Kleriker, Regierungsadministrator, Geograph, Finanzwissenschaftler (dies zu einem Zeitpunkt, als es den Begriff noch gar nicht gab), Übersetzer, militärischer Stratege… Als Mathematiker hat er die Trigonometrie ausgearbeitet, als Arzt vierzig Jahre lang die Kranken seines Kirchenbezirks unentgeltlich behandelt; der Kleriker verwirklichte eine Kirchenkalenderreform, der Administrator des ermländischen Domkapitels trieb die innere Kolonisierung seines entvölkerten Landes voran, der Geograph hat zuerst eine Landkarte des Königreiches Polen und Litauen und dann eine von Preußen erstellt; als Finanzwissenschaftler konzipierte er das preußische Münzwesen neu und verfasste eine Schrift, die die moderne Geldtheorie vorwegnahm; wohl zum Zeitvertreib übersetzte er daneben griechische Briefe ins Lateinische, und weniger zum Zeitvertreib, als um die kirchlichen Reichtümer und die politische Unabhängigkeit von Allenstein zu schützen, organisierte er als militärischer Kommandant erfolgreich die Verteidigung der Stadt gegen die Angriffe des Deutschen Ritterordens. Ach ja, und außerdem war dieser Mann, der 1473 in Thorn (heute Torún) als Nikolaus Koppernigk geboren wurde, seinen Namen selber auf Copernicus latinisierte und polnisch Mikolaj Kopernik genannt wurde, natürlich auch noch Astronom.