Lug und Spuk - AJ Sherwood - E-Book

Lug und Spuk E-Book

AJ Sherwood

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Beschreibung

Ich habe in meinem Leben schon an einigen merkwürdigen Fällen mitgearbeitet, aber unser neuer toppt echt alle. Mitten in einer Mordermittlung verschwindet die Leiche, und niemand hat auch nur die geringste Ahnung, was mit ihr passiert sein könnte. Das ist wirklich eine Premiere. Unsere Agentur soll das Ermittlerteam überprüfen, um festzustellen, wer die Sache verbockt hat. Darauf sind wir allerdings nicht besonders scharf, denn der Tatort ist ein weithin bekanntes Spukhaus. Und als wir nach vier Stunden Fahrt ankommen und ich sehe, mit wem wir es dort zu tun haben, möchte ich am liebsten sofort auf dem Absatz kehrtmachen und schnurstracks nach Nashville zurückfahren. Dieser Fall ist kompliziert und bizarr, und absolut nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Selbst für meine Augen … Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, müssen wir wohl ganz tief graben.

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AJ SHERWOOD

LUG UND SPUK

JONS ÜBERNATÜRLICHE FÄLLE 3

Aus dem Amerikanischen von Johanna Hofer von Lobenstein

 

Über das Buch

Ich habe in meinem Leben schon an einigen merkwürdigen Fällen mitgearbeitet, aber unser neuer toppt echt alle. Mitten in einer Mordermittlung verschwindet die Leiche, und niemand hat auch nur die geringste Ahnung, was mit ihr passiert sein könnte. Das ist wirklich eine Premiere. Unsere Agentur soll das Ermittlerteam überprüfen, um festzustellen, wer die Sache verbockt hat. Darauf sind wir allerdings nicht besonders scharf, denn der Tatort ist ein weithin bekanntes Spukhaus. Und als wir nach vier Stunden Fahrt ankommen und ich sehe, mit wem wir es dort zu tun haben, möchte ich am liebsten sofort auf dem Absatz kehrtmachen und schnurstracks nach Nashville zurückfahren.

Dieser Fall ist kompliziert und bizarr, und absolut nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Selbst für meine Augen … Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, müssen wir wohl ganz tief graben.

Über die Autorin

AJ steckt voller Ideen. Deshalb arbeitet sie meist an mehreren Projekten und Büchern gleichzeitig. Unter einem weiteren Pseudonym verfasst sie Fantasy-Romane, doch sie wollte unbedingt auch für die LGBTQ+-Gemeinde schreiben. Glücklicherweise war ihre Lektorin sofort damit einverstanden.

In ihrer Freizeit verschlingt AJ Bücher, isst viel zu viel Schokolade und verreist gern. Ihre erste größere Reise führte sie nach Japan, und das hat ihr so gut gefallen, dass sie sich fest vorgenommen hat, so bald wie möglich noch viel mehr von der Welt zu sehen. Bis dahin recherchiert sie weiterhin via Google Earth und schreibt über die Welten in ihrem Kopf.

Die englische Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Jon’s Spooky Corpse Conundrum«.

Deutsche Erstausgabe 2021

 

© der Originalausgabe 2019: AJ Sherwood

© für die deutschsprachige Ausgabe 2021:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs

Umschlagmotiv: Adobe Stock, grüner Nebel: Boris, Hintergrund: Laura Crazy

Lektorat: Judith Zimmer

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

 

ISBN 978-3-948457-25-9

 

www.second-chances-verlag.de

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

#Hashtags

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Mehr von AJ Sherwood

#HashtagsSpukhaus * Verschwundene Leichen * Aber nicht auf Zombie-Art * Donovan steht nicht auf Geister * Familiendrama * Weil Familien kompliziert sind * Moooooord * Schlechte Eltern * Donovan erträgt eine Menge * Sich entwickelnde Beziehung * Garrett ist ein guter Kumpel * Zumindest manchmal * Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa, ENDLICH * Gute Entscheidungen * Möglicherweise fehlerhafte Forensik * Keine Ahnung * Ich hab mein Bestes getan * Für diese Geschichte kamen keine Geister zu Schaden * Übernatürliche Elemente * Die Autorin bereut nichts

KAPITEL 1

DONOVAN

Ich löste mich so abrupt aus meiner Dehnübung, dass mein Kopf nach oben schnellte, und starrte Garrett an.

»Du willst das Haus kaufen?«

Mein Freund saß vor mir auf einer Hantelbank, leicht verschwitzt von dem Training, das wir gerade beendet hatten. Sein T-Shirt klebte an seinem Oberkörper, und er zupfte daran, während er mich aus seinen blauen Augen unverwandt ansah.

»Ich wollte euch schon ein Angebot machen, bevor ihr die ersten Interessenten hattet, aber dann wart ihr euch so schnell einig mit denen, dass ich nicht mehr dazu kam. Aber das hat sich ja jetzt zerschlagen. Oder?«

»Ja, die sind mit ihren Finanzen nicht klargekommen.« Darüber war ich etwas betrübt gewesen, als ich es gestern gehört hatte, und hatte mich schon damit abgefunden, das Haus noch ein paar Wochen zu inserieren. Lange würde es nicht auf dem Markt bleiben in einer Stadt wie dieser – Häuser wurden hier mit Lichtgeschwindigkeit verkauft. Mit knapp 300.000 Dollar war das Haus nicht überteuert, und ich wusste, dass Garrett es sich leisten konnte. Er war immer schon vernünftig mit seinem Geld umgegangen, und dank der Erbschaft, die er nach dem Tod seines Großvaters im vergangenen Jahr gemacht hatte, würde es überhaupt kein Problem für ihn sein, eine Anzahlung zu leisten. »Das Haus gefällt dir wirklich so gut?«

»Du hast es einfach super hergerichtet. Ich muss gar nichts mehr daran machen. Und es ist nicht weit bis zur Arbeit.« Garrett klimperte mit den Wimpern. »Ich sage auch schön ›Bitte, bitte‹.«

Mit einem belustigten Schnauben stand ich vollständig aus der Stretchposition auf. »Du weißt ganz genau, dass meine Familie es dir liebend gern überlassen wird. Wir hätten einfach nicht gedacht, dass du jetzt schon bereit bist, hier ein Haus zu kaufen.«

»Ja, ich weiß. Es sind erst zwei Monate, und das scheint womöglich etwas übereilt, aber …« Er sah beiseite und zog den Kopf ein. Plötzlich wirkte er fast scheu. »Mir gefällt der Job richtig gut. Die Kollegen sind klasse. Ich freue mich, dass wir beide wieder zusammenarbeiten. Und wenn alles gut läuft, kann ich Michael vielleicht sogar schon bald zu einem richtigen Date überreden.«

Ich setzte mich zu ihm, rittlings auf die Hantelbank. Das war das erste Mal seit längerer Zeit, dass er über Sho sprach. »Du hast doch gesagt, dass es ganz gut läuft. Hast du Fortschritte bei ihm gemacht?«

»Schon. Bloß sehr langsam.« Er rieb sich den Nacken, während ein Schmunzeln über sein Gesicht huschte. »Deine bessere Hälfte hat mir ein paar gute Tipps gegeben. Mir Zeit zu lassen und Geduld mit ihm zu haben. Und das scheint auch gut zu funktionieren. Michael verbringt immer mehr Zeit mit mir, und er wird nicht mehr jedes Mal zum Nervenbündel, wenn ich frage, ob er mit mir etwas essen oder einen Film gucken will. Er wird immer entspannter, wenn wir etwas unternehmen. Als ob er langsam wieder Boden unter die Füße bekommt und in seinem Leben Platz für mich macht.«

Das war mir im Büro auch schon aufgefallen. Sho war niemand, der gerne viel Körperkontakt hatte, aber ich hatte mehrmals beobachtet, wie er nach Garretts Arm oder Hand griff, wenn sie miteinander sprachen. Es war unglaublich süß.

Nicht, dass ich das je laut aussprechen würde. Mein Kiefer war mir lieber, wenn er mir nicht ausgerenkt wurde.

»Freut mich wirklich, Mann. Für ihn und für dich. Jon ist geradezu beglückt über alles, was er bei euch so sieht. Aber natürlich sagt er keinen Pieps.«

»Er kann erstaunlich verschwiegen sein, dafür, wie gesprächig er sonst manchmal ist.« Garretts Mundwinkel kräuselten sich, was mich vermuten ließ, dass er etwas im Schilde führte. »Du weißt nicht zufällig, wie Michaels Ex heißt?«

»Neee«, gab ich gedehnt zurück, denn ich wusste schon, worauf er hinauswollte. »Aber ich kann es bestimmt rausbekommen. Wir müssen schließlich noch ein ernstes Wörtchen mit dem Mann reden.«

»Nur ein paar Sätze, damit er auch kapiert, dass es ein absolutes No-Go ist, die Hand gegen jemanden zu erheben«, bekräftigte Garrett trocken. »Zum Wohle der Allgemeinheit sozusagen.«

»Absolut«, stimmte ich mit gespieltem Ernst zu. »Ich kümmere mich darum. Du hast ihn nicht irgendwo gesehen, oder?«

Garrett antwortete erst nach kurzem Zögern. »Nein, das nicht. Aber manchmal taucht ein dunkelblauer Wagen auf, wenn wir unterwegs sind. Michael ist das unheimlich. Es passiert nie etwas, und ein paarmal hat er sich auch schnell wieder abgeregt, als ob ihm klar geworden wäre, dass es ein anderes Auto war. Aber manchmal eben auch nicht, und das macht mir Sorgen.«

Diese Recherche hatte soeben einen Platz ganz oben auf meiner Prioritätenliste bekommen. »Ich frage nach. Und wenn Jon nicht darüber reden will, können wir auch einfach in den Gerichtsakten nachschauen. Sho hat schließlich eine einstweilige Verfügung gegen das Arschloch erwirkt.«

»Guter Hinweis. Vielleicht sollten wir einfach gleich das machen.«

Ja, vielleicht wäre das besser. Dann würden wir uns zumindest nicht sofort verraten. Ich gab Garrett einen Klaps auf die Schulter und bedeutete ihm, sich in Bewegung zu setzen. »Und jetzt ab in die Dusche. Ich muss nach Hause. Skylar kommt gleich bei uns vorbei.«

Garrett setzte schmunzelnd die Wasserflasche an. »Das gefällt dir, ›bei uns‹ zu sagen, stimmt’s?«

Ich schnaubte und knuffte ihn freundschaftlich, dann steuerte ich die Männerumkleide an. Er hatte recht. Jon und ich lebten jetzt schon einen ganzen Monat zusammen – den Probemonat nicht mitgerechnet –, und ich war immer noch ein bisschen überwältigt. Mein Lover hatte seine Vorbehalte völlig aufgegeben. Keine Spannungen, keine Hindernisse mehr zwischen uns, und er hatte nicht mehr die ständige Angst, dass unsere Beziehung durch das Zusammenleben zu Bruch gehen würde. Ich wusste immer noch nicht ganz genau, wie es mir schließlich gelungen war, ihm über die letzte Hürde zu helfen und ihn zu überzeugen, dass er uns beiden ganz und gar vertrauen konnte, aber irgendwie hatte ich es geschafft. Was immer es gewesen war, ich stellte es nicht infrage.

Die Umkleiden waren hier schöner als in den meisten Fitnessstudios, also beschloss ich, mich hier abzuduschen und umzuziehen, bevor ich nach Hause fuhr. Skylar wollte heute irgendein Software-Update vornehmen. Manchmal war das ein Code für »Ich habe keine Lust auf zu Hause und will lieber mit euch abhängen«, und manchmal ging es wirklich um ein Software-Update. Was heute zutraf, würde ich ja gleich sehen.

Als ich gerade Garrett zum Abschied zuwinkte, klingelte mein Handy, und ich nahm den Anruf mit einem Lächeln an. »Mom, perfektes Timing! Ich habe gute Neuigkeiten für dich.«

»Ja?«, erwiderte meine Mutter fröhlich. »Ich habe auch welche für dich. Ich fange mal an: Das FBI hat deinem Bruder gerade ein Angebot gemacht.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen und musste laut lachen. »Haben sie ihn also doch gekriegt!«

»Ich dachte, Jon macht Witze, als er uns das erzählt hat, aber anscheinend haben sie es doch ernst gemeint.«

»Auf jeden Fall! Ich meine, es klang zwar wie ein Scherz, aber sie waren wirklich beeindruckt von Brandon. Na, dann hoffe ich mal, der neue Job wird ihm Spaß machen. Wenn er bei dem Team landet, mit dem wir zu tun hatten, bekommt er ein paar tolle Kollegen.«

»In seinem alten Job war er nicht mehr so recht zufrieden, also ist es so oder so eine gute Chance für ihn. Aber was hast du denn zu erzählen?«

»Garrett will das Haus kaufen«, erklärte ich.

»Oh, Don! Da bin ich aber froh. Dann kommt es ja in die besten Hände. Warum hat er nicht schon längst etwas gesagt?«

»Er meint, er war zu spät dran. Kannst du der Maklerin Bescheid geben? Damit sie keine anderen Bewerbungen mehr annimmt.«

»Mach ich. Und Garrett rufe ich auch gleich an. Ach, wird das nett sein, ihn bei uns in der Nähe zu haben!«

Garrett hatte ein etwas eigenartiges Verhältnis zu seiner eigenen Familie. Sie mochten sich zwar alle, schienen sich aber kaum darum zu bemühen, miteinander in Kontakt zu bleiben. Manchmal verging ein komplettes Jahr, ohne dass sie ein Sterbenswörtchen miteinander redeten. Garretts Beziehung zu meinen Eltern war enger. Er sprach beinahe jede Woche mit Mom und Dad.

»Dann überlasse ich den Rest euch. Wir haben gleich Teenagerbesuch.«

»Skylar ist oft bei euch, oder?«

»Ja. Sie hat manchmal Stress in der Schule, und dann klinkt sie sich aus und kommt zu uns. Was total in Ordnung ist, sie ist ein cooles Mädchen.« Mein Handy machte Geräusche, das Anklopfen eines zweiten Anrufers. Auf dem Display sah ich, dass es Jim war. An einem Freitagmorgen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Mom, der Chef ruft an. Ich muss auflegen.«

»Na klar. Bis später.«

Ich nahm Jims Anruf an und blieb noch vor dem Gemeindezentrum stehen. Es war jetzt Mitte Oktober und somit schon etwas kühler. Ich genoss die leichte Brise. »Hey, Jim. Alles in Ordnung?«

»Ich würde mal sagen: alles ein bisschen seltsam …« Jim klang amüsiert und neugierig zugleich.

»›Seltsam‹ nehme ich auch. Was ist denn los?«

»In Sevierville hat es einen Mord gegeben. Wissen Sie, wo das ist?«

»Äh, östlich von Knoxville, glaube ich.«

»Richtig. Etwa vier Stunden von hier. Jedenfalls: Ein Hausbesitzer ist im eigenen Bett umgebracht worden. In einem berühmten Spukhaus.«

Ein Schauer überlief mich, und an meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Ich verabscheute alles Okkulte, und Geister waren überhaupt nichts für mich. »Ich kann mir schon denken, worauf Sie hinauswollen. Aber ich bin kein Geisterjäger.«

»Das ist keiner von uns. Ich verdächtige auch kein Gespenst, und das ist auch nicht der Grund, warum wir hinfahren sollen. Es ist so: Denen ist die Leiche abhandengekommen.«

Ich blinzelte in den hellen Sonnenschein – das unpassendste Wetter schlechthin für eine Gruselgeschichte. Es war auch noch nicht kurz genug vor Halloween für so einen Mist. »Moment mal. Wie meinen Sie das, die Leiche ist abhandengekommen?«

»Ich meine es ganz wörtlich. Die Details kenne ich noch nicht genau, aber offenbar hat außer der Tochter des Opfers und den Polizeibeamten niemand das Haus betreten. Sie sind kurz aus dem Zimmer gegangen, und als sie wiederkamen, war auf einmal keine Leiche mehr da. Sie haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt und trotzdem keine Spur gefunden. Nun sieht es ganz danach aus, als hätte sich jemand damit davongemacht, und die Ermittlungen können nicht fortgesetzt werden, solange nicht alle Beamten von dem Verdacht befreit sind.«

Jetzt ergab die Sache langsam Sinn. »Und wir wurden einbestellt, damit wir abklären, ob jemand von der örtlichen Polizei etwas damit zu tun hatte?«

»Einmal das, aber auch, um die Leiche zu finden. Anscheinend ist in der Gegend gerade kein einziges Medium abkömmlich. Ich war schon der Siebte, den der arme Captain angerufen hat, und er ist sehr daran interessiert, dass wir ihm vor Ort behilflich sind, den Stein ins Rollen zu bringen.«

»Kann ich mir vorstellen. Okay, ich vermute mal, wir sollen sofort aufbrechen?«

»Da vermuten Sie richtig. Packen Sie am besten für mindestens zwei Tage.«

Vier Stunden Fahrt, am Fall arbeiten, eine Übernachtung. Immer vorausgesetzt, wir konnten den Fall schnell aufklären, und, nun ja … da war ich mir nicht ganz so sicher. Fälle waren selten so einfach: rein, raus – jedenfalls dann, wenn wir damit zu tun bekamen. »Okay. Ich bin noch nicht zu Hause, aber ich fahre gleich los und hole Jon. In dreißig Minuten sind wir startklar. Schicken Sie mir die Adresse.«

»Mache ich. Sie werden wahrscheinlich vor uns da sein. Wir müssen noch die Kamera und ein paar andere Sachen holen. Und Carol habe ich auch noch nicht erreichen können.«

»Verstanden. Dann sehen wir uns dort.« Ich legte auf, dann rief ich sofort Jon an. Ich wollte ihn schon mal vorwarnen, denn für den Heimweg würde ich noch fünfzehn Minuten brauchen. Er nahm nach dem dritten Klingeln ab. »Hey, Babe? Wir haben einen Job.«

»Heute?«, protestierte er klagend. »Komm schon. Wir haben jetzt zehn Tage durchgearbeitet. Ich hatte Pläne!«

»Jetzt bin ich erst richtig genervt. Sexy Pläne?«

»Sonst wäre ich nicht so sauer … Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«

»Wir haben ein gruseliges Leichenrätsel zu lösen, in Sevierville. Und eins kann ich dir jetzt schon sagen: Auf diese Ermittlungen freue ich mich überhaupt nicht.«

* * *

Eine Stunde später waren wir unterwegs. Die schmollende Skylar war bei uns zu Hause zurückgeblieben. Es war kein schlechter Tag für eine längere Autofahrt. Jon saß am Steuer, damit ich navigieren und Anrufe entgegennehmen konnte. Wir kamen gut voran. Während wir Nashville hinter uns ließen und auf die geradlinig durch den Bundesstaat führende 40 East abbogen, erzählte ich ihm, was sonst noch passiert war. »Garrett will das Haus kaufen.«

»Na so was!«, bemerkte er mit einem nachdenklichen Seitenblick. »Ich hatte mich schon gefragt, was die interessanten Emotionen zu bedeuten haben, die ich in letzter Zeit von ihm aufgeschnappt habe. Sehnsucht nach Stabilität hauptsächlich. Ich glaube, er will in der Nähe von dir und deiner Familie sein.«

»Ja, er hat sich immer wohlgefühlt bei uns. Meine Eltern behandeln ihn wie ihren eigenen Sohn – mehr als seine eigenen. Seine Familie und er stehen sich nicht besonders nahe. Jedenfalls wird er uns das Haus abnehmen, und meine Mom ist superglücklich. Außerdem hat er gesagt, dass Sho und er jetzt mehr zusammen unternehmen. Das waren die guten Nachrichten.«

Jon verzog das Gesicht. »Natürlich gibt es auch schlechte Nachrichten. Was ist los?«

»Wenn er mit Sho unterwegs ist, wird der manchmal ganz nervös. Immer dann, wenn er eine dunkelblaue Limousine sieht.« Ich beobachtete Jons Reaktion genau. Sein Griff um das Steuerrad wurde so fest, dass die Knöchel durchschienen, während sein Gesicht zu einer frustrierten Grimasse wurde. »Das ist der Wagen von Shos Ex, richtig?«

»Damals, als ich mit ihm zu tun hatte, hat er einen dunkelblauen Nissan gefahren, ja.« Jon seufzte genervt auf. »Verdammt. Ich dachte, er hat es endlich aufgegeben.«

»Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass dieser Typ Sho ein Jahr nach der Trennung noch hinterhersteigt?«

»Weil das Arschloch ein totaler Kontrollfreak ist, der fast schon von Sho besessen war. Hör mal. Was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns, in Ordnung?«

Ich nickte sofort. »Okay.«

»Willst du wissen, warum er Sho misshandelt hat? Weil er ab und zu auch mit anderen Leuten etwas unternommen hat. Sogar bei Shos eigenem Bruder hatte er etwas dagegen. Roy – so heißt der Kerl – wollte die totale Kontrolle über Sho. Er wollte um Erlaubnis gefragt werden, bevor Sho einkaufen gegangen ist. Es war völlig irre. Sho hatte deswegen ständig Zoff mit ihm, und die Beziehung war sowieso schon fast am Ende. Dann hat er einmal so die Beherrschung verloren, dass er zugeschlagen hat. Sho ist sofort abgehauen und hat mich angerufen, weil ich ihm damals am nächsten stand. Ganz ehrlich, es hat mir Angst gemacht, die Energiebahnen von dem Typ zu lesen. Ich wusste schon beim Kennenlernen, dass er ein bisschen komisch war, aber er ist mir danach immer aus dem Weg gegangen, sodass ich nicht mitbekommen habe, wie sehr es eskaliert ist.«

Bis jetzt hatte ich nicht genau gewusst, was eigentlich passiert war. Sho sprach nicht gerne darüber, und Jon fühlte sich verpflichtet, sein Vertrauen nicht zu missbrauchen. Doch mit diesem Hintergrundwissen konnte ich die Situation besser einschätzen. Wenn Jon jetzt so viel dazu sagte, obwohl er es vorher nicht angebracht gefunden hatte, dann war es ernster als gedacht, das spürte ich genau.

»Können sich Menschen wirklich so grundlegend ändern?«

»Ja, klar. Ständig. Zum Guten wie zum Schlechten. Darum urteile ich auch nie zu schnell, wenn ich jemanden lange nicht getroffen habe. Man kann nie wissen, wie sich jemand in der Zwischenzeit verändert hat.« Mit einem erneuten gestressten Seufzer fuhr Jon fort: »Ich wollte, Sho hätte etwas gesagt. Wenn er ihm so nahe kommt, dass er den Wagen sehen kann, ist das ein klarer Verstoß gegen die einstweilige Verfügung.«

»Wie weit muss sich der Typ denn von Sho fernhalten?«

»Ich glaube, eine Meile. Oder anderthalb Meilen. Das sollte nicht schwer einzuhalten sein. Sho wohnt jetzt in Mount Juliet, weit weg von Roys Wohnung. Wenn er regelmäßig sein Auto bemerkt, bedeutet das nichts anderes, als dass Roy es nicht sein lassen kann. Wir müssen Beweise sammeln und ihn anzeigen.«

»Glaubst du wirklich, Sho hat das noch nicht gemacht?« Das zu glauben, fiel mir schwer. Sho war kein Weichei, und technikaffin genug obendrein.

Jon warf mir einen besorgten Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Du wirst recht haben. Das hat er bestimmt getan. Lass uns mal in Ruhe nachfragen, wenn wir die verschwundene Leiche wiedergefunden haben.«

Wir wandten uns angenehmeren Themen zu, und die Zeit verging wie im Flug, wie immer, wenn wir zusammen waren. Ich behielt das GPS im Auge, und wir folgten den Anweisungen zu unserem Ziel. Ich hatte definitiv keine Lust auf diesen Fall. Gespenster waren mir wirklich unheimlich, und Horror war absolut nicht mein Ding. Ich versuchte, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Schließlich war ich der Beschützer in dieser Beziehung, oder etwa nicht? Wenn ich selbst Angst hatte, hatte ich nicht das Gefühl, meiner Aufgabe richtig nachzukommen. Wenn ich Angst hatte, trübte das mein Urteilsvermögen.

Außerdem gab es ja auch gar keine Geister, richtig? Genau.

Unser Ziel war ein dreistöckiges Ziegelgebäude mit einer breiten, weiß gestrichenen Veranda an der Vorderseite. Das Haus sah alt aus. Sehr alt. Ich wusste nicht viel über die Geschichte des Anwesens, aber es hatte die typische Atmosphäre historischer Gebäude. Gerade war es ziemlich belebt: Ein gerichtsmedizinischer Einsatzwagen, zwei Polizei-SUVs mit der Aufschrift Sevierville Police Department und ein brandneuer Ford-Pick-up standen in der Einfahrt und auf dem Rasen des Vorgartens.

»Hier sind wir auf jeden Fall richtig«, bemerkte Jon, als auch er in der Einfahrt parkte. Er musste sich in eine Lücke auf der rechten Seite quetschen, und wir landeten zum Teil auf dem Rasen. Unsere Kollegen würden ihre Autos wohl auf der Straße lassen müssen. »Sieht so aus, als ob die alle auf der Veranda sind und auf uns warten.«

»Wir können uns ja schon mal vorstellen, bis die anderen hier sind.« Ich sprang aus dem Humvee und warf die Tür zu, dann lief ich um die Motorhaube herum, um neben ihm zum Haus zu gehen.

Neugierig war ich schon. Jons Fälle waren oft genug seltsam, und es war durchaus denkbar, dass ihm so etwas schon mal untergekommen war. »Das ist jetzt aber sogar für dich Neuland, oder?«

Er schnaubte, dann warf er mir ein schiefes Lächeln zu. »Es ist nicht gerade an der Tagesordnung, dass Leichen verschwinden, Babe. Zum Glück. Na ja, jedenfalls verschwinden sie für gewöhnlich nicht mehr, nachdem der Gerichtsmediziner sie …« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und starrte geradeaus.

Ich folgte seinem Blick in Richtung Veranda und betrachtete die drei Männer, die dort saßen. Einer von ihnen erhob sich langsam, und in einem Sekundenbruchteil hatte ich die Puzzlestückchen zusammengesetzt. Es war unmöglich, die Ähnlichkeit nicht zu erkennen. Die gleichen dichten blonden Haare, der gleiche schlanke Körperbau und diese Augen – diese durchdringenden blauen Augen, die alles zu sehen schienen. Der Mann war schon etwas älter, vielleicht Ende fünfzig, aber er musste mit Jon verwandt sein. Und angesichts dessen, wie sehr mein Lover erschrak, konnte es niemand anders sein als …

»Dad«, flüsterte Jon verblüfft.

Ach du Scheiße.

Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht war. Dieser Mann hatte seine Familie verlassen, als Jon gerade mal sieben Jahre alt gewesen war, und so wie es die anderen erzählten, hatte er nie wieder versucht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Von solchen Männern hatte ich keine sonderlich hohe Meinung. Ich rechnete damit, dass Jon ihm den Kopf abreißen, sich auf dem Absatz umdrehen und den Fall innerhalb der Psy abgeben würde. Doch seine Miene zeugte von widerstreitenden Gefühlen und sagte mir, dass er das nicht tun würde.

Caleb Bane wirkte wie vom Donner gerührt. Aber er konnte den Blick nicht von seinem Sohn abwenden, während er langsam die Verandatreppe herunter- und auf uns zukam. Kurz vor uns blieb er stehen. Er nahm kaum Notiz von mir, so sehr war er auf Jon konzentriert. Sie waren gleich groß, Jon vielleicht zwei Zentimeter kleiner, und wenn man die grauen Schläfen außer Acht ließ, hätte er Jons Spiegelbild sein können – und das nicht nur, was sein Aussehen betraf. Sie machten beide das gleiche verstörte Gesicht.

Und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, tat mein Jon etwas, das völlig wider seine Natur ging. Er schaute nicht hin. Stattdessen wandte er den Blick ab und starrte ins Leere.

Ich wusste wohl, dass er eine Menge unbewältigten Zorn und Misstrauen mit sich herumtrug, weil sein Vater die Familie im Stich gelassen hatte. Bis zu diesem Moment, als Jon sich weigerte, den Mann eines Blickes zu würdigen, war mir aber nicht wirklich klar gewesen, wie tief das ging. Verdammt.

Caleb dagegen starrte seinen Sohn unverwandt an. Seine Miene spiegelte eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen wider: Hoffnung, Verzweiflung, Reue, Entschlossenheit. Er sah nicht weg, er schien weder beschämt noch schuldbewusst zu sein, und er machte keinen Versuch, der unbehaglichen Situation auszuweichen. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.

Die anderen beiden Männer auf der Veranda beobachteten die Szene. Einer von ihnen, ein gepflegt aussehender Endfünfziger, dessen Polizeimarke am Gürtel unter seiner Lederjacke hervorblitzte, ließ Caleb Bane nicht aus den Augen. Er wirkte ausgesprochen besorgt.

Jetzt kam der andere auf uns zu. Er hatte eine kräftige Statur und trug einen deutlichen Bierbauch vor sich her. Der Mann verströmte eine gewisse Autorität, und ich sah seinen Blick zwischen Jon und Caleb hin- und herhuschen. In seinen Augen war auch ein gewisses Verständnis zu erkennen, was mich vermuten ließ, dass er zumindest teilweise wusste, was hier vorging.

»Mein Name ist Randy Cain, Captain des Polizeireviers von Sevierville.«

Eigentlich hätte ich Jon am liebsten erst mal beiseitegenommen, um in Ruhe mit ihm zu sprechen. Aber ich zwang mich zu Professionalität und gab Cain die Hand. »Donovan Havili. Das ist mein Medium, Jonathan Bane. Wir sind die Vorhut.«

»Ja, das sehe ich.« Cain hatte definitiv mitbekommen, dass die beiden den gleichen Nachnamen trugen. Er schaute neugierig von einem zum anderen. »Mr Bane, ich freue mich sehr.«

Steif wandte Jon sich ihm zu und schüttelte ihm die Hand. Sein Lächeln war so aufgesetzt, dass es mir wehtat, ihn anzuschauen. »Captain.«

»Sie, äh, kennen unseren Gerichtsmediziner, Dr. Bane?«

Jon antwortete knapp und eisig: »Ja.«

»Ah.« Cain räusperte sich unbehaglich, stellte aber zum Glück keine weiteren Fragen. Stattdessen deutete er auf den Mann auf der Veranda. »Das ist Neil Singleton, der Detective in diesem Fall. Er ist einer von den Leuten, die befragt werden müssen. Jonathan – darf ich Jonathan sagen? Danke. Ich habe Sie rufen lassen, weil ich Sie dafür brauche, meine Leute zu entlasten, damit die Ermittlungen hier am Tatort weitergehen können. Wenn jemand hier sich mit einer Leiche davongemacht hat, muss ich das wissen. Außerdem müssen Sie die Leiche auffinden.«

»Ersteres kann ich machen, das Zweite nicht«, sagte Jon. »Meine Kollegin Carol ist unsere Sucherin. Sie ist unterwegs, ich bin nur zufällig schon vor ihr hier. Wir können gerne schon mit den Befragungen anfangen. Das wird nicht lange dauern. Jemand müsste bitte eine Videokamera aufbauen, und Sie, Sir, müssten als offizieller Zeuge fungieren. Dann können Ihre Leute in spätestens einer Stunde wieder an die Arbeit gehen.«

»Das hört sich gut an. Lassen Sie uns loslegen.«

Das taten wir dann auch. Ich kämpfte immer noch mit dem Wunsch, Jon beiseitezunehmen und mit ihm zu reden. Ich wusste nicht, was er in dieser Situation von mir brauchte. Aber er schien entschlossen, professionell zu bleiben, und außer dass er mich zwischen sich und seinen Vater schob, gab er mir keinen nonverbalen Anhaltspunkt. Caleb Bane schien das zu bekümmern. Er öffnete und schloss mehrmals den Mund, als wolle er etwas sagen, könne aber nicht die richtigen Worte finden.

Da sich offenbar keiner der beiden dazu überwinden konnte, zu reden, entschloss ich mich, zuerst das Problem der vermissten Leiche anzugehen und die Familiendramen auf später zu verschieben. Und dabei würde ich bleiben, bis Jon eine andere Ansage machte.

In dem Versuch, die Dinge (wenigstens nach außen hin) am Laufen zu halten, sprach ich mit Cain, als wir ins Haus gingen. »Uns wurde nur mitgeteilt, dass eine Leiche vom Tatort verschwunden ist und dass wir die Anwesenden vernehmen müssen, um den Täter überführen zu können. Was ist denn genau passiert?«

»Es ist von A bis Z rätselhaft. Sind Sie mit der Geschichte dieses Anwesens vertraut, Mr Havili?«

»Kann ich nicht behaupten, Sir.« Und am liebsten hätte ich auch nichts weiter davon gehört. Ich konnte gut darauf verzichten, zu erfahren, wie sehr es hier spukte.

»Die Wheatlands-Plantage ist uralt. Um 1700 gegründet, war sie unter anderem Schauplatz einer Schlacht während der Revolution, der Schlacht am Boyd’s Creek. Das Haus selbst wurde während des Bürgerkriegs vorübergehend als Stützpunkt und Winterquartier genutzt. Hier sind viele Menschen gestorben, es gibt einen Friedhof mit etwa siebzig Gräbern auf dem Gelände. Bis 2017 fanden hier noch Geisterführungen statt. Anfang des Jahres wurde das Anwesen verkauft. Zu einem Spottpreis im Übrigen«, warf Cain über die Schulter, während er eintrat. »Keiner aus der Gegend hier hatte den Mut, ein Geisterhaus zu kaufen. Vielleicht wussten sie es auch einfach besser. Jedenfalls war der Verstorbene der neue Besitzer des Anwesens. Seine Tochter hat ihn heute Morgen tot in seinem Bett aufgefunden.«

Ich zuckte zusammen. Das klang alles andere als angenehm.

Das Wohnhaus war ein rötlicher Klinkerbau mit drei Etagen und einem nach hinten führenden zweistöckigen Flügel. Das Gebäude war in gutem Zustand, das rote Dach noch relativ neu, und die Fensterläden hatten erst kürzlich einen neuen Anstrich erhalten. Innen war es schummrig, und die Räume waren etwas beengt, wie es in alten Häusern so oft der Fall ist. Die Diele, die fast ganz von einem Treppenaufgang eingenommen wurde, erschien durch das dunkle Holz der Böden und der Treppe noch kleiner.

Der Rest des Hauses war wie die Kulisse eines Historiendramas: üppige weiße Zierleisten, offene Kamine in allen Zimmern, Buntglasrahmen um die Fenster und Deckenbalken, die ebenfalls weiß gestrichen waren. Das Haus war alles in allem gut in Schuss, wenn auch etwas staubig und nicht fertig eingerichtet. Es wirkte so, als sei jemand gerade dabei, einzuziehen, und an den Fußleisten reihten sich Werkzeuge aneinander, als würde hier noch gearbeitet.

»Esszimmer?«, schlug Jon dem Captain vor.

»Nichts dagegen. Aber leider haben wir keine Kamera hier.«

»Das macht nichts, meine Kollegen bringen eine mit. Sie müssen jeden Moment hier sein.« Während sich nach und nach alle versammelten, stand Jon einen Augenblick still und legte die Hand auf die Tischplatte. Zu meiner Verwunderung strahlte er. »Ich liebe dieses Haus!«

»Hier gibt es ja auch fast nichts Elektronisches. Natürlich gefällt es dir«, gab ich zurück. Die Männer schoben sich an uns vorbei und stellten sich auf die andere Seite des Raumes. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich kurz zu Jon hinunterzubeugen. »Babe?«

»Nicht jetzt«, flüsterte er gequält zurück. Das Lächeln war plötzlich wie weggewischt. Er blickte mir unverwandt in die Augen, darauf bedacht, nicht nach rechts und links zu schauen. »Ich muss doch arbeiten. Ich kann nicht … Ich will ihn gar nicht erst ansehen.«

Ach du lieber Gott. Na dann. Am liebsten hätte ich ihn hier rausgebracht, irgendwo hingesetzt, wo er das alles in Ruhe auf sich wirken lassen konnte. Aber die Situation gab das nicht her. Wir mussten einen Leichnam auffinden. Leute mussten vernommen und entlastet werden, damit sie weiterermitteln konnten. Es ging jetzt um jede Minute, und wir hatten bereits fünf Stunden verloren, bis wir überhaupt hier angekommen waren. Ich wusste es, und er wusste es auch.

Jonathan Bane hatte Nerven wie Stahlseile. Das sah ich nicht zum ersten Mal. Er hob den Kopf und schob seine persönlichen Gefühle beiseite, trotz des Schocks, der ihm zweifellos noch in den Knochen saß. Kurz ballte er die Fäuste, während er um Fassung rang. Dann legte er den Kopf schief und nickte mir ermutigend zu.

»Ich hab’s im Griff.«

Ich lächelte zu ihm hinunter. »Und wenn nicht, dann hast du mich.«

KAPITEL 2

DONOVAN

Carol folgte Jon ins Haus, während er unseren Kollegen berichtete, was wir wussten. Heute waren nur Sho, Carol und Jim mitgekommen. Es war ungewohnt, Sho ohne Garrett zu sehen – normalerweise fand Garrett immer einen Grund, mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber Jim versuchte, so wenig Leute wie möglich an den Wochenenden zu beschäftigen. Sho trug die Kameratasche und das Stativ, und ich half ihm beim Aufbau, damit er sich darauf konzentrieren konnte, allen Anwesenden Schutzhüllen für ihre Handys auszuhändigen.

Ich hörte Cain alle einander vorstellen, dann folgten Begrüßungen und Händeschütteln. Mehr als einer der Kollegen sah zweimal hin, als Dr. Bane vorgestellt wurde. Ich fing ihre Blicke auf und schüttelte diskret den Kopf, mit der stummen Bitte, nicht weiter nachzuhaken. Später würde es zweifellos ein Anlass für Fragen sein, aber für den Moment würden sie es nicht weiter thematisieren.

Nach der Vorstellungsrunde kamen die üblichen Hinweise wegen Jon und der elektronischen Geräte. Sho fasste sich kurz und erwähnte nur das Wichtigste. Hoffentlich würde später niemand leichtsinnig werden.

»Wie wollen Sie vorgehen, Captain?«, fragte Jim, nachdem alle um den Esszimmertisch herum Platz genommen hatten. »Jon braucht sicher nicht mehr als zwei Minuten mit jedem Ihrer Leute. Er muss ihnen eigentlich nur eine einzige Frage stellen. Aber wir können natürlich auch eine komplette Vernehmung vornehmen, die den Aufenthaltsort zur Tatzeit einschließt.«

»Ich brauche Informationen über die Ereignisse und die zeitlichen Abläufe«, bestätigte Cain zufrieden. Er zog das Jackett aus, da es im Haus warm war, und strich sich die schütteren grauen Haare zurück, die von der kühlen Brise leicht zerzaust worden waren. »Gute Idee, Jim. Lassen Sie es uns so machen. Jonathan, einverstanden?«

»Natürlich, Sir.« Jon zeigte mit einladender Geste zum oberen Ende des Tisches. »Waren Sie selbst hier, als es passierte?«

»Nein«, antwortete Cain. »Neil, Caleb und Victoria waren am Tatort. Victoria hat unsere Zeugin ins Krankenhaus begleitet, weil sie ohnmächtig geworden ist. Aber sie ist schon wieder auf dem Weg hierher.«

Jon nickte und wandte sich seinem Vater zu. »Dann will ich mal mit …« Hier stockte er, unsicher, wie er ihn ansprechen sollte. »Lassen Sie uns mit Ihrem Gerichtsmediziner beginnen.«

Caleb Bane war damit einverstanden und nahm am anderen Ende des Tisches Platz, sodass die Kamera ihn einfangen konnte. Er trug immer noch weiße Schutzkleidung, hatte allerdings inzwischen die Handschuhe abgestreift. Hier, bei der gedämpften Beleuchtung, sah er blass aus. Jon und sein Vater wirkten beide angespannt und verlegen. Der Gerichtsmediziner wandte den Blick nicht von seinem Sohn. Er schien jedes Detail in sich aufzunehmen. Jon war bemüht, einen professionellen Eindruck zu machen, aber ich bemerkte die kleinen Anzeichen für sein Unbehagen ganz genau: Er saß auf der Stuhlkante, hatte die Fäuste im Schoß geballt und starrte an Banes rechter Schulter vorbei, anstatt ihn direkt anzuschauen.

»Okay, Jon.« Damit gab Sho ihm das Zeichen, anzufangen.

Jon ratterte seine Lizenznummer herunter, und Caleb Bane nannte seinen Namen, seinen Beruf, das Datum und die Uhrzeit. Ich hielt mich im Hintergrund, an Shos Seite, der die Kamera bediente. Alle verhielten sich still, um keine störenden Hintergrundgeräusche zu verursachen.

Während einer Lesung ließ Jon die betreffende Person normalerweise keinen Moment aus den Augen. Für ihn war es, als würde er ein Buch lesen – er betrachtete die Energiebahnen, eine nach der anderen, als wären es Textzeilen, und seine Augen standen keine Sekunde still. Jetzt aber warf er nur einen kurzen Blick auf die Meridiane seines Vaters – und plötzlich verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, bevor er rasch wieder einen gezwungen neutralen Gesichtsausdruck aufsetzte. Er musste etwas wahrgenommen haben, das ihm zusetzte. Statt weiter hinzuschauen, tat er das genaue Gegenteil: Er starrte ins Leere und ignorierte den Rest.

Das war alles andere als gut. Wenn Jon sich schlichtweg weigerte, eine Lesung an Bane vorzunehmen, sah er entweder etwas, das ihm nicht gefiel, oder er war immer noch zu zornig oder zu verletzt, um sich dazu überwinden zu können. Verdammt, ich wollte, ich könnte ihn hier rausziehen.

»Dr. Bane, bitte berichten Sie, was sich heute Morgen abgespielt hat.«

»Ich wurde gegen acht Uhr morgens zum Tatort eines Mordes gerufen«, begann der Gerichtsmediziner ruhig und besonnen. Dabei konnte ich sehen, dass auch er die Hände im Schoß zu Fäusten geballt hatte. »Ich habe meine Ausrüstung ins Einsatzfahrzeug geladen und bin hierhergefahren. Detective Singleton hat mich an der Haustür empfangen und mich in den ersten Stock begleitet. Officer Ware war mit der weinenden Tochter des Opfers im Nebenzimmer und versuchte, sie zu beruhigen. Ich habe mehrere Fotos von dem Opfer und seiner Position auf dem Bett gemacht, dann die Bettdecke zurückgeschlagen. Es waren zwei Wunden zu erkennen, die von einem Messer stammten: ein Einstich unterhalb der Rippen und ein Schnitt durch die Kehle. Den Rücken konnte ich noch nicht untersuchen. Interessanterweise war wenig Blut zu sehen, fast überhaupt keins, um genau zu sein. Keinerlei Blutspritzer, obwohl das bei dem Kehlschnitt eigentlich gar nicht sein kann. Ich habe weitere Fotos gemacht und eine Blutprobe genommen, außerdem eine Probe aus dem Wasserglas neben dem Bett. Das Opfer war ein kräftiger Mann und zu schwer, als dass ich ihn alleine in einen Leichensack hätte umlagern können. Also ging ich noch mal hinunter, um Detective Singleton um Hilfe zu bitten. Als wir wieder oben ankamen, war der Leichnam verschwunden.«

»Wie lange hat es gedauert, Detective Singleton zu holen?«

Bane überlegte kurz. »Eine Minute, vielleicht zwei. Er war draußen, und ich bin auf die Veranda gegangen, um ihn zu rufen.«

»Und es war niemand anders oben außer den beiden Frauen?«

»Das ist richtig. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber ganz offensichtlich muss ja doch noch jemand da gewesen sein, der mit der Leiche auf und davon …«

Ein lautes Scheppern hinter mir ließ uns alle zusammenzucken. Es war eindeutig ein metallisches Geräusch, und mein erster Gedanke war, dass etwas von der Ausrüstung heruntergefallen sein musste. Ich drehte mich ruckartig nach dem Geräusch um, nur um festzustellen, dass es etwas völlig anderes gewesen war. Der Besen des Kaminsets war umgefallen und auf den Holzfußboden geknallt. Wir starrten alle darauf, dann wechselten wir verblüffte Blicke.

»Warum ist der denn umgefallen?« Carol hob ihn auf und stellte ihn wieder an seinen Platz. »Es war doch gar niemand in der Nähe.«

»Der Legende zufolge ist in der Familie einmal jemand mit einem Schürhaken umgebracht worden«, bemerkte Cain nebenbei, ohne hochzuschauen. Auf seinem runden Gesicht zeigte sich nur ein kurzes Aufflackern von Neugier.

Diese Information machte mich mehr als nervös. Von mir aus hätte er sich die Bemerkung ruhig sparen können. »Hier?«

»Nein, ich glaube, im Salon«, antwortete Cain geistesabwesend. »Ich habe als Teenager manchmal Führungen hier gemacht. Als Ferienjob. Komisch, wie viel man vergisst mit den Jahren. Damals hatte ich das alles im Kopf. Gut, also, die Unterbrechung soll uns nicht weiter stören. Fahren Sie bitte fort, Mr Bane.«

Ich klopfte unauffällig ein paarmal mit der Hand auf mein Herz, um meiner Nervosität Herr zu werden. Nein, ich mochte dieses Haus ganz und gar nicht. Es würde mir noch einen Herzinfarkt bescheren. Gleichzeitig war ich heilfroh, dass Garrett nicht mitgekommen war. Er hätte hier so viel Munition sammeln können, dass es schon nicht mehr witzig war.

Jon schien die Störung nicht besonders zu irritieren. Er fuhr einfach mit der Vernehmung fort. »Dr. Bane, ist die Treppe, die Sie benutzt haben, Ihres Wissens die einzige Treppe zum Obergeschoss?«

»Nein, es gibt noch eine zweite, die von oben zum früheren Dienstbotentrakt hinunterführt. Heute endet sie direkt in der Küche. Aber sie ist ausgesprochen schmal und wackelig. Ich kann mir kaum vorstellen, wie man einen Leichnam dort hinunterschaffen sollte, erst recht einen, der knapp hundertvierzig Kilo wiegt. Ehrlich gesagt hatte ich auch schon überlegt, wie ich ihn die große Treppe hinunterbekommen sollte.«

»Mir ist bewusst, dass die Frage redundant klingt. Bitte antworten Sie trotzdem. Haben Sie die Leiche entwendet?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wer es getan hat?«

»Keine Ahnung.«

Jon nickte zufrieden. »Danke. Fürs Protokoll: Der Zeuge hat während der gesamten Aussage die reine Wahrheit gesprochen.«

Sho hielt mit erhobenem Daumen die Kamera an. »Das war’s bei Ihnen, Dr. Bane. Der Nächste bitte!«

»Ist ja wie beim Casting«, murmelte Carol halblaut.

Ich verkniff mir das Lachen, als ich zu ihr hinuntersah. »Stimmt.« Im Tonfall eines Werbesprechers sagte ich: »Werden auch Sie ganz einfach zum Leichendieb! Besuchen Sie das nächste Casting in einem Spukhaus in Ihrer Nähe!«

Mit einem Schnauben schlug sie mit dem Handrücken nach mir. »Sei still. Das ist so was von böse! Aber jetzt mal ernsthaft. Wie konnte irgendjemand unbemerkt eine so schwere Leiche auf einer schmalen Treppe an drei Cops vorbei hier rausschmuggeln?«

»Es ist wie in einem dieser klassischen Krimis, in denen die Leiche in einem hermetisch verschlossenen Raum gefunden wird«, antwortete ich nachdenklich. Ich war zwar durchaus in der Lage, ein solches Gewicht wegzutragen, aber ich wollte nicht wie ein Angeber klingen, also sagte ich es nicht laut.

Carol musterte mich von Kopf bis Fuß, dann spekulierte sie: »Ich wette, du könntest etwas so Schweres von A nach B transportieren.«

Zum Glück hatte ich Carol, die solche Sachen für mich aussprach. »Wahrscheinlich schon, ja.«

Natürlich hatte Jon das gehört und gab vom Tisch aus seinen Senf dazu: »Mich hat er schon zweimal Treppen runtergetragen. Ich wiege siebzig Kilo, und das doppelte Gewicht ist auch denkbar. Trotzdem, und ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, ich glaube kaum, dass ein anderer Anwesender das könnte.«

»Keine Sorge«, antwortete Neil Singleton, während er sich auf den Stuhl plumpsen ließ, den sein Kollege gerade frei gemacht hatte. Er hatte inzwischen die Lederjacke ausgezogen, und man konnte sein Schulterhalfter sehen, in dem eine Glock steckte. Er war schlank und fit und hatte auch in der Situation als Befragter eine selbstbewusste körperliche Präsenz. Er setzte sich so selbstverständlich auf den Stuhl, als sei er hier zu Hause. »Das können nicht viele. Was wahrscheinlich bedeutet, dass wir nach zwei Personen fahnden.«

»Oder sogar drei, je nachdem, wie viel Kraft sie haben. Leblose Körper sind schwer zu manövrieren.« Cain sah nicht sonderlich erfreut aus. Es warf ja auch kein besonders gutes Licht auf sein Revier, dass ihnen eine Leiche abhandengekommen war.

»Okay, Detective, Sie sind dran.« Jon lockerte seine Nackenmuskeln, dann bedeutete er Sho, die Kamera wieder einzuschalten. Caleb Bane stand neben dem Tisch und schaute zu, offen fasziniert von seinem Sohn. Jon ignorierte ihn eisern. Der Detective warf Bane interessanterweise einen warnenden Blick zu und machte neben dem Oberschenkel eine Geste, die wohl so etwas bedeuten sollte wie: Bleib cool, Mann. Diese beiden Männer waren auf jeden Fall mindestens gute Freunde.

Jon hatte das Intermezzo entweder komplett übersehen, oder er war weiterhin fest entschlossen, alles, was nichts mit dem Job zu tun hatte, auszublenden. Er ging wieder Lizenznummer, Datum und Zeit durch, dann begann er mit der Befragung. »Detective Singleton, bitte berichten Sie, was sich abgespielt hat.«

»Wir wurden gegen sieben Uhr angerufen. Die Tochter des Opfers, Maggie Witherspoon, hatte den Notruf getätigt. Sobald Officer Ware und ich vor Ort waren und den Tod von Richard Witherspoon festgestellt hatten, rief ich unseren Gerichtsmediziner dazu. Er kam gegen halb neun an. Officer Ware saß bei der Tochter, um ihre Aussage aufzunehmen, und ich bin nach draußen gegangen, um nach Anzeichen für gewaltsames Eindringen zu suchen. Etwa um Viertel vor neun rief mich Dr. Bane zu Hilfe, um die Leiche zu bewegen. Ich habe ihn nach oben begleitet, nur um festzustellen, dass der Leichnam fehlte.«

Jon nickte zu dem sachlichen Bericht. »Ich verstehe. Gab es irgendwelche Hinweise darauf, dass sich noch weitere Personen auf dem Gelände aufhielten?«

»Nein, aber ich war auch noch nicht um das ganze Haus gegangen, als ich gerufen wurde.«

»Gab es Einbruchsspuren?«

»Das wäre offen gestanden gar nicht notwendig gewesen. Ich habe drei Fenster und eine Seitentür vorgefunden, die nicht verschlossen waren.«

Autsch. Das war leichtsinnig. Andererseits wusste ich sehr wohl, dass die Leute auf dem Land ihre Türen oft unverschlossen ließen. Die Kriminalitätsrate war so niedrig, dass Abschließen gar nicht notwendig war.

»Detective, ich muss Sie das fragen: Haben Sie den Leichnam fortgebracht?«

»Nein. Ich weiß auch nicht, wer es getan hat, aber Sie können gewiss sein, dass ich es herausbekommen werde.« Singleton hatte einen Glanz in den Augen, der für den Mörder nichts Gutes verhieß.

»Danke sehr.« Jon schien erleichtert zu sein, als er in die Kamera sprach: »Der Zeuge hat während der ganzen Befragung die Wahrheit gesagt. Detective, Sie sind entlastet.«

»Danke.«

Cain räusperte sich. »Mr Bane, ich habe es mir überlegt. Befragen Sie mich am besten auch gleich. Ich möchte nicht, dass später jemand moniert, dass ich nicht vernommen wurde. Bringen wir es hinter uns.«

»Natürlich, Captain. Nehmen Sie Platz.«

Es war zwar fast überflüssig. Wir wussten alle, dass der Captain nichts damit zu tun hatte. Er hatte aber recht – die Interne Revision konnte ihm später einen Strick daraus drehen, falls sie den Fall aufrollten. Jon wiederholte ein weiteres Mal Lizenznummer, Datum und Uhrzeit, als hätte er das nicht schon mehrmals getan.

»Captain, waren Sie hier, bevor Sie von Detective Singleton angerufen wurden?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo sich der verschwundene Leichnam befindet?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wer die Leiche entwendet haben könnte?«