Mein wunderbarer Eiscremesommer - Sue Watson - E-Book

Mein wunderbarer Eiscremesommer E-Book

Sue Watson

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Beschreibung

Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Eiscreme draus!

Kaum sind die Kinder aus dem Haus, hat sich auch der Mann aus dem Staub gemacht. Das Leben ist kein Zuckerschlecken für Ella: ohne Job, ohne Partner, bald wohnungslos und als Sitterin eines kleinen Hündchens, das besser gekleidet ist als sie selbst. Doch als Ella den alten Eiscremewagen ihrer Tante erbt, ergreift sie kurzerhand die Chance für einen Neuanfang. Sie packt ihre Tasche und macht sich auf den Weg ins malerische Küstenörtchen Appledore in Devon. Dort möchte sie die glücklichen Sommer ihrer Kindheit wiederaufleben lassen. Der sympathisch-chaotische Anwalt Ben, der sich um den Nachlass von Ellas Tante kümmert, hat auch schon eine Idee, wie man den Wagen und Ellas Leben wieder in Gang bekommen könnte. So stürzt sich Ella in das Geschäft mit den sahnigen Träumen und erlebt den Sommer ihres Lebens.

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Seitenzahl: 488

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Zum Buch

Ein Ex-Mann, der ihr Haus verkaufen will, eine plötzliche Kündigung, zwei Teenager, die bald aus dem Haus sind, und eine Mutter, die ein ausschweifendes Online-Dating-Leben pflegt: Für Ella wird es dringend Zeit für einen Tapetenwechsel. Als Tante Sophia aus Devon ihr den alten Eiswagen namens Reginaldo hinterlässt, ist Ella gleich Feuer und Flamme. In Sophias Eiscafé in dem kleinen Dorf Appledore mit seinen pastellfarbenen Häuschen und dem blauen Meer hat sie schließlich die schönsten Sommer ihrer Kindheit verbracht. Mit Reginaldo müsste sich das Geschäft doch wieder beleben lassen. Nur Ellas Mutter Roberta hegt immer noch einen Groll gegen ihre Schwester Sophia und ist gar nicht begeistert von dieser Idee. Dafür bekommt Ella Hilfe von Nachlassverwalter Ben, der eigentlich lieber tauchen geht, als in der Kanzlei zu sitzen und ihr sofort den Kopf verdreht. Schon bald schwärmen alle von Ellas traumhaften Eiskreationen. Doch dann kündigt sich unerwarteter Besuch an, und Ella muss feststellen, dass sich hinter ihrem Erbstück noch viel mehr verbirgt, als sie geahnt hätte …

Die Autorin

Sue Watson war Fernsehproduzentin bei der BBC. Irgendwann entschied sie sich jedoch, ihre Fernsehkarriere an den Nagel zu hängen, einen rosafarbenen Laptop zu kaufen und einen Roman zu schreiben. Die Autorin kommt ursprünglich aus Manchester, wohnt aber heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Worcestershire.

Lieferbare Titel

Alle Jahre Liebe

SUE WATSON

ROMAN

Aus dem Englischen

von Evelin Sudakowa-Blasberg

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Ella’s Ice Cream Summer erschien erstmals 2017 bei Bookouture.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 06/2020

Copyright © 2017 by Sue Watson

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München,

unter Verwendung von Alamy Stock Photo/Loop Images Ltd,

Gettyimages/jamielawton, FinePic®, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22814-9V001

www.heyne.de

Für Delilah

Kapitel Eins

Facebook und Beerdigungen mit vierundvierzig

»Heute war Kim Kardashian im Laden«, sagte ich, während ich mir etwas Gemüse nahm und dabei lächelte wie eine Frau in einer Brühwürfel-Reklame.

Niemand blickte auf.

Ich hatte für heute Abend eigentlich ein »gemütliches Familienessen« geplant, doch meine beiden halbwüchsigen Kinder und meine Mutter (jawohl, meine Mutter!) daddelten nur auf ihren verdammten Smartphones herum. Seit sie am Tisch Platz genommen hatten, starrten alle drei gebannt auf ihre Displays, und dabei hatte ich doch mein köstliches, ziemlich aufwendiges Hühnerfrikassee gekocht.

»Hört ihr? Heute kam Kim im Laden vorbei, um ein Kleid zu kaufen. Kanye war auch dabei«, fügte ich hinzu. »Sie wollte etwas für das British-League-Spiel nächsten Freitag haben, etwas Blaues.«

»Oh, blau, wie hübsch …«, murmelte Mum und blickte weiterhin stirnrunzelnd auf das Display, das sie sich dicht vors Gesicht hielt.

»Setz deine Brille auf, Mum, du machst dir noch die Augen kaputt«, sagte ich und fragte mich gleichzeitig, wann unsere Rollen sich vertauscht hatten. Es missfiel mir, eine nörgelnde Mutter, geschweige denn eine nörgelnde Tochter zu sein, doch es kam mir vor, als wäre ich derzeit jedermanns Mutter und würde immer nur geben, ohne etwas zurückzubekommen.

Mum blickte auf und sah mich an. Endlich eine Reaktion!

»Gehe ich morgen auf eine Beerdigung?«, fragte sie, die Ahnungslose spielend.

»Nein, die Beisetzung ist am Dienstag, Mum«, erwiderte ich, während ich im Stillen dachte: nicht schon wieder!

»Oh, dann gehe ich am Dienstag …«

»Richtig, am Dienstag wird Sophia bestattet.«

»Sie hat nie gesagt – hat sie dich auch eingeladen?«

»Ja, sie ist deine Schwester, also meine Tante.«

»Das weiß ich, du Dummchen«, sagte sie, während sich ihre Miene verdüsterte. »Sie hat dich also eingeladen?«

»Nein, bedauerlicherweise ist sie gestorben, ehe sie die Einladungen verschicken konnte«, antwortete ich.

Mums Schwester Sophia war vergangene Woche ganz plötzlich gestorben, und obwohl Mum seit Jahrzehnten mit ihr zerstritten war, hatte ihr Tod sie schwer getroffen – wenngleich man ihr das im Moment nicht anmerkte, weil sie mit ihrem Smartphone beschäftigt war. Ich fragte mich, ob sie sich schuldig fühlte, weil sie ihre Schwester so lange nicht gesehen hatte. Offenbar war Sophia längere Zeit krank gewesen, doch Mum hatte davon nichts gewusst und weiterhin ihren alten Groll gehegt und längst vergangene Kränkungen am Leben erhalten. Als der Telefonanruf mit der Todesnachricht kam, bekam Mum einen Schock und weinte. Das überraschte mich; mir war nicht klar gewesen, wie viel Sophia ihr bedeutet hatte, da sie so gut wie nie über die Vergangenheit sprach. Als Kind hatte ich Sophia gut gekannt. Ich war traurig über ihren Tod, hoffte jedoch, Mum könne nun endlich darüber sprechen, was damals vorgefallen war. Der Kontakt zwischen den beiden war seit meiner Jugend abgebrochen, und wann immer Sophias Name erwähnt wurde, streikte Mums Gedächtnis ganz plötzlich. Ihr »Gedächtnisverlust« war nicht echt, er machte sich nur bei nahezu jedem Gespräch bemerkbar, das irgendwie mit Sophia zu tun hatte. Im einen Moment ging es Mum prächtig, sie war völlig klar und konnte sich an alles erinnern, ob es nun fünf Minuten oder fünfzig Jahre her war, doch bei der bloßen Erwähnung von Sophia überfiel sie auf einmal das große Vergessen. Das war nicht weiter tragisch, nur extrem nervig, vor allem, wenn es darum ging, die Details der Beisetzung zu besprechen – und zwar jeden Tag aufs Neue, da sie scheinbar immer wieder alles vergaß.

Ununterbrochen über das Display wischend, fuhr Mum mit ihren nebulösen Andeutungen fort. »Ella, letzte Woche war doch, glaube ich, auch eine Beerdigung …«

Ich blickte zu den Kindern, in der Hoffnung auf emotionalen Beistand – keine Spur davon. Welch Überraschung!

»Ja, Mum«, sagte ich, »das war Gladys’ Beerdigung.« Auf einmal tat sie mir leid; sie hatte innerhalb von drei Monaten drei Freundinnen und ihre Schwester verloren. War es das, was einen im Alter erwartete?

»Sie sterben wie die Fliegen«, seufzte sie. »Bei diesem Tempo wird das gesamte Women’s Institute bis August ausgelöscht sein … Aber diese Mini-Quiches bei Gladys’ Leichenschmaus waren wirklich fein.«

»Nichts ist würdevoller als ein Abgang mit Mini-Quiches«, erwiderte ich grinsend.

Sie kicherte; wir konnten immer noch über dieselben Dinge lachen, auch wenn ihr Humor mitunter recht eigen war.

In den letzten Monaten war meine Mum zu einer Expertin an der Leichenschmaus-Buffet-Front geworden. Sie hatte sogar begonnen, Noten von eins bis zehn für die Bewirtung zu vergeben und sich Notizen für ihre eigene Gästeliste und die Sitzordnung zu machen, wenn es einmal so weit sein würde.

»Wo wir gerade dabei sind«, sagte sie und blickte von ihrem Hühnerfrikassee auf. »Die von Nummer zweiundvierzig will ich auf keinen Fall auf meinem Leichenschmaus dabeihaben, sie würde uns arm fressen. Hast du gesehen, wie fett sie geworden ist? Ich bin mit ihr nie warm geworden, hat sich immer für etwas Besseres gehalten.«

»Keine Angst, Mum, deine Gästeliste wird einer genauen Sicherheitsprüfung unterzogen«, sagte ich ironisch, doch sie hörte gar nicht zu.

»Dort habe ich ja Eric nach fünfundvierzig Jahren wiedergetroffen, du weißt schon, auf Gladys’ Beerdigung. Aber diese Eier-Sandwiches – wirklich peinlich!«

»Stimmt, diese Eier-Kresse-Geschichte war wirklich daneben. Aber dafür hast du Eric wiedergesehen.«

Die einzigen gesellschaftlichen Ereignisse, an denen ich in diesem Jahr bisher teilgenommen hatte, waren die Bestattungen von Mums Freunden – und es war bereits Juni. Keine Frage, ich fiel definitiv nicht durch meine spektakuläre Freizeitgestaltung auf.

»Hm, hoffentlich ist bei Sophia das Buffet besser«, murmelte sie. »Jedenfalls ohne so albernen Schnickschnack wie Mini-Quiches. Sophia hatte ein Faible für die traditionelle italienische Küche, es wird also vielleicht leckere Pasta geben.«

Ich nickte. »Da habe ich ja etwas, worauf ich mich freuen kann«, sagte ich trocken. War das alles, was mich noch erwartete? Ich war erst vierundvierzig, und mehr sollte das Leben nicht für mich bereithalten, als meine Mutter zu Beisetzungen zu begleiten, raffinierte Kanapees auf einer Party für die Toten zu verspeisen und anschließend gemeinsam darüber zu lästern? Ich hätte jetzt gern geweint … und Gin getrunken.

Obwohl Mum vorgab, es ginge ihr bestens, hatte Sophias Tod sie in ihren Grundfesten erschüttert. Die Entfremdung der Schwestern war eine rätselhafte Angelegenheit; nachdem sie sich immer sehr nahegestanden hatten, gerieten sie anscheinend, als ich ein Baby war, wegen einer Packung Teebeutel in Streit, was einen Knacks in ihrer Beziehung verursachte, der schließlich, als ich zwölf war, zu einem völligen Bruch führte. Es ergab keinen Sinn. Mir war immer unbegreiflich gewesen, wie ein Zank wegen einer Packung Teebeutel irgendwann in den 70ern so tiefgreifende Auswirkungen auf eine Familie haben konnte. Doch Mums Reaktion auf den Tod ihrer Schwester zeigte mir, dass der Riss in ihrer Beziehung viel tiefer gegangen war, als sie jemals offenbart hatte.

Nun war die ganze Sache wieder hochgekommen, und ich hoffte, endlich zu erfahren, was tatsächlich zwischen den beiden vorgefallen war. Bisher konnte ich diesbezüglich noch keinen Erfolg vorweisen, da Mum sich weigerte, darüber zu sprechen, oder sich auf ihr lückenhaftes Gedächtnis herausredete, was ich ihr keinen Moment glaubte.

Man konnte nur dann bedenkenlos über Sophia sprechen, wenn das Gespräch um jene Sommer kreiste, die wir in Sophias Eiscafé in dem kleinen Küstenort Appledore in Devon verbracht hatten. Mum und Sophia waren als Kinder mit ihren Eltern von Italien dorthin gezogen, und Mum liebte es, von den Strandspaziergängen zu erzählen, den kauzigen Typen im Dorf und vor allem von den verschiedenen Eissorten, die sie noch von Hand hergestellt hatten. An all dies erinnerte sie sich bis ins kleinste Detail, aber warum sie sich mit ihrer einzigen Schwester überworfen hatte, war ihr angeblich entfallen.

Ich hatte meine eigenen Erinnerungen an wundervolle Sommerferien in der Kindheit, als ich meiner Tante beim Herstellen der Eiscreme »half«, während ich ihren Geschichten über Sorrent lauschte, wo die »Zitronen, so groß wie dein Kopf« waren. Was die Monsterzitronen betraf, war ich etwas skeptisch, aber Mum bestätigte diese Aussage, und ihre Augen wurden jedes Mal feucht, wenn sie über ihren Heimatort sprach. Sophia war vier Jahre älter als Mum gewesen und bereits elf Jahre alt, als sie Sorrent verließen. Mum schien es immer zu wurmen, dass Sophia sich selbst als »italienischer« betrachtete.

»Wild herumzufuchteln und alle fünf Minuten ›Mamma mia‹ zu schreien, macht einen noch nicht zur Italienerin«, pflegte sie zu sagen. Doch Sophias Akzent, ihre Gestik und der ständige Wechsel zwischen Englisch und Italienisch beeindruckten mich als kleines Kind so sehr, dass ich immer dachte, ich sei in Italien, wenn ich sie in Devon besuchte. Und später liebte ich es, ihren Erinnerungen an die Heimat zu lauschen. »Wir saßen nach der Schule meistens draußen in der Sonne, die das ganze Jahr über schien, und tranken Zitronen-Granitas und schleckten Erdbeer-Gelato«, erzählte mir Sophia oft, wohingegen Mum nicht annähernd so viele Erinnerungen an »die alte Heimat«, wie sie es nannte, hatte. Entsprechend war Mums Interpretation ihrer »italienischen Kultur« von Mafioso-Elementen durchwoben, die sie aus Der Pate, Die Sopranos und zuletzt aus Mob Wives herausgefiltert hatte. Ihr Mafioso-Repertoire war bunt gemischt, aber die meisten Aussprüche verstand sie wahrscheinlich gar nicht in ihrer vollen Bedeutung, sondern mochte einfach nur, wie sie sich anhörten. Meistens war es harmlos, doch im Ladies Luncheon Club war es nicht besonders gut angekommen, als sie Dorothy Ramsbottom in leicht drohendem Tonfall mitteilte: »Man kann mit einem freundlichen Wort und einer Waffe mehr erreichen als nur mit einem freundlichen Wort.«

Obwohl Sophias italienischer Akzent echter (und weniger von New-Jersey-Slang gefärbt) war als der meiner Mutter, waren beide Frauen sich sehr ähnlich und wechselten in einen melodischen Singsang über, wann immer sie von Italien sprachen. In ihren Stimmen hörte ich das Blätterrascheln der Zitronenbäume im Wind, spürte eine warme Brise, die über das Mittelmeer wehte, und brütend heiße Sommertage, an denen nur erfrischendes, fruchtiges gelato Linderung verschaffte.

Meine Großeltern waren nach dem Krieg mit den beiden Mädchen von Italien nach Devon gezogen. Mein Großvater, der aus Devon stammte, hatte meine italienische Großmutter kennengelernt, als er in Italien stationiert war, und die Familie schließlich »zurück nach Hause«, nach Appledore, überführt, einem verschlafenen Dorf im Norden von Devon. Meine Großmutter konnte fantastisches gelato machen, und so machten sie sich die aufblühende Jugendkultur der Sechziger zunutze und eröffneten Caprioni’s Eiscafé.

Als meine Großeltern starben, hinterließen sie das Eiscafé ihren Töchtern, und beide Schwestern arbeiteten dort einträchtig zusammen, bis Mum mich bekam und Dad von seiner Firma nach Manchester geschickt wurde. Also zogen wir in den Norden, Sophia zahlte Mum aus und bemühte sich mit ihrem Gatten Reginald weiterhin darum, das Eiscafé zu einer lokalen Attraktion zu machen. Tatsächlich kamen die Leute meilenweit angereist, um Sophias selbst gemachte Eiscreme und ihre exotischen Eisbecher zu kosten.

Ich schwelgte gerade in Erinnerungen an den aromatischen Geschmack von Aprikosen- und Amaretti-Eiscreme, als die Stimme meiner Mutter meine Tagträumereien unterbrach. »Ella, meinst du, sie würden Barbra Streisand spielen?«, fragte sie, während ich mir noch etwas Frikassee nahm, von dem seltsamerweise kaum noch etwas da war, obwohl die Kinder ihre Blicke nicht von den Displays genommen hatten.

»Wer würde was?«

»Ich meine am Dienstag, bei Sophias Beisetzung. Dein Dad und ich haben ›The Way We Were‹ geliebt; sie könnten es spielen, während ich das Krematorium verlasse.«

Ehe ich sie darauf hinweisen konnte, dass es an diesem Tag nicht um sie, sondern um Sophia ging, klingelte ihr Telefon. Ihr Blick saugte sich wieder am Bildschirm fest wie ein Alien, der zum Mutterschiff zurückkehrt.

»Nan, sextest du Eric schon wieder?«, fragte Josh, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen.

»Das reicht, Josh, deine Nan würde so etwas nie …«

»Doch, wieso nicht? Josh hat mir gezeigt, wie man mit dem Handy fotografiert, und dann habe ich Eric ein paar Fotos geschickt.«

Grimmig blickte ich zu Josh hinüber, der zufrieden vor sich hin grinste.

»Was für Fotos, Mum?«, fragte ich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen wollte. Ernsthaft, um sie musste man sich mehr Sorgen machen als um meine beiden Teenager.

»Ach, nur ein paar Nacktbilder.«

»Oh, Mum, nein …« Beinahe hätte ich mich an meinem Frikassee verschluckt. Behutsam legte ich ihr die Hand auf den Arm und machte mich bereit, Mum über die potentiellen Gefahren des Internets aufzuklären. Eigentlich hatte ich gedacht, dieses Gespräch mit Lucie, meiner neunzehnjährigen Tochter, oder sogar mit meinem achtzehnjährigen Sohn führen zu müssen, aber nicht mit meiner achtundsiebzig Jahre alten Mutter. Dann bemerkte ich das Grinsen auf ihren Gesichtern. Es war nur ein Scherz gewesen. Gott sei Dank.

»Ihr seid mir schon so Pappnasen«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Und Josh, nach dem Vorfall beim Women’s Institute hatte ich gehofft, du würdest Nan bei ihrem Vorhaben, das Internet zu erobern, nicht länger unterstützen.«

Seit Mum Joshs iPhone geerbt hatte, war es zu etlichen Missverständnissen und peinlichen Zwischenfällen gekommen. Besonders schlimm wurde es, nachdem Josh ihr weisgemacht hatte, Texting und Sexting seien das Gleiche, ja, es sei in der Tat technisch korrekt, beide Begriffe synonym zu verwenden. Man kann sich unschwer die Blicke vorstellen, die im Senioren-Computerkurs, in der Bücherei und im Ladies Luncheon Club gewechselt wurden. Der Knaller war, als ein Redner ins WI kam, um eine Diskussion über »Technologie und Texting für Anfänger« zu führen. Mum nahm das als Stichwort, um die Anwesenden im Raum darüber zu informieren, dass sie viele glückliche Abende mit »Sexting mit dem Pfarrer« verbracht habe.

Als Resultat erhielt ich einen Anruf von einem sehr besorgten Reverend James, der fürchtete, die Leute könnten den Eindruck gewonnen haben, er habe ein Verhältnis mit meiner Mutter.

Ich beruhigte den Pfarrer und entschuldigte mich überschwänglich bei den Damen des WI, doch solange Mum in Besitz dieses Smartphones war, würde das gewiss nicht das letzte Mal sein, dass ich die Wogen glätten musste. Ungeachtet des Aufruhrs, den sie verursacht hatte, fuhr Mum fröhlich damit fort, eine Schneise der Zerstörung durch die sozialen Medien zu schlagen. Und in Anbetracht der Beleidigungen, die sie vor Kurzem Dame Judi Dench getwittert hatte (Flüche und üble Schimpfwörter, die anscheinend für Donald Trump vorgesehen gewesen waren – die beiden sind ja so leicht zu verwechseln!), war es nur eine Frage der Zeit, bevor Twitter ihren Account sperren würde. Gott weiß, was die arme Dame Judi, ein nationales Heiligtum, empfunden hatte, als sie von meiner pöbelnden Mutter als »dicker orangefarbener Faschist« beschimpft wurde.

»Mum, ich sage nur, bitte prüf nach, wem du twitterst, bevor du einen Tweet abschickst, und stell keine Kommentare oder Fotos online, die nur für bestimmte Leute und nicht für die ganze Welt gedacht sind«, sagte ich zum hundertsten Mal.

»Keine Bange, ich bin nicht senil. Ich sagte doch, dass ich dieses Sexting mache«, erwiderte sie schnippisch.

»Mum, bitte sag mir, dass du mittlerweile den Unterschied zwischen Texting und Sexting kennst.«

»Kennst du ihn denn?«, warf Josh kichernd ein.

»Natürlich«, antwortete ich, auch wenn ich noch nie im Leben gesextet hatte.

»Und ich kenne ihn auch«, trompetete Mum. »Sexting ist, wenn jemand ein Foto eines riesigen Penis postet, oder?«

Oh, Gott, »riesig« und »Penis« gehören nicht zu den Wortpaaren, die du aus dem Mund deiner Mutter hören möchtest, vor allem nicht im Beisein deiner Kinder. Hilfesuchend blickte ich zu Lucie und Josh hinüber, warum wusste ich selbst nicht.

»Echt nervig, wenn Mütter und Großmütter über neue Technologie mitreden wollen«, grummelte Lucie, während sie anscheinend gerade ihrem Freund per Instagram den Laufpass gab – machte man das heutzutage so? Ich würde es gar nicht merken, wenn man über Instagram mit mir Schluss machte. Einen Moment dachte ich darüber nach. Tauchte plötzlich ein aggressives Emoji auf dem Bildschirm auf, oder kündete ein spezieller Klingelton vom Ende der Beziehung? Vielleicht »Hit the Road Jack« oder Chopins »Trauermarsch«?

Da saß ich nun als Hausherrin am Kopf der Tafel, doch statt angeregter Gespräche herrschte Schweigen, da meine Mum und die Kinder wieder in ihre digitalen Welten abgetaucht waren. Ich hatte angenommen, wenn die Kinder größer wären, würde alles einfacher werden und ich hätte wieder mehr Zeit für mich. Doch meine Mutter war im vergangenen Jahr bei uns eingezogen, nachdem sie sich anlässlich der TV-Sendung Stricly Come Dancing, einem Tanzwettbewerb mit Promis, im Argentinischen Tango versucht hatte und böse gestürzt war. Also lud ich sie ein, eine Weile bei uns zu wohnen. Ich hatte mit einigen Wochen gerechnet, doch jetzt, vier Monaten später, schien Mum sich immer noch sehr wohl bei uns zu fühlen und nicht die Absicht zu haben, in absehbarer Zeit auszuziehen.

Ich gebe zu, ich fand es sehr schwierig, wieder mit meiner Mutter unter einem Dach zu wohnen. Nichts, was ich machte, fand ihre Zustimmung, ob es nun darum ging, wie ich die Küche putzte, oder darum, wie ich Dosentomaten in eine Pastasoße kippte. Mum war eine hervorragende Köchin, und als mein Dad noch lebte, hatten sie jede Woche eine Dinnerparty gegeben, bei der sie am Kopf einer herrlich gedeckten Tafel thronte. Ihre Spezialität waren italienische Gerichte, brutzelndes Pollo Cacciatore, eine Art Huhn nach Jägerart, cremige Spaghetti Carbonara und köstliches Knoblauchbrot, für das man einen Mord begehen hätte können. Was das Kochen anging, hätte ich mich mit Mum niemals verglichen, doch ich hatte versucht, mich mit meiner Fertigsoße in Szene zu setzen. Mum durchschaute den Betrug sofort und brachte ihren Ekel deutlich zum Ausdruck, indem sie einen großen Bissen meines Huhns Parmigiana, Huhn mit Kräutern und pikanter Tomatensoße, in eine Serviette spuckte und »Che palle!« schrie, was auf Italienisch sinngemäß so viel heißt wie »Was für eine Scheiße!« Danach gab ich meine Versuche auf, sie zufriedenzustellen, und servierte unter der Woche nur schnelle Gerichte wie Spiegeleier mit Pommes. Mein kulinarisches Talent demonstrierte ich bei meinen Desserts und der selbst gemachten Eiscreme; das war dank meiner Sommerferien in Devon, als ich Tante Sophia im Eiscafé geholfen hatte, mein Spezialgebiet. Mum beschwerte sich nie über mein Zitronenbaiser-Eis oder mein Vanilleeis mit Karamellsoße, wobei ich nicht nur das Eis, sondern auch die Karamellsoße selbst zubereitete. Allerdings lobte Mum mich auch nie – ich musste einfach davon ausgehen, dass ein leerer Teller Zustimmung signalisierte.

»Mum, kannst du mir dreißig Pfund leihen?«, fragte Josh nun.

»Nein, weil ich bereits so gut wie alles für dich bezahle. Wenn es also nicht unbedingt nötig ist, werde ich das finanzielle Desaster, in dem ich mich gerade befinde, nicht durch weitere dreißig Pfund vergrößern.«

»Chill mal!«, bemerkte er lachend.

»Ich werde ›chillen‹, wenn du einen Begriff benutzt, der nicht direkt aus den Neunzigern stammt«, parierte ich unglaublich gekonnt. Zufrieden mit mir selbst, hob ich den Arm zu einem High Five, um Mum abzuklatschen, doch sie ließ mich nicht nur hängen, sondern duckte sich weg.

»Hey, Mum, lass mich nicht hängen. Klatsch mich ab.«

»Ach, Ella, wir klatschen nicht mehr ab, wir machen es mit den Fäusten.« Sie machte eine verächtliche Handbewegung und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Smartphone zu.

»Ich nehme an, das hast du von Josh«, sagte ich, während ich das Geschirr abräumte.

»Ja, Nan hat es dem Pfarrer mit der Faust gemacht, nicht wahr, Nan?«, meldete sich Josh zu Wort.

Ich schenkte ihm einen warnenden Blick, ehe ich in die Küche ging, denn ein Tischgespräch über Faustpraktiken ging eindeutig einen Schritt zu weit. Josh bemerkte meinen Blick jedoch gar nicht, da er zu beschäftigt damit war, Mum etwas auf dem Smartphone zu zeigen.

Durch das Zusammenleben mit Josh und Lucie war Mum in eine völlig neue Welt eingeführt worden, und ihre Wissbegierde überraschte mich. Da sie technisch nie besonders interessiert gewesen war und gerade einmal SMS schreiben konnte, bevor sie bei uns eingezogen war, hatte mich ihr neu gewonnener Silver-Surfer-Status einigermaßen verblüfft.

»Online bin ich nicht alt«, hatte sie gesagt, als ich sie fragte, warum sie unbedingt Facebook und Snapchat nutzen wolle. »Und ich bin auch nicht unsichtbar. Ich kann sein, wer und was ich will.«

Ich verstand ihre Argumente. Da sie durch die sozialen Medien neuen Auftrieb bekam, war ich bereit gewesen, einige Anfangsschwierigkeiten zu ertragen, von denen es dann aber eine ganze Reihe gab. Zum Beispiel, als ich beschloss, ins Fitnessstudio zu gehen, und Lucie bat, ein Vorher- und ein Nachher-Foto von mir in meiner ausgeleierten Unterhose und einem alten, graustichigen BH zu machen. Das war eine spontane Idee gewesen, um mich zu motivieren, und das Foto war natürlich nur für mich bestimmt, deshalb auch die nicht gerade betörende Unterwäsche. Leider machte Lucie sich nicht die Mühe, das Foto zu löschen, und als Mum Lucies Smartphone »erbte«, schaffte sie es, wenn auch nicht mit Absicht, mich mit Orangenhaut und alter Unterwäsche überall auf Facebook zu posten. Es dauerte Tage, bis ich es merkte – dafür hatten es mein Ex-Mann Richard und sein Flittchen sofort gesehen und gelikt. Unverschämtheit!

Und nicht nur dem Internet näherte sie sich ohne jede Vorsicht – mir wird jetzt noch ganz schlecht, wenn ich daran denke, wie sie bei einer Radio-Livesendung anrief, im Glauben, es handle sich um ihre Freundin Molly. Sie hatte es geschafft, die Zuhörer von Manchester Live darüber zu informieren, dass »Ella keinen Sex mehr hatte, seit ihr Mann sie verlassen hat – und das ist sieben Jahre her!«

Was sie nicht erzählt hatte, war die Tatsache, dass mein Zölibat selbst gewählt war (nun ja, beinahe). Die Kinder waren durch die Scheidung verstört genug gewesen, da wollte ich ihnen keinen neuen Mann vor die Nase setzen, sondern erst einmal dafür sorgen, dass sie gut versorgt und glücklich waren. In den vergangenen zwölf Jahren hatte ich nur das Ziel gehabt, im Haus wohnen zu bleiben, Ruhe zu bewahren und genug zu verdienen, um uns alle durchzubringen. Meine eigenen Wünsche und Träume hatte ich vorerst auf Eis gelegt.

Dass Mum nun hier war, bedeutete zwar zusätzlichen Stress, aber ich hatte ihr sehr viel zu verdanken. Sie war nicht nur eine gute Mutter, sondern auch immer für die Kinder da gewesen und hatte mich sehr unterstützt, als Richard mich vor zwölf Jahren verließ. Die Trennung von meinem Mann war extrem schmerzhaft gewesen, und dieser Schmerz hatte sich bald in bittere, gnadenlose Wut verwandelt. Mum hatte mich durch diese langen Nächte voller Tränen und Scham begleitet, mir gut zugeredet und mich getröstet, wie sie es immer getan hatte.

Ich hatte gehofft, wir würden nun einen schönen Abend im Kreis der Familie verbringen, zusammen essen und uns dabei erzählen, was wir alles erlebt hatten. Einfach ein wenig am Alltag der anderen teilhaben. Das Leben war kurz, die Kinder würden bald aus dem Haus sein und alles, was unser Zusammenleben ausgemacht hatte, würde mit ihnen verschwinden; das Leben, das ich in den letzten zwanzig Jahren geführt hatte, ging plötzlich in eine andere Phase über. Doch jegliche Hoffnung, die ich hinsichtlich eines perfekten Familienessens gehabt hatte, wie sie so oft in den Facebook-Einträgen meiner Freundinnen auftauchten, war in dem Moment geschwunden, als wir uns an den Tisch gesetzt hatten.

Im Lauf der Jahre war mir das Privileg zuteilgeworden, hautnah am Leben meiner Freundinnen teilzunehmen – mit fantastischen Restaurantbesuchen, fantastischen Mahlzeiten zu Hause, großartigen Ehemännern, spektakulären Fernreisen und sensationellen Kindern. Ich hatte mit ihren neuen Küchen gelebt, ihren Urlaubssonnenuntergängen und ihren Partys – und ich war es leid.

»Ich habe die Nase voll von meinen sogenannten Freunden auf Facebook, die mich ständig zumüllen«, hatte ich mich bei meiner Freundin Sue beschwert. »Es macht mir nichts aus, mit Fotos von Leuten bombardiert zu werden, die etwas erreicht haben oder die sich für einen guten Zweck von einem Hochhaus abseilen. Oder von mir aus ein süßes Welpenfoto. Aber wie kann jemand so von sich eingenommen sein, dass er glaubt, jemand interessiere sich für seinen neuen Herd? Hallo, geht’s noch?«

»Ja, ja, die Königinnen der Küche«, hatte Sue lachend erwidert. »Sie haben vielleicht einen brandneuen Herd, doch während sie ihre Fleischpastete ins Rohr schieben, schiebt ihr Ehemann seiner brandneuen Freundin etwas ganz anderes hinein.«

»Du redest über …«

»Tue ich nicht.«

»Nein, ich meine über Richard, Dick, meinen Ex. Er hat sich mit dieser Tussi vergnügt, während ich den ganzen Tag an diesem blöden Herd stand. Jetzt macht er sich auf Facebook wichtig, postet Fotos von ihrem protzigen Haus in Spanien, wie er mit ihr und ihren künstlichen Titten am Pool liegt.«

»Vergiss Dick und seine Tittenfrau. Du solltest auf Facebook lieber meinen Freunden folgen«, sagte Sue. »Die sind wenigstens ehrlich. Die meisten von ihnen verbringen ihre Samstagabende damit, heulend über ihren Fertiggerichten zu sitzen und über die Sinnlichkeit des Lebens zu klagen.«

»Sinnlosigkeit?«, sagte ich, denn Sue brachte Wörter oft durcheinander.

»Ja. Und glaub mir, wenn du zusiehst, wie Lily Johnsons Seite sich mit spielenden Katzen und einsamen Mahlzeiten in Endlosschleife füllt, heitert dich das wirklich auf – kalte Baked Beans auf Toast in Gesellschaft überdrehter Miezen. Im Vergleich dazu ist dein Leben dann der reinste Rummelplatz.«

Ich war sicher nicht die Einzige, die sich beim Anblick der frisierten Leben und retuschierten Fotos ihrer Freunde verschaukelt fühlte. Niemand konnte so viel Urlaub haben, so viele Restauranteinladungen, so viele »großartige« Treffen mit Freunden in deren gottverdammten brandneuen Küchen. Alles, was ich in meiner Küche machte, war abspülen, kochen, Geschirr wegräumen – das gäbe einen wahrlich interessanten Facebook-Eintrag ab! Es war nicht so, dass ich neidisch gewesen wäre – ich wollte keinen brandneuen Herd haben. Aber diese Online-Sonnenuntergänge gewährten mir Einblicke in eine Welt jenseits meiner Haustür und der kleinen Boutique, in der ich arbeitete. Sie gaben mir das Gefühl, ich würde etwas verpassen.

Alles hatte in den Neunzigern begonnen, als ich jung und sorglos war und mein Leben und meine Karriere noch vor mir hatte. Ich hatte so viele Pläne: Konditorin in Paris, Eiscreme-Königin in Rom, ein Süßigkeitenladen in London. Ich war mir nicht sicher, was ich machen wollte, aber es musste auf jeden Fall etwas mit süßen Leckereien zu tun haben. Dann traf ich diesen gut aussehenden, charmanten Kerl, der mir einen Heiratsantrag machte. Und sobald er mir den Ring überstreifte, gab ich meine Träume auf.

Es war nicht Richards Fehler, er war nur eine Abzweigung auf meinem Lebensweg – ich war diejenige, die die Entscheidung traf. Doch Jahre später wurde mir eben diese Entscheidung um die Ohren gehauen und als Messer in meine Brust gerammt, als er mich und die Kinder sitzen ließ, um fortan mit seiner glamourösen Chefin und ihren falschen Titten ein Leben in Luxus zu führen. Und während die beiden sich zum Klang knallender Champagnerkorken unter der heißen mediterranen Sonne vereinten, blieb ich in meinem alten Trott und ernährte, liebte und umsorgte unsere Kinder – allein. Doch jetzt brauchten mich die Kinder nicht mehr, außer als Köchin und Geldgeberin. Eines war mir inzwischen klar geworden: Je mehr man für die Kinder tat, desto mehr hielten sie für selbstverständlich. Ich war unsichtbar geworden, ein durch das Haus streifendes Muttergespenst. Nein, mein Leben wies nichts auf, womit ich auf Facebook angeben könnte, es sei denn, jemand fände Fotos von einem Stapel frisch gewaschener Wäsche oder einer Packung Fischstäbchen so richtig spannend.

Und als ich mein Schicksal schon für besiegelt hielt und auf das mittlere Alter zuraste, ohne irgendeinen Plan zu haben, passierte etwas.

Kapitel Zwei

Verrückte Mütter und Mini-Quiches

Nach meinem misslungenen Familienessen stand ich am nächsten Morgen zeitig auf, um vor der Arbeit die eingetrockneten Frikasseespritzer vom Herd zu kratzen, als ein Brief durch den Schlitz fiel. Mum und die Kinder waren noch im Bett, doch noch während ich den Brief las, begann ich laut zu kreischen, worauf Mum panisch die Treppe hinuntergerannt kam, weil sie dachte, ich hätte mich verletzt.

»Was um Himmels willen …?«, rief sie und band den Gürtel ihres Morgenmantels zu.

»Es ist Tante Sophia …«, stammelte ich.

»Das kann nicht sein, sie ist tot …«

»Nein, ich meine, der Brief ist von ihrem Anwalt, Mum.«

»Oh, ist sie in Schwierigkeiten?«

»Nein, sie hat mir in ihrem Testament einen Teil ihres Geschäfts vermacht.«

Mum und ich starrten uns an, dann schlug sie die Hand vor den Mund. »Oh, nein …«

»Oh, ja. Es geht um Caprioni’s Eiscafé, Mum. Ich glaube, sie hat es Gina und mir vermacht.«

Missbilligend presste Mum die Lippen aufeinander. »Pff, wie soll das funktionieren?«

Mum hatte meine Cousine Gina, Sophias einziges Kind, nie gemocht. Sie sagte immer, Gina sei launisch und sprunghaft.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Warum hat sie mir überhaupt etwas vererbt?«

»Da gibt es nichts zu verstehen«, fuhr Mum mich an. »Ich kann dir nur raten: Halt dich da raus. Gina wird das Geschäft zugrunde richten, du wirst noch an meine Worte denken. Lass die Finger davon, Ella.«

»Oh, Mum, verdirb mir nicht die Freude. Es ist so aufregend. Ich werde das Erbe nicht ausschlagen, nur weil du dich mit Sophia überworfen hast und ihre Tochter nicht magst. Ich habe beide geliebt, und ich habe das Café geliebt. Ich habe dort sehr glückliche Zeiten erlebt.«

Als Kind hatte ich jedes Jahr zwei Wochen in Appledore verbracht, und es war wunderwunderschön gewesen. Der einzige Wermutstropfen war gewesen, dass meine Eltern mir dort nie Gesellschaft leisteten; Mum und Dad fuhren mich hin, setzten mich ab und sammelten mich nach Ablauf der zwei Wochen wieder ein. Als Kind habe ich nie nachgefragt, weil es einfach immer so gemacht wurde; erst später wurde mir klar, dass es mit dem Streit zwischen meiner Mum und Sophia zu tun hatte. Was Gina betraf, so war sie meine schöne, ältere Cousine, zu der ich von klein auf aufblickte. Eine meiner frühesten Erinnerungen an Gina war, wie sie hinter der Theke stand und flauschige Wölkchen aus Erdbeereis in Waffeltüten füllte. Sie muss damals Anfang zwanzig gewesen sein, eine strahlende Gestalt in einem leuchtend rosa Kittel und mit farblich passendem Lippenstift – und für mich war sie eine Göttin gewesen.

Mum blickte immer besorgter drein. »Lass die Finger von dem Café, Ella«, wiederholte sie. »Du kannst nicht in der Vergangenheit leben. Und Gina wird wahrscheinlich sowieso verkaufen wollen – mit Arbeit hat es die Dame ja nicht so.«

»Es wäre eine Schande, das Eiscafé zu verkaufen – es ist ein Familienunternehmen. Ich bin mir sicher, Gina hat sich darüber bereits Gedanken gemacht …«

»Oh, ganz bestimmt sogar. Sie wird auftauchen, Ärger machen, das Geld nehmen und wieder verschwinden.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Ella, du würdest doch nicht nach Appledore ziehen und mit ihr im Café arbeiten, oder?«, fragte sie und wirkte mit einem Mal sehr alt und verletzlich. »Wir sind doch glücklich hier, Liebes – und Pendeln wäre ja wohl ausgeschlossen. Außerdem können wir nicht alle dorthin auswandern, wir wollen nicht wieder entwurzelt werden und …«

»Nein, natürlich nicht, Mum, ich habe einen guten Job, wir haben ein schönes Zuhause. Vielleicht könnten Gina und ich das Café vermieten? Hm, ich überlege gerade … Wenn wir damit etwas Geld machen, könnten wir hier endlich renovieren«, hörte ich mich sagen, doch mit dem Herzen war ich nicht dabei. »Ich muss nächste Woche zur Testamentseröffnung nach Devon fahren. Gina wird bestimmt auch da sein, dann können wir in Ruhe darüber reden.«

Ich wollte Mum nicht beunruhigen. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde, aber auf jeden Fall könnte ich den Kindern heute Abend etwas richtig Aufregendes erzählen.

»Wow, war sie reich? Hat sie dir eine Menge Kohle hinterlassen, Ma?«, fragte Josh, als wir abends zusammensaßen, und zeigte ausnahmsweise mal mehr Interesse an mir als an seinem Smartphone.

»Nein, nur einen Anteil am Geschäft, also am Café.«

»Aber das ist keine Million Pfund wert, oder?«, fragte Lucie und sah mich an.

»Nein, es ist nur ein kleines Eiscafé an der Strandpromenade. Wahrscheinlich suchen wir uns einfach jemanden, der den Laden für uns schmeißt. Oder wir verkaufen das Café.« Allein diese Worte auszusprechen verursachte mir ein schlechtes Gewissen. Tante Sophia und Onkel Reg hatten so hart gearbeitet, um ihr Geschäft aufzubauen, das in seiner Blütezeit ein Treffpunkt für Leute aus der ganzen Gegend gewesen war. Das Café an einen Fremden zu verkaufen würde sich wie Verrat anfühlen.

»Warum fahren wir nicht alle zusammen nach Appledore?«, schlug ich vor. »Ich könnte mir die nächste Woche freinehmen. Im Moment ist wenig los, Sue wird nichts dagegen haben. Ich werde den Anwalt wegen der Testamentseröffnung aufsuchen, und danach könnten wir ein paar Tage dort Urlaub machen. Was meint ihr? Klingt das nach einem guten Plan?« Ich war ganz begeistert von dieser Aussicht; vielleicht würden dabei sogar ein paar »großartige Momente mit der Familie« herausspringen, die ich auf Facebook posten könnte. Doch dann blickte ich zu den Kindern, die mich beide mit identischen Mienen anstarrten. Ich wünschte, ich könnte sagen, der Ausdruck sei freudig gewesen, aber es war irgendetwas nahe an Ekel. Mum sorgte von der Seite her für die passende Geräuschuntermalung, schnalzte mit der Zunge, gab missbilligende Laute von sich und machte deutlich, dass sie an einem Ausflug nach Devon genauso wenig Interesse hatte wie die Kinder.

»Ihr könntet endlich mal Tante Sophias Eiscafé sehen«, fügte ich verzweifelt hinzu.

Ich hatte mir immer gewünscht, noch einmal nach Appledore zu fahren, hatte mir jedoch gesagt, ich hätte als alleinerziehende Mutter weder die Zeit noch das Geld dafür, was auch richtig war. Der Hauptgrund war jedoch, dass es Mum nicht gefallen hätte, wenn ich dorthin gefahren wäre und mich mit dem »Feind« verbündet hätte. Im Alter von zwölf Jahren war ich zum letzten Mal in den Sommerferien dort gewesen und seitdem nie wieder.

»Erinnerst du dich an dieses wunderbare Eis, Mum?«, sagte ich seufzend. »Ein ganzer Erdbeersommer in einer Tüte.«

Mum verdrehte die Augen; sie sah den Ort nicht wie ich durch die erdbeerrosa Brille. Und sie war auch nicht darauf erpicht, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen.

»Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Gina«, sagte ich an Josh und Lucie gewandt, in dem Versuch, sie mit an Bord zu holen. »Sie war ein Hollywoodstar«, fügte ich stolz hinzu, worauf meine Mutter wie eine Schlange zischte.

»Ein Star? Wohl kaum. Sie ist von zu Hause durchgebrannt, ist nicht zurechtgekommen. Es wundert mich, dass sie in Amerika geblieben ist, die werte Dame, sie hat es doch nie irgendwo länger ausgehalten.«

Die Tatsache, dass Gina durchgebrannt war, um in L.A. ein Filmstar zu werden, war früher der Stoff, aus dem meine Träume waren. Sie war für mein pubertäres Selbst wie eine Figur aus einem Jackie-Collins-Roman gewesen, und nach meiner Rückkehr nach Hause kopierte ich alles, was sie tat oder sagte – was Mum gehörig auf die Nerven ging. »Kaut Gina auf diese Weise Kaugummi?«, fragte sie dann oder: »Warum ist dein Rock so kurz, willst du etwa, Gott bewahre, so wie Gina enden?«

Als ich meine Ferien nicht mehr in Appledore verbrachte, schrieb ich Gina ein paarmal, nachdem sie wieder nach L.A. gezogen war. Sie schickte mir hin und wieder eine Postkarte, doch es war mir immer etwas unangenehm, wenn Mum als Erste am Briefkasten war. Sie stand dann in der Diele, die Karte an die Brust gepresst und einen enttäuschten Ausdruck im Gesicht. Sie sagte kein Wort – ihre Lippen waren so fest aufeinander gepresst, dass sie das vermutlich gar nicht konnte –, verströmte jedoch eine tiefe Missbilligung, und so war es, ehrlich gesagt, beinahe eine Erleichterung, als Gina mir nicht mehr schrieb. Ich vermisste die Postkarten aus Hollywood, doch ich verstand, dass Gina keine Zeit mehr hatte, ihrer langweiligen kleinen Cousine zu schreiben, weil ihr Leben wahrscheinlich bis oben hin mit Premierenfeiern und Kleideranproben angefüllt war. Trotzdem sah ich während meiner gesamten Teenagerzeit weiterhin prüfend in den Briefkasten, einfach für den Fall, dass doch noch eine Karte käme.

Im Lauf der Jahre hörten wir hin und wieder etwas über Gina. Wir wussten, dass sie einen Millionär geheiratet hatte und in einer Traumvilla in Bel Air lebte. Ich hoffte, das würde Mum milder stimmen, doch es schien eher den gegenteiligen Effekt zu haben. Mum wollte nicht über sie reden und wechselte das Thema, sobald ich damit anfing. Doch ich behielt meine glamouröse Cousine im Auge, googelte sie regelmäßig und stieß auch gelegentlich mal auf ein Foto von ihr. Nach etlichen Suchdurchläufen gelangte ich jedoch zu dem Schluss, dass Gina ihre Privatsphäre schützen wollte, und wie sollte man ihr das auch verübeln? Ich hatte als Kind immer gefunden, Gina sehe aus wie Marilyn Monroe – mit ihrer blassen Haut und den wasserstoffblonden Haaren unterschied sie sich deutlich vom Rest der Familie, der sich durch dunkles Haar und olivfarbene Haut auszeichnete. Das Einzige, was Ginas Herkunft verriet, waren die dunklen, leidenschaftlich glühenden Augen, und wollte man den Erzählungen (nun ja, Mum …) Glauben schenken, so hatte sie auch ein leidenschaftliches Liebesleben gehabt.

Wenn ich meine Ferien in Appledore verbrachte, war Gina immer sehr lieb zu mir, wie eine große Schwester, und als Einzelkind gefiel mir das natürlich ausnehmend gut. Sie lackierte mir die Nägel, zeigte mir, wie man einen Lippenpinsel benutzte, und in jenem letzten Sommer kaufte sie mir sogar einen BH, was bei meiner Mum gar nicht gut ankam. Der Büstenhalter war hellrosa, aus fester, undurchsichtiger Spitze und für ein zwölfjähriges Mädchen absolut angemessen, doch Mum sah in den hübschen kleinen Körbchen den Beginn allen Lasters, und so konfiszierte sie den BH, und ich musste wieder mit meinem dicken, weißen Unterhemd vorliebnehmen.

Ich erinnere mich, wie Gina mich am letzten Tag meiner Ferien an den Strand zum Schwimmen mitgenommen hat. Ich war traurig, weil ich sie nun lange nicht mehr sehen würde, da wir beide später am Tag abreisen würden – ich zurück ins graue Manchester und Gina zurück in ihr aufregendes Leben in den USA. Es war ein warmer, funkelnder Tag; Gina trug einen leuchtend roten Bikini, in dem sie wie der Inbegriff eines mondänen Filmstars aussah, ihr Haar war voll und blond, und alle Leute drehten sich nach ihr um. Ich war so stolz, dass dieses faszinierende Geschöpf, das an einem magischen Ort Tausende von Meilen entfernt lebte, meine Cousine war, meine Freundin. Wir alberten im Wasser herum, spritzten uns gegenseitig nass, als in der Ferne plötzlich meine Mutter auftauchte. Sie sollte mich eigentlich erst später einsammeln – diese Abholaktionen wurden immer mit militärischer Präzision durchgeführt, um zu vermeiden, dass sich die verfeindeten Schwestern über den Weg liefen. Doch heute war Mum früher eingetroffen und stürmte nun wild winkend und rufend den Strand hinunter. Ich konnte nicht verstehen, was sie rief, also winkte und lächelte ich zurück – musste an diesem herrlichen Tag nicht jeder so glücklich sein wie ich? Erst als sie näher kam, erkannte ich, dass sie wütend war, und als sie mich dann aus dem Meer herauszerrte und in ein großes Handtuch wickelte, war ich beschämt und völlig verunsichert.

»Gina, sie hätte ertrinken können!«, kreischte sie. »Bist du nicht ganz bei Trost? Du weißt, wie gefährlich es ist, wenn die Flut hereinkommt, ihr hättet beide mitgerissen werden können.«

Gina protestierte, doch Mum hatte immer das letzte Wort. Als ich zitternd in meinem Handtuch dabeistand, konnte ich das Gefühl, das mich erfüllte, nicht benennen, doch jetzt weiß ich, dass ich über Ginas Demütigung innerlich kochte.

Auf der Heimfahrt versuchte ich mit Mum darüber zu reden, aber schon bei der bloßen Erwähnung meiner Cousine geriet Mum in Wallung, und so ließ ich es bleiben. Ich erzählte meiner Mutter nur selten etwas über meine Ferien in Appledore, und nach diesem Ereignis ließ ich es ganz bleiben – ich wollte sie nicht beunruhigen oder Gina wieder in Schwierigkeiten bringen. Als Erwachsene fand ich das Verhalten meiner Mutter noch unverständlicher als damals. Soweit ich mich entsinne, war das Meer an jenem Tag nicht besonders rau gewesen, und es waren noch andere Kinder im Wasser, die jünger waren als ich. Also warum brachte Mum Gina und mich in eine so peinliche Lage, und warum machte sie Gina derart herunter? Als Mutter habe ich mir oft gedacht, wie schön es für meine Kinder wäre, einen Menschen wie Gina in ihrem Leben zu haben – mit ihr war es immer aufregend, immer lustig gewesen.

Aber ich wollte mir jetzt nicht von Mums alter Feindschaft meine Chance auf Glück verderben lassen. Gina war einer der Gründe gewesen, warum ich in den Ferien so gern nach Appledore gefahren war. Es war eine wundervolle Vorstellung, dass wir jetzt, als ältere Frauen, wieder etwas Zeit miteinander verbringen könnten. Ich war nicht mehr das kleine zwölfjährige Mädchen, das in ein Handtuch gewickelt dastand und am ganzen Leib schlotterte, während meine Mutter mir sagte, was ich zu tun und zu lassen hätte. Ich war jetzt sehr gut in der Lage, selbst zu entscheiden, mit wem ich zusammen sein wollte und mit wem nicht. Ich wünschte mir nur, die Kinder und Mum würden mich auf dieser neuen Reise begleiten.

»Und, kommt ihr mit?«, fragte ich die Kinder erneut und ignorierte geflissentlich das verächtliche Schnaufen meiner Mutter. »Ich war früher so gern dort. Innen standen kleine wacklige Tische und draußen eine gigantische Plastik-Eistüte. Ich habe sie »Eistüte des Riesen« genannt, was meine Tante immer zum Lachen brachte«, erzählte ich mit wehmütigem Seufzen.

Mum zeigte keine Reaktion, und die Kinder hoben kaum die Köpfe, bis plötzlich Lucie aufblickte. In ihrem Gesicht lag ein gequälter Ausdruck.

»Mum, bitte, fass das nicht falsch auf, ich meine, vor ein paar Jahren wären wir von einer riesigen Plastik-Eistüte irgendwo in Devon begeistert gewesen, aber jetzt sind wir für so etwas zu alt. Fahr einfach allein hin. Geh zur Testamentseröffnung und mach dir eine schöne Zeit.«

Ich verspürte ein jähes Verlangen danach, an den Ort, an dem ich als Kind so glücklich gewesen war, zurückzukehren, und ich hätte meinen Kindern so gern einige Dinge aus der Vergangenheit nahegebracht.

»Ich dachte nur … ich dachte, es könnte nett werden. Eine Reise voller Erinnerungen, ein letzter Urlaub als Familie … am Meer.«

»Ja, aber Josh und ich fahren auch bald weg«, sagte Lucie mit einem sanften Lächeln. Sie gab sich alle Mühe, mich nicht zu verletzen.

Ich erwiderte ihr Lächeln, und ich verstand sie ja auch, aber wie sehr sehnte ich mich nach jenen längst vergangenen Tagen zurück, als die Kinder so aufgeregt wegen des bevorstehenden Urlaubs waren, dass sie die Nacht davor nicht schlafen konnten. Wann sind meine Kinder erwachsen geworden und haben mich zurückgelassen?

Ich hätte gern meine verbliebene kostbare Zeit mit ihnen konserviert, sie in ein Gefäß gegeben und den Deckel für eine Zeit lang verschlossen. Sie hatten meinem Leben einen Sinn gegeben, waren mein Anker gewesen, doch es war Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen – denn da draußen gab es eine große weite Welt, die auf sie wartete. Und sie hatten weit spannendere Pläne für den Sommer als ein paar Tage in Devon.

Lucie hatte im letzten Jahr das College beendet und seitdem gejobbt. Sie würde in Kürze mit Freunden auf Weltreise gehen, ihr erstes Ziel war Thailand. Josh machte gerade seine Abschlussprüfung und hatte vor Kurzem erfahren, dass er und seine Freundin Aarya den Sommer über als Volontäre für ein Projekt in Nepal angenommen worden waren. Die Pläne der Kinder waren gemacht, ihre Taschen gepackt, und ich war stolz auf sie, wenn auch ein wenig enttäuscht, weil sie nicht bereit waren, vorher noch ein paar Tage mit mir zu verbringen.

»Sei nicht traurig, Mum, alles ist gut«, sagte Josh lächelnd, als er an mir vorbeiging, um seinen Teller in die Küche zu bringen. Er sprach überdeutlich, als wäre ich hundert Jahre alt.

»Ach, Schätzchen, ich bin doch nicht traurig«, log ich. »Ich freue mich, dass ihr beiden einen so aufregenden Sommer vor euch habt. Richtig erwachsene Abenteuer – ohne eure Mum.« Matt fügte ich hinzu: »Yippie!«

»Tut mir leid, Mum«, sagte Lucie kläglich, und sofort setzte ich eine tapfere Miene auf; ich wollte nicht, dass Lucie sich schlecht fühlte.

»Nein, nein, das muss dir nicht leidtun, Liebes, ihr sollt ja in die Welt hinausziehen, das ist wunderbar, ganz großartig. Ich dachte nur, wir könnten vorher noch einen kleinen Familienausflug machen …« Meine Stimme wurde immer leiser.

Ich spürte, wie Lucies Mitleid wie eine Woge über mir zusammenschlug, und mir wurde klar, wenn ich nicht aufpasste, würde sich die Dynamik zwischen mir und den Kindern verändern, und ich würde die »arme Mum, die zu Hause wartet«, werden. Und so jemand hatte ich nie werden wollen.

»Tja, wenn ihr beide bereits auf dem Absprung seid, werden Nan und ich wohl allein nach Devon fahren müssen«, sagte ich, um einen heiteren Tonfall bemüht.

»Wir können erst auf die Beisetzung gehen und danach zur Testamentseröffnung«, fuhr ich, an Mum gewandt, fort, im Bemühen, die Reise als Erlebnisurlaub mit diversen Höhepunkten zu verkaufen. »Ein wenig Mutter-Tochter-Zeit, was, Mum?«

Meine Mum blickte von ihrem Teller auf und strich sanft über meine Hand. »Nein, Liebes, ich kann nicht mitkommen.«

»Und was ist mit Sophias Beisetzung?«

»Ich kann nicht.«

»Sie ist deine Schwester.«

»Ich weiß, aber sie wird nicht auf meine Beisetzung kommen, also gehe ich nicht auf ihre.«

»Mum, was redest du da? Natürlich wird sie nicht kommen, schließlich ist sie tot«, rief ich verärgert. »Warum bist du so kleinlich? Es ist mir unbegreiflich, dass du immer noch diesen alten Groll hegst.«

»Ich will einfach nicht mehr dorthin fahren, ich will es nicht. Und du kannst mich nicht dazu zwingen«, sagte sie trotzig wie eine Fünfjährige.

»Vielleicht gibt es dort ja Mini-Quiches«, versuchte ich sie zu locken.

»Nicht für alle Mini-Quiches der Welt«, erwiderte sie.

»Hm, ich muss jedenfalls hin«, sagte ich seufzend. Ich stellte fest, dass mich die Aussicht, allein nach Appledore zu fahren, einschüchterte. Was war nur mit der Ella von einst geschehen, der Ella, die entschlossen gewesen war, ihren Träumen nachzujagen und ihr Leben zu einem Abenteuer zu machen, wie sie es bei ihrer glamourösen und erfolgreichen Cousine erlebt hatte?

»Du kannst alles sein, was du sein willst«, hatte Gina einmal gesagt. »Lass dir ja nichts anderes einreden.« Und sie war der lebende Beweis dafür, dass man einfach seinen Koffer packen und sich auf die Suche nach dem Regenbogen machen konnte. Aber sie hatte nie Kinder gehabt. Sie hatte die letzten zwanzig Jahre nicht mit Kochen, Putzen und Kindererziehung zugebracht – und zwar neben dem Job. Mit Kindern konnte man nicht einfach seinen Träumen nachjagen. Doch jetzt wurde ich mit einem Mal am Ufer zurückgelassen und durfte allen zum Abschied nachwinken. Ich war so damit beschäftigt gewesen, meine Kinder dazu zu ermutigen, das Heute zu genießen und sich auf Abenteuer einzulassen, dass ich völlig vergessen hatte, auch eines für mich einzuplanen.

Kapitel Drei

Liebhaber, Tinder und tropische Momente

Als ich am nächsten Morgen bei Fashion Passion ankam, meinem Arbeitsplatz, war ich immer noch ziemlich durch den Wind. Ich parkte den Wagen und eilte in den Laden, um mit meiner Chefin und Freundin Sue über meine Erbschaft und die damit verbundenen Möglichkeiten zu sprechen. Sue war eigentlich Friseurin und hatte früher in den Midlands einen Salon geführt, doch nachdem sie auf Tinder einen Kerl kennengelernt hatte, verkaufte sie den Salon und zog Hals über Kopf nach Marbella. Sechs Monate später war sie wieder in England, der Großteil ihrer Ersparnisse war weg, genau wie der Liebhaber, und alles, was sie vorzuweisen hatte, war ein gebräunter Teint.

Nach ihrem, wie sie es nannte, »Tinder-Reinfall«, zog sie in den Norden, wo Immobilien günstiger waren, und eröffnete mit dem wenigen Geld, das sie noch übrig hatte, Fashion Passion. Sue hatte es sich zum Ziel gemacht, einen ziemlich verstaubten Bekleidungsladen in »eine edle, extraterrestrische Nobelboutique« zu verwandeln – sie meinte natürlich »extravagant«, verwechselte aber wieder einmal die Wörter. Unglücklicherweise sagte Sues Geschmack nicht allen Kundinnen zu, denn was für die eine Frau »edel« war, war für die andere »überladener Kitsch«. In der Tat gab es bei Sue unendlich viele Pailletten und jede Menge Glitzer, und die Schnitte erforderten ein gutes Dekolletee und eine ordentliche Portion Mut.

Als ich nun das mit Teppichen ausgelegte Innere des Ladens mit den glänzenden Brokatwänden und den Ständern voller glitzernder, schillernder Roben betrat, fühlte ich mich augenblicklich getröstet. Ich legte den Mantel ab und ging geradewegs in die kleine Küche im hinteren Ladenbereich, um Wasser aufzusetzen.

Sue stand vor dem weit geöffneten Kühlschrank; als eine Frau gewissen Alters mit, wie sie es nannte, »wild gewordenen Hormonen«, machte sie das oft, um ihre Hitzewallungen, ihre »tropischen Momente«, zu mildern.

Ich wollte schon lossprudeln und ihr von meiner Erbschaft, dem leeren Nest und der Devon-Reise erzählen, als ich sah, dass sie geweint hatte.

»Oh, Sue …«, begann ich. Ich nahm an ihren Sorgen und Nöten genauso teil wie sie an meinen; wenn man mit jemandem acht Stunden am Tag in einem geschlossenen Raum voller glitzernder Pailletten verbrachte, kam man sich sehr schnell sehr nah. »Ich dachte, wir hätten eingesehen, dass Tinder uns nur das Herz brechen wird«, sagte ich, den Pluralis Majestatis benutzend. Selbst für meine Ohren hörte ich mich wie eine TV-Lebensberaterin an. »Wir waren übereingekommen, dass man anständige Männer eher an Orten wie Bücherclubs oder mittwochs beim Witwen-und-Witwer-Treff im Foyer des Ship Inn kennenlernt.«

»Ach, mit Tinder hat es nichts zu tun, schön wäre es. Aber das mit dem Ship Inn ist eine gute Idee. Ein netter reicher Witwer wäre nicht zu verachten.« Sie griff nach dem Vanillepudding, und da wusste ich, dass wir ein Problem hatten. Sue achtete sehr auf ihre Figur und aß so gut wie nie Zucker, doch in Krisenzeiten betäubte sie sich mit Vanillepudding.

»Was ist los, Liebes«, fragte ich, während ich Wasser aufsetzte. Diese Situation erforderte Tee – sehr viel Tee sowie mehrere Packungen Kekse.

Sie schlug die Kühlschranktür zu und nestelte nervös an ihren Ringen herum.

»Es geht … es geht um den Laden, Ella.«

Ich hielt inne und sah Sue an; mein Mund wurde plötzlich ganz trocken.

»Wir haben nicht genügend Umsatz gemacht, um die Unkosten zu decken, und jetzt will die Bank Geld, und der Vermieter will seine Miete, und ich … ich habe das Geld einfach nicht. Jede Woche habe ich aufs Neue gehofft, ich könnte das Ruder herumreißen, aber … Es tut mir so leid, Ella …«

Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. »Du meinst, Fashion Passion muss schließen?«

Sie nickte.

»Aber kannst du nicht einfach einen Kredit …?«

Sie schüttelte den Kopf. »Über dieses Stadium sind wir schon hinaus, Schätzchen.«

»Oh, Sue, warum hast du mir nichts gesagt? Du musst schreckliche Zeiten hinter dir haben.«

»Stimmt, aber du hattest in den vergangenen Monaten genug mit deiner Mutter zu tun, da wollte ich dich nicht auch noch mit meinen Sorgen belasten. Ich dachte, es würde sich wieder von selbst regeln.«

»Hm … Und wie geht es jetzt weiter?«

»Es ist vorbei. Ach, mein schöner Laden!«

Als sie zu weinen begann, nahm ich sie in die Arme und strich ihr tröstend über den Rücken. In ihr lautes Schluchzen mischte sich das Schrillen des Teekessels wie ein Echo auf meine eigene Gefühlslage.

Sue hatte mich vor einigen Jahren unter ihre Fittiche genommen, mir versprochen, mich in die Welt der Designermode, der Liebe und des Lebens einzuführen. Doch das Liebhaberdrama und die Unmengen von Pailletten hätten mich hellhörig machen sollen, zeigten sie doch, dass Sue weder Ahnung von »Fashion« noch von »Passion« hatte. Wir verkauften wenig; trotz ihres früheren finanziellen Debakels hatte ich angenommen, sie habe Kapital und könne es sich leisten, nur geringe Einnahmen zu haben, ihren Kunden Tee anzubieten und stundenlang mit ihnen zu plaudern, auch wenn sie nichts kauften. Doch das war offensichtlich ein Trugschluss gewesen. Da die Kunden den Laden als sozialen Treffpunkt benutzten und Sue sie bestens mit Klatsch und Tratsch unterhielt, sah sich niemand zum Geldausgeben veranlasst. In der Tat war die einzige Person, die im Laden etwas ausgab, Sue selbst – für die Berge von Tee und Gebäck, die sie den Kunden offerierte.

Mir tat Sue wirklich leid, aber ich dachte auch ganz egoistisch an mich und was für eine Katastrophe das für mich bedeutete. Ich brauchte diesen Job, wir könnten nicht von den paar Kröten leben, die Dick den Kindern zukommen ließ. Bei dem Gedanken hätte ich am liebsten auch geweint, aber ich musste für Sue stark bleiben.

»Es ist alles meine Schuld, mein Umgang mit Geld ist einfach desastriert«, stieß sie unter Tränen hervor.

»Nein, dein Umgang mit Geld ist nicht desaströs«, erwiderte ich, »die Wirtschaftslage ist schlecht, das ist die Schuld der Regierung.«

»Das war meine Altersvorsorge«, sagte sie wenige Minuten später seufzend bei einer Tasse Tee. »Als mein Ex mich wegen dieser Schlampe verließ, habe ich mir erfolgreich den Friseursalon aufgebaut, aber dann kam dieser Tinder-Reinfall und …« Sie trank einen Schluck Tee. »Aber genug von mir, du bist eine alleinerziehende Mutter – wie wirst du klarkommen?«

Ich versicherte ihr, das sei kein Problem; da nun die Kinder aus dem Haus seien, würde ich weniger Ausgaben haben und finanziell besser dastehen als vorher. Das stimmte natürlich nicht, weil ich nach wie vor die monatlichen Hypothekenraten auf das Haus abbezahlen musste. Ich hatte mich bei der Scheidung dazu verpflichtet, um den Kindern ihr Zuhause zu bewahren. Mein Ex war damit einverstanden gewesen, unter der Voraussetzung, dass ich ihm seine Hälfte des Hauses ausbezahlte, sobald das Haus verkauft werden würde. Ich hatte immer sparsam haushalten müssen, um einigermaßen über die Runden zu kommen, und dummerweise hatte ich gerade erst mit meiner Kreditkarte die beiden Flüge der Kinder gezahlt. Mühsam um Fassung ringend, riss ich den Deckel von einem Becher Vanillepudding und überlegte fieberhaft, wie viel ich verdienen müsste, um meine monatlichen Ausgaben zu decken.

Leider gab es in unserer Stadt nur noch wenige einheimische Unternehmen, ich könnte also nicht einfach hier aufhören und woanders sofort neu anfangen. Von jetzt auf gleich hatte ich kein Einkommen mehr, aber weiterhin die Verantwortung für zwei Kinder, eine Hypothek und meine Mutter. Der einzige Hoffnungsschimmer am Horizont war die Aussicht auf mein Erbe. Im Moment mochte ich vielleicht in der Klemme stecken, doch aus der Ferne blinzelte mir verheißungsvoll das Eiscafé zu – ich könnte meinen Anteil verkaufen oder damit Geld verdienen.

Ich hatte Angst gehabt, allein nach Appledore zu fahren, weil ich nicht wusste, was mich dort erwartete, und Mums Weigerung mich zu begleiten, hatte mich noch mehr verunsichert. Doch jetzt hatte ich keine andere Wahl, als so schnell wie möglich dorthin zu reisen und herauszufinden, was es mit dem Café auf sich hatte und was das für mich finanziell bedeutete. Ich hatte schon Schlimmeres durchgestanden: Von einem Tag auf den anderen war ich allein mit zwei Kindern und ohne Geld gewesen, doch ich hatte mich durchgebissen, und das würde ich auch jetzt schaffen. Hier ging es nicht um mich, es ging um meine Familie. Ich würde alles auf mich nehmen, um ihr Wohlergehen zu sichern und weiterhin die Mutter, Tochter und Versorgerin zu sein, die ich immer gewesen war. Im tiefsten Inneren hatte ich das Gefühl, dass sich alles zum Guten entwickeln und dieses Erbe mir einfach durch eine schwierige Phase helfen würde. Ich hatte ja keine Ahnung.

Kapitel Vier

Falsches Teakholz und geschmolzene Erinnerungen

»Mum, sei ehrlich, fehlt dir Sophia?«, fragte ich, als wir vor meiner Abfahrt nach Devon in der Küche saßen, um eine letzte Tasse Tee zusammen zu trinken. Mum war mit mir aufgestanden und hatte mir für unterwegs ein paar Sandwiches zubereitet. Ich kam mir vor, als würde ich auf Klassenfahrt gehen.

»Sophia?«, antwortete sie, während sie kochendes Wasser auf die Teebeutel goss. »Nein, sie fehlt mir nicht; schließlich habe ich sie ewig nicht gesehen. Aber ich vermisse unsere unbeschwerte Kindheit in Sorrent oder später die Zeit, als wir nach Devon zogen und viel Spaß zusammen hatten. Wir waren sehr beliebt bei unseren Klassenkameraden – wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil unsere Familie ein Eiscafé besaß«, fügte sie lachend hinzu und stellte zwei dampfende Tassen Tee auf den Küchentisch, während ich mein Toastbrot aß. Es geschah selten, dass Mum liebevoll über die Vergangenheit und vor allem über Sophia sprach, doch letzten Endes waren sie immer noch Schwestern.

»Hast du dir je gewünscht, du wärst in Devon geblieben?«, bohrte ich weiter.

»Oh, nein. Dein Dad und ich wollten weg, wollten einen Neuanfang machen. Als er befördert und nach Manchester versetzt wurde, wussten wir, dass unsere Gebete erhört worden waren.«

»Aber das Café? Ist es dir nicht schwergefallen, es einfach aufzugeben?«

»Sophia hatte dem Café bereits ihren eigenen Stempel aufgedrückt. Ich musste längere Zeit aussetzen – drei Fehlgeburten können dich ganz schön umhauen«, merkte sie traurig an. »Und dann kamst du, und ich wollte bei dir sein, bei meiner kostbaren Tochter.« Sie kniff mich in die Wange.

Als Mutter zweier gesunder Kinder wollte ich mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen sein musste, drei Babys zu verlieren. Selbst jetzt noch spiegelte sich in ihrer Miene der Kummer von einst. Doch diese Erfahrungen hatten sie zu der Mutter und Großmutter gemacht, die sie heute war – fürsorglich, liebevoll und die reinste Löwin, wenn es galt, mich und die Kinder zu verteidigen.

»Ich war doch eine gute Mum, Ella, nicht wahr?«

»Die beste, Mum, die beste«, sagte ich lächelnd. Es war ein Mantra, das Mum immer wieder hören musste; sie schien die Bestätigung zu brauchen, dass sie alles richtig gemacht hatte.

Heute Morgen wirkte sie bekümmert, und ich fragte mich, ob sie insgeheim vielleicht doch an der Beisetzung teilnehmen wollte.

»Bist du dir wegen heute sicher?«, fragte ich behutsam.

Entschieden nickte sie.