Misfits Academy - Als wir Helden wurden - Adriana Popescu - E-Book

Misfits Academy - Als wir Helden wurden E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Fünf Teenager – fünf Superkräfte – eine mysteriöse magische Academy

Menschen, die mit dem Skill-Gen geboren werden, haben besondere mentale Fähigkeiten. Damit kann man Gutes tun oder eben Mist bauen. Wer auf der Misfits Academy landet, hat definitiv gewaltigen Mist gebaut. So wie Taylor, die sich für coole Insta-Bilder mal kurz nach Dubai teleportiert, oder Eric, der Gefühle steuern kann und sich als Happy-Feelings-Dealer auf dem Schulhof eine goldene Nase verdient hat. Zusammen mit June, Frankie und Fionn sind sie deswegen zur Misfits Academy auf Guernsey geschickt worden. Doch wider Erwarten werden die fünf Nachwuchshelden Freunde und beginnen einander das Geheimnis ihrer jeweiligen Skills zu enthüllen. Doch dann ereignen sich an der Schule mysteriöse Unfälle und das junge Team muss sich einer Prüfung auf Leben und Tod stellen ...
Der packende Auftakt einer mitreißenden Urban-Fantasy-Reihe mit toughen Charakteren und einem faszinierenden Setting: Willkommen an der Misfits Academy!

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Seitenzahl: 511

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Adriana Popescu

MISFITS ACADEMY

Als wir Helden wurden

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Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Coverkonzeption: Carolin Liepins, München

unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock (Runrun2, Eshma, Igillustrator)

MP · Herstellung: UK

Satz & E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30212-2V002

www.cbj-verlag.de

Für all die Misfits, die ihren Platz noch suchen.

Ihr könnt an meinem Tisch sitzen.

Kapitel 1

Taylor

Wer hätte je gedacht, dass man von Chicago aus das Meer am Venice Beach sehen kann?

Na ja, zumindest fast.

Die Luft schmeckt hier tatsächlich salzig, die Sonne scheint sanft auf meine nackten Beine, und ich kann noch immer nicht so recht begreifen, dass ich bis vor ein paar Minuten daheim in Chicago war. Im Physikunterricht bei Mr Horner, dem absoluten Endgegner an einem Montag. Es kann mir also eigentlich keiner übel nehmen, dass ich mich gegen die Elektrizitätslehre und für eine Runde Rollerblades die Promenade am Strand entlang entschieden habe.

Irgendeine Entschuldigung wird mir schon einfallen. Lebensmittelvergiftung oder Migräne. Die Unterschrift meiner Mutter beherrsche ich inzwischen so gut, dass ich damit sogar einen Kreditantrag in ihrem Namen unterschreiben könnte, und niemand würde es merken.

Obwohl ich hier bin, wandern meine Gedanken doch wieder zurück nach Chicago, in unser Haus, zur Schule und wie verdutzt die Gesichter meiner Schulfreunde wären, wenn sie wüssten, wo ich jetzt bin. An diesem Strand, wo alles wie durch einen Instagramfilter wirkt. Die Palmen, der Sandstrand, der Himmel, der sich langsam pink färbt, die sonnengebräunten Menschen, die in der Sonne liegen, im Skatepark Tricks üben oder im Ozean auf die perfekte Welle warten.

Es riecht nach Sonnenmilch und fettiger Pizza, die an einem kleinen Imbiss direkt neben einem Laden für Surf­artikel verkauft wird. Irgendwo läuft Musik, liefert den perfekten Soundtrack für diesen sonnigen Spätnachmittag am Meer. Heute hätte ich mir wirklich keinen besseren Ort für meinen Ausflug aussuchen können. Den Donutsladen in der Nähe des Parkplatzes habe ich schon hinter mir gelassen, rolle entspannt am Skatepark vorbei die Promenade entlang in Richtung Pier. Der Strand erstreckt sich zu meiner Rechten, so weit das Auge reicht. Die Rettungsschwimmer-Häuschen stehen vereinzelt im Sand, dazwischen letzte Beachball-Matches und Familien, die langsam ihre Handtücher einsammeln. All meine Sorgen sind so weit weg.

Mein Lächeln wächst mit jedem Meter, den ich auf den Rollerblades zurücklege, der warme Wind kitzelt meine Haut ganz sanft und nicht so stürmisch wie daheim. Man nennt Chicago nicht umsonst The Windy City und an manchen Tagen macht das Wetter diesem Spitznamen alle Ehre. Ob ich vielleicht irgendwann hier in Los Angeles lebe? Denn wenn ich in den letzten Wochen eines gelernt habe, dann, dass ich überall sein kann, wo ich will.

Und wo die Sonne scheint.

Ein heftiger Schlag an meiner linken Schulter bringt mich aus dem Gleichgewicht und ich rudere hektisch mit den Armen, suche Halt und greife doch nur ins Leere. Im letzten Moment verlagere ich mein Gewicht zur Seite und stürze statt auf den Asphalt unter meinen Rollen seitlich in den Sand direkt neben der Promenade, wo ich eine formvollendete Bruchlandung hinlege.

Heiß und rau fühlt sich der Sand unter meinen Händen und Knien an und doch wie ein dankbarer Untergrund für einen Sturz.

»Verzeihung.« Ein junger Mann taucht neben mir auf, sein weißes, blütenreines Hemd blendet mich einen Moment, als ich meine Hände und Knie abklopfe und versuche, zurück auf die Beine zu kommen.

»Ist ja nichts passiert.«

Da tritt eine Frau neben den jungen Mann, von einem Lächeln auf ihrem Gesicht fehlt allerdings jede Spur. Auch sie trägt ein weißes Hemd, dazu dunkle Stoffhosen. Beides sieht zu warm für die Hitze des Tages aus. Ihr Blick mustert mich genau, was ein ungutes Gefühl in meinem Magen weckt. »Wir können dir helfen.«

»Nein, geht schon, danke.«

Immerhin stehe ich wieder und will auch schon weiter, als sie mir direkt in den Weg tritt.

»Es gibt Heilung.«

Heilung? Erst jetzt fällt mir die Broschüre in ihrer Hand auf, Werbung für eine Klinik. Future-Skill-Clinic, und mir dämmert so langsam, dass sie mich beobachtet haben müssen. In manchen Foren wird vor solchen Kliniken gewarnt, Gruselgeschichten machen die Runde. Jetzt lächelt die Frau doch, aber es wirkt nicht gerade besonders freundlich. Sie hält mir eine dieser vierfach gefalteten Broschüren ent­gegen.

»Lass dich doch zumindest informieren.«

Mein Blick fällt auf die kleinen Namensschilder an ihren Brusttaschen, die mir verraten, dass es sich bei den zwei Leuten um Chuck und Karen handelt. Und dass sie zu den Skillz-Huntern gehören. Alle meine inneren Warnsignale schlagen Alarm.

»Danke, aber das ist nicht nötig. Fühle mich prächtig.«

Nur nichts anmerken lassen, das predigt Dad schließlich immer. Kopf runter. Blickkontakt vermeiden und weitergehen.

»Das meinen wir nicht.« Karen versperrt mir den Weg nun offensiver und schenkt mir ein zahnpastawerbungswürdiges Lächeln, während ihre Augen unverändert kühl bleiben. »Du und deinesgleichen, ihr könnt Hilfe bekommen.«

Sie hält mir wieder die Broschüre entgegen, aber ich weiche zurück, als wäre das dünne Heftchen giftig. Die Future-Skill-Clinic und ihr kleines Logo einer Doppelhelix wirbt für eine angeblich bessere Zukunft. Doch ich will nur weg hier und sehe mich einen Moment Hilfe suchend um. Aber alle anderen Spaziergänger, Touristen und Skater nehmen mich nicht mal wahr, ich bin ihnen keinen zweiten Blick wert. Anders als den beiden vor mir, die mich so offensichtlich durchschauen, dass mein Herz einige Schläge verpasst und aus dem Rhythmus kommt.

Doch statt mir die Unsicherheit anmerken zu lassen, knipse ich mein unschuldigstes Lächeln an und verfalle in eine säuselige Kleinmädchenstimme. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, und bin auch schon wieder weg.«

Ärger kann ich mir nämlich nicht leisten, immerhin sollte besser niemand von meinem Blitzausflug an die Westküste erfahren – schon gar nicht meine Eltern. Doch bevor ich mich an dem Pärchen vorbeischieben kann, packt die Frau meinen Arm.

Fester als nötig. Ihr Lächeln ist wie weggeblasen, als sie sich zur mir beugt, ihre Stimme nur noch ein eisiges Flüstern.

»Ihr breitet euch überall aus, verseucht unsere Schulen, unsere Städte, drängt euch in die Politik und wollt uns weismachen, dass das alles ganz normal wäre.«

Ich für meinen Teil dränge mich nirgendwohin, ganz im Gegenteil, ich versuche mich sogar aus dem Klammergriff der Frau zu lösen, aber sie hält mich nur noch fester.

»Du kommst jetzt erst mal mit uns mit, wir werden dir schon helfen.«

»Was?«, keuche ich fassungslos.

Der Typ grinst mich harmlos freundlich an, was mich aber nicht im Geringsten beruhigt. »Wir haben dich gesehen. Wir wissen, was du bist.«

Die besitzergreifende Karen hält mich so fest, dass ich nicht einfach abhauen kann, und plötzlich ist da eine tiefe Abscheu in ihren Augen, die einzig und alleine mir gilt. Es muss hier am Strand über dreißig Grad haben, aber trotzdem breitet sich eine eiskalte Gänsehaut rasend schnell auf meinem Körper aus.

»Du bist eine von ihnen.«

War ich so unachtsam? Bisher ist doch immer alles gut ­gegangen, niemand hat mich bemerkt – nicht mal meine ­Eltern ahnen was von meinen Ausflügen –, und jetzt stehen diese zwei Menschen vor mir und scheinen alles zu wissen. Ob sie mir schon länger folgen? Ob sie wissen, dass ich vor ein paar Minuten noch in Chicago war?

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden.«

Dabei weiß ich das genau. Sie sind Hunter, und wenn man den Gerüchten, die im Internet kursieren, glauben darf, verschwinden ziemlich viele Skill-Teens spurlos von der Straße oder auf dem Nachhauseweg. Ich will mir gar nicht ausmalen, was mit ihnen passiert. Karen und Chuck sehen in ihrer schicken kleinen Uniform absolut harmlos aus. Nur sind sie genau das überhaupt nicht.

Mein Herz will in den Streik treten, aber das anrauschende Adrenalin hält es fleißig am Schlagen, als ich zwischen den beiden vor mir hin- und herschaue.

»Ich informiere die anderen, Karen.«

Karen nickt, und Chuck will nach seinem Handy greifen, als ich begreife, dass so ein Anruf das jähe Ende meiner Ausflüge bedeuten würde – wenn nicht Schlimmeres.

»Hören Sie …« Lächeln ist noch immer die beste Waffe, dazu ein unschuldiger Augenaufschlag. Ich bin eine harmlose Schülerin, die hier sicher keinen Ärger will. »… es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie irgendwie verärgert habe, aber –«

»Uns kannst du nicht einfach so täuschen. Solche wie du gehören aussortiert.«

War da nicht eben noch von Heilung die Rede?

Chuck, ganz ohne sein breites Lächeln, verliert ebenfalls die Geduld mit mir und drückt die erste Taste auf seinem Handydisplay, als alles um mich herum langsamer wird. So langsam, dass ich zwar noch in Zeitlupe sehe, wie er auch die zweite Ziffer drückt, doch dann setzt die Dunkelheit ein, und ich schließe die Augen, denn nun kann nicht mal mehr ich aufhalten, was gerade in Gang gerät.

Denke an einen anderen Ort, Taylor, konzentriere dich.

Aber mein Kopf ist wie leer gefegt, nicht mal die Umrisse meines eigenen Zimmers wollen mir noch in den Sinn kommen, nur der Skatepark wird vor meinem inneren Auge lebendig. Dort, wo ich die Jungs und Mädchen dabei beobachtet habe, wie sie waghalsige Tricks vollführt haben. Er ist nah genug und ausreichend weit von dieser Bekehrungs-Katastrophe entfernt.

Skatepark. Bunte Skateboards, der Geruch von Schweiß und Sonnenmilch, das Geräusch der Rollen auf dem auf­geheizten Beton, das Kratzen des Holzes der Bretter, wenn sie über die Kante nach unten in die Halfpipe stürzen, das Jubeln der Zuschauer, wenn der Trick gelingt.

Dann spüre ich es.

Den Rausch, der durch meinen Körper rast, das dazu­gehörige Herzklopfen. Es fühlt sich immer ein bisschen so an, als würde ich auf dem Highway meinen Kopf aus dem geöffneten Autofenster halten. Der Fahrtwind zerrt an meinen Haaren, meiner Kleidung und meinen Gedanken.

Ich öffne nur kurz die Augen, die beiden stehen noch immer vor mir, Karens Blick auf mich gerichtet, Chuck ist ­dabei, die nächste Taste zu wählen, ihre ohnehin schwarz-weiße Silhouette verliert das letzte bisschen Farbe, alles um sie herum wird grau, als hätte man die Sättigung einer Fotografie reduziert, dann werden sie unscharf, ihre Gesichter verschwimmen und zucken wie eine verblassende Fata Morgana.

Das alles fühlt sich für mich länger an, als es de facto dauert, so viel weiß ich inzwischen.

Als ich schließlich die Augen öffne, bin ich tatsächlich zurück am Skatepark, gut hundert Meter entfernt, die Farben sind wieder so knallig wie nur am Venice Beach.

Aber ich bin nicht alleine.

Karen blinzelt etwas irritiert zu mir herüber, ihre Hand liegt noch immer um meinen Arm.

Ihr Freund Chuck steht unverändert an dem Ort, wo sie mich eben aufgehalten haben. Suchend sieht er sich auf der Promenade nach uns um.

»Wie hast du das gemacht?« Höre ich da etwa Angst in Karens Stimme, als sie zitternd meinen Arm loslässt.

»Witzig, das habe ich mich gerade auch gefragt.«

Immerhin war es das erste Mal, dass ich überhaupt jemanden mitgenommen habe. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich mir für diesen besonderen Moment gerne jemand anderen an meiner Seite gewünscht.

»Ihr seid doch das Werk des Teufels!«

Gleich der Teufel also. Das wird ja immer besser.

Hastig bringt sie Abstand zwischen uns, und obwohl ich froh darüber sein sollte, wird mir schlagartig bewusst, dass nicht nur sie meinen kleinen Auftritt bemerkt hat. Einige der anderen Leute, die in unserer Nähe stehen, sehen mich aus großen Augen an. Ob es zu spät ist, so zu tun, als wäre ich nur eine weitere Attraktion am Venice Beach?

»Karen!« Chuck hat uns entdeckt und rennt auf uns zu, das Handy bereits am Ohr – und ich bin mit der Situation eindeutig überfordert.

Alles dreht sich. Die fragenden Gesichter, die Kinder, die mit ausgestreckten Fingern auf mich zeigen, Jugendliche in meinem Alter, die ihre Skatesession unterbrochen und ihr Handy gezückt haben, um ein Foto von mir in ihrer Instagram-Story zu posten.

Das war eine ganz dumme Idee, Taylor.

»War schön, Sie kennengelernt zu haben, Karen. Aber ich muss jetzt echt weiter.«

So schnell ich kann, rolle ich davon, schlängle mich zwischen eine Gruppe junger Menschen auf Fahrrädern, die laut Musik aus einer tragbaren Box hören, und hoffe, einfach zwischen ihnen unterzugehen.

Nur nicht auffallen.

Meine Beine kommen mir so zittrig vor, dabei fahre ich Rollerblades, seitdem ich denken kann, doch jetzt stolpere ich mehr vor mich hin, als dass ich gleite.

In der Öffentlichkeit am helllichten Tag vermeide ich ­solche Aktionen eigentlich, verziehe mich dazu an ruhige, menschenleere Orte.

Bin ich zu nachlässig geworden? Ich kann von Glück sagen, wenn mein Verschwinden und Auftauchen kein weiteres Aufsehen erregt. Auch wenn die Strandpromenade am Venice Beach immer die schrägsten Leute anzieht, könnte mein Verhalten sogar hier für ungewollte Aufmerksamkeit sorgen.

Doch eine überfüllte Promenade und schwere Rollerblades an den Füßen machen eine Flucht ziemlich unmöglich, und ich spüre in meinem Nacken geradezu, wie Chuck zu mir aufschließt.

Diese verdammten Rollerblades!

Ich muss hier weg!

»Wir kriegen euch alle.« Die Drohung in Chucks Worten hallt laut in meinen Ohren wider, als er immer näher kommt, sodass ich Probleme habe, einen klaren Gedanken zu fassen.

Es riecht nach Donuts.

Donuts!

Schnell schließe ich die Augen, denke an den kleinen Shop einige Straßen entfernt, wo ich mir vorhin einen ­pinken Donut gegönnt habe und es nach Zuckerguss und Eistee duftete. Ich muss nur den richtigen Moment erwischen.

Das Rauschen, der Wind, die schwindende Farbe, die Zeitlupe …

Ich öffne die Augen, fixiere Chuck und Karen und spüre, wie das Rauschen des Windes in meinen Ohren lauter wird.

Alles beginnt zu flackern, und gerade als Chuck mich ­packen will, greift er ins Leere.

Kapitel 2

Taylor

»Du schon wieder? Brauchst wohl Nachschub.« Das breite Grinsen des Shopbesitzers mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen empfängt mich, als er aus dem Nebenzimmer hinter die Theke voller bunter Donuts tritt.

Meinen spektakulären Auftritt hat er zum Glück verpasst und ich bin unendlich erleichtert. Mein Lachen klingt viel zu hysterisch in meinen Ohren, aber der Besitzer scheint das nicht zu bemerken.

»Noch einen Pink-Donut?«

Wenn er wüsste, wie pink seine Donuts für mich gerade aussehen. Nach jeder Teleportation knallen alle Farben immer richtig rein und sein Donut-Shop könnte glatt aus dem Barbie-Universum entsprungen sein.

»Ja bitte.« Auch wenn mir der Sinn gerade nicht so sehr nach einem Zuckerschock steht.

»Heute ist ein verrückter Tag, Mädchen. Ich sag dir, ich ziehe die schrägsten Kunden an.« Er greift nach der Zange, mit der er einen pinkfarbenen Donut mit vielen bunten Streuseln packt und ihn dann in eine kleine Papiertüte stopft, die in wenigen Minuten bereits durchgefettet sein wird. »Ich meine, wer trägt bei dieser Hitze Anzug und Krawatte?«

Er lacht und reicht mir die Tüte über den Tresen, nimmt meinen Geldschein an und bemerkt das Zittern meiner Hand. »Alles okay bei dir, Mädchen?«

Sein sorgenvoller Blick schnürt mir den Hals zu, weil ich genau weiß, dass er mir nicht helfen kann, selbst wenn ich ihm meine Geschichte erzählen würde. Vielleicht würde sich dann sein freundliches Gesicht sogar verändern und die gleiche Abscheu zeigen, die mir Karen und Chuck entgegengebracht haben.

Skillz.

Schnell schüttele ich den Kopf und hoffe, dass er die Tränen in meinen Augen nicht bemerkt. »Mein Kreislauf ist nur etwas wackelig.«

»Soll ich dir noch einen Eistee mitgeben? Der geht aufs Haus.«

»Nein, ist nicht nötig. Danke.«

»Aber –«

»Alles okay, wirklich. Danke!«

Er beobachtet irritiert, wie ich meine Rollerblades ausziehe und achtlos in seinem Laden zurücklasse, während ich hastig an meinem Fluchtplan arbeite. Noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, kann ich mir wahrlich nicht leisten, meine Heimreise muss also unauffälliger ablaufen.

Nur ist der Venice Beach an einem sonnigen Nachmittag so überfüllt, dass an Privatsphäre nicht zu denken ist. Noch dazu, wenn man nicht weiß, wo die Feinde lauern.

Mit gesenktem Kopf gehe ich barfuß zwischen den Menschen hindurch in Richtung Parkplatz davon.

»Miss Jones?«

Meine Nackenhaare stellen sich bei der Nennung meines Namens so sehr aufrecht, als wollten sie wie Zinnsoldaten salutieren.

Sie kennen also schon meinen Namen.

Zwei Männer, beide in dunklen Anzügen, nähern sich, flankieren mich nun mit etwas Abstand, und ich wage es nicht, in ihre Gesichter zu blicken.

»Sie müssen mich verwechseln.«

Mit den kleinen Urlauben gehen die Lügen im Hand­gepäck einher. Blitzschnell kommen mir inzwischen Aus­reden für mein Fernbleiben von der Schule, meine gebräunte Haut und mein strahlendes Lächeln über die Lippen. Sogar vor meinen Eltern fällt es mir inzwischen leicht zu lügen – auch wenn es ohnehin meistens Telefonate sind, weil sie so viel unterwegs sind. Aber gerade jetzt klingen meine Worte wie zäher Honig.

»Taylor Jones, Tochter von Michael und Elaine Jones. Sie sollten jetzt eigentlich an der West Bucktown Highschool in Chicago bei Mr Horner im Physikunterricht sitzen, nicht wahr?«

Die Stimme des Mannes ist kühl und fast etwas gelangweilt. Jetzt werde ich doch langsamer, bis ich schließlich zum Stehen komme und die Anzugtypen es mir gleich­tun.

Nur einen Blick wage ich, aber die verspiegelte Pilotenbrille, die der Mann zu meiner Rechten trägt, macht es unmöglich, seine Augen zu sehen. Stattdessen erkenne ich dort bloß mein Spiegelbild und es schaut verdammt panisch zurück. Keine Namensschilder, keine Broschüren.

»Hören Sie, ich kann das erklären, ich will wirklich keinen Ärger.«

»Dafür ist es ein bisschen zu spät. Sie haben gegen drei Gesetze in drei unterschiedlichen Staaten verstoßen.«

Dabei habe ich keinen Alkohol gekauft und auch sonst nichts, was ungesetzlich wäre. Daran würde ich mich sicher erinnern.

»Binnen zwei Tagen.«

Ich lächele die Männer harmlos und doch unsicher an, meine Gesichtsmuskulatur scheint mir nicht mehr zu gehorchen.

»Dann verwechseln Sie mich sogar ganz sicher.«

»In Illinois ist es Ihnen verboten, Ihren Skill vor dem 21. Lebensjahr in der Öffentlichkeit auszuüben.«

Meinen Skill.

»In Florida ist es verboten, den Skill – ohne eine durch einen Richter ausgestellte Erlaubnis – nach Sonnenuntergang zu benutzen.« Mein Lachen klingt hohl, aber der Typ lässt sich davon nicht beeindrucken und spricht weiter. »Und in Kalifornien dürfen Sie ohne Aufsicht eines voll­jährigen Skillz Ihre Fähigkeit gar nicht in der Öffentlichkeit benutzen.«

Er legt den Kopf schief und in mir bricht vollends die Panik aus. Adrenalin marschiert wie eine Eliteeinheit der Army unaufhaltsam durch meine Adern. Mir fällt nur noch der billigste aller Tricks ein.

»Wenn Sie mich nicht sofort in Ruhe lassen, schreie ich um Hilfe.«

»Keine Sorge, Miss, wir wollen Sie nur wohlbehalten zurück nach Hause bringen.«

Nach Hause. Das ist 2 015 Meilen entfernt.

Der Mann im Anzug greift langsam in die Innentasche seines Jacketts und mein Gehirn kickt in den Notstrommodus.

Wohin als Nächstes?

Um einen Kurzschluss in meinem Schädel zu verhindern, schüttele ich schnell den Kopf, weil ich meine Konzentration gerade mehr denn je brauche. Wenn ich aus dieser Nummer wieder rauskommen will, dann sollte ich jetzt sehr, sehr vorsichtig sein.

Der Typ zieht eine Art Armband heraus und lächelt mich an, hält aber weiter etwas Abstand zu mir.

»Lassen Sie uns das ohne weitere Umstände hinter uns bringen. Das wäre im Sinne aller Beteiligten, nicht wahr?«

»Wer genau ist denn beteiligt?«

Kurz hoffe ich, er nennt meine Eltern, aber die wissen ja nicht mal, dass ich heute Morgen meinen Bikini mit in die Schultasche gepackt habe, obwohl es in Chicago gerade eben sechzehn Grad waren.

»Miss Jones, Sie haben in den letzten Wochen mehrmals die Schule verpasst.«

»Ich bin beurlaubt.«

Dreiste Lügen, überzeugend vortragen. Check.

»Sie wurden in Miami, Salt Lake City und New York gesehen.«

»Städtetrips.« Die sind schließlich nicht verboten.

»Alle binnen eines Tages.«

Er lächelt, als würden wir ein Geheimnis teilen. Dabei weiß ich nichts über ihn, aber er ganz offensichtlich alles über mich.

»Ich reise eben mit leichtem Gepäck, da ist man schnell unterwegs.«

»Wir sollten keine Szene machen. Sie sind schon genug aufgefallen.«

Doch, das sollten wir. Eine große und vor allem laute Szene. Gerade als ich erneut zur Flucht ansetzen will, sehe ich es. Weil es das erste Mal ist, bleibe ich wie erstarrt stehen. Wenn ich mich selber teleportiere, kann ich es nur spüren. Aber nun macht es jemand anderes buchstäblich vor meinen Augen: Es wirkt wie ein Visual-Effect in einem millionenteuren Actionfilm. Der Mann mir gegenüber verschwindet nicht einfach, es sieht vielmehr so aus, als würde er durch eine unsichtbare Leinwand treten oder einen Vorhang zur Seite schieben, dann spüre ich, wie er direkt neben mir auftaucht und sich plötzlich eine schwere Hand auf meine Schulter legt. Gleich darauf höre ich ein Klicken, als sich besagtes Armband mit einem Klick um mein Handgelenk legt.

Reflexartig schließe ich die Augen, will alldem hier nur noch entkommen, ich denke an die verschiedenen Autos, die ich vorhin auf dem Parkplatz gesehen habe, und es scheint zu funktionieren, obwohl mir die Bilder immer wieder entgleiten und meine Konzentration nachlässt. Das vertraute Rauschen setzt ein, nur klingt es diesmal sehr weit entfernt – und als ich die Augen öffne, habe ich mich keinen Zentimeter bewegt. Ich stehe noch immer unsicher zwischen den beiden Männern, die zufrieden nicken. Egal, wie oft ich die Augen auch schließe und mich auf einen anderen Ort konzentriere, um dorthin zu entfliehen, Sekunden später blinzele ich doch wieder gegen das pralle Sonnenlicht an und in die Gesichter meiner Gegenüber.

»Was haben Sie mit mir gemacht?«

»Wir sorgen nur dafür, dass Sie uns nicht noch einmal entwischen.« Dabei tippt er auf das Armband, das sich kühl, fremd und schwer auf meiner Haut anfühlt. »Keine Kurztrips mehr für Sie, Miss Jones. Schonen Sie Ihre Kräfte.«

Er hakt sich bei mir ein und deutet die Promenade entlang in Richtung Parkplatz, während sein Kollege auf der anderen Seite neben mir Position bezieht.

Zwei Männer in schwarzen Anzügen in der Hitze L. A.s, und trotzdem bin ich es, die hier fehl am Platz ist.

»Wo bringen Sie mich hin?« Und was passiert dort mit mir?

»Zur Schulbehörde.«

Kapitel 3

Taylor

Meine beiden Eltern zeitgleich mit mir an einem Ort, ja ­sogar in einem Raum zu sehen, irritiert mich schwer. Mom sitzt links, Dad rechts von mir, sie wirken müde und etwas abgehetzt, aber sie sind da, und seit knapp acht Minuten beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange, damit ich nicht aus Versehen wie ein betrunkenes Alpaka grinse.

»Die Sache ist sehr ernst, Taylor. Du kannst von Glück ­reden, dass wir dich vor den anderen erwischt haben.«

Das sagt der Mann jenseits des sicherlich tonnenschweren Schreibtisches in diesem Büro ohne Fenster. Sein Anzug sitzt lose um seine fast schon dürre Figur, die grauen Haare sind so frisiert, dass sie fast wie ein Helm auf seinem Kopf sitzen. Die buschigen Augenbrauen hat er nun zusammengezogen, als er zu mir sieht, aber leider verstehe ich noch immer nicht so recht, was hier eigentlich vorgeht.

»Den anderen?«

Doch statt auf meine Frage einzugehen, spricht er ernst weiter. »Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, was passiert wäre, wenn es jemand bemerkt hätte?«

Das Messingschild auf dem Schreibtisch trägt seinen eingravierten Namen: Mr Peter McAllister.

»Na ja, Mr McAllister, es hat ja jemand bemerkt. Sonst wäre ich kaum hier.«

Chuck und seine eiskalte Freundin Karen zucken vor meinem inneren Auge auf, nur um dann mit dem nächsten Blinzeln sofort wieder zu verschwinden. Jetzt bin ich fast ­erleichtert, hier zu sein, zwischen meinen Eltern.

Mit dem Flugzeug sind wir von Los Angeles nach Boston geflogen, Umstieg in Denver. Die ganze Zeit haben die Anzug-Typen nicht ein Wort gesagt.

»Du kannst von Glück reden, dass unsere Männer dich zuerst gefunden haben. Nicht viele Menschen sind begeistert, wenn wir unsere Skills einfach so am Strand ausprobieren.«

Er will es sich nicht anmerken lassen, aber seine Augen leuchten jedes Mal auf, wenn er über Skills spricht.

»Es war sehr aufwendig, dich hierherzubringen.«

Nun lehnt er sich nach vorne und sieht mich eindringlich an, aber ich zucke nur die Schultern, will nicht zugeben, wie groß die Erleichterung ist, jetzt hier zu sein. Oder wie groß die Unsicherheit darüber, dass ich nicht verstehe, was das alles bedeutet. Cool bleiben, nur nichts anmerken lassen.

»Wenn man mir gesagt hätte, wo ich hinmuss, hätte ich viel schneller herkommen können.«

Mom legt ihre Hand beruhigend auf meinen Oberschenkel, sieht aber nicht zu mir, sondern zu Mr McAllister, als sie spricht.

»Die Unannehmlichkeiten bitten wir zu entschuldigen, und natürlich übernehmen wir alle Kosten, die entstanden sind.«

»Ich hatte ja angeboten, kostenlos zu reisen.« Kurz hebe ich mein Handgelenk, um das noch immer dieses lächer­liche Armband baumelt. »Aber irgendwie war niemand daran interessiert.«

»Taylor, es reicht jetzt, sei still.« Dad dreht sich zu mir und schüttelt so knapp den Kopf, dass ich etwas in meinem Stuhl zusammensinke und tatsächlich den Mund halte.

Wieso habe ich nur geglaubt, es würde sie beeindrucken?

Vielleicht wollte ich ja sogar erwischt werden, damit sie endlich mal bemerken, dass es mich auch noch gibt, und ­sehen, was ich kann.

»Hören Sie, Mr McAllister, bis zu Ihrem Anruf wussten wir nicht, was unsere Tochter so treibt und dass sie die Schule schwänzt. Ab dem nächsten Schuljahr wird sie die Skillz-Academy auf Hawaii besuchen und hoffentlich lernen, wie sie ihren Skill vernünftig nutzen kann.«

Mr McAllister zieht amüsiert die Mundwinkel nach oben, und ich würde am liebsten applaudieren, halte mich aber daran, still zu sein.

»Nichts für ungut, Mr Jones, aber Ihre Tochter teleportiert sich durch sechs Bundesstaaten, und Sie wollen nichts davon bemerkt haben!«

Dad hat auf alles immer eine Antwort parat, ein Argument, eine Retourkutsche, aber jetzt rutscht er unsicher auf seinem Stuhl herum und senkt den Blick wie ein gescholtener Schüler.

»Wir wussten natürlich, dass sie sich bereits entwickelt hat …«

Entwickelt? So wie eine Kaulquappe zum Frosch?

»Aber wir wussten nicht, dass sie ihre Fähigkeit hinter unserem Rücken benutzt.«

Weil wir nicht mehr miteinander reden.

Mr McAllister nickt nachdenklich und sieht zwischen meinen Eltern hin und her, wobei er mich so geschickt übergeht, als wäre ich gar nicht anwesend. Dabei sorgt das Armband genau dafür.

»Ich gehe davon aus, dass Sie beide das Skill-Gen haben?«

Meine Eltern nicken und ich lehne mich interessiert nach vorne.

»Taylors Skill ist als Elite-Skill eingestuft worden?«

»Elite-Skill?«

Mein überraschter Einwurf führt zu einem strengen Blick von Dad und einem sanften Lächeln bei Mom.

»Hör mal, mein Schatz, vielleicht ist es besser, wenn wir erst mal ohne dich …«

Gerade als ich widersprechen will, ist es Mr McAllister, der meine Gedanken laut ausspricht. »Es ist an der Zeit, dass Taylor erfährt, was sie ist und wieso sie hier ist.«

Ich mag den Kerl schon deswegen, weil er meinen Eltern Ansagen macht und sich von ihnen nicht einschüchtern lässt. Das könnte ich mir den ganzen Tag ansehen.

»Ich weiß, was ich bin! Es wäre nur schön gewesen, wenn ihr mal bemerkt hättet, dass ich durch die Weltgeschichte reise!« Aber das haben sie nicht, weil sie ja immer ach-so-beschäftigt sind. »Oder wir einfach mal vernünftig über Skillz gesprochen hätten!«

Meine Eltern sehen nicht zu mir, sondern zu McAllister, als müssten sie sich bei ihm und nicht bei mir entschuldigen.

Mr McAllister aber schaut nun mich an. »Du weißt also, dass du eine Elite-Skillz bist, Taylor?«

»Na ja. Also. Nicht direkt. Aber ich weiß, dass Gouverneur Duchovny einer ist.«

Was für ziemlich viel Wind in der Presse und unter der Bevölkerung von Delaware gesorgt hat. In den sozialen ­Medien wurde davon gesprochen, dass diese Abnormalität jetzt sogar in der Politik angekommen sei. Zwischen all dem Jubel auf Twitter gab es auch sehr viele Hassposts und bösartige Kommentare, oftmals mit Drohungen garniert.

»Ganz richtig. Der erste Skillz in einer solchen Position. Wenn auch hoffentlich nicht der letzte.«

Mr McAllister lächelt fast hoffnungsvoll, und ich zucke nur mit den Schultern, weil ich nicht weiß, welche Reaktion er genau von mir erwartet.

»Skillz werden ja nach Besonderheit und Seltenheit der Fähigkeit in verschiedene Kategorien klassifiziert.«

»Von wem?« Ich möchte wissen, wer entscheidet, wessen Fähigkeit besonders genug ist, um in die Elite-Kategorie zu kommen.

»Von Fachkräften.« McAllister deutet mit einem edel aussehenden Kugelschreiber auf mich. »Dein Skill ist einer von den seltenen.«

»Das habe ich auch gecheckt, als ich plötzlich in New York auf dem Times Square stand, obwohl ich eben noch in der Mädchentoilette meiner Schule war.« Meine erste Teleportation.

Aus dem Augenwinkel nehme ich das überraschte Gesicht meines Vaters wahr, aber er stellt keine Fragen. Das übernimmt Mr McAllister.

»Wieso ausgerechnet New York, das ist recht weit weg von Chicago?«

Ohne meine Eltern anzusehen, zücke ich mein Handy und halte es gut sichtbar in Richtung Mr McAllisters. Mein Hintergrundbild zeigt Mom, Dad und mich mitten auf dem Times Square. Ich war damals zehn und strahlte stolz in die Kamera. Unser letzter gemeinsamer Familienurlaub. Mr McAllisters Blick wird weicher, als er mich anlächelt.

»Verstehe. Und kennst du noch jemanden, der so was kann?«

»Kostengünstig reisen?«

»Teleportieren.«

»Nein.«

»Weil es nicht viele Skillz wie dich gibt, Taylor.«

»Ich habe gar keine Ahnung, was für Skillz es überhaupt gibt!«

Jetzt richtet er seinen Blick von mir auf meine Mutter, die so angespannt an meiner Seite sitzt, dass man meinen könnte, sie hätte einen Stock verschluckt.

»Mrs Jones, Sie haben also für Taylor keine Kontakte mit anderen Skillz hergestellt?«

Meine Mutter schüttelt nur knapp den Kopf. »Wir leben nicht öffentlich als Skillz.«

Was ich immer noch ein bisschen schade finde, weil meine Eltern ziemlich coole Skills haben.

»Wieso eigentlich nicht? Das ist doch klasse! Ihr könntet Superhelden oder so was sein, Mom!«

»Nein. Wir sind Anwälte, da haben wir dir nie etwas vorgemacht. Wir haben uns für ein normales Leben entschieden.«

Wahnsinnig erfolgreiche Anwälte, die immer irgendwo unterwegs, immer irgendwo einen High-Profile-Fall haben und deswegen so selten daheim sind, dass ich mir ohne ­Probleme unbemerkt meine kleinen Trips habe erlauben können.

»Normales Leben? Gerade ist mein Leben echt alles, aber nicht normal.«

Dad will etwas erwidern, als Mr McAllister dazwischenfunkt.

»Deine Eltern haben sich für die Skillz-Academy auf ­Hawaii für dich entschieden.«

»Ich weiß, ich wechsele auf die Highschool für Freaks.«

Das genaue Gegenteil meines bisherigen Lebens, wenn man so will.

»Skillz sind keine Freaks, Taylor.« Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme macht deutlich, dass mein kleiner Scherz unangebracht war, und ich nicke schnell.

»Aber wenn wir keine Freaks sind, wieso halten sich dann die meisten Skillz bedeckt?«

Immerhin habe ich auch niemandem etwas davon erzählt. Weder meinen Schulkameraden noch meiner Familie.

»Weil wir immer noch nicht so von der Gesellschaft akzeptiert sind, wie wir uns das erhofft hatten. Deswegen liegt uns der Nachwuchs so am Herzen.«

Wieso will ich ihm das glauben? Vielleicht, weil ich mich dann weniger alleine fühlen würde, weil dann jemand auf mich aufpassen würde? Meine Eltern haben, was das betrifft, in den letzten Jahren nämlich keinen so guten Job gemacht.

»Wie alle Skillz, deren Talent sich entwickelt hat, wirst auch du deine schulische Laufbahn nun an einer der zahlreichen Academys weiterführen.«

Talent. Das gefällt mir. Und die Aussicht, mein Talent auf Hawaii weiterzuentwickeln, gefällt mir noch viel mehr. Vielleicht lerne ich bald surfen.

»Das weiß ich schon. Ich lerne da, wo andere Urlaub machen.« Und nebenbei werde ich diesen blassen Chicago-Teint los.

Doch da schüttelt Mr McAllister den Kopf, und zwar so, als hätte ich nicht richtig zugehört. »Oh nein, wir können dich nicht mehr nach Hawaii gehen lassen.«

»Wieso nicht? Das ist angeblich eine der besten Skillz-Academys der Welt.«

»Sieh einer an, du bist vorbereitet.« Aber er klingt nicht so beeindruckt, wie ich erhofft hatte. »Du giltst jetzt als straffällige Skillz, Taylor.«

»Als was?« Mir fällt die Aufzählung meiner Straftaten am Strand wieder ein. Gegen drei Gesetze habe ich angeblich verstoßen. Ich bin also eine Art Kriminelle. Mr McAllister schiebt ein offiziell aussehendes Schreiben über den Tisch in meine Richtung.

»Die Agenten der Skill-Inspection haben alles dokumentiert.«

Skill-Inspection. Ich bin jetzt an einem Punkt, an dem mich kaum mehr etwas überrascht.

»Ich will ehrlich mit dir sein, Taylor.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Du hast einen ganz besonderen und sehr persönlichen Elite-Skill entwickelt, und es wäre eine Schande, wenn du nicht lernst, damit anständig umzugehen.«

»Wo soll ich das denn lernen, im Jugendknast?«

»Nein, auf Guernsey.«

»Guern-was?«

Mr McAllister schüttelt nun den Kopf, diesmal mit so was wie Mitleid in seinem Blick.

»Du kommst auf die Misfits Academy der Insel Guernsey.«

Kapitel 4

Fionn

»Schickes Auto.«

Eric lehnt sich neben mich an das Fenster in unserem Zimmer, durch das wir auf den großen Innenhof der Academy schauen können. Ein dunkler Mercedes hat gerade vor dem Eingang des Haupthauses gehalten, aber noch ist niemand ausgestiegen. Immerhin beobachte ich die Szene schon seit zehn Minuten.

»Schon wieder ein neuer Schüler?«

»Sieht so aus.«

Langsam schüttele ich den Kopf. »Das Schuljahr hat schon längst angefangen, wieso sollten die jetzt noch einen reinholen?«

»Weil sich Misfits beim Mistbauen nicht an Lehrpläne halten?«

Es ist vor dem Frühstück, und ich spüre noch immer den Schlaf in meinen Knochen, aber Erics breites Grinsen lässt mich wissen, dass er schon wieder gute Laune hat. Seine hellblauen Locken, die sich in seiner Stirn kringeln, bewegen sich aufgeregt, weil Eric nie still stehen kann. Jetzt wirft er einen Blick auf die Uhr und nickt in Richtung Tür.

»Komm schon, es wird Zeit für deine Pop Tarts, sonst hast du den ganzen Tag miese Laune.«

»Pop Tarts werden daran kaum etwas ändern.«

»Pop Tarts und Kaffee vielleicht? Oh! Oder etwa Waffeln?« Er stößt sich vom Fenster ab, vergessen sind das Auto und die potenziellen Neuankömmlinge, die meine Aufmerksamkeit allerdings noch immer fesseln. »Karamell Macchiato?«

Eric ist schon fast an der Tür, als er sich wieder zu mir dreht, die Arme ausbreitet und so frech grinst, dass ich gar nicht anders kann, als es ihm gleichzutun. Er wirkt überrascht und greift sich theatralisch an die Brust, wobei er mich einen Moment mit offenem Mund ansieht. »Fionn Flare lächelt vor zehn Uhr morgens? Ich informiere die Presse.«

»Witzig, Eric. Wirklich witzig.«

»Ja, eine gewisse Portion Humor wird mir nachgesagt.« Mit einer flotten Bewegung öffnet er die Tür und deutet an, ich solle ihm endlich folgen. »Würdest du mich also in die Cafeteria begleiten?«

Bevor ich mich entscheide, werfe ich noch einen Blick aus dem Fenster und sehe, dass der Wagen gerade wendet und ich verpasst haben muss, wer ausgestiegen ist, was mich kurz ärgert.

»Fionn! Pop Tarts und Karamell Macchiato in dieser Richtung.«

Kurz atme ich durch, lasse die Enttäuschung darüber, dass ich den richtigen Moment versäumt habe, wieder abschwellen und gebe schließlich auf. Es ist ohnehin unmöglich, Eric irgendwas abzuschlagen.

Gespielt genervt setze ich mich in Bewegung und komme auf meinen Zimmermitbewohner nach zu, der noch immer in der geöffneten Tür wartet. Er trägt einen Batikpullover, in dem er fast untergeht, so oversized ist er, dazu Skinny Jeans, was den Look merkwürdig aussehen lässt. Aber Eric schert sich nicht darum, was andere denken. Zumindest ist das der Eindruck, den man bekommen kann. Aber ich kenne ihn seit zwei Jahren, teile mir mein Zimmer mit ihm und höre ihn im Schlaf reden. Der übergroße Pullover ist nichts ­anderes als meine Lederjacke, die ich jetzt vom Haken an der Tür nehme. Eine Rüstung, ein Image, etwas, hinter dem wir unsere Geheimnisse verstecken können. Trotzdem oder ­gerade deswegen schenke ich ihm ein Lächeln, als ich nun durch die Tür trete.

»Karamell Macchiato klingt verdammt verlockend.«

»Siehst du, ich weiß doch, wie ich dich aufmuntern kann.« Dabei schleudert er die Tür hinter uns ins Schloss und legt mir den Arm um die Schulter, wobei er mich ein Stück an sich zieht. »Wer weiß, vielleicht können wir Professor Sculder sogar überreden, dass es heute in der Mittagspause sonnig ist.«

Meine eher blasse Haut dürfte ihn wissen lassen, wie wenig mich die Aussicht auf Sonne in Ekstase versetzt, aber Eric grinst einfach darüber hinweg und tätschelt mir liebevoll die Wange.

»Royale Blässe hin oder her, du könntest eine gesündere Hautfarbe vertragen.«

»Kann ja nicht jeder ein Chamäleon sein.« Dabei lasse ich meinen Finger gegen eine hellblaue Locke schnippen, was diese sofort wieder tanzen lässt.

»Da magst du recht haben. Ich bin und bleibe eben etwas speziell.«

Er lässt es wie einen harmlosen Witz klingen, aber seine Augen bleiben traurig.

»Es ist eine Unverschämtheit, dass ihr schon vor dem Frühstück so gute Laune habt!«

June tritt auf die Treppe neben uns, ihr Beanie tief in die Stirn gezogen, die misstrauischen Augen wie immer unruhig, und doch entlockt Erics Anblick auch ihr ein Lächeln.

»Blau steht dir.«

»Danke. Siehst du, Fionn, unsere June hat eben Geschmack.«

Er legt den anderen Arm um sie und führt als Verbindungsstück unser Trio die Treppe nach unten, dirigiert uns geschmeidig an den restlichen Schülern vorbei und ignoriert deren Einwände.

»Weißt du zufällig, ob diese Woche neue Schüler ankommen sollen?« Meine Frage klingt harmlos, soll sich als Small Talk tarnen, aber ich vergesse mal wieder, mit wem ich es zu tun habe. Wenn ich jemandem nichts vormachen kann, dann ist es June, die mich – trotz ihrer Skill-Steel-Mütze – durchschauen kann wie sonst kaum jemand. Um nicht zu neugierig zu wirken, konzentriere ich mich auf den Flur vor uns, der direkt in Richtung Cafeteria führt, von wo der Duft nach Kaffee, Kakao, Rührei und frischen Waffeln heranweht.

»Du meinst, weil ein verdächtig aussehendes Diplomatenauto auf dem Hof war, aus dem dieses Mädchen gestiegen ist?«

Sofort schnellt mein Kopf wieder in ihre Richtung. »Du hast sie also gesehen?«

Eric lacht leise, während er kopfschüttelnd die Arme von unseren Schultern nimmt. »Ihr zwei seid so neugierig. Neue Schüler kommen doch immer mal wieder dazu. Ich verstehe echt nicht, wieso ihr euch jetzt auf einmal Sorgen macht.«

»Wer hat denn gesagt, dass ich mir Sorgen mache?« Meine Stimme klingt zu scharf und laut, was ich sofort bereue und einen entschuldigenden Blick in Erics Richtung hinterherschicke. »Ich bin nur interessiert, das ist alles.«

»Interessiert oder nicht, können wir erst mal das Frühstück hinter uns bringen, bevor ihr das nächste Chaos heraufbeschwört? Zuerst Pop Tarts und Karamell Macchiato, die Welt kann danach immer noch untergehen.« Er sieht von June zu mir und wieder zu ihr, bis wir schließlich beide nicken und Eric erleichtert aufatmet. »Na, seht ihr, geht doch.«

Er tritt vor uns durch die Tür in die Cafeteria, wohin ich ihm gerade folgen will, als June nach meinem Arm greift und mich zurückhält.

»Sie hat gefärbte Haare, ist in unserem Alter und kam mit beiden Elternteilen hier an. Boots, Jeans und Karohemd. Lust hatte sie offensichtlich keine, wer weiß, wobei sie ­erwischt wurde. Sah aber wie eine große Sache aus, immerhin hat Professor Sculder persönlich sie in Empfang ­genommen.«

June ist eine hervorragende Beobachterin, traut erst mal niemandem so recht über den Weg, und ich habe es nur Eric zu verdanken, dass sie zu uns Vertrauen aufgebaut hat.

Aber selbst jetzt, als wir ganz dicht beisammen formatfüllend in der Tür stehen und die Frühstücksmeute aufhalten, spüre ich das leise Misstrauen in ihrem Blick. Als könnte ich sie schon mit den nächsten Worten enttäuschen, also belasse ich es bei einem knappen Kommentar.

»Danke für die Infos.«

Ihr Lächeln ist schüchtern, aber ehrlich. »Du weißt doch, ich kann es nicht lassen.« Dann tippt sie sich schnell an ihre Strickmütze, was einen seltsam unpassenden metallischen Laut erklingen lässt. »Hiervon lasse ich mich nicht immer aufhalten. Schließlich kann ich sie, anders als ihr eure Armbänder, einfach mal heimlich abnehmen.«

Damit folgt sie Eric, lässt mich an der Tür zurück, und obwohl sie mich nur durch die Lederjacke berührt hat, kribbelt die Haut an meinem Arm noch immer.

Kapitel 5

Fionn

»Professor Sculder führt sie wohl gerade überall rum.«

June kommt mit einer Schüssel Müsli zurück an unseren Tisch, hat in den zwei Minuten, die sie weg war, schon wieder neue Informationen gesammelt, und ich ertappe mich bei einem anerkennenden Nicken.

»Ich wette, sie kommt in mein Zimmer. Ich kriege immer die reichen Kleinkriminellen ab.« Dabei verzieht sie kurz das Gesicht und nimmt mir gegenüber Platz, zieht dann ­unmotiviert mit dem Löffel Muster durch ihr Müsli. »Die reichen Kids landen doch alle hier, weil sie glauben, sich da draußen alles erlauben können, und wenn sie erwischt werden, ist es hier schließlich besser als im Jugendknast.« Kurz sieht sie hoch, einen ertappten Ausdruck auf dem Gesicht. »Nichts für ungut, Fionn.«

»Ist ja nicht so, als würden hier nur Rich Kids rumhängen. Es gibt genug andere Skillz an der Schule, die sich nicht an Regeln halten wollen.« Meine Geste soll nicht nur die ­inzwischen gut gefüllt Cafeteria umfassen, sondern auch alle Schulgebäude sowie die Wohnheime der Schülerinnen und Schüler. June schenkt mir ein schiefes Müsli-Grinsen.

»Weil du dich ja immer an alle Regeln hältst, Fionn.«

»Wenigstens bin ich nicht so ein angeberischer Elite-Skillz.« Das kommt etwas schärfer rüber als gewollt, und ich bereue es sofort, aber June schüttelt bereits den Kopf, getroffen von meinen Worten.

»Aber du wärst wahnsinnig gern einer.«

»Dann wär’ ich zumindest nicht auf der Misfits Academy.« Noch während ich es ausspreche, weiß ich, dass es ein Fehler war.

Junes Blick verdunkelt sich augenblicklich. »Du meinst, mit den coolen Skillz auf Hawaii oder Island rumzuhängen, wär besser, ja?«

Ihr Blick bohrt sich förmlich in meinen Kopf, und ich habe Angst davor, was sie alles dort finden könnte. Obwohl sie ihre Skill-Steel-Mütze trägt.

»Weißt du, Fionn, ich bin trotz meines Elite-Skillz gerne hier bei den Misfits!« Sie spuckt mir die Worte regelrecht entgegen, und ich suche nach einer Erklärung, was ich wirklich sagen wollte.

»So habe ich das nicht gemeint.«

Doch es ist zu spät, Junes Miene hat sich bereits verschlossen, und ich wende mich Hilfe suchend an Eric, aber der sitzt ist über seinen Teller gebeugt, als könnte ihm sonst jemand die letzte Waffel wegschnappen, und ignoriert mich. Da muss ich also wohl alleine wieder rauskommen. Ich atme kurz durch und stelle mich Junes Blick, der hart und verletzt, dabei aber ruhig auf mir ruht.

»Ich bin nirgendwo lieber als hier bei euch.« Und ich hoffe inständig, dass sie mir das auch glaubt. Nur leider bleibt ihre Miene unverändert.

»Aber du träumst eben trotzdem noch von Island, Hawaii und coolen Elite-Skillz-Freunden.«

Heftiger als nötig rammt sie den Löffel in ihr Müsli und schaufelt sich einen ganzen Haufen Frühstücksflocken in den Mund, kaut energisch darauf herum und sieht stur in ihre Schüssel. Es ist nicht so, als hätte sie damit komplett unrecht, aber solche Gedanken habe ich schon recht lange nicht mehr gehabt. Vor zwei Jahren, als ich neu herkam, war das noch ganz anders. Inzwischen genieße ich die Zeit mit Eric und ihr.

Mit ihr.

»June …« Jetzt könnte ich etwas Beistand von Eric durchaus gut gebrauchen, und er weiß das, aber solange er am ­Essen ist, wird er mich ignorieren. Außerdem ist das wohl so eine Art Lektion, die er mir mal wieder erteilen will.

»June Betty Clarke, ich habe coole Elite-Skillz-Freunde.«

Kurz zuckt ihre Augenbraue in die Höhe, aber das reicht noch nicht, und ich lege nach.

»Du bist meine liebste Elite-Skillz an der Misfits Academy in Saint Peter Port, Guernsey und auch sonst wo. Ich bin froh, mit euch hier zu sein. Zufrieden?«

Doch statt wie erhofft eine Reaktion von ihr zu bekommen, ist es Eric, der ein Seufzen von sich gibt. »Das ist so romantisch.«

»Halt die Klappe.«

»Nein wirklich, Fionn Flare, du steckst wahrlich voller Überraschungen.«

»Eric …«

»Seine liebste Elite-Skillz.« Er berührt Junes Ellenbogen und lächelt sie breit an. »Hast du das gehört?«

Sie nickt wie in Zeitlupe, und als sie aufblickt, sind da Tränen in ihren Augen, was mich wie eine Ohrfeige trifft.

»Aber du wärst trotzdem lieber woanders, weil du dich tief in dir drinnen schämst, hier bei den Misfits zu sein.«

Ich will antworten, es abstreiten und weiß doch genau, dass es keinen Sinn ergibt, June anzulügen. Enttäuscht schiebt sie den Stuhl geräuschvoll zurück und steht auf.

»Wir sehen uns im Unterricht.«

Damit lässt sie das Müsli und uns am Tisch zurück und marschiert durch die volle Cafeteria davon, was nicht mal Eric verhindern kann.

»Ich wollte doch nur …« Als ob ich wüsste, was ich wollte. June bringt mich immer durcheinander, und wenn Eric mit dabei ist, weiß ich sowieso nie, was ich sagen oder tun soll, welche Reaktionen die richtigen sind. »Ich verstehe sie einfach nicht. Warum ist sie denn ständig so sauer?«

»Sie nervt die Mütze, das ist alles. Professor Sculder hat ihr vor Kurzem aus heiterem Himmel die Zeiten ohne Mütze gekürzt – wen würde das nicht stressen?«

»Aber dafür kann ich nun wirklich nichts! Ist ja nicht so, als ob ich die Regeln hier machen würde, oder glaubst du –«

»Fionn.«

»Das ist Professor Sculders Schuld, der spielt doch nur mit unseren Fähigkeiten und –«

»Fionn!« Erics Stimme gleicht einem warnenden Zischen und ich sehe genervt zu ihm.

»Was denn?«

Aber er nickt nur auf Junes Müslischüssel, die vereinsamt an ihrem Platz steht und deren Inhalt leicht vor sich hin köchelt.­ Schnell sehe ich auf meine Hände, die zu Fäusten geballt sind und sich merkwürdig warm anfühlen. Bevor auch die anderen bemerken können, dass ich mich aufrege, strecke ich die Finger aus und atme einige Male tief durch, wobei sich die Milch im Müsli wieder beruhigt und mit mir abkühlt.

»Wo ist dein Armband?«

Das Armband. Verdammt!

»Vergessen.«

»Fionn.«

»Ich muss es heute im Waschraum vergessen haben.«

Eigentlich dürfen wir die Skill-Steel-Armbänder, die unsere jeweilige Fähigkeit blockieren, nicht abnehmen, aber wer hält sich schon immer an alle Regeln, nicht wahr? Eric hat da leicht reden, immerhin muss er keines tragen. Von wegen guter Führung und verantwortungsvollem Umgang mit seinem Skill, das habe er sich verdient, blablabla.

»Ich hole es vor dem Unterricht, okay?«

Erics Lächeln kehrt zurück, täuschend echt, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es ihm sogar abkaufen, aber seine Augen bleiben davon unbeeindruckt. Er schüttelt den Kopf, und ich weiß, dass er recht hat. Ich sollte das Armband tragen, wenn ich keinen Ärger will. Schwer atme ich aus.

»Bist du jetzt auch sauer auf mich, Eric?«

»Nein, aber der Tag ist noch lang, die Chancen stehen also gut, dass sich das irgendwann ändert.« Er schiebt sich das letzte Stück Waffel in den Mund und spricht dann ­kauend weiter. »Entspann dich, ich bin nur müde, das ist ­alles.«

In der letzten Nacht hat er ziemlich mies geschlafen, das ist mir nicht entgangen, aber sagen kann ich ihm das nicht. Eric mag gut gelaunt durch den Tag wandern, aber hinter all dem Lächeln und den bunten Haaren verbirgt sich etwas ganz anderes. Nur ahnt er nicht, dass ich es inzwischen weiß.

Ohne etwas zu sagen, schiebe ich ihm meine Kaffeetasse zu, was mir einen überraschten Gesichtsausdruck einträgt.

»Du gibst mir deinen Macchiato?«

»Keine Sorge, wird nicht zur Gewohnheit.«

»Hätte mich auch gewundert.«

Aber einen Schluck von meinem Kaffee gönnt er sich trotzdem und seine Augen leuchten dabei sogar wieder ein bisschen auf.

»Isst das niemand mehr?«

Ich habe ihn weder kommen sehen noch hören, und so steht er jetzt einfach an unserem Tisch und deutet auf Junes Müsli, als wäre er hier bei uns nicht vollkommen fehl am Platz.

Dylan Pollack.

Seine Klamotten sehen immer so aus, als hätte er sich ­alles irgendwo zusammengeliehen, manchmal auch in der falschen Größe. Heute bildet da keine Ausnahme. Der ­Kapuzenpullover mit dem aufgestickten Emblem der Schule auf der Brust ist viel zu ausgeleiert, gibt am Kragen den Blick auf das verwaschene T-Shirt darunter frei.

Die Wärme auf meiner Haut kehrt zurück, während ich ihn abweisend betrachte. »Doch.« Wobei ich eigentlich nicht vorhatte, neben meinen Pop Tarts auch noch Junes Frühstück aufzuessen.

»June hat gesagt, sie will es nicht mehr.«

Schon greift er danach, als ich blitzschnell aufstehe und ihn wütend anfunkle. Obwohl sie nicht mehr hier ist, habe ich das Bedürfnis, June zu beschützen oder etwas gutzumachen, indem ich ihr Frühstück verteidige.

»Finger weg, Dylan. Das gehört June.«

»Sie hat gesagt, ich kann es haben.«

Hat sie das wirklich oder ist das nur wieder so eine ­Masche von ihm? Ruhig sieht er mich an, kein bisschen eingeschüchtert, was mich bloß noch wütender werden lässt. Sonst fällt es mir leicht, mein Gegenüber mit einem Blick oder einer Geste abzuschrecken, immerhin weiß hier jeder, wer ich bin. Aber ausgerechnet bei Dylan funktioniert es nicht und das macht mich rasend.

Ausgerechnet Dylan.

»Jungs …«

Doch diesmal lasse ich Erics Stimme nicht zu mir durchdringen, balle die Hände wieder zu Fäusten und starre ­Dylan an, hoffe, er versteht die Warnung und verschwindet. Aber da ist dieses Etwas in seinen grauen Augen, das mir ­regelmäßig eine Gänsehaut beschert, selbst jetzt, als ich spüre, wie die Hitze meine Wirbelsäule nach oben kriecht. Wie eine zweite Haut breitet sie sich über meinen ganzen Körper aus. Dylan schüttelt fast mitleidig den Kopf und streckt die Hand nach der Schüssel aus.

»Das würde ich nicht tun.«

Er sieht auf das köchelnde Müsli, dann zurück zu mir – als wolle er mich herausfordern. Nur mit viel Mühe schaffe ich es, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, als Dylan seelenruhig nach der nun kochend heißen Schale greift.

Kurz erwarte ich, er würde sie sofort wieder fallen lassen, aber er hält sie ganz normal fest und schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Ist das echt alles, was du kannst, Fionn?«

Dann dreht er sich, die Schüssel noch immer in der Hand, einfach um und geht davon.

Kapitel 6

Taylor

Professor Dominic Sculder ist ein großer Mann, schlank und beeindruckend. Obwohl er sehr höflich mit meinen Eltern und mir spricht, kann ich ein unangenehmes Gefühl nicht abschütteln, als wir ihm über die Flure der Academy folgen. Seine Schritte sind zu leise, seine Bewegungen zu fließend, als wäre er hier und doch auch wieder nicht. Sein perfekt sitzender Anzug trägt nicht gerade dazu bei, dass er weniger einschüchternd wirkt. Die dunklen Haare sind kurz, dazu der offenbar frisch gestutzte Bart, der sein markantes Kinn betont und ihn wie ein in Marmor gemeißeltes Kunstwerk erscheinen lässt. Er hat helle Augen, die einen beobachten und so tief sind, dass man für immer darinnen verloren gehen könnte. Ich würde wetten, sie wechseln die Farbe, ich kann nicht mal sagen, ob sie nun blau, grün oder braun sind.

Er kann nicht älter als Dad sein, aber wenn er mich ruhig beobachtet, kommt er mir uralt vor. Als hätte er mehr gesehen und erlebt, als sein Alter eigentlich zulässt. Vielleicht halte ich genau deswegen Abstand zu ihm.

Irgendwie hatte ich erwartet, dass die Misfits Academy eine Art Besserungsanstalt für straffällige Jugendliche mit Gittern vor den Fenstern sei, aber schon als wir durch das große Tor gefahren sind, wurde mir klar, dass alles hier eher einer dieser schicken Eliteschulen gleicht, auf die sonst nur Mitglieder der europäischen Königshäuser gehen.

Das stolze Wappen am Eingang glänzt frisch poliert und schön, soll vielleicht aber auch nur darüber hinwegtäuschen, dass hier eben doch bloß die Außenseiter landen.

Zwar tragen die Schüler hier keine langweilige Schuluniform, die farblich auf das Logo an der Einfahrt abgestimmt ist, aber trotzdem erkenne ich keine Ähnlichkeit mit meiner Highschool in Chicago oder den Schülerinnen und Schülern dort.

Denen wir übrigens erzählt haben, ich würde auf eine Privatschule in England wechseln, weil meine Eltern sich das ja leisten können. Der Abschied fiel dementsprechend kühl aus, als hielte ich mich jetzt für was Besseres.

Aber was hätte ich sagen sollen? Hey, übrigens, ich komme aus einer Skillz-Familie und werde jetzt auf einer streng geheimen Academy für straffällige Superhelden ausgebildet. Ciao, bis dann!

Machen wir uns nichts vor, besonders viele Freunde hatte ich ohnehin nicht an meiner alten Schule. Alles nicht so einfach, wenn man tief drinnen spürt, dass man anders tickt. Die Tatsache, dass meine Eltern und ich Skillz sind, haben wir jedenfalls komplett verschwiegen.

»Skill-Verteidigung?«

Die Frage meiner Mutter reißt mich aus meinen Gedanken, und ich bemerke, dass ich wohl schon einige Minuten nicht mehr zugehört habe. Professor Sculder nickt fast ­amüsiert und deutet durch die geöffnete Doppeltür in eine Art Sporthalle, in der man auch einfach nur Basketball spielen könnte, wäre sie nicht so chic, dass man sie kaum zu betreten wagt. Die Wände sind aus dunklem Holz, das sicher so uralt wie der Rest der Schule ist. Den blank polierten ­Boden ziert in der Mitte ein Kreis, in dem ich das Maskottchen der Academy erkenne, einen Fuchs, den ich bereits über dem Eingang zum Haupthaus entdeckt habe. Ehrfürchtig bleibe ich an der Schwelle stehen, sehe mich um und fühle mich beobachtet, obwohl außer uns niemand hier ist.

»Es ist wichtig, dass unsere Schüler wissen, wie sie sich verteidigen, wenn sie in eine brenzlige Situation geraten. Und unser Lehrer Mr Morgan ist ohne jeden Zweifel der beste für diesen Job.«

Meine Eltern tauschen einen unsicheren Blick und ich verschränke die Arme.

»Kommen brenzlige Situationen hier denn öfter vor?« Das klingt tougher, als ich mich gerade fühle, aber wenn dieser Professor Sculder schon glaubt, mich einschüchtern zu können, soll er sich zumindest dafür anstrengen müssen. Der Direktor sieht von mir zu meinen Eltern, als hätten sie die Frage gestellt.

»Wir sind die Misfits Academy, Miss Jones.« Als wäre das eine logische Erklärung oder zumindest eine Antwort auf meine Frage, lässt er das so stehen.

»Und die Misfits Academy hat ein Abo für brenzlige Situationen, oder wie?« Meine vorlaute Klappe hat mir schon an meiner normalen Schule keine Sympathien bei den Lehrerinnen und Lehrern eingebracht, wieso sollte es hier also anders sein? Aber Mr Sculder scheint von mir und meiner Art recht gut unterhalten. Zumindest lässt sein Lächeln, das gerade eher an ein Grinsen erinnert, darauf schließen.

»Wir hatten in den letzten Jahren einige unangenehme Begegnungen mit Gegnern der Skillz.«

»Ich dachte, an den Academys sind die Kinder sicher.« Meine Mutter spricht von Kindern, dabei habe ich hier nur Teenager gesehen.

»Unsere Sicherheitsvorkehrungen sind nach dem letzten Zwischenfall erhöht worden. Wir möchten weitere Probleme vermeiden.«

Er lächelt souverän, und auch wenn meine Eltern sich davon einlullen lassen, so bin ich nicht überzeugt.

»Von was für einer Art Zwischenfall reden wir hier?« Professor Sculder lässt mich keine Sekunde aus den Augen, aber ich halte mein Kinn gereckt, die Schultern zurück­genommen und hoffe so, Selbstbewusstsein auszustrahlen – auch wenn mir das auf dem Weg hierher irgendwo über dem Atlantik abhandengekommen ist.

Professor Sculder nimmt sich Zeit. – Für alles. Als würden die Minuten an ihm spurlos vorbeiziehen, als hätte er keine Anschlusstermine und der Tag genug Stunden. Auch jetzt bleibt er eine unangenehm lange Weile still, bevor er mir antwortet.

»Straffällige Teenager mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, mitten in der Pubertät, voller Hormone, die verrücktspielen. Es kommt durchaus vor, dass manche Skillz über die Stränge schlagen und es zu, sagen wir mal, schwierigen Situationen kommen kann.«

Ich spüre, wie mein Hals trocken wird und ich mich räuspern muss. Aber es ist meine Mutter, die für mich spricht.

»Vielleicht ist das doch keine so gute Idee.«

Hawaii. Sonnig und sicher. Das wäre eine viel bessere Option.

»Mrs Jones, ich befürchte, die Schulbehörde lässt Ihnen keine andere Wahl. Taylor ist ein Misfit und hat sich strafbar gemacht. Aber seien Sie versichert: Diese Academy ist der sicherste Ort für Ihre Tochter. Da draußen ist sie definitiv nicht besser aufgehoben, wie sie ja gerade erst eindrucksvoll bewiesen hat.«

Autsch. Irgendwie kommen mir Karen und Chuck mit ihrer albernen Broschüre gerade absurd harmlos vor.

»Wir bilden Ihre Tochter hier so lange aus, bis sie ihren Skill verantwortungsvoll nutzen kann –«

»Das kann ich bereits.«

Professor Sculder legt den Kopf schief, ein amüsiertes ­Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus und ich komme mir klein und unbeholfen vor.

»Glauben Sie mir, Taylor, sobald Sie Ihren Skill für etwas anderes als Kurztrips nutzen können, werden Sie Guernsey, die Academy und die Welt da draußen als weniger angsteinflößende Orte wahrnehmen.«

»Mir macht die Welt keine Angst.«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Sollte sie aber vielleicht.«

Kapitel 7

Taylor

Es gibt tatsächlich eine Broschüre der Misfits Academy, Hochglanz und mit vielen Fotos von lachenden Jugend­lichen, die zusammen bei Sonnenschein im Innenhof sitzen, beim Schwimmunterricht und beim Kampfsport mit geröteten Gesichtern. Man kann hier alle möglichen Sportarten ausüben, wie die nächsten Seiten beweisen, die ich ­allerdings zügig überblättere, weil mich weder Rugby noch Tennis oder Fußball interessieren.

Das Wappen der Academy ist in Schwarz und Blau gehalten. Ein gezeichneter Kreis und ein Fuchs zieren es, in dem außerdem die Buchstaben M und A zu lesen sind.

Aude esse aliud steht in geschwungenen Buchstaben da­runter. Meine Lateinlehrerin wäre sicher stolz auf mich, dass ich das Motto der Misfits Academy problemlos übersetzen kann: Traue dich, anders zu sein. Leichter gesagt als getan in einer Welt voller Chucks und Karens, in der man schon schräg angeschaut wird, nur weil man was anderes kann als die meisten, keine Mainstream-Musik hört oder schlicht eine andere Haarfarbe hat.

»Eine Schande, dass Taylor trotz ihres Elite-Skills hier ist.«

Zwar gibt es inzwischen mehr als zwanzig Skillz-Schulen, verteilt über den ganzen Globus, aber diese hier in St. Peter Port ist offenbar etwas Besonderes in einer Welt voller ­Besonderheiten, und doch schämt sich mein Vater gerade etwas. Mom ist einmal mehr die Vermittlerin, lächelt tapfer und schluckt ihre Enttäuschung einfach so runter.

»Sie haben hier sicher jede Menge Erfahrung mit Schülern wie ihr.«

»Schülern wie ihr? Die auch mal Ärger machen? Sie ist eine Elite-Skillz, verdammt noch mal! Sie könnte an der Academy auf Hawaii einen guten Abschluss machen, der ihr alle Türen öffnet.« Dad spricht so, als wäre ich gar nicht anwesend. Doch als er sich mir dann doch zuwendet, wünschte ich, er hätte mich weiter ignoriert. »Aber du musstest es ja vermasseln.«

Natürlich. Ich habe es vermasselt. Nicht etwa sie und ihre ständige Abwesenheit, nicht die Kühle in unserem Zuhause oder das Desinteresse an mir und meinen Gedanken.

»Einige bekannte Skillz haben hier ihren Abschluss gemacht.« Dabei tippt Mom auf die Broschüre in ihrer Hand, als wäre sie das schlagende Beweisstück in einer ihrer Gerichtsverhandlungen. »Dein Name könnte auch auf dieser Liste stehen, Taylor.«

Wenn mein Leben vor ein paar Tagen nicht einen perfekt ausgeführten 180-Grad-Flip hingelegt hätte, würde ich jetzt vielleicht nach Sonnencreme und Salzwasser riechen, aber Dad hat nicht unrecht: Ich habe es vermasselt und muss mich nun auf regnerisches Wetter und eine fremde Schule einstellen.

»Wenn ich nicht vorher von hier verschwinde.«

Mein Kommentar amüsiert weder meine Mutter noch meinen Vater, die in ihre Broschüren vertieft sind, während wir im Sekretariat vor Professor Sculders Büro noch auf irgendwelche Formulare warten. Das lästige Armband zwingt mich dazu, mit ihnen auszuharren, obwohl ich liebend gern woanders wäre. Egal, wie chic diese Institution auch sein mag, der Raum ist mords-alt und müffelt nach Seetang oder so was. Kurz sehe ich auf das Wappen mit dem Fuchs, das mich nur auf Lateinisch dazu auffordert, anders zu sein.

»Wieso ausgerechnet ein Fuchs?«

Bevor mein Vater oder meine Mutter reagieren können, ist es eine andere Stimme, die mir die Antwort liefert.

»Weil ein Fuchs clever ist. Und unabhängig, verspielt und weil er Täuschungen durchschaut, während er selbst ein Meister der Tarnung ist.«

Ein junger Mann, dessen braune Haare ihm tief in die Stirn hängen und dadurch seine Augen ziemlich gut verstecken, ist unbemerkt zu uns ins Sekretariat getreten. Jetzt schenkt er mir ein kurzes Lächeln, und mein Blick fällt auf seine Hand, an der offensichtliche Brandblasen zu erkennen sind. Bevor ich fragen kann, zuckt er entschuldigend die Schultern. »Kleiner Unfall.«

Selbst aus der Entfernung sehen seine Wunden reichlich schmerzhaft aus, aber er verzieht keine Miene, geht einfach nur direkt zur Sekretärin – Miss Baker –, die nicht ganz so schockiert über die Verletzung scheint.

»Mensch, Dylan …«

»Es war nicht meine Schuld.«

»Ist es ja nie.« Sie atmet tief aus und schüttelt dann den Kopf. »Wir lassen dich behandeln und für den restlichen Schultag krankschreiben.«

»Nein. Das ist schon okay. Ein Verband reicht und ich kann weitermachen.«

»Dann geh bitte zur Krankenstation. Dr. Gibson soll sich deine Verletzung ansehen und sie entsprechend behandeln.«

»Wie immer, alles klar.« Er wendet sich wieder zum ­Gehen, marschiert an meinen Eltern vorbei, als wären sie gar nicht anwesend, obwohl sie ihn ein bisschen von oben herab mustern. Direkt auf meiner Höhe bleibt der Junge ­stehen.

»Füchse sind Problemlöser, Anpassungskünstler und Strategiemeister. So in der Art sind auch wir Misfits oder sollen es zumindest werden.«

Seine Hand, die wehtun muss, hält er leicht schräg von seinem Körper weg. Vermutlich um zufällige Berührungen damit zu vermeiden.