Goldkehlchen – Erinnerungen voller Lieder - Adriana Popescu - E-Book
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Goldkehlchen – Erinnerungen voller Lieder E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Wenn das Glück nur ein paar Takte entfernt ist ... Im neuen Roman von Adriana Popescu übernimmt eine junge, engagierte Chorleiterin einen schrägen, wenn auch liebenswerten Seniorenchor und entdeckt nicht nur die Liebe zur Musik neu. Wo bin ich hier nur gelandet? Das fragt sich Toni bei der ersten Probe der Goldkehlchen. Sie soll den bunt zusammengewürfelten Seniorenchor eines Stuttgarter Altenheims nicht einfach nur übernehmen, sondern ihn auch noch auf den alljährlichen Gesangswettbewerb vorbereiten, den die Goldkehlchen noch nie gewonnen haben. Alles nicht so leicht, wenn Lieder verwechselt, Texte vergessen und Einsätze verpasst werden. Toni bemerkt, dass die Herausforderung größer ist als zuerst angenommen und dass der Chor einige Unikate parat hält: den grummeligen Valentin mit der tollen Stimme und den schlechten Manieren, Paul mit den blauen Augen und dem schlechten Gedächtnis oder die stille Sophia, die nur dank der Musik überhaupt noch aufblüht. Doch mit jeder Probe erkennt Toni mehr, dass es nicht mehr nur um die perfekt gesungene Note, sondern die Musik dahinter geht, die bei den Goldkehlchen so manche Erinnerungen an vergangene Zeiten weckt. Vielleicht ist Toni hier doch genau richtig … Mit jeder Note wachsen einem die Chormitglieder der Goldkehlchen mehr ans Herz. Die Lebensfreude, die sie durch die Musik und das gemeinsame Singen zurückgewinnen, die Kraft des Miteinanders, die Kostbarkeit des Moments. All das macht diesen lebensbejahenden und berührenden Roman, der randvoll mit Liebe ist, zu einem einzigartigen Leseerlebnis.

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© Adriana Popescu, 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Inhaltsübersicht

Cover

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Impressum

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Große fragende Augen sehen mich an.

Nur befürchte ich, die Anwesenden haben ihre Fragen an mich schon wieder vergessen. Dabei bin ich so gut vorbereitet, als hätte ich eine mündliche Prüfung zu bestehen.

Teils ahnungslos, teils gespannt, was sie von dieser jungen Frau zu erwarten haben, mustern sie mich. Mit jedem Blick, der auf mir landet, spannt sich mein Körper zusätzlich an, und ich spüre, wie sich der Schweiß in meinem Nacken sammelt, bereit, an der Wirbelsäule entlang nach unten zu schießen.

Du bist vorbereitet, Toni, denke ich. Du hast alles im Griff.

Obwohl das große Fenster neben dem Klavier gekippt ist, steht die Luft im Chorraum. Der Sauerstoff kann unmöglich für alle Anwesenden reichen. Da erst fällt mir auf, dass sich die Fenster nicht ganz öffnen lassen. Sie sind mit einer Art Schloss versehen, obwohl wir uns im Erdgeschoss befinden.

An den Wänden hängen Bilder, bunt und chaotisch, ein Fest für jeden Fan von Rorschachtests. Die meisten erinnern an Fingermalereien, wie man sie im Kindergarten anfertigt.

»Das hier ist Antonia Waller, eure neue Chorleiterin.«

Die Heimleiterin Frau Geiger, eine resolute Frau mit blonden Locken und strenger Mimik, sieht die anwesenden Chorteilnehmer an und deutet dann auf mich.

In der Ledertasche, die ich mir für meinen ersten Arbeitstag in meinem neuen Job gekauft habe, befinden sich all die Dinge, die ich für heute brauche.

»Ihr werdet ganz viel Spaß mit Frau Waller haben.«

Es wird genickt, manche zucken die Schultern, andere starren weiter zu mir, vielleicht in der Erwartung, ich würde mich vor ihren Augen wieder in Luft auflösen.

Eine ältere Dame, die meine Vorstellung wohl nicht interessant genug findet, läuft hinter der letzten Reihe ständig auf und ab, wie ein Metronom. Ihre Schritte klingen wie akustische Impulse, die in gleichmäßigen Zeitintervallen ein konstantes Tempo vorgeben. Aber meine Gedanken halten sich nicht an ihr Tempo, sondern rasen ohne Geschwindigkeitslimit durch meinen Schädel. Auf dem Ausdruck meiner Internetrecherche sah alles ganz einfach aus. Jetzt kriege ich weiche Knie.

Frau Geiger deutet mahnend auf einen der alten Herren in der ersten Reihe, der mit seinen stechend blauen Augen und den eisgrauen Haaren frech grinsend dasitzt.

»Und dass mir ja keine Beschwerden kommen, Herr Bollinger.«

Der hebt ahnungslos die Schultern, grinst dabei aber weiter.

»Frau Gettelmann, es wird endlich wieder gesungen!«

Damit wendet sich die Heimleiterin an eine alte Dame, die etwas abseits sitzt und lächelt, dabei aber nicht so aussieht, als würde es sie groß interessieren.

»Das wird ganz wunderbar«, fährt Frau Geiger fort und dreht sich zu mir um. »Ich bin mir sicher, dass Sie das toll machen werden, Frau Waller.«

Natürlich. Weil ich immer alles ganz wunderbar mache. Und ich bin vorbereitet. Bei meiner ausgiebigen Recherche zum Thema Demenz würde es mich nicht wundern, wenn man mir spontan einen Doktortitel verleiht, auch wenn ich mir jetzt in der hellen Bluse und dem karierten Rock fast schon overdressed vorkomme. Sogar den Rotton meines Lippenstifts habe ich auf mein übriges Outfit abgestimmt. Nur nichts dem Zufall überlassen. Nichts, außer meiner Zukunft.

»Falls Sie Unterstützung brauchen …«

Frau Geiger deutet auf eine Pflegerin, die in der letzten Reihe sitzt und mir zuwinkt. Gut zu wissen, auch wenn ich davon ausgehe, dass ich ihre Unterstützung nicht brauchen werde. Die Pflegerin lächelt mir aufmunternd zu, und ich stelle fest, dass ich tatsächlich richtig nervös bin. Auch die Dame im Hintergrund wirkt alles andere als entspannt, geht unaufhörlich hin und her, wird dabei von allen außer mir ignoriert.

Aha, Bewegungsdrang. Ein typisches Verhalten von Demenzkranken. So viel weiß ich dank meiner Recherche schon. Nur ist es doch ganz anders, realen Menschen zu begegnen, mit Gesichtern und Stimmen. In der Theorie und meiner Vorstellung klang das alles irgendwie leichter.

Nachdem Frau Geiger den Raum verlassen hat, atme ich tief durch und fange noch mal an.

»Hallo. Ich bin Antonia Waller und …«

Die Tür, durch die Frau Geiger eben verschwunden ist, öffnet sich erneut, und kurz spüre ich einen Anflug von Verärgerung. Zum Chor kommt man einfach nicht zu spät.

Ein Paar betritt den Raum. Sie hochgewachsen, graue feste Locken, er ein Stück kleiner, das Haar nicht mehr ganz so voll, der Gesichtsausdruck grimmig.

»Sind wir zu spät für die Chorprobe?«

»Nein, nein. Wir wollten allerdings gerade angefangen.«

»Siehst du, Ulrich, von wegen, es lohnt sich gar nicht mehr.«

Die Frau schiebt ihren Mann vor sich her in Richtung der freien Stühle, wo er – übrigens noch immer grimmig dreinblickend – Platz nimmt und die Arme verschränkt.

»Sind wir denn nun vollzählig?« Meine Frage stelle ich in den Raum, weil ich nicht genau weiß, wen ich ansprechen soll oder kann.

»Mehr oder weniger. Die Besetzung schwankt, je nach Tagesform«, antwortet der Mann mit den blauen Augen – Herr Bollinger – und lächelt dabei charmant.

In meiner nagelneuen Tasche befinden sich ausgedruckte Liedtexte, Tonfolgen zum Aufwärmen und Einsingübungen, abgestimmt auf die Möglichkeiten der Chormitglieder.

»Wer von Ihnen hat denn schon mal in einem Chor gesungen?«

»Alle. Sonst wären wir ja wohl kaum hier«, antwortet ein Mann aus der zweiten Reihe mit einer tiefen Bassstimme. Er steht auf und funkelt mich aus dunklen Augen unter buschigen, grauen Brauen an. Mit dem blütenweißen Hemd, der gelben Krawatte und dem perfekt gestutzten Bart macht er auf mich nicht den Eindruck, als wäre er hier am richtigen Ort. Doch bevor ich meine Zweifel diesbezüglich zum Ausdruck bringen kann, schüttelt er genervt den Kopf.

»Vielleicht sind Sie hier ja falsch. Wir sind ein Chor ohne Leitung, aber Sie …«

Wieder dieser musternde Blick.

»… kommen mir nicht wie eine Chorleitung vor.«

Wenn er wüsste. Stolz recke ich das Kinn vor.

»Ich habe Musikpädagogik studiert.«

Sein warmes Lachen klingt ebenso tief und voll wie seine Stimme. Mit einem solchen Bass könnte man sicher etwas anfangen.

»Deswegen sind Sie also hier. Weil wir für Sie so etwas wie Laborratten sind, oder? Gut für Ihr Studium.«

»Nein. Wie erwähnt, habe ich mein Studium bereits beendet.«

Mir gefällt zwar seine Stimme, aber nicht der Ton, in dem er mit mir spricht.

»Ich bin hier, weil ich Musik liebe und eine Vorliebe für Laienchöre habe!«

»Dann stehen Sie nicht so rum, sondern bringen Sie uns was bei, Frau Musikpädagogin.«

»Waller. Ich heiße Waller. Und Sie sind?«

»Valentin Meerbach.«

Ich nicke, halte dem Starrduell stand und spüre, wie meine Lippen sich langsam zu einem Lächeln formen.

»Sie singen Bass.«

»Schon immer, ja. Wollen Sie was hören?«

Gerade als ich antworten will, dreht sich Herr Bollinger genervt zu ihm um.

»Hör mal, Valentin, wir wissen alle, dass du nur ganz knapp nicht mit Frank Sinatra zusammen auf der Bühne standest, aber könntest du uns mit der sich immer wiederholenden Geschichte heute verschonen?«

»Wieso? Manche von euch glauben sowieso, sie hören sie zum ersten Mal.«

Zuerst denke ich, er spricht von mir, weil ich seine Geschichte – und die von Frank Sinatra – noch nicht kenne, aber dann bricht Bollinger in schallendes Gelächter aus, und Valentin Meerbach nimmt wieder Platz, die Strenge in seinem Gesicht bleibt allerdings unverändert.

Bollinger dreht sich zu mir.

»Verzeihung, aber wenn man schon in einem Demenzchor singt, will man zumindest den Humor nicht ganz vergessen.«

Demenzchor.

Genau deswegen bin ich hier. Eine flotte Zwischenstation, gut fürs Karma – und auf dem Lebenslauf macht sich das auch gut. Außerdem passt es gut in meinen Berufsalltag, da ich nur drei Vormittage pro Woche in einem privaten Kindergarten als Musikpädagogin arbeite. So viel Spaß mir mein Job auch macht, eine Abwechslung hat ja bekanntlich nie geschadet. Dass diese Abwechslung aber eine solche Herausforderung wird, damit habe ich nicht gerechnet.

Jetzt sehe ich in Gesichter, die mir nicht verraten, ob sie sich morgen oder nachher noch an mich, meine Einsingübungen oder die Liedtexte erinnern werden.

Mit diesem Valentin habe ich zumindest schon mal einen Bass.

»Fangen wir jetzt an, oder sitzt man hier nur rum?«, erkundigt sich ausgerechnet Ulrich, der doch eigentlich gar nicht hier sein will.

»Natürlich. Vielleicht wollen wir unsere Stimmbänder kurz aufwärmen?«

Doch meine Idee wird nicht ganz so begeistert aufgenommen wie erhofft. Eigentlich reagiert niemand wirklich darauf, und mir wird klar, dass dieser Chor offenbar auf Einsingübungen verzichtet.

»Nun gut, dann legen wir eben so los. Welches Lied haben Sie denn zuletzt gesungen?«

Die meisten blicken ahnungslos drein, und mir wird klar, dass nicht alle hier im gleichen Stadium der Krankheit gefangen sind. Valentin Meerbach und Herr Bollinger wirken klarer, Ulrich sicherlich auch, aber die Dame ganz außen, die nur lächelnd dasitzt und an uns allen vorbeisieht, die weiß nicht, was sie zuletzt gesungen haben. Und unsere Spaziergängerin trainiert vielleicht für einen Marathon, aber ich bezweifle, dass sie wirklich wegen der Musik hier ist.

»Mit siebzehn. Von Peter Kraus.«

Herr Meerbach sieht mich süffisant lächelnd an, wartet ab, wie ich mit dieser Information umgehe, und wedelt mit einem Zettel in der Hand.

»Brauchen Sie den Text?«

Peter Kraus kenne ich natürlich, auch das Lied, aber aus der Erinnerung könnte ich es nicht spielen. Was Meerbach natürlich ahnt.

»Vermutlich nicht so Ihre Zeit, Frau Waller, was?«

»Nicht so ganz, nein.«

Sein Lächeln verwandelt sich in ein waschechtes Grinsen.

»Tja. Und nun?«

Das hier ist ein Test. Meerbach fordert mich heraus, und ich lächele zurück, bevor ich in meine Tasche greife und mein Handy herausziehe.

Er weiß nicht, dass ich solche Situationen gewöhnt bin.

»Nun mischen wir unsere Zeiten doch mal ein bisschen.«

Schnell eine Googleanfrage abgeschickt, und schon tauchen die Noten zu dem erwähnten Lied auf meinem Display auf. Entschlossen gehe ich zum Klavier, werfe ein Lächeln in den Raum, ohne festen Empfänger, und nehme auf der kleinen gepolsterten Bank Platz.

»Singen Sie einfach mit.«

Meine ersten Klavierstunden hatte ich mit vier. Insofern ist das hier eine leichte Übung für mich.

Sobald ich loslege, muss auch Meerbach einsehen, dass dieser Punkt an mich geht. Die Senioren vor mir setzen ein, einige zu früh, andere zu spät und die meisten sehr schräg. In ihren Händen halten sie das Textblatt, das schon vor ihrem Auftauchen auf ihren Stühlen verteilt wurde, und wirken dabei sehr angestrengt. Gut, nicht alle. Sogar unsere Spaziergängerin singt mit, ohne ihr Gehen zu unterbrechen. Dann steht die kleine, alte Frau neben der Pflegerin auch noch auf und beginnt durch den Raum zu tanzen – wenn man es denn so nennen will. Sofort sehe ich Hilfe suchend zu der Pflegerin, die aber nur freundlich lächelnd dasitzt und in den Refrain einstimmt, was den Chorklang nicht zwingend harmonischer macht.

Meine Finger auf den Tasten geben mir das Gefühl, als hätte ich alles unter Kontrolle. Solange ich keine falsche Note erwische, ist alles gut, so einfach ist das. Doch je länger ich spiele, je schräger die meisten Chormitglieder singen, desto stärker werden die Zweifel in meinem Inneren.

Das hier ist kein Chor, sondern eine musikalische Katastrophe, mit der ich tatsächlich nur auf dem Papier jemanden beeindrucken kann, aber sicher nicht in einem Konzertraum.

Nur eines steht unumstößlich fest: Valentin Meerbach hat eine Stimme, die auf die Bühne gehört hätte – und zwar ganz ohne Frank Sinatra.

2

»Das war doch gar nicht so schlimm, oder?«

Schon will ich auf diese Frage am Ende der Chorprobe antworten, als ich bemerke, dass sie gar nicht mir, sondern Ulrich gestellt wurde, und zwar von seiner Frau, die ihn ganz aufmunternd anlächelt, was an ihm aber vollkommen abprallt.

»Na ja, besonders angenehm war es aber auch nicht.«

»Jetzt stell dich nicht so an, ein Chor ist eine tolle Sache, Ulrich.«

Dann erst bemerkt sie, dass ich die Unterhaltung mit anhöre, und sofort taucht eine Spur Hoffnung auf ihrem Gesicht auf.

»Manchmal muss man meinen Mann erst zu seinem Glück zwingen.«

Sie tätschelt liebevoll seine Hand, was ihm deutlich unangenehm ist.

»Ich gehöre hier nicht hin. Meine Frau denkt, ich könnte hier schon mal Anschluss finden. Für später.«

Den letzten Satz bringt er mit einer ordentlichen Portion Vorwurf über die Lippen und sieht sich dann kopfschüttelnd um, betrachtet die kindlich bunten Malereien an den Wänden. In seinem Blick ist pure Angst zu erkennen, auch wenn er das nicht weiß und es ihm sicher peinlich wäre.

»Meine Frau sieht keine besonders positive Zukunft für mich.«

Er lacht, aber es klingt nicht amüsiert. Dann erhebt er sich von seinem Stuhl und nickt mir knapp zu.

»Nichts für ungut, Sie haben das ja ganz ordentlich gemacht, aber ich werde sicher nicht wiederkommen.«

Ganz ordentlich? Das ist kein Lob.

»Moment, lag es an der Musikauswahl?«

Er sieht mich an, als hätte ich eine unglaublich dumme Frage gestellt.

»Nein. Es lag daran, dass ich nicht hierhergehöre. Da könnten Sie auch Songs von Udo Jürgens oder den Rolling Stones singen, das würde die Sache nicht besser machen.«

»Ich verstehe.«

Eigentlich verstehe ich es nicht, mache mir aber sofort eine gedankliche Notiz, dass unter Umständen auch englischsprachige Songs möglich wären.

»Ich warte am Auto«, sagt er zu seiner Frau. Damit stapft er in Richtung Ausgang und macht nicht einmal Anstalten, auf sie zu warten. Seine Frau sieht entschuldigend zu mir, und ich lächele verständnisvoll.

»Mein Mann hat die Diagnose noch nicht so recht verarbeitet. Er glaubt, es wäre nur seine Schusseligkeit, die er schon immer hatte.«

»Aber das ist es nicht?«

»Leider nein.«

Sie lächelt tapfer weiter, während sie mich aufklärt.

»Demenz kommt, wie ich jetzt weiß, nicht mit einem großen Werbeplakat und einer Mariachi-Band ins Leben geplatzt.«

Das hat auch meine Recherche ergeben.

»Sie schleicht sich an, versteckt sich in den Ecken, wo man schon lange nicht mehr durchgewischt hat, und macht es sich dann auf dem Sofa bequem. Bevor man es merkt, hat man eine ungewollte Untermieterin.«

»Verstehe.«

Sie sieht mich zweifelnd an, und ich wittere meine Chance, hole Luft und lege los.

»Als Vorbereitung für diesen Job habe ich mich mit dem Thema befasst. Viele Studien beweisen, dass Musik helfen kann. Vertraute Lieder aus der Jugend können Erinnerungen wachrufen, und es hilft natürlich auch der Mobilität, im Takt klatschen und all das.«

Ulrichs Frau nickt, wenn auch nicht so beeindruckt, wie ich erhofft habe. Sie sieht mich nur müde an und zuckt schließlich die Schultern.

»Wenn ich noch ein paar Erinnerungen mit meinem Ulrich sammeln kann, bevor …«

Ihr Lächeln bleibt weiterhin tapfer, verliert aber deutlich an Glanz, und ganz kurz meine ich, auch in ihrem Blick, der sehnsüchtig zur Tür wandert, einen Anflug von Angst zu erkennen.

»Na ja, ich sehe mal lieber nach ihm, bevor er etwas Dummes anstellt.«

»Natürlich.«

»Vielen Dank, Frau Waller.«

»Wofür denn?«

»Na, ohne Sie wäre der Chor eingestellt worden, weil man keine Chorleitung gefunden hat.«

»Wirklich?«

Sie greift ganz spontan nach meiner Hand und drückt sie kurz. Ich bin von der Geste etwas überrumpelt und verharre stocksteif vor ihr.

»Ich bin übrigens Dorothea Schüble, meinen Mann Ulrich haben Sie ja jetzt ein bisschen kennengelernt.«

Habe ich. Und besonders viel Begeisterung fürs Singen hat er nicht mitgebracht.

»Bis zum nächsten Mal.«

»Ja, bis zum nächsten Mal.«

Ich sehe ihr hinterher, wie auch sie den Raum verlässt, groß und schlank wie eine Zypresse, der auch der größte Sturm kaum etwas anhaben kann.

»Sieh einer an, Sie haben mich überrascht.«

Den Bass kenne ich inzwischen, sammele aber noch einen Moment meine Gedanken, bevor ich mich umdrehe und in das Gesicht von Valentin Meerbach blicke.

»Freut mich.«

»Als Sie hier reingestolpert sind, dachte ich noch, das wird eine Katastrophe.«

Genau genommen war es das auch.

»Aber Sie haben sich gar nicht so dämlich angestellt.«

»Wow, Sie sind ja wirklich ein Gentleman der alten Schule, Herr Meerbach.«

Kurz zucken seine Mundwinkel, aber er bemüht sich, ernst zu bleiben. »Sie wissen ja, was man über die Demenz sagt.«

»Was sagt man denn?«

»Zuerst vergisst man seine guten Manieren.«

Dann deutet er eine kleine Verbeugung an, reicht mir die Hand und wartet mein kurzes Zögern ab, bis ich sie annehme.

»Willkommen bei den Goldkehlchen, Frau Waller.«

»Goldkehlchen?«

Meerbach nickt und deutet auf das große, rot-goldene Banner an der Wand, vor der ich während der Probe gestanden habe.

»So heißt unser Chor.«

Die Goldkehlchen. Das gefällt mir.

»Sie gewöhnen sich schon noch dran, Frau Waller.«

Augenzwinkernd winkt er mir zum Abschied.

»Ich muss los, bevor ich vergesse, wo mein Zimmer ist.«

Darf ich lachen? Soll ich lachen? Darüber habe ich wenig im Internet gefunden. Kein Verhaltenskodex, wie man mit Betroffenen spricht. Doch für eine Reaktion ist es ohnehin zu spät, weil er bereits in Richtung Ausgang verschwunden ist.

»Lassen Sie sich vom alten Valentin nicht ärgern. Der ist etwas speziell.«

Eine Frau mit grauen kurzen Haaren in einem weinroten Jogginganzug taucht vor mir auf. Sofort erkenne ich in ihr unsere Spaziergängerin, die auch jetzt unruhig mit den Fingern gegen die Lehne des Stuhls neben sich trommelt.

»Valentin glaubt, wir wären so was wie die Supremes und er sei Diana Ross.«

Sie lacht, verstummt und legt dann die Hand an den Mund, als hätte sie etwas Falsches gesagt. Dann schüttelt sie irritiert den Kopf, wirft einen Blick auf ihre hochmoderne Fitnessuhr und sieht mich aus großen Augen an.

»Verzeihung. Ich muss los.«

Noch bevor ich fragen kann, wie sie heißt und was genau sie meint, ist sie auch schon verschwunden und ich um einiges verwirrter. Der Probenraum leert sich, nur die alte Dame, die vorhin getanzt hat, sitzt wieder auf ihrem Platz und lächelt vor sich hin. Die Pflegerin kommt zu mir, als sie meinen Blick bemerkt. Auf ihrem Namensschild steht der Name A. Henke.

So viele Namen. So viele Gesichter.

Und anders als von den Senioren wird von mir erwartet, dass ich mir all das merke.

»Frau Gettelmann ist schon ziemlich lange bei uns in der Schattigen Pinie.«

»Wie lange denn schon?«

»Nach dem Tod ihres Mannes kam sie in unser Seniorenheim, vor einigen Jahren ist sie dann an Demenz erkrankt.«

Wie lange aber ist lange, wenn einem die Erinnerungen immer weiter entgleiten? Verliert man das Zeitgefühl, oder weiß man genau, wie lange man schon in einem Seniorenheim lebt?

»Seitdem ist sie oft so.«

Einen Moment beobachte ich Frau Gettelmann, die lächelnd dasitzt. Wie eine nette Oma, die darauf wartet, dass der Bus kommt und sie nach Hause bringt.

»Der Chor ist ihre einzige Abwechslung.«

»Bekommt sie denn keinen Besuch?«

»Es gibt nur noch ihren Enkel, und Sie wissen ja, wie das ist, solche Besuche können anstrengend und aufreibend sein.«

Sie zuckt die Schultern, als wäre das eben so und damit eine legitime Ausrede, um die Verwandten nicht mehr so häufig zu besuchen.

Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass die schiefen Töne nicht mein einziges Problem sein werden.

»Es ist sehr schön, dass es den Chor wieder gibt«, fährt Frau Henke fort. »Es ist immer toll zu sehen, wie die Senioren zumindest ein bisschen aufblühen. Das Singen macht vielen Spaß.«

»Fragt sich, ob man das als Singen bezeichnen sollte.«

Frau Henke wartet ab, ob mein Kommentar als Scherz gemeint war, aber ich sehe sie nur an, und ihr wird klar, dass es mein Ernst ist.

»Ist Ihnen unser Chor etwa nicht gut genug?«

Fast muss ich lachen. Außer Herrn Meerbach hat eigentlich nur noch Herr Bollinger die richtigen Töne getroffen, das muss doch auch ihr aufgefallen sein.

»Ehrlich gesagt bin ich mir nicht mal sicher, ob man wirklich von einem Chor sprechen kann.«

Was ganz offensichtlich die falsche Antwort ist, denn Frau Henke verschränkt die Arme vor ihrer Brust und funkelt mich wütend an.

»Verstehe. Sie sind zu Höherem berufen.«

Sie klingt wie mein Vater.

»So habe ich das nicht gemeint …«

»Und eine Handvoll dementer Senioren sind Ihnen nicht anspruchsvoll genug, da verschwenden Sie nur Ihr Talent und schämen sich, wenn Freunde fragen, was genau Sie machen, ja?«

»Nein. Es ist nur … Ich bin anderes gewöhnt.«

Ausgesprochen klingt es so überheblich, dass ich mich sofort schäme.

»Ich verrate Ihnen mal was, Frau Waller.«

Sie macht einen kleinen, wenn auch sehr bedrohlichen Schritt auf mich zu. Ich weiche instinktiv zurück.

»Diese Menschen hier haben noch immer ein Leben. Sie kommen nicht in unser Heim und lösen sich hier in Luft auf. Sie haben noch immer Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche. Manche können diese vielleicht nicht mehr so genau artikulieren, aber wenn man sich die Mühe macht und genau hinsieht, dann versteht man es.«

Plötzlich fühle ich mich sehr klein.

»Aber davon haben Sie keine Ahnung, Frau Musikpädagogin.«

Gerade als ich mich verteidigen will, schaltet sich Frau Gettelmann ins Gespräch.

»Sylvia, hör auf, so mit Gerda zu schimpfen!«

Keine Ahnung, wer Sylvia oder Gerda sind. Einen kurzen Moment sagt niemand etwas, dann drehen wir uns zu der alten Dame, die mit einem strengen Gesichtsausdruck und mahnend erhobenem Zeigefinger dasitzt und zu uns herübersieht.

»Sonst geht ihr beide heute ohne Nachtisch ins Bett!«

3

Mein Blick ist fest auf den polierten Linoleumboden vor mir gerichtet, als ich mich auf den Weg zum Ausgang mache.

»Frau Waller?«

Überrascht bleibe ich stehen und drehe mich um. Herr Bollinger lehnt am Türrahmen, eine Zigarette in der Hand.

»Wie hat Ihnen Ihr erster Tag gefallen?«

Er nimmt einen tiefen Zug und schnippt die Zigarette dann in den roten Aschenbecher, was irgendwie lässig aussieht, lässt mich dabei aber nicht aus den Augen.

»Es war … interessant.«

»Interessant also. Aber ich verstehe schon, Sie haben diesen Blick.«

Er deutet auf mein Gesicht, und ich spüre, wie meine Wangen glühen.

»Welchen Blick denn?«

»Wissen Sie, Frau Waller, ich bin schon eine Weile hier. Als meine Frau verstorben ist und ich gemerkt habe, dass ich mit dem ganzen Leben ohne sie überfordert bin, da habe ich hier eingecheckt.«

»Mhm.«

»Viele Bewohner bekommen noch Besuch von ihren Familien, und jedes Mal, wenn die wieder gehen, sehe ich diesen Blick. Sie sind keine Ausnahme.«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie wollen nicht hier sein. Sie finden das hier bedrückend und schlimm, nicht wahr?«

»Nein.«

Ich finde nur, dass der Chor nicht besonders gut ist.

»Sie glauben, weil Sie jung sind, haben Sie hier nichts zu suchen. Aber das ist wie eine Vorschau auf ein Leben, das in einigen Jahrzehnten auch Ihres sein könnte. Und das schreckt Sie ab.«

Bollinger schiebt die Hände in die Hosentaschen.

»Das ist es gar nicht«, entgegne ich. »Aber das heute, das war kein Chor. Die meisten Mitglieder haben ja nicht mal richtig mitgesungen.«

»Wir sind demenzkrank, Frau Waller, und keine Starsänger. Aber Sie haben bestimmt schon mal etwas gemacht, was Sie nicht besonders gut können, Ihnen aber viel Spaß bringt, oder?«

Sofort durchsuche ich mein Gehirn nach einer passenden Erinnerung und gehe im Archiv ziemlich weit zurück. Aber selbst mein sechsjähriges Ich war schon immer ziemlich gut in vielen Dingen. Außerdem klingt die Vorstellung, Spaß bei einer Sache zu empfinden, in der man nicht besonders gut oder gar sehr schlecht ist, ziemlich absurd für mich. Aber Bollinger sieht mich seelenruhig und abwartend an. Also gebe ich ihm die Antwort auf seine Frage.

»Nein.«

»Ich verstehe. Wissen Sie, nicht jeder von uns ist ein Valentin, dessen Stimme ihn daran erinnert, dass er mal semiprofessionell gesungen hat. Manche, so wie ich, singen einfach gerne. Manchmal sind es Lieder, die mich an meine Frau erinnern.«

Zum ersten Mal kann er meinen Blick nicht mehr halten und sieht knapp an meiner Schulter vorbei, fast so, als würde er damit rechnen, dass seine Frau gleich hinter mir auftaucht.

»Und ich weiß, dass ich schon bald Dinge, die sie so außergewöhnlich gemacht haben, vergessen werde. Wie ihr Lächeln aussah, wie ihre Stimme klang, was für eine Haarfarbe sie hatte und wie ihre Umarmungen sich angefühlt haben.«

Ich muss schlucken, und das Blau seiner Augen schimmert verdächtig, als er mich wieder anblickt.

»Verzeihen Sie also, wenn wir den Ton nicht perfekt treffen, weil wir dabei eigentlich an unsere Liebsten denken.«

Er lächelt, und ich ahne, dass unsere Unterhaltung beendet ist.

»Auf Wiedersehen, Frau Waller?«

Er lässt es wie eine Frage klingen, weil er sich nicht sicher ist, ob ich wiederkomme.

»Auf Wiedersehen, Herr Bollinger!«

Kopfschüttelnd drehe ich mich um und gehe zu meinem Wagen, der treu auf mich gewartet hat und mich jetzt nach Hause bringen wird.

Zu blöd nur, dass ich vom Typ her einfach eine Grüblerin bin und noch immer die Gedanken an die Senioren im Gepäck habe, als ich eine Viertelstunde später meine Wohnung betrete. Die Idee, einen Demenzchor zu leiten, klang einfach gut, und ich war mir sicher, dass ich mit der Wahl meiner Jobs im Freundeskreis anerkennende Blicke ernten würde.

Schau mal, die Toni, die macht was richtig Tolles.

So oder so ähnlich hatte ich mir das alles vorgestellt.

Aber in meiner Vorstellung war es eben auch ein echter Chor gewesen, natürlich mit einem gewissen Verbesserungspotenzial, aber doch immerhin so gut, dass er nach Auftritten eine Menge Beifall geerntet hätte.

Erschöpft lasse ich mich auf die Couch fallen, wo sich meine Katze Milo genüsslich rekelt. Zu Ablenkung schalte ich den Fernseher ein, zappe mich durch das Programm und gebe schließlich gelangweilt auf, greife nach meinem Handy und google erneut den Begriff Demenz.

Die Zahlen, die mir entgegenspringen, habe ich in den letzten Wochen oft gesehen. Nach einer aktuellen Studie wird die Zahl der demenziell Erkrankten in den nächsten Jahren weiter ansteigen. Ich lese etwas von »rund 40 Prozent mehr Betroffenen« und »weltweit etwa 55 Millionen Menschen«. Immer wieder muss ich an die Bewohner der Schattigen Pinie denken. Es heißt, dass allein in Deutschland fast 1,8 Millionen Menschen mit Demenz leben.

Einige davon habe ich heute kennengelernt.

Und nur einer von ihnen kann singen.

Ein Projekt, das zum Scheitern verurteilt ist.

Oder?

Das Nächste, was ich bei Google eingebe, ist ein Name: Richard Waller.

Sofort tauchen jede Menge Treffer auf, seine größten Erfolge, Interviews, Gerüchte, Fotos, einfach alles, was ein Mensch gerne über ihn wissen möchte. Doch ich klicke keinen einzigen Beitrag an, scrolle nur durch die Seiten mit den Suchergebnissen und schließe dann alle Fenster, bevor ich das Handy zur Seite lege.

»Alexa, spiel meine Lieblingsplayliste.«

Weil Musik hilft, wenn nichts anderes mehr hilft.

4

Die Schattige Pinie will jedem Besucher auf den ersten Blick vorgaukeln, nichts weiter als eine schicke kleine Pension zu sein. Buchsbäume säumen die kleine Kiesauffahrt, Holzbänke vor der Tür, ein Schild mit dem Hinweis, dass das hauseigene Café täglich ab 9 Uhr geöffnet hat.

Doch sobald ich das Senioren- und Pflegeheim betrete, ändert sich alles.

Es riecht steril, als hätte das Putzteam gerade noch den Flur desinfiziert. Ich bin zu früh, aber Überpünktlichkeit ist eine meiner Superkräfte.

»Frau Waller.«

Man kennt mich also schon, und so bleibe ich stehen und drehe mich um. Vor mir steht Dorothea Schüble. Ohne ihren Mann.

»Hallo.« Sie lächelt mich an, aber das kann die Augenringe in ihrem Gesicht ebenso wenig eliminieren wie den müden Blick.

»Alles in Ordnung, Frau Schüble?«

»Jaja, es war nur keine so gute Nacht.«

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung und zuckt die Schultern.

»Wobei ich mich nicht mehr so genau an meine letzte gute Nacht erinnern kann.« Dabei lacht sie leise.

»Ich verstehe.« Allerdings sage ich das nur, um irgendetwas zu sagen.

»Das hoffe ich nicht.«

Obwohl ihr Lächeln von Herzen kommt, jagt es mir eine Gänsehaut über den Rücken, und ich nicke etwas unsicher.

»Wo ist denn eigentlich Ihr Mann?«

»Beim Arzt. Ich habe die Chance genutzt, um ein paar Dinge mit der Heimleitung zu klären.«

Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Aber jetzt habe ich noch etwas Zeit und … Haben Sie vielleicht Lust auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen?«

Es klingt ganz so, als wollte sie noch nicht zurück in ihren Alltag, zurück zu den Problemen, die dort warten, und da noch Zeit bis zur Chorprobe ist, nicke ich.

»Sehr gerne.«

Wir gehen gemeinsam zu dem kleinen Café und suchen uns draußen einen Platz im Schatten.

»Wissen Sie, Frau Waller, mein Ulrich scheint Sie zu mögen.«

»Ach, wirklich?«

»Würde er nie zugeben, aber der Chor, der hat ihm Spaß gemacht.«

»Also kommt er wieder?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Aber das hat rein gar nichts mit Ihnen zu tun. Oder mit diesem wunderschönen Seniorenheim, aber er wird nicht wiederkommen, sagt er.«

»Aber … was machen Sie dann hier?«

»Wie erwähnt, ich habe alles geklärt. Das Zimmer und die Kosten, all das.«

»Sie hatten es schon gebucht?«

»Gebucht?«

»Das Zimmer für Ihren Mann.«

Sie bricht, ganz ohne Vorwarnung, in schallendes Gelächter aus, was die Blicke der Gäste an den anderen Tischen auf uns zieht und mir schrecklich peinlich ist.

»Entschuldigung, Frau Waller, aber so, wie Sie es sagen, klingt es wie eine Hotelbuchung für ein Erholungswochenende.«

Noch immer lacht sie, wenn auch etwas leiser und kopfschüttelnd.

»Vermutlich die Naivität der jungen Leute«, bemerke ich.

Frau Schüble sieht mich wieder an, nicht ernst und nicht amüsiert, sondern irgendwas dazwischen.

»Bewahren Sie sich diese Naivität, solange Sie können. Es ist nicht leicht, alt zu werden.«

Es kommt mir so vor, als wollte sie ihre Hand auf meine legen, aber dann entscheidet sie sich im letzten Moment dagegen und platziert sie auf der kleinen Kuchenkarte, die wir bisher beide ignoriert haben.

»Und es ist noch schwerer, alt und krank zu werden. Oder jemandem dabei zusehen zu müssen.«

»Ihr Mann machte gestern einen ziemlich gesunden Eindruck.«

»Ja, nicht wahr? Darauf ist er besonders stolz. Keiner unserer Freunde weiß davon, niemand darf es erfahren, weil es ihm schrecklich peinlich wäre und wir dann vielleicht nicht mehr zu Abendessen oder Geburtstagsfeiern eingeladen würden.«

Sie lässt ihren Blick über die anderen Gäste des Cafés wandern, verharrt hier und da bei einem Gesicht, bevor sie zu meinem zurückkehrt.

»Wobei das gar keine Rolle spielen würde, weil Ulrich ohnehin alle Einladungen absagt mit den fadenscheinigsten Ausreden. Würden wir hingehen, könnte schließlich jemand bemerken, dass er krank ist.«

»Ein Teufelskreis.«

»Also bleibt er so gut wie nur noch zu Hause, dabei spielt er leidenschaftlich gerne Boule mit seinen Freunden. Spielte.«

Wieder greift sie nach der Karte, studiert diesmal das Angebot, während ich sie studiere.

Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlen mag, jemanden, den man liebt, an eine solche Krankheit zu verlieren, aber Frau Schüble scheint einen Plan zu haben, das verraten ihre aufmerksamen Augen, egal wie müde sie heute auch sein mögen.

»Sie haben ihm hier trotzdem ein Zimmer reserviert, nicht wahr?«

Sie nickt, ohne mich anzusehen.

»Es wird die Zeit kommen, da kann ich mich nicht mehr anständig um ihn kümmern. Das wissen wir beide, nur spricht er nicht darüber. Ich dachte, wenn er hier schon mal Anschluss findet, vielleicht sogar Freunde, wäre der Umzug – wenn es dann so weit ist – nicht mehr so unangenehm für ihn.«

»Es sollte ihm gar nicht unangenehm sein müssen.«

»Sagen Sie das mal meinem Mann, dem Herrn Bankkaufmann, der alle Kontonummern auswendig und jeden Kunden sofort einer Nummer zuordnen kann.«

Kurz zögert sie.

»Zuordnen konnte.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Ja. Mir auch. Deswegen bewundere ich Sie so sehr, dass Sie diesen Chor leiten.«

»Na ja.«

»Nein, wirklich. Ulrich hat auf der Heimfahrt die ganze Zeit diese Melodie gesummt. Aber verraten Sie ihm ja nicht, dass ich Ihnen das erzählt habe.«

»Niemals.«

Als hätten wir gerade nur über einen verpassten Urlaub gesprochen, schaltet sie ihr Lächeln wieder ein und deutet auf die Karte in ihrer Hand.

»Was halten Sie von Käsekuchen? Ich liebe Käsekuchen.«

»Käsekuchen klingt gut.«

»Perfekt, ich lade Sie ein.«

Doch bevor sie aufsteht und unsere Bestellung an der Kuchentheke abgibt, verharrt sie einen Moment, sieht wieder zu mir.

»Erinnern Sie ihn daran, wenn er es vergisst?«

»Woran?«

»Dass ich Käsekuchen liebe.«

Dorothea Schüble ist so felsenfest davon überzeugt, dass ihr Mann eines Tages wirklich hier in der Schattigen Pinie landen wird, und ich nicke schnell.

»Natürlich.«

5

»Wenn das mal nicht Frau Waller ist.«

Kaum habe ich mich von Frau Schüble verabschiedet, taucht auch schon das nächste bekannte Gesicht vor mir auf.

»Ach, guten Tag, Herr Meerbach.«

Doch statt mich in ein Gespräch verwickeln zu lassen, gehe ich weiter, was ihn nicht davon abhält, mir zu folgen.

»Kein Lob?«

Seine Frage erreicht mich, als ich in Richtung Rezeption abbiegen will.

»Lob wofür?«

Nur weil ich nicht unhöflich sein will, verlangsame ich meine Schritte und lasse den älteren Herrn zu mir aufschließen.

»Ich erinnere mich an Ihren Namen. Dafür gibt es sonst doch immer stehende Ovationen.«

Unsicher, ob er nur einen Scherz macht oder nicht, sehe ich mich kurz Hilfe suchend auf dem Flur um, bevor ich mich zu einem Lächeln hinreißen lasse.

»Gratuliere. Wirklich toll.«

»Sie haben wirklich keine Ahnung, oder?«

Während er das sagt, verschränkt er die Arme vor der Brust, wobei sein kariertes Sakko etwas an den Schultern spannt.

»Kommt auf das Thema an, nehme ich an.«

»Demenz. Alzheimer. Parkinson.«

»Wollen Sie mich abfragen?«

Es imponiert ihm, dass ich ihm Kontra gebe, was er sich aber nicht anmerken lassen will.

»Entweder sind Sie mutiger, als ich geglaubt habe, oder aber …«

Er lächelt ein wenig süffisant, doch dann sieht er an mir vorbei den Gang entlang, als warte er auf irgendjemanden.

»Erwarten Sie Besuch?«

»Ja. Meine Tochter wollte mich besuchen kommen.«

»Nun, dann will ich Sie nicht länger aufhalten.«

»Bis später dann.«

Erst nach einigen Schritten bleibe ich etwas verdutzt wieder stehen, als seine Worte zeitverzögert zu mir durchdringen.

»Bis später?«

Er nickt, tippt auf seine Uhr am Handgelenk.

»Sechzehn Uhr, Chorprobe.«

»Ach, die Chorprobe.«

»Sie sollten sich einen Kalender zulegen, Frau Waller. Sie erscheinen mir etwas vergesslich.«

Valentin Meerbach zwinkert mir zu und setzt sich dann in Bewegung, geht den Flur entlang in Richtung Ausgang, wo er seine Tochter empfangen wird.

Mein Blick fällt auf einen kleinen gelben Zettel, der ihm aus der Sakkotasche gefallen sein muss.

»Herr Meerbach!«

Doch er ist schon aus der Tür verschwunden.

Ich bücke mich, hebe den Zettel auf und entdecke geschwungene Buchstaben, die am Wortende etwas zackiger werden.

Chorprobe 16 Uhr

Antonia Waller, Chorleitung

Beatrice, meine Tochter

Kaffee ohne Milch, laktoseintolerant

Ein Zettel mit einer alten Handschrift, ein Versuch, sich gegen das Vergessen zu wehren. Durch meine Recherche habe ich auch erfahren, dass zuerst das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, dann kommen Wortfindungsstörungen und eine leichte Orientierungslosigkeit.

Wie aufs Stichwort taucht Meerbach wieder vor mir auf.

»Sie haben da was, das mir gehört.«

Sein tiefer Bass vibriert entweder vor Wut oder vor Scham, und weil ich nicht gewillt bin, das herauszufinden, reiche ich ihm den Zettel wortlos zurück und versuche seinem Blick auszuweichen, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

»Lektion Nummer eins: Machen Sie sich Notizen, damit die anderen nicht merken, dass Ihr Gedächtnis schlechter wird.«

Dann räuspert er sich.

»Lektion Nummer zwei: Behalten Sie dieses Wissen bitte für sich. Es ist auch so peinlich genug, dass mir der Name meiner Tochter nicht mehr sofort einfällt.«

Damit zerknüllt er den Zettel in seiner Hand und lässt ihn dann in seiner Hosentasche verschwinden.

»Heute sechzehn Uhr konnte ich mir allerdings ganz ohne Spickzettel merken.«

Ein Lächeln, vielleicht das erste echte, und ich nicke langsam.

»Ich werde da sein«, sage ich.

»Das habe ich befürchtet.«

Dann geht er los und lässt mich diesmal endgültig stehen, bemerkt sicher meinen Blick in seinem Rücken, während er diesmal in die andere Richtung geht, ohne sich noch mal umzudrehen.

Keine Ahnung, wie lange kleine Zettel helfen und wann auch ein Valentin Meerbach nur noch lächelnd dasitzen wird wie die alte Frau Gettelmann. Wie schnell schreitet die Krankheit voran? Hilft Singen wirklich gegen das Vergessen?

»Frau Waller?«

Ohne Zweifel haben sich hier einige Bewohner meinen Namen auf einen Zettel geschrieben, aber diesmal ist es Frau Geiger, die etwas irritiert neben mir auftaucht.

»Sie sind ein bisschen früh dran. Die Chorprobe ist erst um …«

»Um sechzehn Uhr, ich weiß schon.«

Bei Frau Geiger weiß man nie, was sie denkt, ob sie lächelt oder grübelt, ob sie jemanden mag oder nicht, und mit solchen Menschen tue ich mich schwer.

»Sie sind doch nicht etwa hier, um Ihre Kündigung abzugeben, oder?«

Zwischen ihren scherzhaft vorgetragenen Worten höre ich einen Anflug von Panik und schüttele schnell den Kopf.

»Nein, keine Sorge. Ich wollte mich nur in aller Ruhe vorbereiten.«

»Da bin ich aber erleichtert. Nachdem die Seniorenresidenz Sonnige Palme Ihre Vorgängerin abgeworben hatte, konnten wir lange niemanden finden. Einige Kandidaten vor Ihnen haben schon nach dem ersten Tag hingeschmissen.«

»Hinschmeißen liegt mir nicht.«

»Ein angenehmer Charakterzug.«

Liegt in der Familie.

»Außerdem wollte ich fragen, ob es möglich wäre, mehr über die Chorteilnehmer zu erfahren, damit ich die Lieder besser auf sie abstimmen kann.«

Frau Geiger will sich ihre Verblüffung nicht anmerken lassen, aber mir entgeht sie nicht. Dann fängt sie sich und deutet auf den Empfangsbereich.

»Das lässt sich bestimmt arrangieren. Vielleicht wollen Sie auch etwas mehr Zeit mit unseren Bewohnern verbringen, wenn das Ihr Tagesplan zulässt.«

»Sicher, wieso nicht? Meine musikpädagogische Tätigkeit im Kindergarten findet nur an drei Vormittagen pro Woche statt.«

»Gut. Sie haben ja auch noch ein bisschen Zeit, bevor es ernst wird.«

»Es wird ernst?«

»Ja. Der Wettbewerb.«

»Wettbewerb?«

»Ja. Ein Chorwettbewerb, an dem die Goldkehlchen teilnehmen.«

6

»Haben Sie denn noch nie von der Sonnigen Palme in Stuttgart-Ost gehört?«

Frau Geiger hat einen sehr schnellen Gang, und ich muss mich anstrengen, um mit ihr durch die Flure des Seniorenheims Schritt zu halten.

»Nein?«

»Eine schicke Seniorenresidenz, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schattige Pinie in ihren Schatten zu stellen. Bei der Boule-Meisterschaft haben sie uns knapp geschlagen. Und wenn Herr Kabitzke sich nicht am Tag vor dem Finale das Knie verdreht hätte, wären wir jetzt die Sieger.«

»Aha?«

»Und letztes Jahr klauen sie uns erst die Chorleiterin! Und dann haben sie beim Chorwettbewerb sogar eine Choreografie einstudiert.«

Sie bleibt ohne Vorwarnung oder ersichtlichen Grund stehen und zwingt mich zu einer Vollbremsung. Ihr Blick macht mir Angst.

»Ich glaube, nur deshalb haben sie gewonnen. Aber mit Ihnen, Frau Waller, haben wir eine echte Chance, das habe ich im Gefühl.«

Sie klopft mir mit beiden Händen auf die Schultern, als würde sie mich gleich bei einem wahnsinnig wichtigen Fußballspiel in letzter Minute einwechseln und auf ein Torwunder hoffen.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht so ganz folgen.«

»Nun, Sie als Profi werden unseren Chor schon fit kriegen, und dann ist der Rest ein Klacks.«

»Ich bin nicht Whoopi Goldberg in Sister Act.«

»Gut, ich bin nämlich auch keine Nonne.«

»Die Goldkehlchen sind ein Demenzchor.«

»Es mag Sie überraschen, Frau Waller, aber das ist mir nicht entgangen.«

Frau Geiger wird sichtlich ungeduldig.

»Ich meine nur, ich weiß nichts von einem Chorwettbewerb«, erkläre ich.

»Sie fahren mit den Goldkehlchen nach Hamburg und gewinnen dort den Chorwettbewerb für Seniorenchöre. Machen Sie sich keine Sorgen, vor Ort wird genug qualifiziertes Personal für die Betreuung unserer Senioren sein. Nicht nur Pflegekräfte, sondern auch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Sie alle übernachten in einem seniorenfreundlichen Hotel. Die Finanzierung ist auch schon gesichert. Wir veranstalten jedes Jahr einen Basar, mit dessen Erlös die Reise bezahlt wird.«

Sie mustert mich und vergewissert sich, dass ich nicht gleich in Ohnmacht falle, denn gerade fühlt es sich verdächtig danach an. Doch ich nicke nur, weil ich mir keine Blöße geben will, und zwinge mich zu einem Lächeln.

»Okay.«

»Wunderbar. Wenden Sie sich für weitere Informationen an Frau Henke.«

Und schon marschiert sie weiter, während mir nichts anderes übrig bleibt, als den Infodump zu verdauen, dem ich gerade ausgesetzt war.

Hamburg, das zumindest klingt verlockend. Nur die Tatsache, dass ich die Hansestadt mit einer Busladung demenzkranker Senioren besuchen werde, ist genau der Haken, den man im Kleingedruckten schnell überliest.

Erschöpft nehme ich in einem Korbsessel im Empfangsbereich Platz und atme erst mal durch. Heute Morgen bin ich mit der Einsicht aufgewacht, dass es nicht um getroffene Töne und Taktgefühl, sondern um Musik und Erinnerungen geht. Kein Stress, kein Druck, kein Wettbewerb – und jetzt sitze ich hier und gehe im Geiste meine Packliste für einen Trip zu einem Chorwettbewerb durch.

»Sie sehen so aus, als ob Sie einen Schnaps brauchen.«

Herr Bollinger taucht neben mir auf, die Augenbrauen besorgt zusammengezogen, was seine blauen Augen nur noch besser zur Geltung bringt.

»Verraten Sie es Frau Geiger nicht, aber ich würde zu einem Schnaps nicht Nein sagen«, entgegne ich.

Er nickt verständnisvoll.

»Dann leisten Sie mir doch bei einem kleinen Spaziergang durch den Park Gesellschaft.«

Verschwörerisch klopft er auf die Tasche seiner Strickjacke, in der ich meine, den Umriss eines Flachmanns zu erkennen.

»Sehr gerne, Herr Bollinger.«

»Bitte, nennen Sie mich Bolle.«

»Bolle?«

Er nickt, während ich aufstehe.

»So nennen mich meine Freunde.«

Zwar sind wir sicher keine Freunde, aber gerade ist sein freundliches Gesicht mein einziger Halt.

»Also gut. Dann nennen Sie mich bitte Toni.«

Wie sehr meine Eltern es gehasst haben, wenn Freundinnen mich Toni statt Antonia nannten, als würden sie damit den Namen, den meine Eltern für mich ausgesucht hatten, nicht ausreichend wertschätzen.

»Frau Waller, bringen Sie mich bitte nicht durcheinander.«

»Ich Sie?«

Wir setzen uns in Bewegung, und ich überlasse ihm das Vorangehen, weil ich keine Ahnung habe, wo genau der Park liegt, von dem er gesprochen hat.

»Ja. Gestern Frau Waller, heute Toni. Morgen weiß ich gar nicht mehr, wie ich Sie nennen soll.«

Statt darauf zu antworten, nicke ich nur stumm und spüre seinen Ellenbogen sanft in meiner Seite.

»Das war ein Scherz, Toni, entspannen Sie sich.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss gerade so viele Dinge verarbeiten, das fordert mich ziemlich.«

»Willkommen in meiner Welt.«

Er öffnet die Terrassentür und lässt mir diesmal den Vortritt nach draußen, wo der Garten des Seniorenheims liegt.

»Schön haben Sie es hier.«

»Allerdings. Kommen Sie, dahinten gibt es ein Gewächshaus, da sind wir ungestört.«

Wieder klopft er auf die Tasche, und ich folge ihm über den feinen Kiesweg, vorbei an einem Zierteich, wunderschönen Rosenbüschen und einer großzügigen Rasenanlage. Uns kommt die Spaziergängerin aus der Chorprobe entgegen, ihre Schritte wirken etwas fahrig, aber ihr Gesicht zeigt höchste Konzentration. Sie nickt uns im Vorbeigehen zu, und ich will sie gerade grüßen, als sie auch schon verschwunden ist.

»Keine Sorge, Sie werden Elena Fängele noch öfter begegnen.«

»Ist sie immer so sportlich unterwegs?«

»Bewegungsdrang.«

Er sieht der Frau hinterher, die bereits die nächste Runde um den kleinen Teich hinlegt.

»Darf ich fragen, wie lange Sie schon hier wohnen, Bolle?«

»Nächsten Monat sind es drei Jahre.«

Das kommt mir unheimlich lange vor.

»Und wie lange …«

Wie um alles in der Welt fragt man nach der Krankenakte eines fast Fremden?

»Wie lange ich schon krank bin? Die Erstdiagnose habe ich vor einem halben Jahr bekommen.«

Das erklärt, wieso ich den Eindruck habe, er sei noch so fit.

»Seitdem bin ich zweimal die Woche in Therapie.«

»Therapie?«

»Gespräche sollen mir helfen, besser mit der Diagnose umzugehen. Gegen die Angstgefühle und die Unruhe bekomme ich Tabletten, und dann habe ich gemerkt, dass das Singen hilft. Vielleicht nicht gegen die Demenz, aber ein bisschen gegen die Angst.«

Ein schüchternes Lächeln taucht auf seinen Lippen auf, als wir das Gewächshaus erreichen.

»Und seit der Diagnose bekomme ich immer häufiger Besuch von Robert. Ich glaube manchmal, er denkt, seine Besuche würden die Erinnerung an ihn frisch halten.«

Sein Lachen klingt kehlig, als er den silbernen Flachmann aus der Tasche zieht und den Schraubverschluss löst, bevor er mir die Flasche reicht. Ich nehme sie entgegen, ohne weiter darüber nachzudenken. Während ich einen Schluck trinke, klärt Bolle mich weiter auf.

»Robert ist mein bester Freund und größter Rivale. Er schmuggelt mir das gute Zeug immer hier rein, die Pflegerinnen dürfen davon nichts mitkriegen.«

»Ich werde schweigen.«

Sobald ich ihm den Flachmann zurückgegeben habe, lässt er ihn wieder in der Jackentasche verschwinden.

»Wie meinten Sie das mit dem Rivalen?«

»Ach, Robert war in meine Frau verliebt, bevor sie meine Frau wurde, und auch danach.«

Er bemerkt meinen Blick und nickt.

»Ich weiß. Manchmal frage ich mich, ob sie sich nicht besser für ihn hätte entscheiden sollen. Johanna und ich, wir wollten die ganze Welt sehen, und manche Ecken haben wir sogar erwischt. Sie war Fotografin und hat alles mit diesem besonderen Blick wahrgenommen.«

Die Erinnerungen an seine Frau verändern sein Lächeln, machen es ehrlicher, aber auch traurig.

»Deswegen bin ich so wütend.«

Dabei kommt er mir nicht mal besonders wütend vor, ganz im Gegenteil, er spricht sehr abgeklärt über seine Erkrankung, was sicherlich der regelmäßigen Therapie geschuldet ist.

»Wütend worauf?«

»Wenn es nach mir ginge, könnte ich ruhig alles vergessen. Die guten Zeiten, die schlechten Zeiten, unser Gespräch hier und, wenn es sein muss, sogar Robert.«

Jetzt greift er doch wieder nach dem kleinen Flachmann, spielt mit dem Verschluss, ohne ihn zu öffnen, und mir entgeht das Zittern seiner Hände nicht.

»Aber Johanna, die will ich behalten.«

Als er zu mir sieht, erkenne ich die Tränen in seinen Augen. Nur mit viel Mühe unterdrücke ich das Bedürfnis, ihn fest zu umarmen. Da knackt hinter uns ein Ast, und wir fahren herum wie zwei ertappte Kinder. Der Flachmann fällt scheppernd auf die Erde.

»Verdammt«, murmelt Bolle.

Doch statt Frau Geiger oder jemand anderem vom Pflegepersonal taucht Frau Gettelmann vor uns auf. Blätter sind in ihren Haaren hängen geblieben, und Bolle atmet erleichtert auf.

»Sophia, Mensch, hast du uns erschreckt!«

Doch die alte Dame erweckt nicht den Eindruck, als hätte sie im Gegenzug ihren Chorkollegen Bollinger erkannt. Verloren sieht sie von ihm zu mir.

»Haben Sie meine Katze Mimi gesehen?«

Bolle wirft mir einen kurzen Blick zu, wohl ein Zeichen, ich solle mitmachen.

»Ich fürchte, nein.«

»Sie muss hier irgendwo sein.«

Vorsichtig mache ich einen Schritt auf die Frau zu und versuche mich an einem harmlosen Lächeln.

»Wie sieht Ihre Katze denn aus?«

Frau Gettelmann öffnet den Mund, um zu antworten, bleibt aber stumm und sieht an mir vorbei. Bolle nimmt sie sanft an der Hand und nickt in Richtung Seniorenheim.

»Ich bringe Sie mal lieber wieder zurück auf Ihr Zimmer, Sophia. Die suchen bestimmt schon nach Ihnen.«

»Aber ich habe zu Mama gesagt, dass ich Mimi suchen gehe.« Damit sieht sie wieder zu mir. »Ich suche meine Katze.«

Und ich nicke, obwohl mir klar ist, dass es Mimi wohl schon sehr, sehr lange gar nicht mehr gibt.

7

»Ist Mimi wieder da?«

Die Pflegerin Frau Henke nimmt uns Sophia Gettelmann ab, als wir sie nach einem sehr langsamen Spaziergang vom Gewächshaus wieder zurück zum Hauptgebäude gebracht haben.

»Da schauen wir gleich mal, Frau Gettelmann. Sie ist bestimmt in Ihrem Zimmer.«

Dann sieht Frau Henke zu mir, mustert mich etwas kritisch, als würde sie mir nicht so recht trauen.

»Manchmal ist sie etwas verwirrt«, erklärt sie. »Aber keine Sorge, um sechzehn Uhr bringe ich sie zur Probe.«

Kurz zieht sie eine Augenbraue fragend nach oben.

»Die findet doch statt?«

»Natürlich.«

Dann taucht tatsächlich der Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht auf.

»Gut. Es ist jedes Mal ein Highlight für Frau Gettelmann.«

Und als hätte sie Angst, ich könnte sie darauf hinweisen, dass ihr Schützling gar nicht mitsingt, spricht sie schnell weiter.

»Glauben Sie mir einfach, Frau Waller, ich bin fast jeden Tag mit ihr zusammen, aber so wie beim Chor, so erlebe ich sie sonst nicht.«

»Bekommt sie denn gar keinen Besuch?«

Valentin Meerbach bekommt offensichtlich Besuch von seiner Tochter Beatrice, Bolle von seinem besten Freund und Frau Gettelmann hoffentlich von ihrer Familie.

»Sehr, sehr selten. Da muss schon Neujahr, Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen, bis sich ihr feiner Enkel mal in die Pinie verirrt.«

Dann lächelt Frau Henke die alte, winzige Frau an ihrer Hand liebevoll an.

»Jetzt bringen wir Sie mal zurück auf Ihr Zimmer, Frau Gettelmann.«

Die alte Dame nickt und sieht sich noch immer suchend um.

»Ich suche meine Katze. Die junge Frau hat mir geholfen.«

Dabei deutet sie auf mich, die sie gestern noch Gerda genannt hat, und ich lächele einfach nur dümmlich, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Muss ich zum Glück auch gar nicht, weil Frau Henke schon übernommen hat.

»Das ist Frau Waller, die Chorleiterin.«

»Chor?«

»Ja. Wir singen heute wieder.«

»Oh, wie schön.«

Und schon gehen sie über den Flur in Richtung der Fahrstühle davon und lassen Bolle und mich zurück.

»Ihr Enkel sollte wirklich öfter nach ihr sehen«, meint Bolle. »Man weiß schließlich nie, wie viel Zeit noch bleibt.«