Mit der Kindheit Frieden schließen - Ulrike Dahm - E-Book

Mit der Kindheit Frieden schließen E-Book

Ulrike Dahm

4,7

Beschreibung

Die Erfahrungen und Erlebnisse unserer Kindheit haben oft einen größeren Einfluss auf unser Erwachsenenleben, als wir wahrhaben wollen. Doch unsere kindlichen Prägungen müssen kein unabwendbares Schicksal sein! Wir können die alten Wunden heilen, die Geschehnisse von damals hinter uns lassen und somit frei werden für ein selbstbestimmtes Leben. Ulrike Dahm, Expertin für systemische Psychotherapie, zeigt mit viel Einfühlungsvermögen Wege auf, wie wir uns selbst die liebevolle Mutter oder der liebevolle Vater sein können, die oder den wir uns immer gewünscht haben. Zahlreiche einfache Übungen und Beispiele helfen uns, belastende Erinnerungen zu verarbeiten und uns mit der Kindheit zu versöhnen. So können wir aus der Opferrolle heraustreten und mit unserer Vergangenheit Frieden schließen. Für eine gute Kindheit ist es nie zu spät!

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Die Ratschläge in diesem Buch sind sorgfältig erwogen und geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat, sondern dienen der Begleitung und der Anregung der Selbstheilungskräfte. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne Gewährleistung oder Garantie seitens der Autorin oder des Verlages. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

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ISBN Printausgabe 978-3-8434-1487-6

ISBN E-Book 978-3-8434-6483-3

Ulrike Dahm: Mit der Kindheit Frieden schließen Wie alte Wunden heilen © 2021 Schirner Verlag, Darmstadt

Umschlag: Hülya Sözer, Schirner, unter Verwendung von # 531280180 (© The Sun photo), # 542976052 (© K3Star) und # 1789967954 (© afotostock),

www.shutterstock.com

Print-Layout: Hülya Sözer, Schirner

Lektorat: Elke Truckses, Schirner

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

© 2011, 2021 Schirner Verlag, Darmstadt

Neuausgabe 2021 – 1. E-Book-Auflage 2021

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Einleitung: ERINNERUNGEN

KINDHEIT– Zeit der FREUDEN und der SCHMERZEN

Früh geschädigt – für immer gestört?

Es gibt nicht eine Kindheit, sondern viele

»O wie so trügerisch …!« Wie zuverlässig sind unsere Erinnerungen?

Probleme »basteln« und Lösungen konstruieren

Wer bin ich? – Das Menschenbild der Voice-Dialogue-Methode

Innere Vielfalt

Unser innerster Kern – Verletzlichkeit

Der Beschützer/Bewacher

Die Hauptstimmen: Manager des inneren Systems

Die Verdrängten Stimmen: Exilanten des inneren Systems

Das Bewusste Ich: der Dirigent des inneren Orchesters

DAS INNERE KIND

Das Kind, das wir einmal waren, lebt in uns weiter

Das Innere Kind in seinen vielen Gestalten

Das spielerische Kind

Das magische Kind

Das gefällige, brave Kind

Das Leistungskind

Das verletzliche Kind

Die dunkle Seite des Inneren Kindes: Regression und ihre Folgen

Verantwortungslosigkeit und Unsensibilität

Zusammenbrüche und Krankheit

Geringe Frustrationstoleranz und Impulsivität

Kontrolle und Eifersucht

Widerstand und Rückzug

Sucht

Hoher Leistungsanspruch und Perfektionismus

Zwang und Selbstsabotage

Der Dialog mit dem Inneren Kind

Fantasiereise zum Inneren Kind

Der INNERE KRITIKER – Erbe verurteilender Eltern

Die Instanz des Inneren Kritikers

Die Entstehung eines Inneren Kritikers

Der Innere Kritiker und seine Absichten

Kritik zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen

Was kritisiert er eigentlich?

Auswirkungen des Inneren Kritikers auf unsere Beziehungen

Dem Inneren Kritiker wirksam entgegentreten

Den Inneren Kritiker transformieren

Die Eigenschaften eines transformierten Kritikers

Für eine GUTE KINDHEIT ist es NIE zu spät!

Eltern sind auch nur Menschen

Reparenting – Seien Sie sich selbst die optimale Mutter oder der optimale Vater

Kinder brauchen Liebe

Kinder brauchen Aufmerksamkeit und Zuwendung

Kinder brauchen Sicherheit durch Grenzen

Schuldfähigkeit und die Würde des Menschen

Eigenverantwortung statt Opferrolle – wir können nur uns selbst verändern

Jeder hat ausreichend Ressourcen, um seine Probleme zu lösen

Annehmen, was war, und loslassen

Verantwortung für die eigenen Gefühle übernehmen

Turning shit into roses – Optimismus ist der bessere Ratgeber

Der Blick nach vorn

Grundlagen für ein erfülltes Leben

Leben im Jetzt

Anhang

Danksagung

Die Autorin

Literatur- und Quellenverzeichnis

Bildnachweis

Weitere Bücher

Einleitung:ERINNERUNGEN …

Meine Großmutter väterlicherseits war eine einfache, etwas derbe Frau, die meiner Mutter das Leben zur Hölle machte, indem sie alles, was meiner Mutter wichtig war, sabotierte. Ich sehe sie heute noch deutlich vor mir, hinter dem Ofen sitzend, Zigarrenstumpen kauend und in Erinnerungen an ihre »goldene Kindheit und Jugend« schwelgend. Meine Kindheit war alles andere als golden. Zucht und Ordnung galten als oberste Gebote, persönliche Freiräume gab es bei acht Personen in einer fünfundachtzig Quadratmeter großen Wohnung kaum. Wir mussten funktionieren, damit das Unternehmen »Familie« einigermaßen reibungslos vonstatten ging.

Nur wenige Ereignisse aus meiner frühen Kindheit sind mir so lebhaft in Erinnerung wie die Straßenbahnfahrten mit meiner Mutter in die Stadt. Da wir kein Auto besaßen, liebte ich diese Ausflüge besonders. Vor sechzig Jahren war das Straßenbahnfahren noch eine gemütliche Angelegenheit. Die Bahn ruckelte im Schneckentempo quietschend um die Kurven, der Schaffner stellte persönlich die Fahrscheine aus und rief, so laut er konnte, die nächste Station aus. Ich hätte stundenlang aus dem Fenster blicken und das bunte Treiben auf der Straße beobachten können, doch meine Mutter war nervös. Sie rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her und pflegte stets, eine Station vor dem Ziel aufzustehen, um nur ja rechtzeitig zum Ausgang zu kommen. Sie war nicht etwa gehbehindert, die Straßenbahn war auch nicht sehr voll. Es schien, als ob sie sich einfach wohler fühlte, wenn sie sich rechtzeitig auf den Weg zur Tür begab. Um nicht in Stress zu geraten, machte sie sich ungewollt jede Menge Stress.

Meine Mutter hatte stets etwas Gehetztes an sich. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie als Kind einmal gemütlich auf dem Sofa sitzen sah, bei einem Tässchen Kaffee oder die Zeitung lesend. Stets war sie auf dem Sprung, ähnlich einer Katze, die Gefahr wittert. Kaum war der letzte Bissen im Magen, sprang sie vom Tisch auf und begann, das Geschirr abzuräumen und abzuspülen. Für eine Umarmung oder ein liebes Wort war keine Zeit. Ich konnte als Kind die ständige Anspannung meiner Mutter deutlich spüren und habe sie wahrscheinlich schon mit der Muttermilch eingesogen, genau wie sie es bei ihrer Mutter getan hatte.

Heute kenne ich die Geschichte meiner Mutter, weiß um ihren strengen, unbeugsamen Vater, einen als Dorfschullehrer geachteten und bei den Schülern gefürchteten Mann, der an seine eigenen Kinder besonders hohe Ansprüche stellte und keinen Widerspruch duldete. Ich weiß auch, dass sie schlichtweg funktionieren musste und dass Unpünktlichkeit für sie eine Todsünde war. »Müßiggang ist aller Laster Anfang«, hatte sie gelernt, und so war sie stets in Bewegung, auch dann, wenn es nichts zu tun gab. Der Samen für ihren Inneren Antreiber wurde in frühester Kindheit gelegt. Erst die Arbeit – dann das Vergnügen! Diesen Satz hatte sie komplett verinnerlicht. Und Arbeit gab es in Hülle und Fülle.

Für das Vergnügen blieb kaum mehr Zeit übrig.

Das Thema »Liebe durch Leistung« hat in meiner Familie eine lange Tradition. Mir wurde es fast zum Verhängnis. Als ich aufgrund meines früh übernommenen Leistungsmusters massive gesundheitliche Probleme bekam, die mich über Jahre hinweg immer wieder völlig lahm legten, konnte ich einfach nicht mehr wegsehen. Nachdem ich die Erfolgsleiter immer weiter hochgeklettert war, kam schließlich nach der Veröffentlichung meines dritten Buches der Zusammenbruch. Massive Rücken- und Kopfschmerzen wurden zu meinen Dauerbegleitern. Wie ich zu meinem eigenen Entsetzen feststellen musste, war die Selbstliebe, über die ich ein Buch geschrieben hatte, in dem Moment, wo ich sie am nötigsten brauchte, plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich war verzweifelt. Würden die Schmerzen jemals wieder verschwinden? Mein Inneres glich einem Schlachtfeld, auf dem blutige Kämpfe ausgetragen wurden.

Ich hasste mich dafür, dass ich auf einmal nicht mehr so funktionierte, wie ich es gewohnt war. Ich war wütend, weil mir mein Körper nicht mehr gehorchte. Ich schämte mich dafür, all die tollen Seminar-und Vortragsangebote, die zu erhalten ich mich jahrelang abgestrampelt hatte, wieder absagen zu müssen. Verletzliche, ängstliche und sicherheitsbedürftige Anteile drängten sich, nachdem sie in meinem Leben von Anfang an ein Schattendasein führen mussten, nun massiv in den Vordergrund. Mein Inneres Kind, das ich all die Jahre komplett ignoriert und seine Bedürfnisse verleugnet hatte, schrie laut. All die Abwehrstrategien, die ich bisher erfolgreich eingesetzt hatte, um meine Verletzlichkeit nicht zu spüren, funktionierten nicht mehr.

Meine Mutter hatte mich gelehrt, Schwäche und Bedürftigkeit einfach zu ignorieren. Aber meine Schmerzen waren nicht mehr zu verdrängen. Mein Vater war mir bei der Bewältigung meiner Schwierigkeiten auch kein Vorbild. Ständig war er in Angst um irgendwelche Krankheiten gewesen, hatte hypochondrisch viele Jahre auf jedes Körpersignal geachtet und sich in düsteren Zukunftsvisionen ergangen. Seiner Liebe und Zuneigung war ich mir sicher, aber sie waren auch eine schwere Hypothek. Alles, was er in seinem Leben nicht erreicht hatte, sollte ich in meinem verwirklichen. Das spornte mich natürlich zu Höchstleistungen an, in der Schule, im Studium und später im Beruf.

Mit demselben Leistungsmuster, das meine gesundheitlichen Schwierigkeiten zumindest mitverursacht hatte, versuchte ich nun, die Schwierigkeiten zu lösen. Ich rannte von Pontius zu Pilatus, von Arzt zu Heilpraktiker, von Masseur zu Akupunkteur, von Astrologen zu Psychologen. Nichts half. Doch ich gab nicht auf. Irgendetwas musste doch funktionieren und die Schmerzen zum Verschwinden bringen! Ich kämpfte gegen die Symptome, anstatt mit ihnen in wirklichen Kontakt zu treten. Irgendwann kam der Wendepunkt. Warum, weiß ich bis heute nicht genau. Ich gestattete mir eine Auszeit – und fiel zunächst in ein tiefes Loch. Einer meiner zentralen Glaubenssätze war immer gewesen: »Wenn ich nichts tue, geschieht nichts!« Dahinter verbarg sich eine abgrundtiefe Angst und Misstrauen dem Leben gegenüber. Ich hatte nun aber keine andere Wahl mehr, als mich dieser Angst zu stellen. Und siehe da, hinter der Angst lauerte der Schmerz. Der Schmerz des Nichtgehaltenseins und Alleinseins, der Schmerz, nicht vertrauen und sich fallen lassen zu können. Ich war nach langen inneren Kämpfen am Boden des tiefen Loches angekommen und hatte die »Not-wendigkeit« meiner Krise erkannt. Der körperliche Schmerz zeigte mir die Geschichte meiner alten Verletzungen und nicht erfüllten Bedürfnisse. Er zeigte mir jedoch auch, wie ich von nun an mir selbst eine liebevolle Mutter sein konnte. Von da an ging es langsam, aber stetig bergauf.

Ich achte heute sehr genau darauf, was mir guttut und was nicht, wie viel Stress ich ertragen kann und wann ich Stopp sagen muss.

Welche Bilder, lieber Leser, liebe Leserin, kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre Kindheit denken? Nehmen Sie sich doch einen Augenblick Zeit, legen Sie das Buch zur Seite, und schließen Sie die Augen. Lassen Sie einfach alle Bilder aufsteigen, die sich in Ihnen melden. Sind es schöne oder schreckliche Bilder? Wie fühlen Sie sich, wenn diese Bilder vor Ihrem inneren Auge erscheinen? Was hören Sie, wenn Sie an Ihre Kindheit denken? Ist es die aggressive Stimme Ihres Vaters oder sind es die Vögel, die im Garten zwitscherten? Vielleicht erinnern Sie sich auch an bestimmte Gerüche. Mir beispielsweise ist noch deutlich der Geruch von Bohnerwachs oder der Duft des sonntäglichen Schweinebratens, den meine Mutter zubereitete, in Erinnerung. Wie haben Sie sich als Kind gefühlt? Waren Sie einsam oder eingebettet in ein liebevolles Zuhause? Waren Sie überfordert oder traurig? Gibt es ein Thema, das in Ihrer Kindheit auftaucht und sich wie ein roter Faden durch Ihr gesamtes Leben zieht?

Ich möchte Sie mit diesem Buch dazu einladen, sich Ihrer Vergangenheit zu stellen und sich mit Ihrer Kindheit zu versöhnen. Die meisten Menschen beschönigen ihre Vergangenheit oder sie schieben sie ganz weit von sich weg. Sie kompensieren alte Schmerzen mit Arbeit, Alkohol oder anderen Suchtmitteln. Es gibt aber sehr viele konstruktive und sogar spannende und angenehme Möglichkeiten, mit den Verletzungen aus der Kinderzeit umzugehen. Begeben wir uns gemeinsam auf eine innere Reise, die Sie frei macht für ein erfülltes, glückliches Leben als Erwachsene(r). Mit den verschiedenen Übungen, die ich Ihnen vorstellen werde, können Sie diese Reise vertiefen und zu einem heilsamen Abenteuer für sich werden lassen, das Ihr weiteres Leben positiv verwandeln wird.

KINDHEIT – Zeit der FREUDEN und der SCHMERZEN

Früh geschädigt – für immer gestört?

Kaum ein Mensch kann auf eine ideal verlaufene Kindheit zurückblicken. Wir haben alle mehr oder weniger Schlimmes erlebt. Das mag der Tod eines zu früh verstorbenen Elternteils gewesen sein, die Alkoholsucht des Vaters oder die Krankheit der Mutter. Vielleicht litten wir unter der Lieblosigkeit unseres Elternhauses, unter perfektionistischen Ansprüchen, wurden verprügelt, nicht beachtet oder gar miss braucht. Oder wir standen den ewigen Streitereien unserer Eltern ohnmächtig gegenüber. Wir wurden immer wieder enttäuscht, frustriert, oft zu wenig beachtet und wünschten uns so manches Mal weg in ein anderes Leben mit anderen Eltern.

Die Psychologie geht davon aus, dass unsere frühen Kindheitserlebnisse unser weiteres Leben nachhaltig prägen. Heute weiß man sogar, dass emotionale Erregungszustände die Genexpression im Gehirn verändern. Der Neurobiologe und Gedächtnisforscher Hans Markowitsch hat bei seinen Untersuchungen herausgefunden, dass traumatische Erlebnisse im kindlichen Gehirn biochemische Schrauben verstellen. Eine erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen und eine dauerhaft erhöhte Empfindlichkeit sind die Folge. Im Erwachsenenalter werden dann bereits bei kleineren Stressereignissen ganze Hormonkaskaden freigesetzt, die den normalen Informationsfluss – und auch das Gedächtnis – blockieren können. Aber was heißt das für unser weiteres Leben? Bedeuten solche Forschungsergebnisse, dass wir für den Rest unseres Lebens gebrandmarkt sind, wenn wir in der Kindheit schlimme Dinge erlebt haben? Dass wir unseren Hormonen hilflos ausgeliefert sind und zwangsweise im späteren Verlauf unseres Lebens mit Depressionen, Ängsten, Zwängen oder anderen stressbedingten Erkrankungen zu tun haben werden?

Nein. Die moderne Gehirnforschung belegt zwar, dass Erfahrungen dauerhaft im Gehirn gespeichert werden. Das bedeutet allerdings, dass nicht nur negative Erfahrungen, sondern auch Grundkompetenzen, die für die Lösung von Problemen wichtig sind, in unserem Erfahrungsspektrum enthalten und abrufbar sind. Wenn wir uns jedoch ausschließlich auf das Problemkonzentrieren, nehmen wir unsere Kompetenzen zu dessen Bewältigung immer weniger wahr. Dann bedarf es gezielter therapeutischer Begleitung, die auf die Lösung fokussiert ist, damit die eigenen Ressourcen wiederentdeckt werden.

Manchmal ist es hilfreicher, die Behandlung auf die zukünftige Lebenssituation eines Patienten auszurichten, anstatt die schrecklichen Dinge aus der Vergangenheit hervorzugraben wie Knochen aus einer Gruft. Wenn wir die Vergangenheit in Gesprächen und Bildern wiederbeleben, besteht ohne Zweifel die Gefahr einer Retraumatisierung. Aus heutiger Erfahrung weiß man, dass die Gefahr dann besonders groß ist, wenn kein Handwerkszeug zur Verfügung steht, um mit den hochkommenden Gefühlen wie massiven Ängsten, Scham und Verzweiflung umgehen zu können.

Dieses Handwerkszeug aber möchte ich Ihnen in diesem Buch vorstellen.

Wir werden uns vorwiegend auf Ihre Stärken und Kraftquellen konzentrieren, mit deren Hilfe Sie Ihre Vergangenheit bewältigen können. Falls Sie jedoch das Gefühl haben sollten, allein nicht weiterzukommen: Scheuen Sie sich nicht, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. In jedem anderen Bereich unseres Lebens ist es selbstverständlich für uns, die Hilfe eines Fachmannes anzunehmen, wenn wir selbst nicht weiterwissen. Wenn unsere Waschmaschine kaputt ist, versuchen wir zunächst einmal selbst, sie zu reparieren. Gelingt uns das nicht, holen wir den Reparaturservice. Fährt unser Auto nicht mehr, bringen wir es selbstverständlich in die Werkstatt. Haben wir eine Grippe, wenden wir zunächst Hausmittel an. Sinkt das Fieber nicht, holen wir einen Arzt. Nur bei psychischen Problemen scheinen wir der Ansicht zu sein, alles selbst bewältigen zu müssen. Doch derselbe Verstand, der die Probleme erschafft, versucht nun, sie zu lösen, und das ist bisweilen schwierig. Da bedarf es eines Inputs von außen, damit sich neue Wege auftun. Das heißt nicht, dass Sie unbedingt eine langwierige Therapie in Anspruch nehmen müssen. Manchmal reichen ein paar Stunden, um wieder ins Lot zu kommen.

Die Kindheit, so schwer sie gewesen sein mag, ist nichts, was zu einem unabwendbaren Schicksal führen muss. Sie bringt nicht zwangsläufig mit sich, dass wir im späteren Leben unglücklich und voller Neurosen sind und keine erfüllten Beziehungen eingehen können. Es kommt darauf an, wie wir mit der Vergangenheit umgehen. Bei Weitem nicht jeder Mensch, der ein frühkindliches Trauma erlebt hat, leidet unter psychischen Spätfolgen. Im Gegenteil: Aus schwerem Schicksal erwächst oft besondere Kraft! Wir haben durchaus Einfluss auf unser Erleben, Fühlen und Denken und sind nicht willenlose Opfer unserer Lebensumstände. Jeder Mensch verfügt über die Ressourcen, die er benötigt, um widrige Situationen meistern zu können. So einfach, wie uns die amerikanische Ideologie »You can get it if you really want!« zu vermitteln versucht, ist es allerdings nicht. Und jemand, dessen Lösungsversuche nicht gleich zum Erfolg führen, ist noch lange kein Versager. Es heißt selbstverständlich auch nicht, dass wir die Schrecken und Qualen, die jemand erlitten hat, nicht ernst nehmen und empathisch würdigen sollten. Das Schlechte darf nicht beschönigt werden. Wenn Sie als Kind Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlungen erlebt haben, muss dieses erfahrene Leid erst einmal gewürdigt werden. Schwerste Beeinträchtigungen in der Kindheit hinterlassen selbstverständlich ihre Spuren. Kinder sind nicht unverletzlich, sondern leiden sehr wohl unter ihren tragischen Erfahrungen. Aber diese Verletzungen müssen nicht ein Leben lang offene Wunden bleiben und zwangsläufig in psychischen Störungen enden. Ein Kind, das bis zum Erwachsenenalter ausschließlich negative Erfahrungen machen musste, zudem möglicherweise durch seine biologische Ausstattung benachteiligt ist und keinerlei positive Zuwendung kennenlernte, hat in der Tat Schwierigkeiten, ein erfülltes Erwachsenendasein zu führen. Doch das sind seltene Ausnahmefälle.

Man geht oft davon aus, dass ein psychisches Problem seine Ursachen immer in der frühen Kindheit habe und nur dann gelöst werden könne, wenn die Ursache bekannt und vom Betroffenen aufgearbeitet worden sei. Dies kann in manchen Fällen sinnvoll sein, doch häufig wirkt sich diese Sichtweise aus drei Gründen wie ein Bremsklotz aus:

• Wenn die Ursache in der Vergangenheit gesucht wird, kann dies zu dem Irrglauben führen, man könne nichts verändern, weil die Vergangenheit ja längst vorbei ist. Das Problem erscheint dann irreversibel.

•Wenn Sie davon ausgehen, dass frühe Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Lehrer, Erzieher …) Ihnen nachhaltig geschadet haben, könnten Sie glauben, dass Sie für Ihr Erleben und Verhalten keine Verantwortung tragen. Sie entschuldigen Ihre Verhaltensweisen und machen sich zum Opfer Ihrer Vergangenheit. Das Problem entzieht sich Ihrer Kontrolle, und Sie sehen keine Möglichkeit, es zu lösen.

•Darüber hinaus bleibt die Ungewissheit bestehen, ob Sie nun die »wirkliche« Ursache Ihres Problems gefunden und Ihre Kindheit zur Genüge aufgearbeitet haben.

Statt in der Kindheit zu suchen, ist es häufig viel wirkungsvoller, nach aktuelleren Ursachen in der jüngeren Vergangenheit zu forschen, weil diese sofort Informationen darüber liefern, was man braucht, um die Situation zu verändern. Meiner Erfahrung nach ist es also gar nicht notwendig, die »wirkliche« Ursache einer Schwierigkeit zu kennen, um sie zu lösen.

Leider kann Ihnen niemand garantieren, dass andere Menschen nachvollziehen oder sich in das hineinversetzen können, was Sie durchgemacht haben. Aber Sie selbst können entscheiden, wie Sie mit sich und Ihrer Vergangenheit umgehen wollen. Wollen Sie – was häufig genug der Fall ist – die Tradition derjenigen Menschen fortführen, die Sie als Kind schlecht behandelt haben? Wollen Sie sich selbst kritisieren, niedermachen, verletzen, Ihre Bedürfnisse vernachlässigen und Ihre Wünsche und Sehnsüchte missachten? Oder wollen Sie liebevoll, mitfühlend, wertschätzend und achtsam mit sich umgehen? Wer, wenn nicht Sie selbst, sollte Sie nach so viel erlittenem Leid mit Respekt und Verständnis behandeln?

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie leicht es ist, den Anforderungen des Alltags zu erliegen und die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Unser gesellschaftliches Umfeld lässt uns oft nicht zur Ruhe kommen und nach innen lauschen. Es gibt immer eine Ausrede, um sich selbst nicht zu spüren. Doch wohin hat uns das geführt? Immer mehr Menschen werden krank und leiden an psychischen Erkrankungen. Treffen Sie jetzt die Entscheidung, mit sich selbst ins Reine zu kommen und liebevoller mit sich umzugehen.

Es gibt nicht eine Kindheit, sondern viele

Was wir als Wirklichkeit erleben, ist das Ergebnis von Aufmerksamkeitsfokussierung. Das heißt, wir erkennen nicht die »Wahrheit« über eine Situation, sondern worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, wird zu unserer Realität. Das erklärt auch, warum verschiedene Menschen dieselbe Situation so unterschiedlich erleben können. Sie erinnern sich vielleicht an das berühmte Beispiel des halb vollen beziehungsweise halb leeren Glases. Bestimmte Aspekte werden stärker wahrgenommen, andere treten eher in den Hintergrund oder werden ganz ausgeblendet. Insgesamt konzentrieren wir uns meist auf das Problem anstatt auf lösungsfördernde Potenziale.

Wenn ich mir beispielsweise einrede, ich sei zu dick und deshalb unattraktiv, so ist es nicht verwunderlich, wenn ich mich schon bald niedergeschlagen und unzufrieden fühle. Durch die Gespräche, die wir mit uns selbst führen und die häufig unbemerkt ablaufen, bauen wir uns eine Identität auf.

In jedem Moment können wir uns neu erfinden, und zwar durch die Geschichten, die wir uns selbst und anderen Menschen über uns erzählen.

Diese Geschichten haben enormen Einfluss auf unsere seelische Befindlichkeit, denn sie wirken wie hypnotische Suggestionen. Beobachten Sie sich einmal: Je nachdem, in welcher Situation Sie sich befinden, mit wem Sie es gerade zu tun haben und wie Ihre seelische Verfassung ist, erzählen Sie sich und anderen völlig verschiedene Geschichten: Horrorstorys, Liebesdramen, Märchen oder eine Erfolgsgeschichte.

Wir erfinden unsere Vergangenheit ständig neu. Was wir Vergangenheit nennen, ist nicht statisch, sondern dynamisch. Je nach unserer Befindlichkeit sieht unsere Kindheit grauenhaft oder ganz passabel aus. Bin ich beispielsweise sehr niedergeschlagen und schaue aus dieser Niedergeschlagenheit heraus in meine Vergangenheit, so war diese einfach nur schrecklich. Bin ich dagegen frisch verliebt, so fallen mir viele positive Ereignisse ein, und die Vergangenheit erscheint gar nicht mehr so fürchterlich. Sie sind der Konstrukteur oder die Konstrukteurin Ihrer Vergangenheit! Der bekannte Hypnotherapeut Gunther Schmidt sagt: »Nicht die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart – die Gegenwart bestimmt die Vergangenheit!« Somit gibt es unendlich viele Vergangenheiten und Zukünfte. Wir wählen ständig aus, was wir wie erleben wollen. Wir können uns beispielsweise einreden: »Nach dieser schrecklichen Kindheit kann ja nichts aus mir werden!« So rechtfertigen wir vielleicht unser Versagen in der Gegenwart. Wenn wir uns jedoch sagen: »Meine Kindheit war ein echtes Survivaltraining!«, dann sieht die Sache schon ganz anderes aus. Wir dringen zu unserer Kraft vor und nutzen die Vergangenheit für das Hier und Jetzt. Wir bestimmen, welche Bedeutung wir unserer Vergangenheit geben, und lassen nicht zu, dass die schrecklichen Ereignisse unser Leben bestimmen. Es ist also nicht die Vergangenheit an sich, die uns beeinflusst, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihr in Beziehung treten. Wir lernen am Negativbeispiel ebenso viel wie an einem Positivbeispiel.

Den alten Rucksack ablegen

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf einer langen Wanderung und tragen einen alten Rucksack mit all Ihren Kindheitserinnerungen. Langsam steigen Sie einen Berg hinauf, der Rucksack ist schwer, und endlich erreichen Sie eine Anhöhe. Der Weg steigt nun nicht weiter an, er wird breiter, und Sie gelangen schließlich an einen Platz voller Magie. Nur Sie wissen, wie dieser Platz aussieht, vielleicht ist dort ein See oder eine Grotte, vielleicht ein besonderer Baum, eine Kirche oder ein Tempel. Schauen Sie sich in Ruhe um. Schließlich finden Sie einen Platz, an dem Sie Ihren Rucksack ablegen und an dem Sie sich hinsetzen wollen, um sich auszuruhen. Sie spüren, wie wohl es tut, den Rucksack abgelegt zu haben. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen Sie, es ist Ihnen leicht ums Herz. Auf einmal bemerken Sie, dass ein freundliches Wesen auf Sie zukommt, Sie anlächelt und Ihnen ein Geschenk überreicht. Sie erhalten etwas, was Ihnen in Ihrer momentanen Lebenssituation hilft. Vielleicht verstehen Sie die Botschaft des Geschenks nicht sofort, doch Sie nehmen die Gabe dankbar an. Nach einiger Zeit gehen Sie zu der Stelle zurück, an der Sie Ihren Rucksack abgelegt haben, und überlegen sich, was Sie vom Inhalt des Rucksacks auf Ihrem weiteren Lebensweg noch brauchen können – und was Sie lieber zurücklassen wollen. Sortieren Sie aus! Danach steigen Sie langsam wieder den Berg hinab, bis Sie im Tal angekommen sind.

Kehren Sie nun mit Ihrer Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt zurück.

»O wie so trügerisch …!« Wie zuverlässig sind unsere Erinnerungen?