Nachtblauer Tod - Klaus-Peter Wolf - E-Book
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Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Ein Siebzehnjähriger begibt sich auf die Suche nach dem Mörder seiner Mutter Für Leon Schwarz bricht eine Welt zusammen, als seine Mutter in der Nacht zu Hause ermordet wird. Genau zu der Zeit knutscht er auf einer Party mit Vivien und gießt nebenbei die Erdbeerbowle mit Weinbrand auf. Als Hauptkommissar Büscher und seine Kollegin Schiller zunächst seinen Vater und dann auch ihn verdächtigen, weiß Leon, dass er die Sache selbst in die Hand nehmen muss: Er wird den Mörder seiner Mutter finden, koste es, was es wolle.

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Seitenzahl: 346

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Klaus-Peter Wolf

Nachtblauer Tod

 

 

 

 

Inhalt

Die Edith-Stein-Schule gibt es [...]

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Die Edith-Stein-Schule gibt es in Bremerhaven wirklich. Ebenso die letzte Kneipe vor New York, das Schiff Seute Deern, das Hotel Haverkamp und das Amtsgericht. Trotzdem ist dies ein Roman, der die Realität von der Fiktion aus beleuchtet. Die Handlung ist erfunden, die Kulisse aber echt.

 

Ich danke meinem Freund und Förderer Rolf Stindl aus Bremerhaven, der mir vieles leichtgemacht hat, was ohne ihn schwer gewesen wäre …

 

Klaus-Peter Wolf

1

Wenn er gewusst hätte, dass seine Mutter in die Augen ihres Mörders blickte, während er auf dieser Party bei seinem Freund Ben heimlich Weinbrand in die Erdbeerbowle goss, wäre er garantiert um Hilfe schreiend nach Hause gelaufen. Aber Leon Schwarz hatte keine Ahnung. Er glaubte, seine Welt sei in Ordnung.

Die kleinen Risse im Eis deuteten nicht darauf hin, dass die Decke bald einbrechen würde. Aber es knirschte bereits, und das Eis war dünn geworden, so dünn, dass alle, die sich auf ihm befanden, in Lebensgefahr schwebten. Wie damals, als er beim Schlittschuhlaufen auf dem Teich plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte und die Kälte des Wassers ihn wie ein Faustschlag traf.

Er musste für ein paar Schrecksekunden lang ohnmächtig geworden sein. Auf jeden Fall hatte er die Orientierung verloren.

Er wollte auftauchen. Er brauchte Luft, aber er stieß gegen eine geschlossene Eisdecke. Er fand das verdammte Loch nicht. Die Einbruchstelle konnte jetzt seine Rettung werden. Aber wo war sie?

Er versuchte, das Eis zu durchbrechen, aber es gelang ihm nicht. Die Kälte begann schon seinen Bewegungen die Kraft zu nehmen. Seine Muskeln wurden schwer und irgendwie lahm.

Es war unglaublich laut unter Wasser. Die Läufer auf dem Eis ließen die gefrorene Decke stöhnen und ächzen wie ein leidendes Lebewesen, auf dem alle herumtrampelten. 

Immer wieder träumte er von dieser Szene, wie er über sich die geschlossene Eisdecke sah. Manchmal überfielen ihn diese Bilder am hellen Tag. Es gab keine Ankündigung. Es konnte mitten im Matheunterricht passieren, oder wenn er zur Toilette ging und die Tür hinter sich schloss.

Jetzt geschah es gerade wieder. Jetzt, da Jessy ihn ansah und ihm mit ihrem Silberblick zu verstehen gab, wie sehr sie auf ihn abfuhr.

Sie konnte junge Männer angucken, dass es denen durch und durch ging. Andere Typen stellten sich dann vielleicht vor, wie es wäre, sie zu küssen oder ihre nackte Haut zu berühren. Er brach stattdessen ins Eis ein und stand ein bisschen hilflos, ja linkisch, herum, bekam feuchte Hände und wusste nicht, wohin mit ihnen.

Jessy müsste ihn eigentlich für einen Idioten halten, dachte er. Trotzdem legte sie eine Hand auf seinen Arm und fragte ihn, ob er ihr ein paar Erdbeeren aus der Bowle fischen könnte. Er hätte das nur zu gern für sie getan, doch er steckte mal wieder unter der Eisdecke fest und bekam keine Luft.

Dann retteten ihn die Bilder von seinem Vater. Wie eine Erscheinung, geboren aus Trillionen von Luftbläschen, tauchte er plötzlich unter Wasser auf. Ein Engel! Ja, wie ein Engel wirkte er und verstärkte das Gefühl in Leon, zu sterben. Immerhin wurde er nicht vom Teufel geholt, sondern von einem Engel.

Dann hatte sein Vater ihn unsanft gepackt und mit sich gerissen. Immer wenn er seinen Vater umhüllt von Luftbläschen sah, ging es ihm besser.

Er bekam wieder Luft, lächelte Jessy an, angelte für sie ein paar Früchte aus der Bowle und hielt ihr eine saftige Erdbeere, die sich mit Alkohol vollgesogen hatte, auf einem Picker hin.

Sie stülpte ihre Lippen über die Frucht und schloss dabei demonstrativ die Augen.

Er kannte kein anderes Mädchen, das so war wie sie.

Wahrscheinlich übte sie so etwas heimlich zu Hause vor dem Spiegel. Sie liebte Hollywoodfilme. Sie konnte Julia Roberts nachmachen, Meg Ryan, Kristen Stewart und Sarah Jessica Parker.

Sie waren allein in der Küche, und als Leon Jessy küsste, starb seine Mutter.

Ihr letzter Gedanke galt ihm, ihrem geliebten Sohn.

Seine Lippen brannten, und Jessy ließ es zu, dass seine Finger unter ihr T-Shirt glitten. Dann öffnete er die Augen, weil ihn das komische Gefühl beschlich, angestarrt zu werden.

Tatsächlich, im Türrahmen, wo die Einbauküchenzeile mit einem Kühlschrank endete, stand die fünfzehnjährige Johanna.

Ben hatte versucht, seine jüngere Schwester für die Dauer der Party loszuwerden, aber die Spaßbremse hatte so lange Theater gemacht, bis Bens Mutter ein Machtwort gesprochen hatte.

Leon konnte nicht küssen, wenn er so angeglotzt wurde, außerdem äffte Johanna jetzt Jessy nach, als ob sie gerade einen unsichtbaren Liebhaber knutschen würde.

Leon fühlte sich peinlich berührt und verspottet. Er schob Jessy von sich weg.

Johanna drängte sich an den beiden vorbei zur Erdbeerbowle. Sie stieß Leon dabei versehentlich heftig an.

»Oh, Entschuldigung – stör ich?«

»Nee«, konterte Jessy patzig, »wir haben alle nur auf dich gewartet. Schön, dass du doch noch gekommen bist. Ist nix im Fernsehen?«

Jessy glaubte, Johanna damit echt eins verpasst zu haben und stolzierte, mit Hintern und Hüften provokativ wackelnd, zur Tür. Sie ging ganz sicher davon aus, dass Leon ihr folgen würde, aber der blieb bei der Bowle und bei Johanna. Er schenkte sich ein Glas ein.

»Versuch das ja nie mit mir, du Vollhorst. Da bleibst du nämlich mit der Zunge an der Zahnspange hängen!«, giftete Johanna und grinste ihn provozierend an, dabei ließ sie das Silber auf ihrer Kauleiste blitzen. Sie war genauso nervig, wie Ben immer erzählte.

Leon suchte Jessy. Die tanzte inzwischen Klammerblues mit Ben und sah konsequent an Leon vorbei oder durch ihn hindurch, als ob er nicht da wäre.

Sie machte einen beleidigten Eindruck auf Leon. Vermutlich war sie sauer, weil er nicht sofort hinter ihr her gedackelt war.

Dafür fixierte Johanna ihn jetzt. Sie hielt sich jeweils in der von ihm am weitesten entfernten Ecke des Raums auf, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Wenn er zu ihr sah, zog sie Grimassen.

Wenn alle Mädchen so wären, würde ich schwul, dachte er und holte sich noch ein Glas Bowle.

Wie affektiert Jessy jetzt mit Ben turtelte … Dabei achtete sie genau darauf, dass Leon alles mitbekam.

Sie will mich echt eifersüchtig machen, dachte er.

Die Bowle kam ihm plötzlich ungenießbar vor. Zu süß. Er ging zu süffigeren Drinks über. Ben hatte zwei Kästen Flens besorgt und dann noch Altbier. Aber das Düsseldorfer schmeckte Leon auch nicht. Da ploppte er lieber ein Flens. Er mochte das Geräusch, wenn der Bügelverschluss aufsprang. Bier spritzte hoch, und ein paar Schaumflocken landeten auf seinem weinroten Seidenhemd.

Inzwischen war er eigentlich zu betrunken, um nach Hause zu gehen, aber zu nüchtern, um zu bleiben.

Leon ließ sein Fahrrad stehen und wankte durch die kalte Luft. Die lila Finsternis umfing ihn wie eine schützende Hand. Als er an der Geeste ankam, war ihm schlecht, so als hätte ein Teil von ihm bereits Ahnung von dem, was ihn zu Hause erwartete.

Er hatte Seitenstechen und war außer Atem. Erst jetzt merkte er, dass er völlig sinnlos gerannt war und eine kurze Pause brauchte.

Eine Wolke schob sich vor den Vollmond. Der Himmel war nachtblau. Leon sah sich die Sterne an. Er liebte solche Nächte. Der Wind wühlte in seinem Haar. Die Luft schmeckte nach Meer.

Sein Handy furzte. Jessy.

Warum er denn schon gegangen sei. Jetzt ginge es doch eigentlich erst richtig los.

Er verstand sich selbst nicht. Statt zurückzulaufen ging er weiter in Richtung Prager Straße. Etwas trieb ihn nach Hause. Er wusste nicht, was es war, aber es war sehr stark. Auf eine irre Art stärker als er selbst.

Nein, er hatte keine Angst davor, Ärger mit seinen Eltern zu kriegen. So waren sie nicht. Sie waren zwar nicht so cool wie Bens Mutter, aber sie hatten genug mit sich selbst zu tun und gar nicht viel Zeit, um ihn an der Leine zu führen.

Eine Straßenlaterne flackerte. Es sah aus wie kleine Blitze, die durch die Nacht zuckten. Vor dem Columbus-Center knutschte ein Pärchen. Im ersten Moment glaubte Leon, dort seinen Mathelehrer zu erkennen, aber dann war es doch ein völlig Unbekannter. Die rothaarige Frau hatte das Gesicht mit Lippenstift verschmiert. In der Spiegelung des Schaufensters sah es aus wie Blut, als hätte sie einen Vampir geknutscht und der ihr das Gesicht zerfetzt.

Leon fand die Idee, jetzt so angetrunken zu Hause aufzutauchen, plötzlich gar nicht mehr gut.

Es war kurz vor zwölf. Er stellte sich vor, dass seine Mutter, wie meistens um die Zeit, mit einem dicken Kissen im Rücken im Bett lag und mit einer Tafel Schokolade neben sich einen Krimi las. Sie war keine Leseratte. Eher schon ein Lesehai. Sie verschlang Bücher. Sie brauchte Krimis zum Leben wie andere Leute Bratwürstchen, Filetsteaks oder Pizza. Dabei betonte sie – auf ihre Leidenschaft angesprochen – gern, dass Lesen weder dick noch doof mache.

An ihren Rändern unter den Augen erkannte Leon, ob sie gerade einen guten Kriminalroman erwischt hatte oder nicht. Die richtig aufregenden Krimis hielten sie bis zur Erschöpfung wach. Dann hatte sie am nächsten Morgen Rückenschmerzen, schwarze Ränder unter den Augen und war unkonzentriert. Innerlich jagte sie den Täter, wog Zeugenaussagen ab und überprüfte Alibis auf ihre Glaubwürdigkeit. Im Moment las sie den dritten Teil von Stieg Larssons Trilogie. Das Buch hatte sie völlig in den Bann gezogen.

Sie war also garantiert noch wach, wenn er jetzt nach Hause kam. Sie würde aufstehen. Sie stand immer auf, wenn er abends spät nach Hause kam. Sie würde ihm Fragen stellen und versuchen, sich für ihn zu interessieren. Dabei hätte sie vermutlich Mühe zuzuhören, denn der Mörder in ihrem Krimi war bestimmt mal wieder viel interessanter als alles, was ihr Sohn zu erzählen hatte. Normalerweise einigten sie sich dann rasch darauf, dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen. So konnte sie sich wieder ihrem Roman widmen und er seinen Träumen.

Aber heute würde es anders laufen, fürchtete er. Seine Mutter hasste betrunkene Männer. Sie selbst war bei einem Alkoholiker aufgewachsen, und das hatte Spuren auf ihrer Seele hinterlassen.

Wenn Leons Vater sich mal »einen brennen« wollte, wie er es nannte – wenn er mit seinen Angelfreunden ein paar Bierflaschen köpfte –, dann tat er das immer außer Haus, und er kam erst am nächsten Tag frisch geduscht und mit geputzten Zähnen zurück. Leons Mutter konnte den Geruch von Alkohol nicht ausstehen. Das machte es für Leon schwer, zu Hause eine Party zu schmeißen. Wer stand schon auf Fruchtsaftfeten?

Er entschied sich also, zu seinem ursprünglichen Plan zurückzukehren und bei Ben zu übernachten. Scheiß auf die Zicke Johanna, dachte er. Von der lass ich mich doch nicht vertreiben.

Vermutlich würde Jessy sich etwas darauf einbilden und glauben, er sei nur wegen ihr zurückgekommen, aber das war ihm jetzt egal.

Als Leon wieder auf der Party erschien, verließ der Mörder seiner Mutter gerade das Haus. Fast hätten sich ihre Wege gekreuzt.

2

Leon wurde von dem Geklapper wach. Er hatte mörderischen Durst. In der Küche deckte jemand den Tisch. Es roch aber nicht nach frischen Brötchen, sondern nach stinkigen Socken.

Er hatte auf einer Luftmatratze vor Bens Bett geschlafen, und Ben war später halb ohnmächtig ins Bett gefallen und mit allen Klamotten am Körper eingepennt. In der Nacht hatte er zu schwitzen begonnen und seine Partymontur ausgezogen. Er hatte alles im Halbschlaf gemacht und die Strümpfe einfach vors Bett fallen lassen. Seine Simpsonssocken landeten nah bei Leons Gesicht. Als er sich umdrehte, lag er mit der Nase direkt darauf.

Angewidert warf er die Socken auf Bens Gesicht, wovon der wach wurde.

»Mann, äi! Lass mich pennen.«

Leon sah sich nach etwas Trinkbarem um. Die Wüste im Hals lechzte nach Wasser, aber er fand nur zwei halbvolle Flensflaschen. Bei dem Gedanken, jetzt Bier trinken zu müssen, schüttelte er sich. Er wusste nicht einmal, ob er schon reif für Kaffee war. Vielleicht sollte er es besser mit Kamillen- oder Pfefferminztee versuchen.

Er tapste auf der Suche nach Flüssigkeit eine Weile halbblind im Zimmer herum, weil durch die Ritzen der Rollläden nur spärlich Licht in den Raum fiel.

Da öffnete Maik, der Lebensgefährte von Bens Mutter und Möchtegernvater ihrer Kinder, die Tür, lachte sein unverwechselbares Lachen, um das so viele Menschen ihn beneideten, und frohlockte: »Master! Dinner is prepared!«

»Boh, nein, äi!«, stöhnte Ben und zog sich ein Kissen vors Gesicht.

Unbeeindruckt davon trat Maik ein und kitzelte Ben unter der Fußsohle. Der zog seinen Fuß rasch ins Bett zurück und maulte: »Außerdem ist das bestimmt kein Dinner, sondern ein Breakfast, das du da – leider viel zu laut – aufgebaut hast.«

Fröhlich suchte Maik den Fuß unter der Decke und lachte: »Das war ein Zitat aus …«

»Der Rocky Horror Picture Show«, vollendete Ben angenervt den Satz.

Wenn Maik nicht aus Rocky Horror zitierte, dann aus Casablanca oder Crocodile Dundee.

Leon mochte Maik. Er hörte ihm gerne zu. Maik hatte viele Geschichten drauf. Er war das Gegenteil von einem Spießer. Ein Weltenbummler und Abenteurer, der jetzt sesshaft werden wollte, hier in Bremerhaven, bei Ben, Johanna und Ulla Fischer.

Wie ein angeschossener Zombie wankte Leon an Maik vorbei in die Küche.

Hatte der hier aufgeräumt? Jedenfalls gab es frisch gepressten Orangensaft und auf der Arbeitsplatte neben dem Ceranfeld lag noch ein Beutel spanischer Apfelsinen. In einer steckte malerisch ein Messer.

Seine Dienstjacke hing über einem Stuhl. Security Homeservice. Es war für fünf Personen gedeckt, aber alle anderen Plätze waren noch frei.

Leon klemmte sich an der Längsseite auf die Sitzecke. Dort schien ihm besonders viel Orangensaft im Glas zu sein. Er leerte das Glas gierig.

Maik kam aus Bens Zimmer zurück.

»Ach, lassen wir den schlafen. Johanna ist auch nicht ansprechbar. Die habt ihr wohl ganz schön abgefüllt, was?« Er zwinkerte Leon komplizenhaft zu. »Komm, frühstücken eben wir zwei. Nach einer Nachtschicht brauche ich immer ein gutes Frühstück, bevor ich mich hinhaue.«

»Haben Sie hier aufgeräumt, oder sind die anderen noch so lange aufgeblieben? Ich habe nix mehr mitgekriegt. Wir wollten uns eigentlich den Wecker stellen und alles erledigen, bis …«

Maik biss hungrig in ein Croissant. Es waren noch mindestens ein Dutzend in der Tüte. Er musste also vorher schon beim Bäcker gewesen sein.

Er schob ein Glas Rollmöpse in Leons Richtung. Der säuerliche Geruch ließ Leons Magen sofort rebellieren.

»Ein guter Rollmops gehört zu jedem anständigen Katerfrühstück«, sagte Maik mit Kennermiene.

Leon ging nicht auf sein Angebot ein. Stattdessen lobte er Maik für seine Aufräumarbeit und fügte hinzu, das sei aber wirklich nicht nötig gewesen.

»Halb so wild«, winkte Maik ab. »Heute Nacht war bei uns nicht viel los. Da hatte ich noch genug Schwung und Adrenalin in den Adern. Aber seht zu, dass Johanna wieder frisch ist, bevor Ulla nach Hause kommt. Die flippt aus, wenn sie mitkriegt, dass ihr kleines Mädchen Alk getrunken hat.«

»War halb so schlimm«, sagte Leon. Er versuchte jetzt den Kaffee. Der erste Schluck blieb drin.

Maik erzählte von seiner Arbeit beim Security Homeservice. Einige wohlhabende, um Haus und Heim besorgte Menschen hatten ihre Häuser mit Alarmanlagen gesichert. Wenn ein Fenster oder eine Tür geöffnet wurde, ohne dass vorher jemand den Code eingegeben hatte, dann klingelte es beim Security Homeservice, und sie sahen auf ihren Monitoren sofort, in welchem Gebäude etwas nicht stimmte. Binnen Minuten war Maik dann da. Bewaffnet mit Pfefferspray, einem Elektroschocker und Handschellen sollte er den Einbrecher stellen.

»Warum klingelt es denn nicht gleich bei der Polizei?«, fragte Leon.

Maik lachte. »Na, die würden sich bedanken. Meistens ist es ja gar kein Einbrecher, sondern die vierzehnjährige Tochter, die durchs Fenster Besuch von ihrem Freund bekommt, oder der senile Großvater, dem zwar das Haus gehört, der sie aber nicht mehr alle beisammen hat und nachts einfach das Haus verlässt, um in den Vorgarten zu pinkeln. Mein Job klingt spannend, aber er ist es nicht. Den letzten Einbrecher habe ich vor einem halben Jahr vertrieben. Vertrieben, nicht gefasst! Die Profieinbrecher sind clever. Die checken ein Haus vorher ab, sehen unsere Anlagen, und das reicht aus, um sie abzuschrecken. Im Grunde könnten wir auch Attrappen unserer Sicherheitsanlagen anbringen. Das genügt, um die Profis fernzuhalten.«

Johanna kam aus ihrem Zimmer. So verschlafen, mit verschmierter Schminke im Gesicht, sah sie süß aus, fand Leon. Jedenfalls nicht so zickig wie am Abend.

Sie gähnte ungeniert und reckte sich. Sie trug ein Baumwollnachthemd. Leon kannte die Geschichte von Ben. Die halbe Klasse lachte sich darüber schief. Ihre Oma hatte ihr mal ein altes Nachthemd von sich geliehen, als Johanna bei ihr übernachtet und ihren Pyjama vergessen hatte. Seitdem wollte Johanna in nichts anderem mehr zu Bett gehen, und ihre Oma hatte ihr drei solcher Nachthemden geschenkt. Wohlgemerkt keine neuen, sondern die alten Schätzchen aus Omas Aussteuer. Das älteste Stück war sechzig Jahre alt. Vermutlich trug sie es gerade.

An ihrem Platz lag kein Messer. Sofort maulte sie: »Warum habe ich kein Messer?«

Leon reichte ihr seines rüber. Er brauchte es ohnehin nicht. Er aß sein Croissant wie Maik auf französische Art. Er stippte es kurz in den Kaffee und biss hinein.

Johanna bestrich sich ein Croissant mit Erdbeermarmelade.

Maik scherzte: »Das soll ein Messer sein? Das hier ist ein Messer!« Er hob das Fleischmesser hoch, mit dem er die Wurst geschnitten hatte.

Johanna lächelte müde, fast mitleidig. »Ich weiß. Crododile Dundee.« Und dann zischte sie leise in Leons Richtung, aber laut genug, dass es jeder hören konnte: »Als Gott den Mann erschuf, hat sie nur geübt.«

Leon hatte keine Lust, jetzt für Johanna den Punchingball zu spielen. Er fand, es war Zeit zu gehen.

»Willst du nicht erst duschen, du alte Stinkmorchel?«, fragte Johanna.

»Warum, ist heute Dienstag?«, gab Leon zurück.

Sie sah ihn einen Moment zu lange an. Sie mochte schlagfertige Jungs. Er ahnte gar nicht, wie sehr, und dieser Jessy hätte sie am liebsten den Hals umgedreht.

3

Noch bevor Leon die Polizei- und Rettungswagen in seiner Straße sah, wusste er, dass es um ihn und seine Familie ging. Das Wissen kam nicht aus seinem Verstand, es wurde dort nur verarbeitet. Es stieg aus der Tiefe seines Körpers in sein Bewusstsein.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Seine Wirbelsäule schien zu glühen und die Haarwurzeln der Kopfhaut auch. Er hatte plötzlich einen metallenen Geschmack im Mund und einen Verwesungsgeruch in der Nase, zu dem die Augen keine passenden Bilder lieferten. Ein Kribbeln wie ein Jucken unter der Haut, gegen das kein Kratzen half, jagte durch seinen Körper.

Leon rannte los. Es war eine unbestimmte Angst, die ihn trieb. Dann erblickte er die Polizeiautos in diesem dummen Blauton mit den silbernen Streifen. Die Farben erinnerten ihn mehr an einen Partylieferservice als an die Polizei. Trotzdem gab sein Verstand den Körperorganen recht. Etwas Schreckliches war geschehen.

Ein paar Schritte schaffte Leon noch, dann, beim Hotel Haverkamp, begann er zu wanken. Die Bilder trudelten vor seinen Augen. Die Wirklichkeit verschwamm, als hätte ihm jemand eine Droge ins Essen gemischt oder als ob das Gehirn nicht mehr genügend Sauerstoff bekommen würde.

Zwischen den Polizei- und Rettungswagen standen Menschen wie Schattenwesen. Eine Schockwelle schien ihnen die Seelen aus den Körpern gejagt zu haben. Jetzt waren sie zu Kleiderständern aus Fleisch und Blut geworden. Sie atmeten zwar noch, aber sie schienen nicht wirklich zu leben.

Oma Schröder zum Beispiel, aus der Parterrewohnung links, mit ihren drei Katzen, die sie vergötterte, stand – was sie noch nie getan hatte – in Pantoffeln und Bademantel mit wirren Haaren auf der Straße. Sie achtete sonst sehr auf ihr Aussehen. Korrekte Kleidung war ihr wichtig. Ihre silbergrauen Haare wurden alle drei Wochen vom Frisör gepflegt.

Sie hatte viel Zeit und fing etwas Sinnvolles damit an. Sie besuchte kranke und einsame Menschen und arbeitete ehrenamtlich in einem Verein, der sich um vernachlässigte alte Menschen kümmerte. Jetzt wirkte sie, als ob sie selbst einen Betreuer bräuchte, wie eine verwirrte alte Dame, die nicht mehr alleine klarkam.

Oder Kai Olschewski, der vier Jahre lang arbeitslos war und in der Zeit begonnen hatte, Bodybuilding zu machen. Inzwischen hatte er ein eigenes Studio eröffnet, eine neue Freundin, ein neues Auto und ein ständiges Grinsen im Gesicht. Er sah in seinen Gym-Trainingssachen immer ein bisschen aus wie ein aufgeblasener Barbie-Ken.

Aber jetzt war sein Grinsen einem kraftlosen Ausdruck gewichen, als seien seine Gesichtsmuskeln gelähmt. Seine Hände zitterten. Seine Lippen waren blass und schmal. Die neue Frau an seiner Seite, Kim, hätte sich, so wie sie jetzt aussah, besser bei Bauer sucht Bäuerin als bei Wer wird Deutschlands Top-Model beworben. Sie war um Jahre gealtert, und obwohl sie voll geschminkt war, wirkte sie wie gerade aus dem Kanal gezogen.

Zwei Männer in weißen Schutzanzügen, deren Gesichter durch Kapuzen und Mundschutz verborgen waren, gaben der Szene zusätzlich etwas Gespenstisches. Auf ihren Rücken stand in schwarzen Buchstaben Kriminaltechnik. Einer von ihnen trug einen silbernen Koffer, der offensichtlich schwer war, denn der Mann ging, als ob der Koffer ihn links nach unten ziehen würde. Dann wechselte er ihn in die andere Hand.

Leon wollte ins Haus, aber ein Herr im grauen Anzug mit schlecht sitzender roter Krawatte hielt ihn auf und redete auf ihn ein.

Erst als das Handy von dem Schlipsträger den Radetzkymarsch ertönen ließ und die anschwellende Musik ihn dazu brachte, ranzugehen, lief der Kriminaltechniker erleichtert ins Haus.

Leon konnte jetzt genauso wenig atmen wie damals im Eiswasser, nur: diesmal konnte sein Vater ihm nicht helfen, denn der wurde selbst auf einer Trage aus dem Haus gebracht. Seine Nase sah seltsam spitz und weiß aus. Sein Haar wirkte schütter. Sein Spitzname war Elvis, wegen seiner Haartolle, aber niemand wäre jetzt auf die Idee gekommen, ihn so zu nennen. Wie ein ausgeknockter Boxer wurde er nach dem k.o. aus dem Ring getragen. Ein Sanitäter kaute Kaugummi. Dieses Bild prägte sich Leon ein.

Holger Schwarz wurde auf der Trage in den Rettungswagen geschoben. Jetzt war für Leon klar, dass sein Vater mit jemandem gekämpft hatte, und ganz offensichtlich hatte er verloren.

Leon hatte Mühe, aufrecht zu stehen. Er spürte seine Beine nicht mehr. Er stand wie auf Watte. Niemand sprach ihn an, es war, als wäre er ein völlig Unbekannter.

Träume ich das alles nur?, dachte er. Hat mich die Bowle gestern völlig weggehauen, und ich bin in einem Albtraum gelandet?

Ist das hier ein Horrortrip?

Hat irgendein Idiot heimlich Drogen in die Getränke gekippt, wie ich den Weinbrand?

Gab es einen Stoff, der erst nach zig Stunden wirkte?

Leon begann zu hoffen, dass es so war.

Worte drangen zu ihm durch: »Familientragödie.« »Katastrophe.« »Unglaublich.« »Alles voller Blut.« »Mord.« »Noch nie gesehen.« »Wie im Blutrausch.«

Leon versuchte, seine rechte Hand zu heben und seinem Vater zu winken. Er wollte auf sich aufmerksam machen, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Er konnte seinen Vater auch nicht rufen. Etwas hatte ihn wieder in die Situation unter der Eisdecke katapultiert.

Dann schloss sich die Tür des Rettungswagens hinter seinem Vater. Das Geräusch löste Leons Erstarrung. Schreiend rannte er auf den Wagen zu.

»Neeeeiiiin! Papaaaaaa! Nein!«

Aber der Wagen fuhr an. Leon klammerte sich an den Türgriffen fest. Er wurde ein paar Meter mitgeschleift.

Oma Schröder kreischte: »Um Himmels willen, der Junge!«

Der Rettungswagen gab Gas bis zur Kreuzung, dann stoppte er abrupt, weil der Fahrer hinter sich die wild gestikulierenden Menschen gesehen hatte. Leon sah er nicht, der befand sich im toten Winkel.

Durch die Bremsung krachte Leon erst gegen die Tür, dann auf die Straße. Er rollte ein paar Meter, schlug mit den Ellbogen und Knien hart auf den Asphalt, und sein Gesicht wurde aufgeschürft, aber es tat nicht weh. Stattdessen kam er schlagartig zur Besinnung. Das hier war kein Albtraum.

Kai Olschewski beugte sich über Leon. »Hast du dich verletzt?«

»Nein. Was ist hier los?«

Leon wollte sich aufrichten und nach dem Rettungswagen sehen, aber Kai Olschewski drückte ihn auf den Rücken zurück.

»Junge, du musst jetzt ganz stark sein.«

»Lass mich! Ich will zu meinem Vater!«

Der Rettungswagen fuhr wieder an, und ein uniformierter Polizist und ein Sanitäter liefen auf Leon zu.

Oma Schröder rief: »Das ist der Junge! Da!«

In dem Moment schoss ein Schreckensgedanke durch Leons Hirn. Die Kriminaltechniker waren ins Haus gegangen. Sein Vater war herausgetragen worden. Dort auf dem Gehweg stand ein zweiter Rettungswagen, aber auch ein Leichenwagen parkte vor dem Haus, von einem Polizeifahrzeug fast verdeckt.

Wie Blitze nahm Leon diese Bilder wahr, dann kreischte er: »Meine Mutter! Was ist mit meiner Mutter?«

Er raffte sich auf. Kai Olschewski stellte sich ihm mit aufgeblähter Brust in den Weg. »Geh da jetzt nicht rein, Junge.«

Dass ihn plötzlich alle Junge nannten, machte Leon zusätzlich zornig. Außerdem verriet ihm der Satz von Kai Olschewski, dass es gar nicht um seinen Vater ging, sondern um seine Mutter, und die war immer noch da oben in der Wohnung im zweiten Stock.

In diesem Augenblick wusste er, dass seine Muter tot war, und alles in ihm lehnte sich dagegen auf. Er sprang zur Seite und versuchte, an Kai Olschewski vorbei, zwischen Polizist und Sanitäter durch zum Haus zu kommen. Dem Sanitäter stieß er gegen die Brust. Der schmächtige Mann taumelte zurück. Er verlor gleich den Mut. Der Polizist sah sich nach Verstärkung um, aber Kai Olschewski griff von hinten zu und hielt Leon am Ärmel fest. Das Hemd riss.

Es war ein Reflex, nicht geplant und nicht gewollt. Noch vor wenigen Minuten hätte Leon gesagt, dass er sich niemals und unter gar keinen Umständen mit Kai anlegen würde. Er war nicht dumm genug, um sich mit diesem Muskelpaket zu prügeln, doch jetzt verpasste er ihm einen rechten Aufwärtshaken. Er traf nicht Kai Olschewskis Ohr, sondern seinen Hals. Der Schlag stoppte Olschewksi und erschreckte ihn. Erstens bekam er keine Luft mehr, und zweitens war er überrascht, dass jemand es wagte, die Hand gegen ihn zu erheben. Diese Zeit war endgültig vorbei. Doch Leons Faust erinnerte ihn schmerzhaft daran, dass es einmal so eine Zeit für ihn gegeben hatte. Eine demütigende Zeit, in der er gekuscht hatte, gemobbt worden war und Prügel einstecken musste. Er hatte geglaubt, das nie wieder erleben zu müssen.

Der Mann, um dessen Hals die rote Krawatte wie ein Strick baumelte, an dem er aufgehängt werden sollte, stellte sich Leon in der Haustür in den Weg.

»Mein Name ist Büscher. Hauptkommissar Büscher. Du kannst da nicht rein.«

»Hauen Sie ab! Ich heiße Leon Schwarz. Ich wohne hier.«

»Dann bleib erst recht hier, Junge.«

Da war dieses Wort wieder, das Leon zu hassen begann: Junge.

Leon machte einen Ausfallschritt nach rechts. Der Kommissar tat es ihm gleich. Genau wie der Kommissar solche Manöver gewohnt war, täuschte Leon den Versuch vor, nach links zu springen, also kam er ihm entgegen, um ihn dort zu empfangen, aber Leon zog stattdessen weiter nach rechts durch, und der Schlipsträger erwartete ihn an der falschen Stelle. Solche Tricks hatte Leon beim Fußballtraining gelernt, sie funktionierten aber auch ohne Ball. Leon rannte die Treppe hoch. Hinter ihm weinte ein Kind oder eine Frau, aber er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern.

Der Kommissar hechelte hinter Leon her. Er hatte erst vor zwei Wochen aufgehört zu rauchen. Vierzig Zigaretten am Tag hatten nicht geholfen, seinen hektischen Alltag zu überstehen, und ihn fertiggemacht. Aus dem einstigen Taucher und Rettungsschwimmer war ein kurzatmiger Mann geworden, der mit seinen fünfundvierzig Jahren kaum noch die Sprintleistung eines Sechzigjährigen hatte.

Er blieb drei, vier Stufen hinter Leon, aber getrieben von der irren Angst um seine Mutter vergrößerte Leon den Abstand. Als er schließlich vor seiner Wohnungstür im zweiten Stock ankam, befand sich der Kommissar noch im ersten Stock, musste stehenbleiben und sich aufstützen, weil ihm schwindlig wurde.

»Mach keinen Mist, Junge! Bleib stehen! Ich meine es doch nur gut!«, japste er.

Das Erste, was Leon aus der elterlichen Wohnung entgegenschlug, war ein Blitzlicht des Polizeifotografen aus der offenen Schlafzimmertür seiner Eltern. Und dann war da dieser Geruch. Süßlich. Schwer. Metallisch. Genau wie Blut.

Im Flur kniete ein Kriminaltechniker und schraubte an einer Dose herum, deren Deckel er nicht aufbekam.

Was Leon dann sah, war schlimmer als die undurchdringliche Eisdecke. Es war so endgültig. Ein Riss ging von nun an durch sein Leben. Ab sofort würde er die Zeit neu einteilen, in vor und nach der Mordnacht. Nichts würde je wieder so sein wie es gewesen war, bevor er seine Mutter tot auf dem Bett liegen sah, das spürte er mit jeder Pore seiner Haut. Dann brach er zusammen.

Das Blitzlicht des Fotografen zuckte noch zweimal durchs Zimmer. Leon nahm es durch die geschlossenen Augen wahr wie ein Gewitter im Gehirn. Er hörte noch, was um ihn herum geschah. Das Knarren der alten Dielen, als der Kommissar den Raum betrat und dann seine atemlose, heisere Stimme.

»Mist, verdammter. Das wäre nicht nötig gewesen. Kein Kind sollte seine Mutter so sehen.«

»Wer sagt dir, dass der Bengel sie nicht umgebracht hat? Wir hatten neulich einen, der hat Vater, Mutter und Schwester erschlagen und ist dann seelenruhig in die Disco gegangen …«

4

Kommissar Büscher verbrachte mit seiner Kollegin Birte Schiller, die er gern Löckchen nannte, was sie nicht witzig fand, eine Kaffeepause in der Cafeteria des Klinikums Bremerhaven-Reinkenheide. Sie trug ein schwarzes, fast eckiges Brillengestell, das ihrem Aussehen eine unangenehme Strenge gab, die sie aber ohne Brille gar nicht ausstrahlte.

Sie hatten sich mal wieder gestritten. Zur Versöhnung gab er einen Milchkaffee aus, aber kaum hatte er die Tassen an den Tisch gebracht, legte sie gleich wieder los.

Sie rührte ihren Milchkaffee nicht an. Büscher dagegen schlürfte seinen mit Genuss. Er deutete auf ihre Tasse: »Trink, Löckchen. Kaffee ist gut gegen Kopfschmerzen.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine Kopfschmerzen.« Sie machte eine Pause und sah ihn bedeutungsschwanger an. »Aber ich habe eine Milchallergie.«

Er erkannte seinen Fehler. »Oh.«

Sie setzte nach. »Seit drei Jahren.«

»So lange kennen wir uns noch gar nicht«, verteidigte er sich.

»Eben. Seit wir uns kennen, ist das so. Ich finde, du könntest es dir langsam merken.«

»Schöne Frauen verwirren mich eben …«

Er lächelte sie an. Sie verzog das Gesicht, und er begriff, dass er sich immer noch tiefer reinritt.

Sie schob ihm den Milchkaffee rüber. »Du glaubst also im Ernst, der Junge könnte …«

Er hob abwehrend die Hände. »Ich glaube gar nichts. Ich suche einen Mörder und brauche Beweise. Verdächtig ist erst mal jeder.«

»Sollten wir den Jungen nicht besser erst den Ärzten und Psychologen überlassen? Wir können ihn doch morgen …«

Büscher nestelte an seiner Krawatte herum. »Nein. Erfahrungsgemäß werden die meisten Mordfälle in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat aufgeklärt. Dann hat sich noch nicht jeder eine gute Ausrede zurechtgelegt, die Zeugen erinnern sich noch gut an alles, und die Emotionen gehen hoch. Täter, die später gestehen, sind die Ausnahmen. Wir haben jetzt eine Chance, Löckchen. Nutzen wir sie. Das Zeitfenster, um einen Mord zu klären, ist so klein …«

Er zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger einen zuckerwürfelgroßen Abstand an.

»Ich hätte trotzdem gerne noch einen Espresso. Mein Kreislauf ist gerade ganz unten«, sagte Birte Schiller kraftlos. Er schien den Hinweis nicht zu verstehen und machte keine Anstalten aufzustehen, um ihr den Espresso zu holen.

Sie stöhnte, erhob sich schwerfällig und ging zur Theke. Jetzt kapierte er.

»Warte, Löckchen, ich erledige das doch gerne für dich.«

Er überholte sie. Sie nahm sein Angebot an und setzte sich wieder. Büscher stand für sie Schlange.

Er wog in Gedanken ab, was für Leon Schwarz als Täter sprach. Er hatte sich viel Mühe gegeben, vor aller Augen nach Hause zu kommen, mitten in den Polizeieinsatz hinein. Dann war er im Zimmer seiner Mutter zusammengebrochen. Das Ganze sah sehr dramatisch aus, geradezu gekonnt. Wollte er so seine Spuren ins Zimmer bringen? War der Junge so clever? Jeder Vorstadtanwalt könnte so zum Beispiel Fußspuren im Blut erklären. Hatte der Gymnasiast nur versucht, jeden Indizienbeweis gegen ihn zu erschüttern?

Büscher schämte sich schon lange nicht mehr für solche Gedanken. Er hatte gelernt, allen Menschen zu misstrauen und auch, ihnen zunächst das Schlimmste zu unterstellen. Ja, vielleicht war das ungerecht, aber er war zu oft reingelegt worden. Er wollte keinem Ganoven mehr auf den Leim gehen. Wenn es der Sohn nicht war, dann musste der Vater der Täter sein. Angeblich war keiner von ihnen zu Hause gewesen. Der eine feierte auf einer Party, der andere war zur Tatzeit beim Nachtangeln.

Nein, das war ihm alles zu billig. So einfach wollte er sie nicht davonkommen lassen. Er rechnete damit, in den nächsten Stunden ein Geständnis zu bekommen. Täter flüchteten sich gern in Krankenhäuser, ließen sich Spritzen geben und zogen sich in Krankheit und Schock zurück, wenn sie Angst davor hatten, bei einem Verhör zusammenzubrechen.

Er war inzwischen in der Schlange an der Reihe, aber viel zu sehr in seine Überlegungen versunken, um das zu bemerken. Die junge Bedienung hinter der Theke sah ihn auffordernd an. Unter ihrem Blick zuckte Büscher zusammen. Er sah sich um. Hinter ihm standen noch vier Leute.

Büscher zeigte auf den Nuss-Sahnekuchen mit Marzipanröschen. »Zwei Stücke«, sagt er, klang dabei aber unentschlossen. Dann erinnerte er sich wieder genau daran, warum er zur Theke gegangen war. »Einen Espresso und … Ja, ähm, also … für mich noch ein Mineralwasser.«

Er zahlte und jonglierte das Tablett zum Tisch. Kommissarin Schiller checkte auf ihrem Handy gerade ihre E-Mails.

Sie sah auf den Kuchen, dann auf Büscher. »Gleich zwei Stück? Heute so kalorienbewusst?«, fragte sie spitz.

Er wollte ihr gerade ein Sahnestückchen neben die Espressotasse stellen, da fiel ihm siedend heiß ein, dass er wieder etwas falsch gemacht hatte.

Fast genüsslich ritt sie darauf herum. »Milchallergie. Milch. Kuh. Sahne. Ich esse auch keine Butter, keinen Quark, keinen Joghurt. Und natürlich keine Sahne. Ich kriege davon Hautausschlag, Pickel, Juckreiz und …«

»Ist ja schon gut.«

Schlechtgelaunt stopfte er einen Sahneberg mit Marzipanröschen in sich hinein. Er würde jetzt diese beiden Stücke Torte essen, ohne Birte Schiller anzusehen. Er wusste, dass ihm danach schlecht werden würde, aber es war ihm egal.

Er war wütend auf sich selbst. Genau wegen solcher Unachtsamkeiten hatte seine Frau ihn verlassen. Nicht etwa, weil er so oft nicht zu Hause war und Überstunden schob, nein, weil er, wenn er zu Hause war, nicht wirklich da war, sondern geistig wie weg. Mit seinen Fällen beschäftigt. Er hielt es nicht aus, einen Mörder frei herumlaufen zu lassen. Er fand keine Ruhe, bis er den Täter zur Strecke gebracht hatte. Es war wie eine Sucht, und wenn ein schlimmer Finger hinter Schloss und Riegel saß, dann wartete schon der nächste Fall auf ihn.

Seine Frau hatte es eines Tages nicht mehr ausgehalten, und das steigerte seine Wut auf jeden einzelnen Täter noch. Sie hatten nicht nur Menschenleben vernichtet, sondern auch seine Ehe. Dafür sollten sie büßen. Alle.

Ja, verdammt, er liebte seine Frau immer noch, obwohl sie inzwischen mit einem anderen zusammenlebte, in einem Haus am Stadtrand, das er sich mit seinem Gehalt niemals würde leisten können, zumindest nicht, wenn er anständig blieb.

Er verputzte beide Sahnestücke, stürzte dann das Mineralwasser herunter und rülpste in die offene Handfläche.

Schiller wandte sich ab. Sie hasste sein Rasierwasser, und sie ertrug es, um keinen Streit heraufzubeschwören, aber nach jeder Tatortbesichtigung klatschte er sich zu viel davon ins Gesicht. Er trug das Zeug immer bei sich.

Im Grunde verstand sie das. Manchmal war der Gestank am Tatort einfach bestialisch. Sie tupfte sich immer japanisches Heilöl unter die Nasenflügel. Das half ihr und belästigte nicht die anderen, zumindest hoffte sie das.

Büscher stand auf. »Knöpfen wir uns den Jungen vor. Wir können nicht ewig warten.«

»Ich weiß«, maulte sie, »die meisten Massaker passieren in den Familien. Die Chance, von den eigenen Verwandten umgebracht zu werden, ist viel größer als die, einem Fremden zum Opfer zu fallen. Aber der Junge hat ein Alibi …«

»Alibi? Schönes Alibi, Löckchen. Laut übereinstimmender Aussage von Jessy Schmidt und dieser Johanna Fischer hat er die Party zwischen zwölf und zwei Uhr überstürzt verlassen und ist später wieder zurückgekehrt, um dort zu übernachten. Er hätte Zeit genug gehabt, um das Blutbad anzurichten und …«

»Schon gut, schon gut. Ich komme.«

5

Als Leon erwachte, war der Blutgeruch nur noch eine Erinnerung. Das Rasierwasser von Kommissar Büscher mit dem Hauch von Weihrauch hing schwer im Raum und überlagerte die Desinfektionsmittel, obwohl er sich gar nicht mehr im Krankenzimmer befand.

Und da war sie wieder, die undurchdringliche Eisdecke über ihm.

Leon versuchte aufzustehen, aber die Kälte lähmte seine Muskeln diesmal schlimmer als unter Wasser. Er wollte schreien, aber auch das ging zunächst nicht. Er konnte nicht atmen. Alles war wie damals, nur diesmal lag er im Bett.

Seine Lungenflügel brannten, als ob er Salzsäure eingeatmet hätte. Er ballte die Fäuste, machte ein Hohlkreuz und bog sich im Bett durch. Er sah wieder, wie sein Vater auf der Liege in den Rettungswagen geschoben wurde, dann seine Mutter, aber nicht als Leiche tot im Bett, sondern lebend, wie sie ihm vorlas. Er lag krank im Bett. Eine Magen-und-Darm-Grippe machte ihn fertig. Sie wachte mit einem Buch bei ihm.

Wie oft hatte er das erlebt. Ihre warme Stimme zog ihn in eine Geschichte. Sie rasselte nicht einfach einen Text herunter. Sie erweckte ihn zum Leben, gab den Figuren eigene Stimmen, sie flüsterte, wurde ärgerlich, geheimnisvoll und entführte ihn in ihre Welt. Sie ließ ihn Schmerzen vergessen und gab ihm das Gefühl, geliebt zu werden. Er vergaß die Magenkrämpfe und ließ sich mit sanftem Gruseln verzaubern.

Eine erste Träne löste sich aus seinem linken Auge und rann wie eine durchsichtige kleine Schnecke über sein Gesicht bis zu seinen Lippen. Ihr folgten weitere. Als er sich seiner Tränen bewusst wurde, löste sich sein Krampf. Er konnte wieder atmen und schrie seine Trauer und Verzweiflung heraus.

Kommissar Büscher öffnete die Tür, er zögerte einen Moment, aber dann trat er an Leons Bett.

Er berührte Leons Unterarm und sagte mit belegter Stimme: »Es tut mir leid, was passiert ist, Leon. Aber ich muss dir einige Fragen stellen, auch wenn es schwerfällt.«

Hinter Birte Schiller drängte sich Dr. Juliane Stindl ins Krankenzimmer.

»Oh nein, Herr Kommissar, das werden Sie nicht. Bitte verlassen Sie das Zimmer. Es tut dem Kind nicht gut, wenn Sie jetzt …«

Frau Dr. Stindl schob Büscher zur Seite und legte Leon ein Blutdruckmessgerät an. Sie pumpte es mit einem Knopfdruck auf und drückte damit Leons Oberarmmuskeln zusammen.

Sie war so unglaublich schön, dass ihr Auftritt Büscher für einen Moment schwer irritierte. Sie trug die langen, hennaroten Haare streng nach hinten gebunden. Ihre Gesichtszüge waren um die Augen herum leicht asiatisch, der große Mund hingegen und ihr Kinn wirkten eher europäisch. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas Unwirkliches an sich, als sei sie keine echte Ärztin, sondern eher eine arabische Bauchtänzerin oder eine indianische Schamanin, die sich den weißen Arztkittel nur aus Tarnungsgründen übergezogen hatte.

Ihre Stimme klang rauchig, als sei sie seit langem erkältet. Um so eine Stimme, dachte Büscher, wird sie von so mancher Bluessängerin beneidet werden.

»Sie lassen uns nicht mit dem Vater sprechen und auch nicht mit dem Sohn. Sie bewegen sich am Rande der Strafvereitelung, Frau Doktor …«

Er beugte sich vor, um das Schildchen an ihrer Brust besser lesen zu können.

»Stindl«, sagte sie. »Ich habe mich Ihnen schon zweimal vorgestellt. Können Sie nur meinen Namen nicht behalten, oder haben Sie ein grundsätzliches Gedächtnisproblem, Herr Büscher?«

Hinter seinem Rücken machte Kommissarin Schiller Gesten, als sei das bei ihm ganz normal.

Leon fand die Situation irre.

»120 zu 160. Der Blutdruck ist definitiv zu hoch«, sagte Frau Dr. Stindl, ohne dass klar war, zu wem.

Es gelang Leon, sich im Bett hochzudrücken. Es war, als würde über ihm das Eis brechen.

»Ich … ich will mit dem Kommissar sprechen«, sagte er mit trockenem Mund, und seine eigene Stimme kam ihm fremd vor.

Büscher schien zu wachsen. Er wippte auf knatschenden Sohlen auf und ab und sah triumphierend beide Frauen an.

»Also gut«, räumte Frau Dr. Stindl ein, »aber nur drei Minuten. Und ich bleibe dabei.«

»Nee«, sagte Büscher. »Zehn Minuten, und Sie lassen uns alleine.«

»Fünf!«, betonte sie, befreite Leon von dem Blutdruckmessgerät und ging zur Tür wie eine Kriegerin, die verletzt, aber siegreich das Schlachtfeld verlässt.

Sie drehte sich in der Tür noch einmal um und zeigte mit dem Finger auf Kommissar Büscher wie mit einer Schusswaffe: »Wehe, Sie regen ihn auf. Das ist Körperverletzung.«

Kommissarin Schiller lächelte. »Keine Angst. Es handelt sich nur um eine Befragung. Wir sind darin geschult, vorsichtig und sensibel zu sein.«

Frau Dr. Stindl schloss die Tür.

Kommissar Büscher lauschte. Er hörte nicht, dass sich ihre Schritte entfernten. Er grinste. Also hatte er sie richtig eingeschätzt.

»Was ist mit meinem Vater? Wer hat meine Mutter ermordet?«, wollte Leon ungestüm wissen.

Schiller kannte Büschers übliche Reaktion auf Fragen von Verdächtigen. »Ich stelle hier die Fragen«, sagte er dann normalerweise. Sie fand das in diesem Fall unpassend und unsensibel, deshalb kam sie ihm zuvor, obwohl es zwischen ihnen eigentlich als ausgemacht galt, dass er das Gespräch führte und die erste Frage stellte.

»Wenn du es wünschst, Leon … Ich darf doch du sagen, oder?«

Leon stimmte mit einem Blick zu.

»Also, wenn du es wünschst, können wir einen Anwalt hinzuziehen. Wir können einen Psychologen oder einen Vertreter vom Jugendamt …«

Ungeduldig unterbrach Leon die Kommissarin: »Sind Sie taub? Ich will wissen, was mit meinem Vater ist! Lebt er noch?«

Kommissarin Schiller zuckte zurück. So war das oft. Sie meinte es gut, war freundlich und kassierte dafür eine Zurückweisung oder einen Rüffel.