Never Let You Go - Monica Murphy - E-Book

Never Let You Go E-Book

Monica Murphy

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Beschreibung

Kann die Liebe überleben, wenn Zweifel alles überschatten?

Die Wahrheit tut weh, sagt man – und mein Schmerz geht tief. Ethan hatte ein riesiges Geheimnis, getarnt durch seine Lügen. Als ich herausfand, was er verbarg, erschütterte die Wahrheit meine Welt und drohte, uns für immer zu zerstören. Mich zu zerstören. Aber mir wurde schnell klar, dass das, was wir teilen, nicht ausgelöscht werden kann. Unsere Verbindung ist zu stark. Sie ist es immer gewesen. Ich kann ihn nicht mehr verleugnen. Und ich kann meine Wahrheit nicht mehr abstreiten: Ich bin in Ethan verliebt.

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Seitenzahl: 569

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Das Buch

Die Verbindung zwischen Ethan und mir ist stark. Sie ist es immer gewesen. Und ich kann meine Wahrheit nicht mehr abstreiten: Ich bin in Ethan verliebt. Ich will ihn nicht gehen lassen. Während wir unser Bestes geben, damit unsere Beziehung funktioniert, kämpfen andere Kräfte gegen uns. Meine Familie, die mich in Sicherheit wissen will. Die Medien, die von meiner tragischen Vergangenheit besessen sind. Die Öffentlichkeit, die die Storys verschlingt. Sogar Ethans Vater – der Mann, der mich vor all den Jahren fast zerstört hätte. Er strengt sich wirklich an, es zu Ende zu bringen. Trotz meiner Liebe zu Ethan schleichen sich Zweifel ein und vernebeln meinen Verstand. Ist er den Schmerz wert? Wird unsere Liebe überleben, oder werden wir keine Wahl haben, als es – uns – für immer zu beenden?

Der Autor

Die New-York-Times-, USA-Today- und internationale Bestseller-Autorin Monica Murphy stammt aus Kalifornien. Sie lebt dort im Hügelvorland unterhalb Yosemites, zusammen mit ihrem Ehemann und den drei Kindern. Sie ist ein absoluter Workaholic und liebt ihren Beruf. Wenn sie nicht gerade an ihren Texten arbeitet, liest sie oder verreist mit ihrer Familie.

MONICA MURPHY

NEVER

let you go

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Barbara Ostrop

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Monica Murphy

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur GmbH, München unter Verwendung von FinePic, München

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-22198-0V002

www.heyne.de

Zitat

Lieber durch die nackte Wahrheit verletzt als durch eine bequeme Lüge betrogen.

– Redensart

Anmerkung der Autorin

Liebe Leserin,

vermutlich haben Sie sich Never let you go besorgt, weil Sie Never loved before bereits gelesen haben und wissen wollen, wie es mit Ethan (Will) und Katie weitergeht. Erneut muss ich Sie freiheraus warnen, dass das Buch sich mit einem schwierigen Thema befasst (Katie ist das ehemalige Opfer eines Serientäters, der Kinder vergewaltigt und ermordet hat). Es ist eine verstörende Geschichte, das kann ich nicht abstreiten.

Aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass dieser Teil von Wills und Katies Geschichte voller Hoffnung ist. Diese beiden Menschen versuchen, ihre Vergangenheit zu überwinden und miteinander glücklich zu werden. Trotz der Umstände, unter denen sie sich kennenlernten, und trotz aller Ermahnungen Außenstehender können sie nicht voneinander lassen. Sie wollen zusammen sein. Sie lieben sich. Und wahre Liebe räumt alle Hindernisse aus dem Weg, oder?

Danke, dass Sie dieses Buch lesen und mir den Cliffhanger am Ende von Never loved before nicht verübelt haben. Danke für Ihr Verständnis, dass diese Geschichte in zwei Teilen erzählt werden musste. Und ein ganz besonderer Dank geht an meine Lektorin und meinen Verlag, weil sie an diese Geschichte und mich als ihre Autorin glauben.

Erneut möchte ich mich bei Elizabeth Smart, Jaycee Dugard und Michelle Knight dafür bedanken, dass sie den Mut fanden, davon zu berichten, was ihre Entführer ihnen angetan hatten und wie es zu ihrer Rettung gekommen war. So gesehen hatte meine Katie Glück – ihr Kidnapper hielt sie nur einige wenige Tage gefangen. Jaycee und Michelle waren dagegen Jahre verschwunden, überlebten allerdings zum Glück ihre Tortur. Zu meinem Erstaunen hatten sie den Mut, öffentlich ihre Geschichte zu erzählen, wofür ich sie nur bewundern kann. Sie sind Heldinnen – diese Frauen sollten wir niemals vergessen.

Außerdem möchte ich das National Center for Missing and Exploited Children erwähnen. Dort wird hart gearbeitet, um bei der Suche nach verschwundenen Kindern zu helfen und die Sicherheit unserer Kinder zu verbessern. Falls ich Ihr Interesse geweckt habe, finden Sie unter www.missingkids.org nähere Informationen dazu.

Ich weine. Ich kann nicht damit aufhören. Ich weine nachts vor dem Einschlafen. Und tagsüber, wenn ich eigentlich etwas tun sollte, irgendetwas was mir in Erinnerung ruft, dass ich noch lebe, weine ich auch. Dabei sollte ich mein Leben nutzen.

Doch stattdessen weine ich um das, was ich verloren habe.

Um das, was ich gefunden hatte.

Und dann … sind eines Tages alle Tränen versiegt. Sie sind ausgetrocknet, als hätte es sie niemals gegeben.

Verschwunden ist das Mädchen, das ich einmal war. Verschwunden ist die Frau, zu der ich mich gerade entwickeln wollte.

Jetzt gibt es nur noch diese Leere. Und nur einem einzigen Menschen kann ich die Schuld daran geben, was aus mir geworden ist. In was ich mich verwandelt habe.

Und sein Name – sein echter Name – lautet Will Monroe.

Ethan

Sie verfolgt mich gnadenlos. Ständige Anrufe, SMS, Nachrichten auf meinem AB, E-Mails. Kein Wunder, dass sie eine der erfolgreichsten Enthüllungsreporterinnen der Fernsehwelt ist.

Lisa Swanson widert mich wirklich an.

Nach drei Wochen ständiger Belagerung gebe ich nach und melde mich bei ihr. Sie wirkt überrascht, meine Stimme zu hören, und es freut mich, dass ich sie überrumpelt habe. Was ihr bestimmt nicht oft passiert.

»Sie rufen zurück«, stellt sie fest.

»Entweder ich rufe zurück, oder ich habe Sie noch einmal drei Wochen am Hals«, antworte ich betont gelangweilt. Doch ich bin mit den Nerven völlig am Ende. Ich habe mich nicht aus meiner Deckung hervorgewagt, seit dem Moment, als Lisa mir eine SMS schickte und Katie …

Mein Herz pocht. Heftig. Als hätte es bis gerade eben vollkommen stillgestanden. Wie kommt es, dass ich noch lebe? Nur allein schon der Gedanke an Katie macht mich fix und fertig. Er walkt mich innerlich durch, bis ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen.

Als Katie Lisas SMS entdeckt und mich daraufhin verlassen hat, habe ich komplett dichtgemacht. Körperlich und seelisch war ich tagelang wie erstarrt. Erst im Verlauf der letzten Woche habe ich mich bemüht, meinen üblichen Alltag wieder aufzunehmen. Nach außen hin funktioniere ich, aber innerlich …

… innerlich fühle ich mich vollkommen leer. Ich bin in so viele winzige Scherben zerbrochen, dass mich wohl nichts und niemand wieder zusammensetzen kann. Ich habe das Einzige auf der Welt verloren, das mir etwas bedeutet. Den einzigen Menschen, den ich je wirklich geliebt habe.

Und Katie hasst mich nun. Das habe ich verdient. Mein Verhalten ist unentschuldbar.

»Das Interview mit Ihrem Vater wird demnächst ausgestrahlt«, sagt Lisa, und ihre energische Stimme holt mich in die Gegenwart zurück. »Ich habe es so lang wie möglich hinausgezögert, aber jetzt lässt es sich nicht mehr aufschieben.«

»Warum meinten Sie denn, es hinauszögern zu müssen?« Ich kenne die Antwort. Aber trotzdem bin ich neugierig und will hören, was sie zu sagen hat.

»Weil ich auch Ihre Seite der Geschichte berücksichtigen möchte, Will.« Bei diesem Namen zucke ich zusammen. Meinem alten Namen. Ich bin nicht mehr Will. Sie sollte aufhören, mich so zu nennen. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein.« Sie macht eine Pause.

Ehrlichkeit. Das ist ein eigenartiger Begriff, von dem ich anscheinend keinerlei Vorstellung habe. Ich bestehe nur aus Verstellung und Lüge. So ticke ich. Ich weiß nicht, wie ich wahrhaftig ich sein soll. Nur zusammen mit Katie habe ich mich meinem wahren Selbst nahe gefühlt.

Und nun ist sie weg.

»Ihr Vater hat einige … nicht besonders nette Dinge über Sie gesagt«, erklärt Lisa zögernd.

»Was denn zum Beispiel?« Ich setze mich aufrecht und fahre mir mit der Hand durchs Haar. Ich bin noch im Bett. Wozu aufstehen? Ich kann hier alles erledigen, sogar meine Arbeit. Mein Laptop liegt neben mir, und mein iPad steht auf dem Nachttisch. Ich trage nur Unterwäsche und habe heute noch nichts gegessen, dabei ist es schon Nachmittag. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich zum letzten Mal rasiert oder in den Spiegel geschaut habe. Ich habe Angst vor dem, was ich dort sehen könnte. Vor der Wahrheit in meinen Augen und dem Betrug in meinem Gesicht.

Wer hat das gesagt, dass die Wahrheit wehtut? Der Spruch bringt es genau auf den Punkt, verdammt.

»Er hat Vorwürfe erhoben«, antwortet Lisa absichtlich unbestimmt. Warum will sie nicht damit herausrücken? Oh ja, vermutlich weil sie etwas braucht, womit sie mich an den Haken kriegt. Womit sie mich zum Reden bringt. »Es wird Ihnen nicht gefallen, wenn er all das in einer US-weit ausgestrahlten Fernsehsendung behauptet, Will. Ich verspreche Ihnen, dass es zu Ihrem Vorteil ist, wenn Sie mit mir reden.«

Ich lehne den Kopf hinten an, schließe die Augen und stoße die Luft aus, während Lisa auf meine Antwort wartet. Ich weiß nicht, was ich sagen und wie ich reagieren soll. Das Fernsehinterview mit ihr würde mich ins Rampenlicht zerren, nachdem ich mich viel zu lang in einem dunklen Winkel versteckt habe. Aber wenn ich nicht mit ihr rede, stehe ich am Ende da wie ein brutaler jugendlicher Vergewaltiger, der mit dem Vater unter einer Decke steckt.

So oder so kann ich nur verlieren. Und Lisa weiß das. Doch sie geht das Risiko ein und hofft, dass ich das Gespräch mit ihr für das kleinere Übel halte.

Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung wäre.

»Hat sie sich bereit erklärt, mit Ihnen zu reden?«, frage ich mit gepresster Stimme, den Körper völlig verkrampft. Ich bin so angespannt, dass ich zerreißen könnte.

»Wer?« Die Dumme spielen, das kann Lisa auch sehr gut.

»Sie wissen, wen ich meine«, antworte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie seufzt. »Ich habe ihr mitgeteilt, dass ich Sie gefunden habe.«

Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Wie hat sie reagiert?«

»So gut wie gar nicht, was mich überrascht hat. Ich dachte, sie würde sich über diese Nachricht freuen.« Lisa verstummt und räuspert sich dann. »Reden Sie mit mir, Will. Bitte. Sie werden es nicht bereuen.«

Ich werde es furchtbar bereuen. Und das weiß sie. Sie tut nur so, als läge ihr mein Wohlergehen am Herzen. »Ich weiß nicht.«

»Das Interview mit Ihrem Vater ist vorläufig auf einen Termin in zehn Tagen angesetzt. Aber wenn Sie mit mir reden, könnte ich es noch einmal nach hinten verschieben. Meine Chefs wären begeistert, wenn wir Sie zu Wort kommen lassen könnten. Und wenn ich es früher oder später schaffen würde, Katherine noch einmal …«

»Nein.« Das Wort schießt aus mir heraus wie eine Gewehrkugel, als müsste ich einen Hieb abwehren, der auf mein Herz gezielt ist. Und ich fühle mich, als wäre ich bereits tödlich getroffen, weil jetzt die Gefahr im Raum steht, dass Katie mit in diesen Drei-Manegen-Zirkus hineingezerrt wird, den Lisa zu organisieren versucht. Mein Vater in der einen Manege, ich in der zweiten und Katie in der dritten, jeder auf sich gestellt und im verbissenen Kampf gegen die beiden anderen.

Ausgeschlossen.

»Nein?« Lisa klingt verletzt. Ein Nein hört sie nicht gern.

»Sie dürfen sie da nicht mit hineinziehen.«

»Warum denn nicht?«, fragt Lisa ungläubig. »Katherines Perspektive ist entscheidend. Ich denke, sie würde Ihnen zu Hilfe kommen. Sie hat beim letzten Mal so anerkennend über Sie gesprochen.« Wieder eine Pause. Sie urteilt noch einmal neu. »Es sei denn, Sie sagen mir vielleicht nicht die Wahrheit …«

»Zum Teufel mit Ihnen«, knurre ich. Ich weigere mich, mich zu verteidigen. Es ist mir scheißegal, was sie über mich denkt.

Doch was Katie denkt, das ist mir wichtig. Und sie würde es mir furchtbar übel nehmen, wenn ich mit Lisa Swanson spräche. Das weiß ich.

Also kommt es nicht infrage.

»Wenn Sie reden, wird Katherine es vielleicht auch tun. Derzeit ist sie nicht dazu bereit. Sie hat es abgelehnt, sich mit mir zu treffen. Aber wenn ich Ihnen beiden eine Chance biete, nach all diesen Jahren miteinander zu sprechen …« Lisa führt den Satz nicht zu Ende und lässt ihre Worte verheißungsvoll klingen. Als könnte sie mich damit verlocken und ich wäre bereit, alles für diese Möglichkeit zu tun.

Sie hat ja keine Ahnung, dass ich bereits mit Katie gesprochen habe. Dass ich in Katies Nähe geschwelgt, den Klang ihrer Stimme und ihr Lachen gehört, die Berührung ihrer Hand gespürt habe. Dass ich all das kennenlernen durfte: ihre weichen Lippen, den Duft ihres Haars, ihrer Haut, den Geschmack ihres Mundes, ihr lustvolles Winden, wenn ich sie an einer bestimmten Stelle berührte. Der Klang meines Namens aus ihrem Mund, wenn ich sie zum Orgasmus brachte …

Allerdings rief sie nie meinen echten Namen. Sondern den eines Betrügers. Ethan ist niemand. Will ist der Teufel.

Wieder ist die Frage, für welchen der beiden entscheide ich mich? Wer bin ich wirklich?

»Das tue ich ihr nicht an. Lisa, Ihr Angebot interessiert mich nicht.« Gerade will ich auf Auflegen drücken, da höre ich Lisas aufgeregte Stimme. Ich halte den Hörer wieder ans Ohr.

»Sie sollten es sich noch einmal überlegen. Ich kann die Sendung mit Ihrem Vater vorläufig stoppen und Ihnen Gelegenheit geben, das Ganze aus Ihrer Sicht darzustellen. Sollten Sie sich aber dafür entscheiden, nicht mit mir zu reden, bin ich nicht für den Angriff auf Ihren guten Ruf verantwortlich, der Ihnen bevorsteht. Das Interview wird in zehn Tagen ausgestrahlt, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«

Lisa, die Queen der Nachrichtensendungen, ist wieder da und zeigt mir die Krallen.

»Nur zu.«

Ich beende das Gespräch und lege das Handy auf den Nachttisch.

Ich schließe die Augen.

Will

Damals

Ich habe den Kontakt zu Katie abgebrochen. Nicht weil mein Anwalt es mir geraten hat – auch wenn das mit ein Grund war. Der Typ hat mir ständig damit in den Ohren gelegen und mich täglich gefragt, ob ich noch mit ihr etwas zu tun hätte. Ich stritt es ab, log aber, denn ich brachte es einfach nicht über mich, Katie zu sagen, dass ich nicht mehr mit ihr reden wollte. Es fiel mir so schwer. Doch es musste sein. Ich habe Katie Watts Lebewohl gesagt, weil ich nicht gut genug für sie war. Ich habe es nicht verdient, ihr Freund zu sein. Und ich verdiene es schon gar nicht, ihr Held zu sein.

Es steht mir nicht zu, eine Rolle in ihrem Leben zu spielen.

Denn obwohl ich sie gerettet habe, ist es nicht gut für sie, immer wieder an damals erinnert zu werden. Und genau das tue ich. Ich bin nichts als eine lebende Erinnerung daran, dass ein durchgeknalltes Arschloch sie im Alter von zwölf Jahren entführt, vergewaltigt und wie ein Tier in einem stickigen, von der Sommerhitze aufgeladenen, dreckigen Schuppen angekettet hat. Ich mag sie gerettet haben, doch letztlich ist das ohne Belang. Jetzt befindet sie sich in Sicherheit. Mein Vater sitzt im Knast, und obwohl der Prozess noch läuft, glaube ich den Ausgang zu kennen.

Er ist schuldig. Das wissen wir alle. Das hat er nach seiner Verhaftung in Las Vegas in einem ersten Gefühlsausbruch praktisch gestanden, dann aber widerrufen und auf einem Anwalt bestanden. Auch in Las Vegas liegt einiges gegen ihn vor, doch falls in Kalifornien die Todesstrafe verhängt wird, wird man in Nevada wohl auf eine Anklage verzichten. Oder keine Ahnung, was weiß ich, verdammt. Ich kapiere das Rechtssystem hier nicht. Ich bin schließlich erst siebzehn.

Noch immer nicht volljährig. Einfach nur ein Jugendlicher ohne Hoffnung und ohne persönliche Bindungen oder irgendjemanden, der mir beisteht.

Dass ich Katie Lebewohl gesagt habe, mag für sie das Beste gewesen sein, aber wie steht es mit mir? Was ist mit meinen Bedürfnissen? Doch das ist mal wieder allen scheißegal. Auch hier lässt man mich mal wieder allein. Die Freunde, die ich habe, sind keine wirklichen Freunde. Mit denen kann ich nicht über meine Vergangenheit reden. Meine Geschichte ist ein einziges Desaster. Und ich bin am Arsch. Es wissen sowieso alle, wer mein Dad ist. Keiner sagt es freiheraus, aber ich weiß, was die Leute denken. Was sie sich ständig fragen.

Ist Will wie sein Vater? Hat dieser Mann tatsächlich kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet? Was ist dieser Vater doch für ein gestörter, kaputter Typ! Ob Will so etwas auch zuzutrauen wäre?

Diese Worte, diese Spekulationen, die tun weh. Alles tut weh. Einfach alles.

Der Schmerz geht mir durch und durch.

Katherine

»Nun?« Die Pause, die Frau Dr. Sheila Harris nach diesem Wort macht, ist mit unausgesprochenen Fragen aufgeladen. Sie sieht mich erwartungsvoll an, das iPad auf dem Schoß. Ich bin nur widerstrebend zu diesem Termin erschienen, denn ich habe es satt, ständig mein Verhalten und meine Gefühle analysieren zu müssen. Diese ewige Frage: Wie fühlen Sie sich dabei? Endlos wiederholt. Wie geht es Ihnen? Bla, bla, bla.

Das steht mir echt bis hierhin.

»Nun was?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

Sheilas Mundwinkel zucken. Wie schön, dass ich sie erheitern kann. »Wie geht es Ihnen?«

Da ist der Satz ja. Pünktlich auf die Minute. Soll ich jetzt die Wahrheit sagen oder lügen? Eigentlich soll ich doch vollkommen offen zu Sheila sein. Sie ist die einzige Person, auf deren Objektivität ich mich verlassen kann. Mom und Brenna stehen auf meiner Seite. Sie werden immer Partei für mich ergreifen, ohne groß darüber nachzudenken. Vergiss diesen Ethan oder Will oder wie auch immer er heißt. Er hat mir unrecht getan. Mich hereingelegt. Darum ist er der Böse. Und er sollte nie wieder eine Chance bekommen.

Es ist so leicht, in diesen Bahnen zu denken, insbesondere wenn ich sein Gesicht nicht sehen und seine Stimme nicht hören muss. Wenn er jetzt aber hier wäre, wenn er vor mir stünde, wie würde ich dann reagieren? Würde ich mich ihm an den Hals werfen und hoffen, dass er mich umarmt?

Oder würde ich ihm klarmachen, wie wütend ich bin, und ihm furchtbare Gemeinheiten an den Kopf werfen?

Das ist mein täglicher Kampf. Ich dachte, es wäre überhaupt kein Problem für mich, ihn zu vergessen, nach vorn zu schauen und nach wie vor wütend auf ihn zu sein, weil er mir das alles angetan hat. Und meistens empfinde ich es auch so. Dass er mich so hintergangen hat, hat mich zutiefst verletzt.

Aber ganz verborgen in meinem Inneren gibt es eine weiche Stelle, und mit diesem Teil meiner selbst möchte ich ihm vergeben und ihn in mein Leben zurückholen. So geht es einem, wenn man jemanden wirklich wahnsinnig gernhat.

Letzthin wünsche ich mir manchmal, ich hätte gar kein Herz. Dann könnte es mir auch nicht brechen.

»Es geht mir …« Fürchterlich. Entsetzlich. Beschissen. Ich bin so einsam. »Ganz okay.« Ich hole tief Luft und halte den Atem kurz an, bevor ich ihn langsam ausstoße. So versuche ich, einen klaren Kopf zu bekommen und zu mir selbst zu finden.

Doch es hilft nichts. Das Hässliche, Kaputte, Schwarze kriecht wieder in mich hinein und nimmt meine Gedanken, mein Herz und meine Seele in seinen Würgegriff. Ich bin … wütend.

Aber das will keiner hören. Inzwischen nicht mehr. Ich sollte allmählich darüber hinweg sein. Das sagen meine Schwester und meine Mutter.

Sie haben leicht reden. Sie wurden ja nicht nach Strich und Faden belogen.

»Einfach ganz okay? Bei unserem letzten Gespräch waren Sie sehr bedrückt.« Sheilas Gesichtsausdruck bleibt vollkommen neutral. Das kann sie wirklich ausgezeichnet. So ein Pokerface hätte ich auch gern.

Ich war deprimiert, um es genauer zu sagen. Doch das habe ich hinter mir gelassen. Inzwischen konzentriere ich mich auf meine Wut über das, was geschehen ist, und die treibt mich an. Sie gibt mir den Mut, zur Abwechslung einmal das zu tun, was ich selbst will, und sogar ein bisschen trotzig zu sein.

Und das war ich nicht mehr, seit ich zwölf war.

»Ich habe das Weinen satt.« Ich zucke mit den Schultern. Ich habe genug Tränen für fünfzig Leben vergossen.

Sheila lächelt. »Sie verhalten sich heute anders als sonst.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich würde am liebsten rebellisch sagen, aber ich weiß nicht, ob es das richtige Wort ist.« Sie tippt sich mit dem Finger an die Lippen und mustert mich. Ich sitze mit vor der Brust verschränkten Armen und versteinerter Miene im Sessel. Ich spüre meine eigene Reglosigkeit, mit der ich sie beobachte und darauf warte, dass sie fortfährt. Rebellisch, denke ich, trifft es genau. »Eigensinnig? Als würden Sie die Schultern zucken? Als wäre das, was Ethan Ihnen angetan hat, nur eine Lappalie?«

Sie bringt das Gespräch auf ihn. Natürlich. Mein Herz setzt verdammt noch mal einen Schlag aus, wann immer ich seinen Namen höre. Schauer überlaufen mich. Die ganze Lovestory läuft noch einmal von vorn ab, und das kotzt mich an. Allerdings vermisse ich Ethan auch.

Es kann einen rasend machen: dass man jemanden vermisst, auf den man wütend ist. Die widersprüchlichen Gefühle scheinen sich einen unausgesetzten Kampf zu liefern.

»Es war keine Lappalie«, antworte ich ruhig und lasse die Arme sinken, um meine eiskalten Hände zusammenzulegen.

»Haben Sie mit ihm geredet? Sich mit ihm getroffen?«

Ich schüttele den Kopf. Vor einer Woche habe ich eine Textnachricht erhalten. Die erste und letzte. Als Ethans Name auf meinem Handy angezeigt wurde, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich wusste nicht, wie ich reagieren, was ich ihm antworten sollte. Was hätte ich auch schon sagen sollen?

Bitte rede mit mir.

Schließlich ließ ich es bleiben. Ich antwortete nicht. Wie denn auch? Er hat mich belogen. Belogen. Und zwar fortlaufend, während er gleichzeitig so tat, als wolle er nur mein Bestes. Oh nein, eigentlich ging es ihm nur um seine eigenen Interessen.

Als ich mich beruhigt hatte und wieder klar denken konnte, ist mir im Nachhinein so unendlich viel aufgefallen. Als wäre ich mit Blindheit geschlagen gewesen. Eine Idiotin. Als ich mich in ihn verliebte, wusste er schon die ganze Zeit, dass er mich hinters Licht führte. Mit mir spielte.

Ich erinnere mich, wie ich als Kind den alten Superman-Film mit Dad geschaut habe. Das war vor dem Schlimmen, das später passierte. Damals hatte er noch Zeit für mich und schaute mich nicht ständig so an, als wäre ich besudelt. Beschädigt. Während wir den Film sahen, den Dad als Kind so geliebt hatte, musste ich unwillkürlich denken, wie unglaublich blöd es von Lois war zu übersehen, dass Clark Kent in Wirklichkeit Superman war.

Ich bin zu einer Lois Lane geworden. Ethan ist mein Clark Kent. Und Will war mein Superman.

Stirnrunzelnd blinzele ich mit den Augen und richte den Blick wieder auf Sheila.

»Hat er eigentlich versucht, Sie zu kontaktieren?«

Ethans Textnachricht habe ich nach meiner letzten allwöchentlichen Sitzung bei Sheila erhalten, davon weiß sie also nichts. »Er hat mir eine SMS geschickt.«

»Haben Sie darauf geantwortet?«

Wieder schüttele ich den Kopf. Stumm. Statt meiner eigenen Stimme habe ich plötzlich den Klang der seinen im Ohr. Warm, tief, beständig und wahrhaftig, wenn er meinen Namen sagte:

Katie.

Sonst nennt mich niemand so. Das lasse ich nicht zu. Nach allem, was passiert war, gab es keine Katie mehr. Nach meiner Heimkehr wurde ich Katherine. Bis Ethan auftauchte und mich erneut Katie nannte. Und ich feststellte, dass es mich nicht störte. Jetzt verstehe ich, warum er mich von Anfang an so genannt hat.

Für Will ist Katie mein Name.

Es tut so furchtbar weh, an ihn zu denken und mir sein schönes Gesicht vorzustellen. Wie er beim Lächeln Lachfältchen um die Augen bekam. Seine Worte und die Versprechen, die er mir gegeben hat. Wie er mich manchmal fast ehrfürchtig berührte, als wäre ich so empfindlich, dass ich zerbrechen könnte.

Er hatte recht. Ich fühle mich, als könnte ich jeden Augenblick in tausend Scherben zerspringen.

»Was ist mit Lisa Swanson? Hat sie sich erneut an Sie gewandt?«, fragt Sheila freundlich.

»Ja. Sie will unbedingt, dass ich ihr ein zweites Interview gebe. Ein Art Gegendarstellung zu Aar…« Meine Stimme versagt, und ich kann … ich kann seinen Namen nicht aussprechen. Dass ich dieses Problem noch immer habe, sagt eine Menge über mich aus. »Zu seinem ersten Interview, für das sie ihn im Gefängnis aufgesucht hat.«

»Seinem einzigen Interview«, wirft Sheila ein.

»Stimmt.« Ich hole noch einmal tief Atem und stoße die Luft langsam wieder aus. »Vorher hat er noch nie mit den Medien gesprochen.«

»Sind Sie neugierig auf das, was er zu sagen hat?«

»Nein. Eigentlich nicht.« Ein winziger Teil meiner selbst ist tatsächlich neugierig, aber ansonsten fühle ich mich abgestoßen, und es widert mich vor allem an, dass er glaubt, gerade jetzt wäre die richtige Zeit zum Reden. Ist es wegen meines vor einiger Zeit ausgestrahlten Interviews mit Lisa? So muss es wohl sein.

Was denkt Ethan eigentlich darüber? Es sollte mir gleichgültig sein, aber es fällt mir noch immer schwer, die Vorstellung in meinen Kopf hineinzubekommen, dass Ethan tatsächlich der Sohn von Aaron Monroe ist. In all der Zeit, die ich gemeinsam mit Ethan verbracht habe, ist mir niemals auch nur eine Andeutung von Gewalttätigkeit oder Hass aufgefallen. Er war nie gemein. Er war immer liebevoll und respektvoll.

Auch in den kurzen quälenden Stunden, die ich mit Will durchlitten habe, und während unseres anschließenden Kontakts – Briefe, Handygespräche und Textnachrichten – war er immer nur nett zu mir. Allerdings gab es da auch etwas fast Gereiztes, als bräuchte er den Kontakt zu mir und verabscheute ihn doch gleichzeitig.

Es fällt mir schwer, mir den Will von damals in Erinnerung zu rufen, ohne dass der Ethan, den ich heute kenne, meine Erinnerungen verfälscht – bis zur Unkenntlichkeit. Aber ich weiß, was zwischen uns vorgefallen ist, als wir beide Kinder waren. Es ist mir unvergesslich. Die Tortur, die ich durchgemacht habe, werde ich für immer im Gedächtnis behalten.

Doch Ethan und meine jüngste Geschichte mit ihm bemächtigen sich der Vergangenheit, und alles vermischt sich miteinander. Die Dinge verwirren sich, was mich wütend macht – und meine Wut macht mich blind.

Derzeit laufe ich nicht Gefahr, schon wieder weinen zu müssen, worauf ich stolz bin. Lieber halte ich an meinem Zorn fest. Er macht meine Gedanken und Absichten klarer.

»Es muss schwierig für Sie sein zu wissen, dass die Leute erpicht darauf sind, ein Interview mit Ihrem Entführer zu sehen«, sagt Sheila.

»Das stimmt.« Ich stoße einen gereizten Seufzer aus. »Warum die Leute fasziniert von ihm sind …« Ich zögere und atme tief durch, als der Zorn mir in jede Pore dringen will. »Ich möchte ihn nicht einmal hören, ihn nicht sehen, nicht …«

»An ihn denken müssen?«

Mit Tränen in den Augen presse ich die Lippen zusammen. Ich weigere mich zu weinen. Das lasse ich nicht zu.

»Tut Ihnen Ethans Betrug deshalb so weh? Weil er sie zwingt, sich zu erinnern?«

Ich nicke und muss mich dann erst wieder fangen und den Kloß in meinem Hals herunterschlucken. Ich wische mir die Augenwinkel und blinzele alles Feuchte weg. »Ich habe mich ausgenutzt gefühlt. Zum ersten Mal hatte ich die Hoffnung, dass ich von vorn anfangen und einfach eine normale Frau sein könnte, wissen Sie? Aber ich hatte nicht begriffen, dass das ein Neuanfang mit …« Kurz vor einem Versprecher fange ich mich und sage: »Will war.« Ethan.

Sie sind ein und dieselbe Person. Austauschbar.

Es ist ungeheuerlich.

Gestern Nacht hatte ich einen Albtraum. Ich war wieder in dem Schuppen, die Ketten klirrten an meinen Handgelenken und Fußknöcheln, und der Gestank der dreckigen Matratze hing in der heißen, stickigen Luft. Ich war allein. Kein verängstigter Junge kam, um mich zu retten. Will tauchte im Traum nicht auf, aber ich wusste, dass er da war. Irgendwo. Ich weinte und weinte, weil mein Schicksal besiegelt war. Ich würde sterben.

Zum Glück wachte ich auf, bevor es dazu kam.

Ich wechsele das Thema und erzähle von meiner Schwester und meiner Mutter. Ich spiele die folgsame kleine Patientin, weiche aber Sheilas forschendem Blick aus. Ich will nicht über Ethan, Will, Aaron Monroe, Lisa Swanson und irgendwelche Interviews reden. Ich habe das alles so schrecklich satt. Ich bin doch nicht nur das.

Kürzlich habe ich irgendwo gelesen, dass man selbst über sein Leben entscheidet. Wenn ich traurig und unglücklich sein will, werde ich es auch sein. Wenn ich dagegen für mich selbst bestimme, glücklich und stark zu sein, bin ich genau das. Während der letzten acht Jahre habe ich falsch gewählt. Doch als ich jetzt tatsächlich den Blick auf einen Funken Glück erhaschen konnte, auf echte und verlässliche Zärtlichkeit und … Liebe, hat alles in einer einzigen Katastrophe geendet. Das, was ich gerade gefunden hatte, wurde mir aus den Händen gerissen und auf den Müll gekippt.

Nichts als Lügen und Betrug.

Als ich eine Dreiviertelstunde später Sheilas Praxis verlasse, blinzele ich gegen den Nieselregen an, der vom düsteren Himmel fällt. Mein Auto parkt ganz in der Nähe, und ich eile hin, schließe rasch auf und lasse mich hinters Steuer sinken. Dort empfängt mich der noch in der Luft hängende vertraute Duft meines eigenen Parfüms und meiner Körperlotion.

Ich schließe die Augen, atme tief durch und versuche, ruhig zu werden. Kraft zu finden. Ich muss mir das immer wieder in Erinnerung rufen: Ich bin diejenige, die entscheidet. Nur ich selbst kann dafür sorgen, dass ich innere Erfüllung finde.

Das klingt total abgedroschen, aber es stimmt. Wenn ich für mich selbst bestimme, unglücklich zu sein, bin ich genau das. Wenn ich den Zorn wähle und mich von ihm antreiben lasse, ist auch das meine Entscheidung.

Und zum ersten Mal in meinem Leben …

… entscheide ich mich für mich selbst.

Ethan

Die Nachricht trifft spät an einem Dienstagnachmittag ein, und das vertraute laute Pling schallt von der anderen Seite des Zimmers herüber. Mein Handy liegt auf dem Couchtisch. Ich sitze im Lehnsessel, meinen Laptop auf dem Schoß, und tippe gerade die Antwort auf die E-Mail eines Kunden.

Als ich endlich fertig bin und sie abgeschickt habe, stehe ich auf, nehme mir mein Handy und öffne das Display, um zu sehen, von wem die neue Nachricht kommt.

Fast fällt mir das Gerät aus der Hand, so bestürzt bin ich, als ich den Namen des Absenders aufleuchten sehe.

Katie.

Worüber möchtest Du reden?

Es ist eine Woche her, seit ich in einem Moment der Schwäche, als ich mich ganz besonders traurig und deprimiert fühlte, die erste und einzige Nachricht an Katie verschickt habe. Mein ganzes Leben habe ich immer selbst für mich gesorgt. An meine Mom kann ich mich nicht erinnern. Dad war kaum da, und ich war ihm gleichgültig. Ich kam damit klar. Probleme habe ich allein gelöst, und so war es mir am liebsten.

Dann kehrte Katie in mein Leben zurück, und sie war wie ein strahlend helles Licht, dem ich nicht widerstehen konnte. Ihre Wärme, ihre liebevolle Art und wie sie mir das Gefühl gab, ich sei ein Held, wenn sie mich nur anschaute. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Schon bald sehnte ich mich nach ihr. Brauchte sie. Und als ich sie verloren hatte …

Ich war noch nie so vollkommen allein, habe mich noch nie so unerträglich einsam gefühlt wie jetzt, da sie mich verlassen hat.

Bist Du denn bereit, mit mir zu reden?

Ich drücke auf Senden und warte unruhig auf ihre Antwort. Die trifft innerhalb von Sekunden ein.

Ja.

Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar und merke, dass ich schwitze. Scheiße. Wie sollen wir das machen? Wie zwei höfliche Erwachsene, die nur mühsam Worte finden? Ob sie mich an einem öffentlichen Ort treffen will? Wenn wir unter uns sind, bei ihr oder mir zu Hause, kann man es vergessen. Dann bin ich erledigt. Ich kann einfach nicht die Hände von ihr lassen.

Sollen wir uns irgendwo treffen?

Ein öffentlicher Ort ist besser, sage ich mir. Dann mache ich keine Dummheiten, die sie vielleicht in Panik versetzen und vertreiben.

Wie wäre es mit dem Café, in das Du mich damals beim ersten Mal eingeladen hast?

Ihr Vorschlag ist genau richtig. In dem Café haben wir uns ja schon einmal verabredet. Es liegt nah am Freizeitpark – der nun Winterpause macht und geschlossen hat. Und nah am Meer. Und wir sehen uns in aller Öffentlichkeit, wo ich auf meine Manieren achten muss. Es juckt mich im wahrsten Sinne des Wortes in den Fingern, Katie zu berühren, und ich balle die Hände kurz zu Fäusten. Erst dann strecke ich sie wieder aus und tippe eine Antwort.

Das klingt gut. Morgen um drei? Oder ist dir das zu spontan?

Als ihre Antwort eintrifft, lächele ich. Zu spontan? Es ist niemals zu früh, um Katie wiederzusehen.

Morgen um drei ist prima.

Katherine

Ich erzähle niemandem, dass ich mich mit Ethan treffe, weil mir das gerade noch gefehlt hätte. Mom würde ausflippen, und Brenna würde bei mir Posten beziehen und mir verbieten, das Haus zu verlassen. Ich habe den Fehler begangen, ihnen die Wahrheit über Ethan – Will – zu sagen, nachdem ich sie gerade selbst erst herausgefunden hatte, und ihre Bestürzung und ihr Entsetzen über seine tatsächliche Identität hatten mich in meinem Entschluss bestärkt, ihn zu meiden.

Diese Bestätigung brauchte ich damals. Ich war vollkommen verwirrt von den Zweifeln, die mich nach meiner schockierenden Entdeckung plagten. Tagelang nahm ich alles nur wie durch einen Nebel wahr. Mein überwältigender, beinahe erstickender Ärger war nötig, um meinen Blick zu schärfen, bis ich alles glasklar vor mir sah.

Es tut mir ein Stück weit leid, dass ich meiner Familie erzählt habe, was passiert ist. Sie werden es Ethan – Will – für immer übel nehmen, was ich ihnen nicht verdenken kann. Natürlich erzählt man seinen Angehörigen von seinem Leben, selbst von schlimmen Dingen, um Trost und Mitgefühl zu bekommen. Aber man kann ihnen auch zu viel verraten.

Letzteres habe ich getan, und das war ein Fehler. Doch passiert ist passiert. Es lässt sich jetzt nicht mehr rückgängig machen.

Unterwegs kann ich vor lauter Nervosität keinen klaren Gedanken fassen. Ist mein Outfit passend? Sehe ich gut aus? Möchte ich denn gut aussehen?

Ja. Ich möchte, dass er mich wirklich wahrnimmt. Ich möchte, dass er denselben dumpfen Schmerz in der Magengrube verspürt wie ich. Er soll darunter leiden, dass ich ihm so nah bin, er mich aber nicht haben kann.

Doch lege ich es vielleicht zu sehr darauf an? Was soll ich ihm sagen? Was werde ich tun, wenn ich ihn sehe? Werde ich es dann schaffen, ihm in die Augen zu schauen? Werde ich meine Stimme finden und tatsächlich mit ihm reden? Oder möchte ich dann am liebsten weglaufen? Oder schlimmer noch, gehe ich zum Angriff über, sobald ich ihn sehe? Will ich ihm wehtun? Natürlich nicht körperlich – er könnte mich mit einer einzigen Handbewegung beiseitefegen.

Mit Worten könnte ich ihn allerdings sehr verletzen. Ich könnte ihm all die schrecklichen Dinge sagen, die ihn wie ein Stich ins Herz treffen würden. Aber möchte ich das? Ist es wirklich das, worum es mir bei dem Treffen mit ihm geht?

Die Erkenntnis macht mir Angst.

Es kann nie wieder so zwischen uns werden, wie es einmal war. Das weiß ich. Doch trotz meines Zorns erfüllt es mich mit Trauer, dass das Vorgefallene ein unüberwindliches Hindernis für uns bildet.

Ein unüberwindliches Hindernis für mich.

Irgendwie bin ich schließlich im Café. Ich kann mich kaum an den Weg erinnern, daran, wie ich den Wagen geparkt habe, eine kurze Strecke zu Fuß gegangen bin und den freundlichen Raum betreten habe, in dem es so gut duftet und so viele Gäste sich lebhaft unterhaltend ihren Kaffee trinken. Ich sehe mich vor Anspannung bebend nach Ethan um, doch er ist nicht da.

Vor Enttäuschung wird mir ganz schwer ums Herz, aber ich ermahne mich, mich nicht runterziehen zu lassen. Ich bin früh dran. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass es erst eine Viertelstunde vor der ausgemachten Zeit ist, und so kehre ich nach draußen zurück, wo die kühle, salzige Luft für meinen erhitzten Körper und meine zum Zerreißen gespannten Nerven wie Balsam ist.

Vor dem Gebäude steht eine Parkbank, und ich lasse mich darauf nieder, ziehe die Schultern gegen die Kälte hoch und vergrabe das Kinn in dem weichen Loopschal um meinen Hals. Ich trage schwarze Leggins und einen übergroßen anthrazitfarbenen Pullover. Das Haar habe ich hochgesteckt, und mein knallroter Schal sticht den Leuten wahrscheinlich zu sehr ins Auge. Dazu die Perlenohrringe, die meine Grandma mir zum zwölften Geburtstag geschenkt hat, ein wenig Make-up und schwarze Ballerinas.

Ich möchte nicht auffallen, also ist der rote Schal vielleicht ein Fehler. Ich blicke auf und sehe mich nach Ethan um, der ja vielleicht gerade jetzt kommen könnte, doch er ist nirgends zu sehen.

Was, wenn er gar nicht auftaucht?

Nun reg dich mal ab. Du machst dir unnötige Sorgen.

Ich nehme mein Handy aus der kleinen Handtasche und öffne das Display. Schaue nach meinen E-Mails. Langweilig. Einfach nur eine Werbemail nach der anderen. Auf Facebook, Instagram oder so bin ich nicht. Ich checke auch meine SMS, obwohl gar keine ungelesenen da sind. Also studiere ich noch einmal die Nachrichten, die Ethan und ich bisher gewechselt haben, und schon schweben meine Finger über der Tastatur. Ich bin in Versuchung, ihm etwas zu schreiben, aber was?

Ich bin da!

Zu ungeduldig.

Kommst Du bald?

Viel zu nervös.

Wo bist Du?

Zu fordernd.

Mit einem Seufzer stecke ich mein Handy wieder in die Handtasche und ziehe deren Reißverschluss zu. Ich benehme mich lächerlich. Je länger ich warte, desto inständiger wünsche ich mir, ihn herankommen zu sehen. Dabei hatte ich mir noch auf der Herfahrt überlegt, dass es ganz gut wäre, wenn er gar nicht auftauchte.

Was für ein Durcheinander.

»Katherine?«

Als ich die vertraute Frauenstimme höre, ruckt mein Kopf hoch, und ich bin total verblüfft, diese Person vor mir stehen zu sehen.

Zum Teufel, es ist Lisa Swanson.

»Was machen Sie denn hier?« Ich werfe einen hastigen Blick um mich her und hoffe inständig, dass Ethan sich nicht gerade diesen Moment aussucht, um aufzutauchen. Falls ja, sind wir erledigt. Lisa wird sich auf diesen Knüller stürzen wie ein Hai, der im Wasser Blut gerochen hat. Sie wird die Spur aufnehmen und erst von uns ablassen, wenn wir tot sind.

Sie wirft mir einen undeutbaren Blick zu. »Dasselbe könnte ich Sie fragen.«

Ich starre sie mit offenem Mund an. Denkt sie tatsächlich, das ginge sie etwas an? »Ich trinke einen Kaffee?«

Lisas Blick wandert nach unten und heftet sich auf meine leeren Hände. »Und da sitzen Sie erst eine Weile draußen herum, bevor Sie sich einen holen?«

Ich erwidere nichts. Es bringt nichts, mein Verhalten zu rechtfertigen. Dann verstricke ich mich nur in meinen eigenen Ausreden und stehe wie eine Lügnerin da – was ich ja bin.

»Auch die Wahl des Ortes ist sehr interessant«, fährt Lisa fort und schaut sich nach links und rechts um. Als suchte sie jemanden. Es schnürt mir die Kehle zu, und ich presse die Lippen zusammen. »So nahe beim … Tatort des Verbrechens. Versuchen Sie, sich Ihren Ängsten zu stellen, Katherine? All Ihren inneren Dämonen? Das hätte übrigens das Zeug zu einem echten TV-Spektakel.«

In mir steigt Wut auf. Zorn stachelt mich an. Ich stehe auf, was Lisa einen Schritt zurückweichen lässt. Plötzlich fällt mir auf, dass ich größer bin als sie – was nicht viel heißt, ich bin einfach Durchschnitt. Ich blicke auf sie hinunter und raffe alles in mir zusammen, was ich an Kraft aufbieten kann. »Halten Sie jeden belanglosen Moment im Leben für fernsehwürdig?«

Sie legt den Kopf zurück und sieht lächelnd zu mir auf. »Ja. Genau das macht mich ja so gut in meinem Job.«

Jetzt dämmert es mir, und ich mache einen Schritt von ihr weg und trete dabei rückwärts auf den Bürgersteig. Ein Paar, das dort entlanggeht, muss einen Bogen um mich schlagen, und ich murmele den eilig Vorbeihastenden eine Entschuldigung hinterher. Dann konzentriere ich mich wieder auf Lisa. »Folgen Sie mir etwa?«

Lisa sieht mich ganz unschuldig an. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Also ja. Herrgott noch mal. Wie kann sie es wagen? »Sie folgen mir also, ja?« Meine Stimme ist ausdruckslos. Ich warte ihre Antwort gar nicht erst ab. Wozu auch? Sie könnte es abstreiten, bis sie schwarz wird, ich würde ihr trotzdem kein Wort glauben. »Sie haben nicht das Recht, mir zu folgen.«

»Ich habe durchaus das Recht dazu«, entgegnet sie forsch und zieht die Augenbrauen hoch. Bestimmt hat sie geglaubt, ich würde so unterwürfig reagieren, wie sie mich bisher kennengelernt hat. Tja, das kann sie vergessen. »Willigen Sie in das Interview ein! Dann lasse ich Sie in Ruhe.«

»Glauben Sie wirklich, Sie könnten mich durch Drohungen zu einer Zusammenarbeit bewegen? Das dürfte wohl kaum funktionieren.« Ich will gerade auf dem Absatz kehrtmachen und sie stehen lassen, als ich ihn entdecke. Ihn.

Ethan.

Er geht ein Stück links von mir über den Bürgersteig und sticht heraus, weil er alle anderen Passanten um einen Kopf überragt. Unsere Blicke begegnen sich. Bleiben aneinander haften. Seine Mundwinkel gehen im selben Moment nach oben, in dem ich die meinen nach unten verziehe. Er zieht die Augenbrauen zusammen, wie er es immer tut, wenn er besorgt ist oder sich aufregt, und ich bedeute ihm mit einem winzigen Kopfschütteln und einem Blick, dass er von mir wegbleiben soll. Mein Puls jagt, als wollte mein Herz aus mir herausspringen und Ethan hinterherlaufen.

Als wüsste es, wo es hingehört.

Genug.

Ich schlucke und begegne erneut Lisas Blick. Gott sei Dank ist ihr nicht aufgefallen, dass Ethan auf uns zukam. Sie hat zu viel mit ihrem eigenen Geschwafel zu tun, um auf so etwas zu achten.

»Sie stellen sich fürchterlich an, Katherine, und ich verstehe gar nicht warum. Mein Chef möchte unbedingt, dass Sie sich in dem anstehenden Interview ebenfalls äußern.«

Also bitte. Nicht ihr Chef möchte das unbedingt, sondern sie selbst.

»Und wenn es nur zehn Minuten sind.« Als ich die Augen verdrehe, bessert sie nach: »Oder fünf. Meinetwegen auch nur zwei. Einfach die Zeit, die nötig ist, um Ihre Meinung zu dem zu äußern, was Aaron Monroe zu sagen hat.«

Ich schüttele den Kopf und bemühe mich, gelassen zu bleiben. »Ich lasse mich nicht länger von Ihnen manipulieren. Sie haben Ihre Chance gehabt. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe.«

Ohne mich noch einmal umzuschauen, gehe ich davon. Ich kann beinahe spüren, wie sich Lisas verärgerter Blick in meinen Rücken bohrt, und ihr Frust schwappt wie in Wellen hinter mir her. Doch ich empfinde auch noch etwas anderes, eine … sehnsuchtsvolle Verwirrung. Es ist, als hätte sich jedes einzelne Härchen meines Körpers aufgestellt, und ich streiche mir mit den Händen über die Arme, um die plötzliche Gänsehaut zu vertreiben.

So unauffällig wie möglich sehe ich mich um und entdecke Ethan, der ganz in der Nähe steht und mich beobachtet. Lisa bemerkt es nicht, und auch sonst keiner außer mir. Er sieht einfach aus wie irgendein Passant in der Menge, aber seine Lippen sind zusammengepresst, und in seinen Augen steht … so viel Schmerz.

Ich begegne ganz kurz seinem Blick und spüre Ethan. Ich spüre seine Gegenwart, seine Stärken und Schwächen, mehr als alles spüre ich allerdings seine nach mir tastende eindeutige Sehnsucht. Sein sehnliches Verlangen. Nach dem hier.

Nach uns.

Mein Körper, der Verräter, reagiert sofort, und alles in mir wird warm und gelöst. Ich wende mich schnell ab, mein Atem geht stoßweise, und mein Herz hämmert wie wild. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Ein einziger Moment, in dem unsere Blicke sich treffen, und ich bin verloren. Seine Wirkung auf mich ist so bestürzend stark und so unglaublich gefährlich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Ich weiß nicht, wie ich ihm widerstehen kann, obwohl mir klar ist, dass ich das sollte.

Statt zu meinem Auto zurückzukehren, husche ich in die schmale Gasse zwischen dem Café und seinem Nachbargebäude. Ich lehne mich gegen die Backsteinwand, um wieder zu Atem zu kommen, und schließe die Augen für einen ganz kurzen Moment, will das Chaos in meinem Kopf ordnen.

Hatte ich wirklich geglaubt, ich könnte Ethan widerstehen, nur weil ich ihn an einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Ort treffe? Als ob das irgendetwas ändern würde. Wir haben uns nur ganz kurz und von Weitem gesehen, aber es fühlt sich so an, als hätte ich einen realen Stromschlag erhalten. Wie wäre es erst gewesen, wenn Ethan mich berührt hätte?

Ich weiß nicht, ob ich das überlebt hätte.

»Katie.«

Von der tiefen männlichen Stimme scheint mein ganzes Rückgrat zu vibrieren. Ich schlage die Augen auf und öffne die Lippen, als ich ihn unmittelbar vor mir stehen sehe. Panik, Angst und Sehnsucht vermischen sich zu einem solchen Cocktail, dass es mir den Atem verschlägt.

Es ist Ethan.

Ethan

Mein Gott, sie ist so schön. Ich kann es nicht fassen, dass sie hier ist und wir dieselbe Luft atmen, die Augen tief in die des anderen versunken. Ich rieche ihren frischen süßen Duft im leichten Wind. Ich bin ihr so nah, dass ich sie berühren könnte, und strecke die Finger voll Verlangen nach ihr aus.

Sie öffnet ihre wunderschönen Lippen, die Pupillen geweitet, und endlich sagt sie meinen Namen.

Doch gleich darauf folgt: »Du musst von hier verschwinden.«

Das ist das Letzte, was ich erwartet hatte. Hat nicht sie selbst mich gebeten, mich hier mit ihr zu treffen?

Stirnrunzelnd trete ich einen Schritt auf sie zu. Sie kann nirgendwohin. Sie presst sich gegen die Backsteinwand des Cafés und beobachtet mich. In ihrem Blick liegt eine gewisse Vorsicht, allerdings auch Aufregung, wenn mich nicht alles täuscht.

Diese letzte Möglichkeit lässt mich weitermachen. Sie gestattet mir den Gedanken, dass ich eine Chance habe. Ich brauche diese Chance. Es ist so wichtig, dass Katie mir zuhört und mit mir redet.

Dass sie mit mir heimfährt.

»Ich gehe nicht weg«, erkläre ich mit leiser, aber fester Stimme. Sie darf mich nicht gleich wieder von sich stoßen, nicht jetzt, da ich endlich diese Chance bekommen habe. »Wir müssen miteinander reden.«

»Hast du denn nicht gesehen, wer mir gerade eben vor dem Café die Hölle heißgemacht hat?« Als ich nichts erwidere, schnauft sie aufgebracht. »Lisa Swanson!«

»Was?« Ich streiche mir mit der Hand über die Wange. Über die Wange, die ich noch immer nicht rasiert habe. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Neandertaler, aber egal. »Deswegen bist du davongelaufen?«

Ich hatte gesehen, wie sie den Kopf schüttelte und lautlose Worte mit dem Mund formte, und dann hatte sie kehrtgemacht und die Flucht ergriffen. Ich glaubte, sie sei in Panik geraten und wolle mich nun endgültig verlassen. Als ich bemerkte, dass sie sich in der Gasse versteckte, wären mir fast vor Erleichterung die Beine weggesackt.

»Ja-ah.« Sie wirft mir einen genervten Blick zu, als wäre ich unendlich dumm. Dann schaut sie zum Eingang der Gasse, an dem Passanten auf dem Bürgersteig vorbeigehen, und sieht mich erneut an. »Du musst hier weg.«

Zum Teufel, nein. Jetzt, wo ich wieder bei ihr bin, werde ich auf keinen Fall weggehen. »Ich bleibe hier.« Ich strecke die Hand nach ihr aus und lasse die Finger über ihren Arm gleiten. Sie schaudert sichtlich zusammen und rückt von mir ab. Ich lasse die Hand sinken. »Katie …«

»Stopp.« Ihre Stimme bebt, und sie hält viel zu lang den Blick gesenkt. Als würde sie es nicht ertragen, mich anzusehen. Mein Gott, hoffentlich stimmt das nicht. »Du musst von hier verschwinden, Ethan. Das hier war ein Fehler.«

»Ein Fehler?« Ist das ihr Ernst? Das Blut rauscht mir in den Ohren und übertönt alle Hintergrundgeräusche. Es ist, als würde die ganze Umgebung sich auflösen – die am Eingang der Gasse vorbeigehenden Passanten, die Straße, alles. Meine Welt schrumpft auf das Hier und Jetzt zusammen, auf Katie und mich. Und sonst nichts.

»Ich hätte dich niemals bitten sollen, dich mit mir zu treffen.« Kopfschüttelnd sagt sie diese Worte mehr zu sich selbst als zu mir. Ihr Blick begegnet dem meinen, aber ich kann ihn nicht deuten. »Was, wenn … was, wenn sie dich erwischt? Uns?«

»Na und? Das ist mir egal.« Wirklich. Soll Lisa Swanson uns doch zusammen entdecken. Meinetwegen kann sie es filmen, damit die ganze Welt es sieht. Das ist mir wirklich scheißegal. Ich bringe es einfach nicht fertig, von Katie wegzugehen. Nicht jetzt.

Und niemals wieder.

Sie hebt den Kopf mit wütendem Blick. »Aber vielleicht ist es mir nicht egal«, gibt sie zurück. »Überleg doch nur, was dann über uns hereinbrechen würde.«

»Was sollte denn passieren? Wir wären gezwungen zuzugeben, dass wir nun tatsächlich eine Beziehung haben. Na und?«

»Zu dieser sogenannten Beziehung ist es nur gekommen, weil du mir erst nachgespürt und mich dann belogen hast!« Ihre Stimme ist schrill, ihr Blick ist wild, und sie zittert sichtlich. Sie ist wütend.

Auf mich.

»Ich wollte niemals …« Ich presse die Lippen zusammen, als ich ihre feindselige Miene bemerke. Sie sieht so aus, als wollte sie mir eine runterhauen. Himmel, vielleicht hat sie recht. Vielleicht hätten wir uns heute wirklich nicht treffen sollen. Unsere Verletzungen sind noch nicht verheilt, die Wunden sind kaum verkrustet und tun noch immer weh.

»Bist du wirklich überzeugt, dass unser heutiges Treffen ein Fehler war?« Ich muss ihre Antwort hören, auch wenn sie mir vielleicht nicht gefällt.

Katie mustert mich mit zusammengepressten Lippen. Ich warte mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich habe das Gefühl, dass nun etwas Entscheidendes geschieht. »Das hier wird nicht funktionieren«, flüstert sie.

»Was wird nicht funktionieren?«

»Das mit uns beiden. Das müssen wir akzeptieren.« Sie wirkt total zerknirscht, aber irgendwie kontrolliert sie trotzdem ihre Züge, während sie mir mit ihren Worten das Herz bricht. »Man sollte uns nicht zusammen in der Öffentlichkeit sehen. Wenn uns irgendjemand erkennt, dann wird es … aufgebauscht, und bald zerreißen sich die Medien das Maul. Über uns und unsere perverse Beziehung. Und das will ich nicht. Und du vermutlich auch nicht.«

Unwillkürlich straffe ich die Schultern und trete langsam von ihr zurück, die Hände wie zur Verteidigung vor mir ausgestreckt. Als könnte ich mit dieser Körperhaltung den Schlag abwehren, den ihre Worte mir versetzen.

Ich dachte, mein Vater wäre der Experte darin, mich mit einer bösartigen Bemerkung genau an der empfindlichsten Stelle zu erwischen. Doch nun genügen ein paar treffend platzierte Worte Katie Watts’, und ich fühle mich, als wäre ich gerade gestorben.

»Du willst, dass ich gehe? Okay, dann bin ich weg«, sage ich, aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich hoffe immer noch, dass sie mich aufhält. Obwohl sie mir so wehtut, möchte ich ihr nicht den Rücken kehren. Dabei fühlt es sich so an, als wollte mein Herz in tausend Stücke zerspringen. Mein Herz, das doch schon längst gebrochen ist, als sie herausfand, wer ich wirklich bin, und mich verlassen hat. Als sie so rasch aus meinem Leben verschwunden ist, als hätte sie niemals dazugehört.

Und nun will sie nicht mit mir zusammen gesehen werden. Will nicht, dass Lisa von uns erfährt. Wenn ich es ganz vernünftig betrachte, kann ich verstehen, warum sie es so empfindet. Doch da, wo ich nicht rational bin, da wo meine Gefühle herrschen, schreie ich vor Schmerz über diese Zurückweisung und will ihr meinerseits wehtun.

Dieser rachsüchtige Teil meiner selbst erinnert mich an meinen Vater.

Scheiße. Ich reibe mir mit der Hand über die Brust, um den Schmerz zu lindern, der von dort ausstrahlt, aber es hilft nichts. Und die Art, wie Katie mich beobachtet, macht das Ganze auch nicht besser.

»Es ist zu unserem Besten«, flüstert sie. »Sobald sie uns entdeckt, wird sie es … in die Welt hinausposaunen. Und dann kriegen wir echte Probleme. Sie werden unsere Beziehung so verdrehen, dass sie wie etwas vollkommen Abstruses und Perverses aussieht, und das packe ich nicht. Ich ertrage es nicht, Ethan. Ich habe schon so viel erlitten und du auch. Das hier … wir sind es nicht wert.«

Mir bleibt der Mund offen stehen. Wir sind es nicht wert? Sie ist der einzige Mensch in meinem Leben, der mir überhaupt etwas wert ist.

»Es … es tut mir leid.« Sie stößt die halb erstickten Worte heraus, und ich kann nichts erwidern.

Sie dreht sich um und eilt davon. Ihre flachen Absätze klatschen hastig auf den Asphalt. Ich sehe ihr nach, halte sie nicht auf und rufe sie nicht beim Namen. Ich tue überhaupt nichts, verdammt noch mal, so als wäre ich gelähmt, und einen verrückten Moment lang frage ich mich, ob ich es vielleicht tatsächlich bin.

Doch so ist es nicht. Ich bin einfach nur wie betäubt von ihren Worten und ihrer Sorge. Sie hat recht. Ich weiß, dass sie recht hat. Die Medien werden unsere Beziehung so aufblasen, als wäre sie ein Zugunglück. Und das, was hier geschieht, ist tatsächlich so etwas wie ein Zugunglück. Die Züge hätten nicht zusammenstoßen sollen, aber es ist nun einmal passiert. Keiner außer Katie weiß, was es bedeutet, ich zu sein. Keiner außer uns versteht, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Jetzt hat sie mich allerdings erneut stehen lassen. Sie hat praktisch die Flucht ergriffen, und ich habe sie nicht daran gehindert.

Ich atme tief durch und ermahne mich, stark zu bleiben. Entweder das mit uns wird etwas oder eben nicht – aber ich will, dass etwas daraus wird. Ich will unbedingt, dass dieses Band zwischen uns bestehen bleibt.

Doch ich muss auch sie verstehen und ihre Gefühle respektieren. Ihr verzeihen, dass sie mir einfach die kalte Schulter zeigt. Und das fällt mir verdammt schwer. Dieser verletzliche Teil tief in meinem Inneren, der kleine Junge, der nie gespürt hat, dass jemand ihn haben will, das Kind in mir, das im Grunde sein ganzes Leben allein geblieben ist …

… das ist am Boden zerstört.

Katherine

Das Restaurant ist gerammelt voll von Gästen, und es herrscht ein lautes Stimmengewirr. Überwiegend sind es Familien mit total überdrehten Kindern, die ständig um die Tische herumrennen, als wären sie auf Speed.

Und ich? Ich sitze allein da. Und warte. Mein Handy liegt vor mir auf dem Tisch, doch ich schaue nicht darauf. Ich rutsche auf meinem Stuhl herum, streiche mein Kleid glatt und spüre mit prüfenden Mundbewegungen dem unvertraut klebrigen Gefühl meines Lippenstifts nach, da ich mir Sorgen mache, ich könnte ihn verschmiert haben.

Ich habe mich aufgebretzelt und warte auf mein Date. Na ja. Kein echtes Date. Es geht eher um eine Art Verhandlung. Gestern Abend unter der Dusche ist mir eine Idee gekommen. Plötzlich hat es Klick gemacht. Die Idee ist verrückt und revolutionär, aber das entspricht meinen gegenwärtigen Gefühlen ziemlich genau. Ich habe es satt, eine Marionette zu sein, an deren Fäden jeder nach Belieben ziehen kann. Hauptsache, den anderen gefallen – damit ist es vorbei. Jetzt übernehme ich selbst die Kontrolle. Da ich überzeugt davon bin, dass die Idee funktionieren wird, habe ich gleich heute Morgen eine bestimmte Person angerufen.

Es hat mich nicht überrascht, dass sie nur zu bereit war, sich hier mit mir zu treffen und zu hören, was ich zu sagen habe.

Ich kann ihre Anwesenheit sofort spüren, als sie das Restaurant betritt. Aufblickend sehe ich, dass sie von dem jungen Mann, der für den Empfang verantwortlich ist, zu meinem Tisch geführt wird. Ihr Gesicht ist heiter und gelassen, als wäre sie eine Königin und wir nichts als abhängiges Dienstpersonal.

»Katherine.« Ich stehe auf, als sie bei mir angekommen ist, und halte ihr die Wange für einen Luftkuss hin. Ganz schön verrückt. Das genaue Gegenteil des fast schon feindseligen Verhaltens, das ich vor ein paar Tagen erleben durfte. Da war sie wohl sehr gereizt gewesen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber eines ist mir klar – ich kann nicht in diese Frau hineinschauen. Ihr Verhalten ist einfach unberechenbar.

Ätzend!

»Lisa.« Ich lächele angestrengt, streiche beim Hinsetzen mein Kleid glatt und rutsche mit dem Stuhl näher an den Tisch. Die Empfangskraft rückt ihrerseits Lisas Stuhl zurecht, und sie lächelt zu dem jungen Kerl hinauf, was den Ärmsten vollkommen blendet. Er hat den Star in ihr erkannt und ist überwältigt.

Ich nicht, zum Glück.

»Ich habe mich riesig über Ihren Anruf gefreut.« Ein Kellner taucht auf und schenkt gekonnt Wasser in das vor Lisa stehende Glas. Sie wartet, bis er weg ist, ehe sie fortfährt. »Wie schön, dass Sie nun doch bereit sind, mit mir über ein Interview zu sprechen.«

Sie verschwendet keine Zeit, was mir auch lieber ist. Ich will wirklich nicht hier hocken und so tun, als ließen wir uns einfach nur das Mittagessen schmecken. Ich habe mir ein neues Outfit gekauft, um sie zu beeindrucken, und es praktisch wie einen Panzer angelegt, bereit zum Kampf. Bereit, Lisa das abzuringen, was ich haben möchte.

»Ich habe Bedingungen«, sage ich und stütze die verschränkten Arme auf die Tischkante. Sie beobachtet mich und lässt mich keinen Moment aus den Augen, während sie einen Schluck Wasser trinkt. »Und Sie müssen erst einwilligen, bevor ich zu dem Interview bereit bin.«

»Natürlich.« Als hätte sie niemals etwas anderes erwartet.

Ich lächele, auch wenn es sich gezwungen anfühlt. »Ich werde nicht mit Aaron Monroe reden.« Ich habe seinen Namen heute Morgen immer wieder laut geübt, damit meine Stimme nicht mehr zittert, wenn ich ihn ausspreche. Und ich registriere voll Stolz, dass es ganz normal klingt, wie ich es sage. »Versuchen Sie nicht, mich auszutricksen und in irgendein perverses Tête-à-Tête mit ihm zu zwingen. Sollten Sie ihn auf mich loslassen, stehe ich auf der Stelle auf und verlasse den Raum.«

Das Flackern in ihrem Blick sagt mir – ha! –, dass sie so etwas tatsächlich in Erwägung gezogen hat. Unglaublich. »Natürlich nicht«, antwortet sie geschmeidig.

»Das Interview soll nicht lange sein. Zehn Minuten, mehr nicht. Mehr ertrage ich nicht. Ich habe ohnehin keine Ahnung, was Sie jetzt noch von mir hören wollen.«

»Nun ja, das Interview wird aus meinen Fragen und Ihren Antworten bestehen.« Lisa beugt sich mit eifriger Miene vor. Ich habe das Gefühl, dass sie schon seit Tagen unbedingt mit mir darüber sprechen möchte. Oder sogar seit Wochen. »Monroe hat mir das Interview bereits vor einem Monat gegeben. Ich kann Ihnen Fragen stellen, die sich auf das beziehen, was er mir erzählt hat.«

»Muss ich es mir selbst anschauen?« Ich möchte seine Stimme nicht hören. Ich möchte die zusammengeschnittenen Passagen nicht vorgespielt bekommen, möchte nicht dasitzen, ihm zusehen und ihm zuhören müssen. Seine arrogante Miene, während er mich in die Pfanne haut, das hätte mir gerade noch gefehlt.

»Nein. Ich werde Ihnen die Fragen vorlesen. Sie liegen schon fix und fertig bereit. Wir haben vor, in der Sendung Videosequenzen aus dem eigentlichen Interview mit ihm abzuspielen, aber wenn Sie sie nicht sehen wollen, müssen Sie das nicht.« Lächelnd trinkt sie einen weiteren Schluck Wasser. Die Speisekarte, die vor ihr liegt, rührt sie nicht an, und ich halte es genauso. Vermutlich ist keine von uns beiden hier, um etwas zu essen zu bestellen.

Ich jedenfalls mit Sicherheit nicht.

»Ich habe noch eine zusätzliche Bedingung.« Dieser letzte Punkt ist es, der mir wirklich Sorgen bereitet. Ich weiß nicht, wie sie ihn aufnehmen wird. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob meine Entscheidung richtig ist, doch mein Gefühl sagt mir, dass ich so vorgehen muss, wenn dieses dämliche Fernsehinterview tatsächlich stattfinden soll.

Ich hatte mir geschworen, dass es keine Wiederholung geben würde. Aber hier sitze ich nun und erkläre mich bereit, Lisa Swanson ein Interview zu Aaron Monroe zu geben. Und gleich will ich etwas sagen, was vollkommen bescheuert ist. Nicht nur bescheuert, sondern wirklich kompletter Wahnsinn.

»Nur zu. Wir werden uns bestimmt einigen können.«

»Ich werde dieses Interview nur geben, wenn Will Monroe mit dabei ist. Wenn er nicht mitmacht, dann ich auch nicht.«

Ich muss Lisa lassen, dass sie vollkommen ruhig bleibt. Sie absolut keine Miene verzieht. »Bisher hat er sich ziemlich … gesträubt, was ein Gespräch mit mir angeht.«

Ich kenne Ethan. Wahrscheinlich hat er sich geweigert, mit ihr zu sprechen.

Wie aus dem Nichts taucht der Kellner auf und möchte wissen, was wir trinken wollen. Lisa nimmt einen Dirty Martini. Ich bedanke mich und bleibe beim Wasser. Das Restaurant mag familienfreundlich sein, doch über der Theke hängen auch mehrere große Fernseher, auf denen ein Sportsender läuft.

»Es ist wichtig, dass er seine Seite der Geschichte erzählen kann«, sage ich, als der Kellner weg ist. »Drei Menschen waren in diesen Vorfall verwickelt – Monroe, Will und ich. Ich vermute, dass Eth… Will eine Menge zu sagen hat.« Mein Beinahversprecher lässt mich zusammenzucken, aber anscheinend hat Lisa ihn nicht bemerkt. Ich rede sofort weiter, damit es auch so bleibt. »Vermutlich befürchtet er, als ein Mittäter wahrgenommen zu werden, und hält sich deshalb zurück.«

Lisa beobachtet mich unverwandt. »Ist er denn schuldig?«

Ich hasse diese Frage und bin wütend, dass sie sie stellt. Es macht mich ganz rasend, dass so viele Menschen automatisch davon ausgehen, Will wäre ein ebensolches Monstrum wie sein Vater. »Nein«, antworte ich entschieden und schüttele den Kopf. »Er ist vollkommen unschuldig. Er hat mich gerettet. Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Haben Sie ihn gegoogelt? Haben Sie gesehen, was man in den Foren der Kriminalplattformen über ihn schreibt?«, fragt Lisa.