Ohne Ort kein Glück? - Cornelius Bohl - E-Book

Ohne Ort kein Glück? E-Book

Cornelius Bohl

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Beschreibung

Kraftorte sind in Mode. An ihnen wird deutlich: Ein Ort ist mehr als ein Ort! Es ist nicht egal, wo ich lebe. Ein Ort macht etwas mit mir. Ein Ort kann guttun oder Angst machen. Orte können Geschichte vergegenwärtigen oder Zukunft ausprobieren. An manchen Orten begegne ich mir selbst. Und an manchen Orten begegne ich in besonderer Weise Gott. Wie viele Religionen kennt auch das Christentum "heilige Orte". Dabei ist gerade die jüdisch-christliche Tradition überzeugt, dass Gott überall ist und damit ortlos. Das spannende Verhältnis von Spiritualität und Raum stellt inspirierende Fragen: Wo verorte ich mich als gläubiger Mensch? Welche Raumvorstellungen prägen ein spirituelles Leben? Wie kann Spiritualität Beziehungs- und Erfahrungsräume eröffnen und konkrete geistliche Orte gestalten? Braucht Glaube überhaupt Orte, wenn Gott doch überall ist und nirgends?

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Seitenzahl: 99

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Cornelius Bohl

Ohne Ort kein Glück?

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und Cornelius Bohl ofm

Band 39

CORNELIUS BOHL

Ohne Ort kein Glück?

SPIRITUALITÄT UND RAUM

Herzlicher Dank geht an Marie-Therese Girerd für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen sowie an die Sponsorinnen dieses Bandes, die nicht genannt werden wollen.

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2024

© 2024 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

© Coverfoto: Elisabeth Wöhrle sf

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05944-6

978-3-429-06643-7 (PDF)

978-3-429-06644-4 (ePub)

Franziskus „wählte während seines Erdenlebens für sich und die Seinen ein ‚Teilchen‘ von der Erde aus; etwas musste er ja von der Erde haben, denn anders hätte er Christus nicht dienen können“

(2 C 18, FQ 310)

„Wie nun Gott den Gläubigen das gemeinsame Gebet in seinem Wort gebietet, so müssen auch öffentliche Kirchengebäude da sein, die zum Vollzug dieser Gebete bestimmt sind … Nur muss dabei alles Gepränge und alles Haschen nach menschlichem Ruhm wegbleiben, und es muss lautere, wahre Andacht herrschen, die im Verborgenen des Herzens wohnt … Dann müssen wir uns aber auf der anderen Seite hüten, sie nicht etwa, wie man das vor einigen Jahrhunderten angefangen hat, für Gottes eigentliche Wohnstätten zu halten, in denen er sein Ohr näher zu uns kommen ließe; auch sollen wir ihnen nicht irgendeine verborgene Heiligkeit andichten, die unser Gebet bei Gott geheiligter machte.“

Johannes Calvin, Institutio III 20,30

Diese Wunden bringen bei mir keine Klagen hervor; eher kommt ihr durch sie in mein Herz. Das Ausrecken meines Leibes schafft euch Raum in meinem Schoß.

Christus in den Mund gelegt in einer Predigt von Petrus Chrysologus (gest. 450), Sermo 108, PL 52,499.

Inhalt

Start mit einer Liebeserklärung: Ich mag Orte …

1.Genius loci – Ein Ort ist mehr als ein Ort

Kleine Exerzitien im Alltag

2.Zieh deine Schuhe aus! – Von Kraftorten und heiligen Orten

Kleine Exerzitien im Alltag

3.Genau hier – Orte haben ihre Geschichte

Kleine Exerzitien im Alltag

4.Kein Ort. Nirgends – Der ortlose Gott ist überall

Kleine Exerzitien im Alltag

5.Wie Pilger und Fremdlinge – Sich in der Ortlosigkeit verorten

Die Fremde

Der Weg

Die Utopie

Kleine Exerzitien im Alltag

6.Das zwischen uns – Beziehungsräume

Kleine Exerzitien im Alltag

7.Die Länge und Breite, Höhe und Tiefe ermessen – Erkundungen im geistlichen Raum

Kleine Exerzitien im Alltag

8.Bau mein Haus wieder auf! – Räume eröffnen und Orte gestalten

Frei-Räume

Heilsame Orte

Hier und jetzt!

Kleine Exerzitien im Alltag

… und das Wichtigste zum Schluss: „Er ist nicht hier!“

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Zum Weiterlesen

Start mit einer Liebeserklärung: Ich mag Orte …

Ich mag Menschen. Und was sonst noch? Autos nicht. Auch nicht Computerspiele oder Fußballclubs. Jedenfalls nicht so, wie andere das mögen. Aber ich mag Orte. Ganz allein bin ich damit ja nicht. Ein ganzer Wirtschaftszweig, die Tourismusbranche, lebt vom Bedürfnis vieler Menschen, besondere Orte kennen zu lernen und einmal an einem anderen Ort zu sein. Millionen von Fotos schwirren ununterbrochen durch die Social Media: Schau mal, wo ich gerade bin! (Was eigentlich steckt hinter dem Wunsch, einmal besuchte Orte im Bild festzuhalten?) Regionale Reiseführer machen neugierig auf hundert wichtige oder magische oder besondere Orte. Urban Explorer sind auf der abenteuerlichen Suche nach Lost Places.

Ja, tatsächlich, ich mag Orte. Orte und Räume. Orte erzählen Geschichten. Orte vermitteln Gefühle. Orte können wie ein Spiegel sein, in dem ich etwas von mir selbst entdecke. Orte verbinden Menschen. Orte machen etwas mit mir. „Ich liebe die Stätte deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit“, betet der Psalmist (Ps 26,8). Allerdings mag ich nicht nur besondere Orte, gotische Kathedralen etwa oder englische Parks, bekannte Plätze großer Städte, malerische Postkartenmotive aus den Alpen oder von der Nordsee. Auch Menschen sind ja nicht nur dann liebenswert, wenn sie gängigen Schönheitsidealen entsprechen. Im Gegenteil, gerade manche schrägen Vögel sind besonders sympathisch. Mit Orten ist es ähnlich. Oft können auch unscheinbare, alltägliche und nicht gerade „hübsche“ Orte ansprechen, sie „haben etwas“: der Esstisch in der Küche oder ein Großraumwagen im ICE, eine Plattenbauwohnung oder die Kneipe um die Ecke, der Zeitungskiosk auf dem Weg zur Arbeit oder das Zimmer einer Bekannten im Pflegeheim.

Als Franziskaner wurde ich schon öfter versetzt und habe dabei erfahren: Es ist nicht egal, wo ich lebe. Ich fühle mich nicht überall gleich wohl und in gleicher Weise zu Hause. Ein Ort, eine Stadt, eine Landschaft machen etwas mit mir. Orte sind also wichtig. Aber sie sind nicht das letztlich Entscheidende. Meine Berufung kann ich an ganz unterschiedlichen Orten leben. Wichtiger als die Adresse ist das lebendige Beziehungsnetz der Bruderschaft und anderer Menschen. Natürlich tut es mir weh, wenn wir Klöster schließen und Orte aufgeben müssen, an denen wir seit Jahrhunderten verwurzelt waren. Doch zugleich erfahre ich: Das franziskanische Charisma hängt nicht an diesem oder jenem Ort. Ich bin woanders zuhause.

Bücher haben ihre Geschichte. Büchlein auch. Das Verhältnis von Spiritualität und Raum beschäftigt mich schon länger. Aber während ich in den letzten Monaten versucht habe, diese Überlegungen zu Papier zu bringen, haben mir einige aktuelle Beobachtungen und Erfahrungen neu bewusst gemacht, wie wichtig Orte und Räume für uns sind. Einige Schlaglichter sollen genügen:

Die Corona-Pandemie hat über lange Zeit hinweg Lebensräume verschlossen. Schulen und Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime, Kinos und Restaurants machten zu. Menschen wurden in ihre Wohnungen verbannt, arbeiteten im Homeoffice und waren von Beziehungen abgeschnitten. Das Fehlen von Räumen, das Eingeschlossensein an wenigen und immer gleichen Orten machte viele lustlos und aggressiv. Orte können guttun. Und Orte können krank machen.

Seit Februar 2022 verfolgen wir den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Einzelne Orte werden monatelang umkämpft, erobert und wieder zurückerobert. Die Nachrichten berichten über Geländegewinne von wenigen hundert Metern – und immer neuen Toten und Verletzten. Häuser und Wohnungen werden zerstört, Heimat wird zerbombt. Unzählige Menschen fliehen, müssen vertraute Orte verlassen. Die neuen Orte, an denen sie sich plötzlich wiederfinden, sind ihnen fremd. Nicht selten müssen sie dort erfahren: Wir sind hier nicht erwünscht.

Im November 1989 fiel die Mauer, die über Jahrzehnte Europa und die Welt in zwei Machträume gespalten hatte. Diese Grenze war ein Todesstreifen: Hier wurden Menschen erschossen, verbluteten, verschwanden in Gefängnissen. Inzwischen gibt es neue Zäune und Mauern: die Mauer zwischen Israel und Palästina, den Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko, die Zäune in Marokko zwischen Afrika und Spanien, an der Grenze Ungarns zu Serbien und Kroatien …

Immer mehr Menschen, schon Kinder und vor allem Jugendliche, verbringen immer mehr Zeit in virtuellen Räumen. Der Cyberspace wird zur Heimat. Gleichzeitig verlieren bisherige Räume an Bedeutung: Was man bisher in Schuhgeschäften und Lebensmittelmärkten, in Apotheken, Reisebüros und Buchläden bekam, liefert jetzt das Internet. Auch Gebetsgruppen treffen sich im Netz, Gottesdienste werden gestreamt. Leben verlagert sich mehr und mehr in digitale Parallelwelten. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen realen und virtuellen Räumen, auch das Tummeln im Internet ist wirkliches Leben.

Wohnungen sind knapp in Deutschland. Wohnraum wird für viele Menschen zunehmend unbezahlbar. Werden wir in Zukunft noch genug Energie und Geld haben, um unsere Wohnungen im Winter zu heizen? Die lebensnotwendigen „eigenen vier Wände“ scheinen in Gefahr, eine unverzichtbare Privatsphäre, die Sicherheit und Überschaubarkeit eines eigenen persönlichen Raums in einer unübersichtlichen und auseinander driftenden Welt.

Bisherige Kirchengemeinden verschwinden zugunsten immer größerer pastoraler Räume. Kirche wird dadurch oft nicht mehr so nah erlebt wie früher, erscheint anonymer und unpersönlicher. Diözesen reduzieren ihren Gebäudebestand, trennen sich von vertrauten Orten. Mit der Profanierung und dem Abriss von Kirchen und der Schließung von Klöstern verlieren gläubige Menschen Halt und Heimat. Christinnen und Christen in Deutschland sind auf dem Weg zu einer Minderheit, sie müssen sich in der Gesellschaft neue Räume schaffen und neu verorten.

„Ohne Ort kein Glück.“ Der schöne Satz stammt von Peter Handke.1 Stimmt er auch? Einerseits ja: Ich mag Orte, weil ich spüre, dass Orte guttun. Sie vermitteln Zugehörigkeit, Heimat, Identität. Und tatsächlich – manchmal auch Glück! Das erlebe ich gerade an spirituellen Orten, an denen ich etwas von Gott erfahren darf. Andererseits stimmt er nicht. Denn Glück ist ein Vagabund. Es lässt sich nicht domestizieren und einsperren. Genauso wenig wie Gott.

Ich denke, es lohnt sich, ein wenig über das Verhältnis von Spiritualität und Raum nachzudenken. Das wird im vorliegenden Büchlein versucht. Dabei beginnt alles mit einer paradoxen Erfahrung: Ein Ort ist immer mehr als ein Ort! (1) Besonders deutlich wird dies an „Kraftorten“ und „heiligen Orten“ (2) und an Orten, die eine längst vergangene Geschichte vergegenwärtigen (3). Nach den Wundern sind vielleicht spirituelle Orte des Glaubens liebstes Kind, obwohl gerade die jüdisch-christliche Tradition deutlich macht, dass Gott eigentlich ortlos ist und damit überall (4). Darum haben sich gerade gläubige Menschen als „Pilger und Fremdlinge“ verstanden und bewusst in der „Ortlosigkeit“ verortet (5). Spätestens hier wird deutlich, dass die Frage nach dem Verhältnis von Spiritualität und Raum nicht nur geografisch lokalisierbare Orte betrifft. Es geht dabei auch um „Beziehungsräume“ (6) und Raumvorstellungen als Ausdruck geistlicher Erfahrungen (7). Und am Schluss wird es dann konkret: Spiritualität will Erfahrungsräume eröffnen und geistliche Orte gestalten (8). Praktische Anregungen und Übungen bieten auch die „Kleinen Exerzitien im Alltag“ am Ende jedes Kapitels.

Ohne Ort kein Glück? Um es gleich zu Beginn zu verraten: Diese Frage wird am Ende nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet. Manchmal lohnt sich ein Suchweg, auch wenn er letztlich nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt.

1.Genius loci – Ein Ort ist mehr als ein Ort

Ein Ort ist mehr als ein Ort. Ich erlebe das beim Bummel durch eine Stadt. Was ist das, eine Stadt? Es ist wie beim Häuten einer Zwiebel: Schicht um Schicht entdecke ich Neues. Zunächst einmal ist eine Stadt eine Ansammlung von Gebäuden und Menschen. Im Raumbehälter „Stadt“ finde ich, anders als auf dem „Land“, relativ nahe beieinander, was ich zum Leben brauche oder was meinen Alltag angenehm macht: Ärzte und Restaurants, Schulen, Geschäfte und Tankstellen, ein Kino vielleicht oder ein Theater, Kirchen, Museen, einen Sportplatz und vieles mehr. Eine Stadt ist darum ein sehr praktischer Ort. Wie diese Stadt heißt und wo sie liegt, ob es eine alte oder eine neue Stadt ist, spielt dabei keine entscheidende Rolle.

Eine weitere Dimension entdecke ich, wenn ich eine Stadt als Tourist erkunde. Dann erzählt mir die Stadt ihre Geschichte und dazu viele kleine Geschichten, die sich in ihr abgespielt haben und heute abspielen. Eine alte Burg, ein weitläufiges Industriegebiet, die historische City oder eine verträumte Parkanlage lassen mich eintauchen in eine Vergangenheit, die dieser Stadt heute einen bestimmten Charakter verleiht. Der praktische Container „Stadt“, der so manches enthält, was ich gebrauchen kann, bekommt plötzlich persönliche Züge: Eine Stadt in der sie umgebenden Landschaft ist schön oder auch befremdend, romantisch oder modern, interessant oder langweilig. Nicht nur ich mache etwas in dieser Stadt, die Stadt macht etwas mit mir: Sie kann mich verzaubern oder abschrecken. „Ich liebe diese Stadt“, sagt jemand.

Eine Stadt gewinnt nochmals an Tiefe, wenn ich dort geboren wurde oder einige Jahre meines Lebens verbracht habe. Sie ist dann ein Teil meiner persönlichen Biografie, untrennbar verbunden mit prägenden Erlebnissen und Erfahrungen, ein Stück von mir: Hier habe ich die Schule besucht, dort mit Freunden Fußball gespielt, meine Freundin zum ersten Mal getroffen, eine Lehre gemacht, dort habe ich mein erstes Geld selbst verdient, in diesem Krankenhaus meinen sterbenden Vater zum letzten Mal gesehen … Häuser und Straßen, Plätze und Parks haben Biografie gespeichert und geben sie wieder frei. Sie wecken Erinnerungen, erzählen meine eigene Geschichte, lassen längst verschollen geglaubte Gefühle wieder lebendig werden und mich eintauchen in eine ferne Vergangenheit, die plötzlich wieder gegenwärtig ist.