Ostfriesenhass - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Ostfriesenhass E-Book

Klaus-Peter Wolf

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er kann die Menschen lesen. Er deutet die Zeichen. Was dann folgt, ist eiskalter Mord. Der 18. Fall für Ann Kathrin Klaasen von Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf. Er musste es tun. Nur er hatte die Gabe eines Auserwählten. Andere sahen nicht das, was er sah. Sie waren längst in Norden, getarnt als harmlose Urlauber, als normale Menschen, die ihren Urlaub an der Küste verbringen wollten. Aber er wusste es besser. Er musste die Menschheit retten. Heute hatte er nur eine erwischt. Eigentlich hatte er beide töten wollen. Er musste besser werden, durfte keine Fehler mehr machen. Hier, unter dem Sternenhimmel am Deich, schöpfte er neue Energie. Denn er hatte noch eine große Aufgabe vor sich…  Zwei tote Frauen in Norden stellen die Polizei an der ostfriesischen Küste vor eine große Aufgabe. Der achtzehnte Fall für Ann Kathrin Klaasen und ein Serientäter, der meint, die Menschheit retten zu müssen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 741

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenhass

Der neue Fall für Ann Kathrin Klaasen

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Zwei tote Frauen in Norden stellen die Polizei an der ostfriesischen Küste vor eine große Aufgabe. Der achtzehnte Fall für Ann Kathrin Klaasen und ein Serientäter, der meint, die Menschheit retten zu müssen.

 

Er musste es tun. Nur er hatte die Gabe eines Auserwählten. Andere sahen nicht das, was er sah. Sie waren längst in Norden, getarnt als harmlose Urlauber, als normale Menschen, die ihren Urlaub an der Küste verbringen wollten. Aber er wusste es besser. Er musste die Menschheit retten. Heute hatte er nur eine erwischt. Eigentlich hatte er beide töten wollen. Er musste besser werden, durfte keine Fehler mehr machen. Hier, unter dem Sternenhimmel am Deich, schöpfte er neue Energie. Denn er hatte noch eine große Aufgabe vor sich…

 

»...eine wunderbare lesenswerte Mischung aus Thriller, skurriler Komik und Nordseeliebe...«  Münchner Merkur zu "Ostfriesengier"

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, ist freier Schriftsteller und lebt mit seiner Frau, der Kinderbuch-Autorin und Liedermacherin Bettina Göschl, in Norden, in der Stadt, in der auch seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen lebt. Seine erste Geschichte schrieb er mit 8 Jahren und verkaufte sie sofort für zehn Pfennig. Er hat zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, seine Bücher wurden insgesamt über 13 Millionen mal verkauft und in 26 Sprachen übersetzt, die Verfilmungen der Ann-Kathrin-Klaasen-Romane sind Quoten-Renner zur besten Sendezeit. Klaus-Peter Wolfs Romane sind nicht nur spannende Erzählungen, sondern auch Röntgenbilder einer Gesellschaft, oft liegen Gut und Böse sehr nah beieinander und sind nicht immer eindeutig zu trennen. Als Schirmherr für den Förderverein Stationäres Hospiz Norden e.V. engagiert er sich ehrenamtlich. Wenn der Autor nicht am nächsten Roman schreibt, dann kann man ihn in seiner neuen Rolle als Teebotschafter und ehrenamtlicher Tortentester vor Ort in Norden treffen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Motto]

[Ostfriesenhass]

Er traute seinen Augen kaum...

Die Restaurants waren ihnen zu voll...

Die ersten Gäste brachten...

Sie ist noch nicht bereit...

Rupert bat Jessi...

Alex ging zur Toilette...

[Leseprobe Ein Mörderisches Paar]

[Leseprobe Ostfriesennebel]

»Warum wird Kaffee immer von alleine kalt, aber Bier nie?«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Aurich

 

»Lern von den Möwen. Scheiß drauf!«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Aurich

Ann Kathrin Klaasen war schon auf dem Heimweg, als der Hilferuf eintraf. Im Muschelweg, nahe beim Krabbenkutter, seien die Schreie einer Frau gehört worden. »Hilfe, er bringt mich um!«, habe sie mehrfach gerufen.

Ann Kathrin fuhr gerade über die Norddeicher Straße. Sie wollte eigentlich noch einen Spaziergang an der Wasserkante machen, um nach diesem stressigen Tag runterzukommen.

Sie brauchte keine zwei Minuten bis zum Muschelweg. Sie parkte vor dem geschlossenen Imbiss und stieg aus. Lauschte in die Nacht.

Ein gutes Dutzend Spatzen stritt auf der Straße um die Krümelreste eines Fischbrötchens, das eine Möwe gestohlen und im Flug verspeist hatte.

Ann Kathrin sah sich nach den Touristen um, die angerufen hatten und angeblich auf der Straße vor dem Haus warteten. Das Ehepaar Ehrlich.

Herr Ehrlich war Mitte sechzig, stand da in Badelatschen und knielangen Boxershorts. Er trug ein olivfarbenes T-Shirt mit der Aufschrift: Freigänger.

Seine Frau war, im Gegensatz zu ihm, warm angezogen. Dicke Windjacke, Wanderschuhe, Wollmütze mit Ohrenschutz.

»Haben Sie angerufen?«, fragte Ann Kathrin Klaasen.

Die Frau nickte und deutete auf ein Ferienhaus. »Da!«

Herr Ehrlich wunderte sich: »Fährt die Polizei hier in Ostfriesland Twingo?«

»Nein«, antwortete Ann Kathrin, »normalerweise kommen wir mit dem Rad oder zu Fuß.«

Sie stieg über das Gartentor und ging auf die Haustür zu. Die Rollläden waren runtergelassen, aber zwischen den Lamellen schien Licht.

Ann klingelte zweimal. Eine Männerstimme schimpfte: »Bist du bescheuert? Warum klingelst du? Ich hab gut eine Stunde gebraucht, um den Kleinen schlafen zu legen.«

Ann Kathrin klopfte und rief: »Aufmachen! Polizei!«

Sie war nicht bereit, sich abwimmeln zu lassen. Sie kannte die Tricks gewalttätiger Männer, die Polizei loszuwerden.

Sie klingelte noch einmal und klopfte gleichzeitig: »Aufmachen! Polizei!«, wiederholte sie laut und deutlich.

»Verarschen kann ich mich selber! Hau ab, du blöde Ziege!«

Es wurde also ernst. Ein Adrenalinschub vertrieb Ann Kathrins Müdigkeit. Sie war sofort wieder hellwach.

Die Ehrlichs traten näher ans Tor, um alles mitzubekommen.

Ann Kathrin forderte bei Marion Wolters in der ihr eigenen Art Verstärkung an: »Ich glaube, hier bittet jemand um ein Zimmer für die Nacht. Haben wir noch eines in den gekachelten Räumen frei?«

Das Übernachtungsangebot wurde durchaus als Drohung verstanden. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.

Noch bevor die Tür sich öffnete, brüllte jemand: »Ich hab die Faxen dicke! Penn doch bei deinen versnobten Single-Freundinnen!«

Ann Kathrin blickte in das verblüffte Gesicht eines zornigen Mannes. Er hatte klare, blaue Augen, trug ein Muscle-Shirt und Flip-Flops. Sein Atem roch nach Rotwein, er hielt ein halbvolles Glas in der Hand.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wenn Sie zu Ingrid wollen, die ist nicht da.«

»Sehen Sie«, sagte Ann Kathrin selbstsicher, »genau das glaube ich nicht.«

Sie zeigte ihren Ausweis vor und schob ihren rechten Fuß so in den Türspalt, dass der Mann ihr die Tür nicht vor der Nase zuknallen konnte.

Er registrierte das, und es gefiel ihm nicht.

»Der Mädelsabend findet nicht hier, sondern bei Meta oder Wolbergs oder in der Schaluppe statt.«

Er wirkte, als hätte er Lust, ihr den Rotwein ins Gesicht zu kippen.

»Bitte machen Sie mir keine Schwierigkeiten. Lassen Sie mich rein. Ich möchte mich nur mal umsehen.«

Er zeigte auf das Touristenpaar. »Gehören die auch zu Ihnen?«

Ann schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er rief zu den Ehrlichs rüber: »Was glotzt ihr so? Wir sind hier nicht im Zoo!«

»Lebt die Frau noch?«, fragte Herr Ehrlich besorgt.

Seine Frau wollte Ann Kathrin beistehen: »Brauchen Sie Hilfe?«

Ann Kathrin reagierte nicht darauf, deshalb ergänzte sie triumphierend: »Mein Mann kann Judo!«

»Bitte machen Sie mir keine Schwierigkeiten«, wiederholte Ann Kathrin. »Man hat Hilferufe gehört, und ich würde mich gerne davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«

Der Mann im Muscle-Shirt fragte: »Sind Sie wirklich von der Polizei?«

Ein Kind weinte laut. Für Ann Kathrin war dies ein klares Signal. Sie drängte sich an dem Mann vorbei ins Haus.

»Keine Sorge, wir warten hier, Frau Kommissarin!«, rief der Judo-Kämpfer.

Schon stand Ann Kathrin im Wohnzimmer. Der Hausherr nippte an seinem Wein und witzelte: »Ach, kommen Sie doch rein.« Er schloss die Tür, was Ann Kathrin nicht gefiel, und kommentierte: »Bevor noch die ganze Nachbarschaft rebellisch wird …«

Das Kinderweinen ging in ein Schreien über.

»Ich nehme mal an, Sie haben keinen Hausdurchsuchungsbeschluss. Ich bin aber bereit, das zu vergessen, wenn es Ihnen gelingt, Paul in den Schlaf zu singen.«

»Wo ist seine Mutter?«

Er lachte: »Das wüsste ich auch gerne. Mädelsabend. Sagte ich doch. Schon der dritte in diesem Urlaub. Sie ist nicht wirklich gerne verheiratet. Zumindest nicht mit mir.«

Er ging voraus ins Kinderschlafzimmer und gestikulierte: »Sie holt gerade ihre Pubertät nach oder was.«

Mit Ann Kathrin ging sofort die Mutter durch, als sie Paul sah. Ihr Sohn Eike war längst erwachsen, aber Paul in seinem durchgeschwitzten Schlafanzug erinnerte sie sofort an ihn. Gleich meldete sich wieder das schlechte Gewissen, weil sie als berufstätige Mutter viel zu wenig für Eike dagewesen war.

Sie stellte sofort fest, dass Paul ganz glasige Augen hatte.

»Haben Sie mal Fieber gemessen?«

»Ach, Fieber. Der ist bloß übermüdet.«

Er stellte sein Weinglas auf einer Anrichte neben einem Kampfroboter ab und hob seinen Sohn aus dem Bett.

»Das ist eine richtige Polizistin«, sagte er. »Die fragt sich dasselbe wie wir beide: Wo treibt sich die Mama mal wieder herum?«

Der Kleine schrie lauter und bäumte sich auf.

»Hör jetzt auf mit dem Scheiß, sonst nimmt dich die Tante von der Polizei mit.«

Ann Kathrin reagierte allergisch darauf, wenn Erwachsene Kindern mit der Polizei Angst machten.

»Wir holen keine Kinder ab, nur weil sie nicht brav sind«, erläuterte sie. »Wir helfen Kindern in der Not aber gerne.«

Sie öffnete jede Tür, ging in jedes Zimmer. Manchmal versteckten verprügelte Frauen sich aus Scham oder gar, um ihren Mann zu schützen. Sie hatte schon Frauen hinter Sofas, unterm Ehebett oder im Kleiderschrank gefunden. Sie war einiges gewohnt.

Ingrid entdeckte sie aber nicht. Dafür half sie, Pauls Windeln zu wechseln und dem Jungen einen frischen Schlafanzug anzuziehen. Der Vater stellte sich dabei als Edgar Leymann vor.

Paul beruhigte sich und trank noch einen kalten Tee. Er war gerade drei Jahre alt geworden und spürte genau, dass seine Eltern dabei waren, sich zu trennen.

Der Kleine mochte Ann auf Anhieb, und als er sie bat, ihm noch eine Geschichte vorzulesen, nahm sie kurzentschlossen eines seiner Bilderbücher und begann.

Sie saß vor dem Bett und las. Edgar hockte bei ihr, als plötzlich Pauls Mutter im Türrahmen stand und sofort loslästerte: »Ich dachte, du stehst mehr auf junge Dinger. Bist du so notgeil, oder haben die anorgastischen Gymnasiastinnen die Nase voll von dir?«

Er verzog den Mund und brummte: »Das ist meine Noch-Ehefrau Ingrid. Sie trinkt gern mehr Wein, als sie vertragen kann.«

Paul weinte sofort wieder.

Ann Kathrin klappte das Bilderbuch zu, reichte es dem Vater und stand auf. »Das hier ist wohl eher ein Fall für die Eheberatung als für die Kripo«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden. Paul tat ihr leid, doch ihre Müdigkeit meldete sich zurück. Sie unterdrückte ein Gähnen.

Als sie das Haus verließ, hörte sie Ingrids laute Stimme hinter sich: »Na, wie ist sie so im Bett? Mehr das devote Mäuschen, oder lässt sie die Domina raushängen?«

Herr Ehrlich und seine Frau hatten alles mitbekommen. »Hab ich dir doch gleich gesagt, dass die nicht von der Polizei ist. Guck dir mal das Auto an, das fällt doch schon auseinander.«

Ein silberblauer Polizeiwagen rollte in den Muschelweg.

»Da, jetzt kommen die Echten«, freute er sich.

Ann Kathrin ging auf den Wagen zu. »Falscher Alarm, Kollegen«, sagte sie.

Sie lauschte in die Nacht und blickte zu den anderen Häusern. Alles schien ruhig zu sein. Nur ein paar Wildgänse schnatterten aufgeregt.

Er war einer der Auserwählten. Er trug diese Last. Er hatte die Gabe. Er konnte sie erkennen und durchschaute ihren Plan. Er musste diese Teufelsbrut vernichten. Die einfachen Menschen würden es nicht verstehen. Sie waren bedroht. Sie alle. Besonders die Küstenbewohner.

Er musste es heimlich tun. Er war ein Held. Wie ein edler Ritter, der den Drachen tötet, um die Dorfbewohner zu retten. Nur sah diesmal der Drache nicht furchterregend aus wie im Märchen. Die richtigen Monster stanken nicht und spuckten auch kein Feuer. Im Gegenteil. Sie waren schön, rochen gut, sahen aus wie Menschen und flirteten gern. Sie tarnten sich als harmlose Urlauberinnen, doch ihn konnten sie nicht täuschen. Ihn nicht.

Ja, er hatte die Gabe. Es machte ihn stolz. Er war sich der Verantwortung bewusst. Er musste töten und dabei unerkannt bleiben. Die Menschheit ahnte ja nicht, in welcher Gefahr sie sich befand.

Heute hatte er eins dieser Monster vernichtet.

Er stand unter dem Sternenhimmel am Deich und atmete tief durch. Es war, als würden die Sterne heute nur für ihn leuchten. Sie luden ihn mit neuer Energie auf. Er brauchte viel Energie. Er hatte eine große Aufgabe vor sich …

Er hatte beide töten wollen, aber nur eine erwischt. Er kam sich als Versager vor, und er durfte nicht versagen!!!

Er saß jetzt in der künstlich angelegten Dünenlandschaft und ritzte sich mit der Klinge in den linken Unterarm. Der Schmerz sollte ihn daran erinnern, dass er besser werden musste. Viel besser! Er durfte sie nicht entkommen lassen.

Als Ann Kathrin Klaasen nach Hause kam, hatte ihr Mann Frank Weller auf der überdachten Terrasse gedeckt. Es roch fruchtig und ein bisschen säuerlich.

Sie freute sich und registrierte mit einem kurzen Blick, dass er für vier Personen eingedeckt hatte.

»Bekommen wir Besuch?«

»Sag bloß, du hast es vergessen?«

»Nein, natürlich nicht«, behauptete sie.

Er durchschaute ihre Lüge: »Wer kommt?«

»Rita und Peter?«

»Falsch.«

»Moni und Jörg?«

»Falsch.«

»Ach, klar, wie konnte ich das nur vergessen – Angela und Holger natürlich.«

Er schüttelte den Kopf.

Ein bisschen kleinlaut riet sie weiter: »Bettina und … Komm, mach’s mir nicht so schwer.«

Er half ihr: »Meine Tochter Sabrina und ihr Neuer.«

»Sie stellt ihn uns vor?«

»Hm.«

»Na, du klingst ja begeistert. Ist sie schwanger?«

Weller lief in die Küche und rührte im Topf.

»Was gibt’s denn?«

»Alte Seefahrerkost. Gut gegen Skorbut.«

»Sauerkraut?«, fragte sie langgedehnt.

Er ließ Ann probieren. »Das ist nicht einfach Sauerkraut«, schwärmte er, »sondern Sauerkraut mit geriebenen Äpfeln, Ananas und Mangostückchen.«

Sie sah das Messer auf dem Tisch und die Obstschalen.

»Natürlich nicht aus der Dose«, sagte sie und tat so, als hätte sie es geschmeckt. Sie schmatzte bewusst, um ihm eine Freude zu machen.

Im siedenden Wasser lagen Bockwürstchen. Vier Sorten Senf standen auf dem Terrassentisch.

»Das ist«, sagte Ann, »wirklich gut …«

Er hatte das Gefühl, dass es ihr überhaupt nicht schmeckte und sie nur nett sein wollte. Er probierte selbst noch einmal. Er fand es köstlich. Außerdem vitaminreich und gesund.

Weller ordnete die Senfgläser neu, als wisse er schon genau, wer süßen Senf, wer mittelscharfen und wer extrascharfen essen würde. Dann hatte er noch selbstgemachten Senf von Rita Grendel, den er heute zum ersten Mal probieren wollte.

Es klingelte an der Tür.

»Da sind sie schon! Nur knapp eine Stunde zu spät«, lachte er. »Darin ist Sabrina dir ähnlich.«

Silke Humann kam viel später als versprochen in die Ferienwohnung zurück. Manchmal klammerte ihre Schwester einfach zu sehr, fand sie, deshalb hatte sie auch fast zwei Jahre lang den Kontakt zu ihr abgebrochen. Valentina wollte immer alles im Voraus festlegen und bestimmen. Wann, wo, wie. Meist machte sie sogar Listen.

Silke dagegen war mehr die Spontane. Je enger das Planungskorsett ihrer Schwester wurde, umso heftiger wurden ihre Befreiungsausbrüche. Sie empfand Planung, gerade im Urlaub, als beklemmendes Gefängnis. Darum war es im Streit zwischen ihnen oft gegangen. Mit diesem Urlaub in Norddeich wollten sie einen neuen Anfang miteinander versuchen. Spaziergänge, Gespräche im Strandkorb, und natürlich sollte Valentina genug Zeit zum Lesen bekommen.

Eigentlich las Valentina lieber, als zu verreisen. Sie hatte sich auch noch nicht an E-Books gewöhnt, sondern schleppte im Urlaub einen Koffer voller Bücher mit. Zusätzlich konnte sie an keiner Buchhandlung vorbeigehen.

Silke stand mehr auf sportliche Aktivitäten. Hier in Norddeich natürlich Kitesurfen, und einige der Kitesurfer gefielen ihr besonders gut. Einer, der sich Joe nannte, aber Johannes hieß, hatte sie heftig beflirtet. Sie war einem Abenteuer im Urlaub nicht abgeneigt, hatte aber Angst, dass sich eine kurze Liebesaffäre auf die Beziehung zu ihrer Schwester negativ auswirken könnte. Sie hatten doch geplant, sich in diesen paar Tagen aufeinander zu konzentrieren. Es sollte nicht wieder so werden wie damals in Südtirol, als sie sich mit dem Skilehrer amüsierte, während Valentina Kerstin Gier las oder Carlos Ruiz Zafón oder die komplette World-Reihe von Anabelle Stehl.

Nein, diesmal sollte sich kein Mann zwischen sie schieben. Diesmal wollte sie genug Zeit und Aufmerksamkeit für Valentina haben. Vielleicht hatten sie als Schwestern ja doch noch eine Chance miteinander.

»Valentina?«, rief sie. »Valentina? Ich bin wieder da! Schläfst du schon?«

Ihre Schwester las gern im Bett und nickte dort dann ein, neben sich die Nachttischlampe, eine Tasse Tee und eine Tafel Schokolade.

Silke sah das Blut erst, als sie darauf ausrutschte. Sie klatschte vors Bett. Sie wusste gleich, dass ihre Schwester tot war. Sie wollte schreien, doch sie bekam keinen Ton heraus. Es war, als würde ihr jemand den Hals zudrücken.

Sie rang nach Luft und kroch rückwärts, eine Blutspur hinter sich herziehend, ins Wohnzimmer zurück. Sie sah sich von außen. Sie kam sich vor wie ein Insekt, auf das Jagd gemacht wurde.

Ann Kathrin gab sich Mühe, den jungen Mann zu mögen. Er war vier, fünf Jahre älter als Sabrina, hatte krauses blondes Haar und einen dunklen Dreitagebart. Er war sportlich durchtrainiert und gab sich auch Mühe, das zu zeigen. Er wirkte recht körperverliebt.

Alle lobten Wellers Essen, besonders Sabrina. Sie wollte damit wohl einen guten Draht zu ihrem Vater aufbauen. Es war ihr wichtig, was er über Finn-Henrik dachte.

Sabrina hatte Weißwein mitgebracht, der, das sah Ann Kathrin Weller an, ihm viel zu süß war. Aber er tat, als würde ihm der Wein gut schmecken, um seiner Tochter eine Freude zu machen.

Hoffentlich bringt sie jetzt nicht jedes Mal eine Flasche davon mit, dachte Ann Kathrin und traute sich zu erwähnen, dass sie eigentlich lieber trockene Weißweine mochte. Wenn überhaupt. Sie mied Alkohol in letzter Zeit und fand das ostfriesische Leitungswasser besser als so manch edlen Wein.

Beim Essen entstand, nachdem sie ein paar Freundlichkeiten ausgetauscht hatten, eine kleine Gesprächspause, die Ann Kathrin als unangenehm empfand, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen, obwohl sie sich doch so selten sahen.

»Und was machen Sie beruflich?«, fragte sie Finn-Henrik Bohlens und ärgerte sich sofort darüber. Dämlicher geht es wirklich nicht, dachte sie. Das sieht doch gleich so aus, als wollte ich ihn einschätzen und einordnen. Wieso frage ich ihn nicht sofort nach seinem Gehalt?

Er antwortete nicht, sondern beschäftigte sich damit, Ritas selbstgemachten Senf auf seine Brühwurst zu streichen.

Sabrina antwortete für ihn. Sie lachte dabei demonstrativ: »Er ist UFO-Forscher.«

Weller verschluckte sich am Sauerkraut.

»UFO-Forscher?«, hakte Ann Kathrin nach. »Kann man davon leben?«

Sabrina legte Messer und Gabel neben sich, fixierte Ann Kathrin und belehrte sie: »Er hat ein Buch geschrieben – also, an einem mitgewirkt«, relativierte sie. »Er hält Vorträge im ganzen deutschsprachigen Raum.«

»Und in Holland«, fügte er mit vollem Mund hinzu.

Fast wäre es Weller herausgerutscht, ihn zu korrigieren. Wenn Menschen Holland sagten, meinten sie meist die Niederlande. Weller, der sehr auf Sprache achtete, wendete dann gern ein: »Man sagt ja auch nicht Franken oder Bayern, wenn man Deutschland meint.«

Ann Kathrin wusste, dass er es auf den Lippen hatte und schwieg, um die Stimmung nicht zu verderben. Stattdessen sagte Weller in Ann Kathrins Richtung: »Erich von Däniken ist damit reich geworden. Ich habe seine Bücher früher auch gelesen – Erinnerungen an die Zukunft und Die Götter waren Astronauten zum Beispiel – und mal einen Vortrag von ihm besucht.«

»Wirklich?«, freute Finn-Henrik sich. »Das ist ja großartig! Däniken hat mir die Augen geöffnet.«

»Betreibst du eigene Forschungen«, fragte Weller, »oder erfindest du Geschichten? Erzähl mal.«

Sabrina und Ann Kathrin sahen sich an und nickten sich zu. Weller und Finn-Henrik hatten ein Gesprächsthema gefunden.

Weller machte sich keineswegs Gedanken darüber, dass sein Schwiegersohn in spe nicht vorhatte, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Im Gegenteil. Er fand es spannend, was Finn-Henrik zu erzählen hatte.

Sabrina wirkte erleichtert.

»Ich will nicht Science-Fiction-Autor werden«, sagte Finn-Henrik.

»Och«, wandte Weller ein, »warum nicht? Ich lese zwar lieber Romane, die im Hier und Jetzt spielen, aber …«

Sabrina mischte sich ein: »Ich habe ihm auch schon oft gesagt, schreib doch einen Roman, das ist nicht so anstrengend wie diese wissenschaftlichen Sachen. Und der kann ja auch ganz im Hier und Jetzt spielen. Finn geht nämlich davon aus, dass die Aliens unter uns sind.«

Finn-Henrik nickte: »Seit Jahrhunderten.«

Ann Kathrin wusste nicht ganz genau, ob das Ernst oder Spaß war. Sie versuchte, den Abend zu retten und alles zum Scherz zu machen: »Ja, wenn ich mir so manche Leute angucke, dann denke ich auch … die sind nicht wirklich von dieser Welt.«

Die Seehunde in Ann Kathrins Handy jaulten. Gleichzeitig sang Bettina Göschl aus Wellers Handy Piraten Ahoi!

Sabrinas Stimmung fiel sofort gegen null. Das kam ihr doch alles sehr bekannt vor. »Bitte nicht«, sagte sie noch leise, doch da hatten ihr Vater und Ann Kathrin ihre Handys bereits am Ohr. Sie standen beide auf und verließen den Tisch.

Weller ging ins Haus, Ann Kathrin in den Garten zur Fass-Sauna, um ungestört telefonieren zu können. Sie trafen sich bei Sabrina und Finn-Henrik wieder, als der gerade mit links Weißwein nachgoss und mit rechts Sabrinas Hand hielt.

Sie flüsterte: »Ich halt das nicht aus. Das ist immer so! Du glaubst nicht, wie oft ich das schon erlebt habe. Irgendein Verbrecher ist immer wichtiger als ich.«

»Ist doch nicht so schlimm. Deine Alten sind im Grunde ganz nett«, raunte er.

Weller und Ann Kathrin setzten sich erst gar nicht wieder. »Eine tote Frau im Muschelweg«, sagte Weller und Ann Kathrin fügte zerknirscht hinzu: »Ich war gerade da. Vermutlich in der falschen Wohnung. Zwei Touristen haben sie mir gezeigt.« Sie klammerte die Faust ums Handy und schlug dann mit der rechten Faust in ihre linke Hand. »Ich hätte, verdammt nochmal, nebenan nachgucken müssen, statt mich auf die beiden zu verlassen. Aber ich wollte endlich nach Hause.«

»Ach, jetzt sind wir schuld?«, keifte Sabrina.

»Das habe ich nicht gesagt!«, verteidigte Ann Kathrin sich. Sie stürmte quer durchs Haus und holte sich den Autoschlüssel.

Sie konnte das nicht wiedergutmachen. Jetzt gab es nur noch eins: Sie musste den Täter erwischen. So schnell wie möglich.

Sabrina hatte Tränen in den Augen. Enttäuscht kaute sie auf der Unterlippe herum. Es gab viele böse Dinge, die sie sagen wollte, aber für sich behielt, was es für sie nicht unbedingt besser machte.

»Ihr seid an gar nichts schuld«, sagte Weller. »Sie hatte sogar vergessen, dass ihr uns besuchen wolltet.« Er bat um Verständnis: »Es tut mir echt leid, aber wir müssen da jetzt hin!«

»Gibt’s denn keine anderen Polizisten in Norden?«, fragte Sabrina bissig.

»Schon. Aber wir sind die Mordkommission. Da kann ich schlecht sagen, ich habe mit meiner Tochter auf der Terrasse gesessen.«

Finn-Henrik versuchte, Weller zu helfen: »Ist echt nicht so schlimm. Wir räumen das hier ab und …« Ihm fiel nicht ein, was sie sonst noch hätten tun sollen.

Weller schlug vor: »Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber macht es euch doch gemütlich. Ihr könnt euch die Sauna anmachen und später, wenn wir zurückkommen, machen wir noch ein Feuerchen im Garten. Ich hole einen guten Rotwein raus, und wir …«

»Hau endlich ab, bevor ich einen Schreikrampf kriege!«, schimpfte Sabrina.

Hauptkommissar Rupert nutzte die Chance, dem Verhör durch seine Schwiegermutter zu entkommen. Noch bevor sie von Herrn von Oertzen schwärmen konnte, der natürlich eine viel bessere Partie für ihre Tochter Beate gewesen wäre als Rupert, rettete ihn der Mord in Norddeich.

Um das Geschwätz seiner Schwiegermutter überhaupt ertragen zu können, hatte er sich schon heimlich zwei Scotch genehmigt. Eigentlich fuhr Rupert nicht, wenn er Alkohol im Blut hatte, aber das hier war eine besondere Situation. Er wollte nicht warten, bis Jessi ihn mit dem Dienstwagen abholte. So lange ertrug er seine Schwiegermutter nicht mehr.

Er wohnte im Neubauviertel im Norden von Norden, praktisch keine zwei Kilometer vom Tatort entfernt.

Er nahm das Rad.

Der Nordwestwind pustete ihn nicht zum ersten Mal nüchtern. Eine frische Brise Nordseeluft war effektiver als Kaffee oder Aspirin, fand Rupert.

Er kam noch vor Ann Kathrin und Weller an.

Silke Humann floh aus dem Haus auf die Straße. Sie lief Rupert direkt vors Rad. Er bremste scharf.

Sie fasste ihn mit ihren blutigen Händen an. Er konnte sich kaum dagegen wehren.

Das Rad war zwischen ihnen.

Ihre irren Augen machten Rupert Angst. Er kannte diesen entrückten Blick von Mördern direkt nach der Tat. Sie wirkten dann wie Wesen aus einer anderen Welt. Einige lachten oder grunzten. Die hier machte erstickte Laute, als hätte sie vergessen, wie man richtig atmet und spricht.

Eine ihrer Gesichtshälften wurde von diffusem Mondlicht erhellt, die andere von einer Laterne. Blutspuren klebten in ihrem Gesicht und auf ihrer Kleidung.

Rupert hielt sie für die Täterin. Zumindest konnte er das nicht ausschließen.

Sie wollte sich an ihm festhalten und riss ihn dabei fast um.

Er ließ sein Fahrrad los, um ihr auszuweichen. Sie stürzte mit dem Rad auf die Fahrbahn, vor Ann Kathrins froschgrünen Twingo.

Weller sprang aus dem Auto und lief kommentarlos ins Haus. Ann Kathrin kümmerte sich um die Frau, Rupert um sein Fahrrad. Er stellte es an der Laterne ab.

Ann Kathrin saß am Straßenrand, Silke Humanns Kopf in ihrem Schoß. Sie kämmte mit ihren Fingern die verklebten Haare aus dem Gesicht der verängstigten Frau.

Ann Kathrin fragte: »Haben Sie uns angerufen?«

Silke Humann nickte mit weitaufgerissenen Augen.

»Haben Sie den Täter gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Rupert sah sich die Szene misstrauisch an. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte Ann Kathrin ihm die Beine weggehauen und er würde jetzt bäuchlings auf dem Boden liegen, die Hände in Handschellen. Aber für eine Frau hatte Ann Kathrin natürlich erst mal Verständnis, dachte Rupert.

Er zeigte auf Silke Humann und fragte Ann Kathrin: »Wer sagt dir, dass sie es nicht war? Guck sie dir an! Sie ist voller Blut. Sie kam aus dem Haus gerannt und …«

»Nur sehr selten rufen uns die Täter an und fliehen dann«, kommentierte Ann Kathrin, und Rupert hörte einen nörgeligen Ton heraus. Er fühlte sich kritisiert.

Mit einem Blick gab sie ihm zu verstehen, er solle Weller ins Haus folgen, doch Rupert zögerte noch. Deshalb forderte sie ihn auf: »Sichere Frank! Möglicherweise ist der Täter noch im Haus oder im Garten.«

Rupert veränderte ruckartig seine Körperhaltung, zog die Heckler & Koch und lief zur offenen Haustür.

»Ich bin’s, Rupert!«, rief er laut, um von Weller nicht für den Täter gehalten zu werden. In einer ähnlich nervösen Situation hatte ein Kollege gar nicht weit von hier, in Hilgenriedersiel, nahe der einzigen Naturbadestelle an der ostfriesischen Nordseeküste, auf einen anderen Kollegen gefeuert. Die ganze Sache war glimpflich ausgegangen, aber seitdem war Rupert vorsichtig.

Überall war es hell erleuchtet. Irgendjemand hatte in allen Räumen das Licht angeknipst. Rupert sah die verschmierten Blutspuren auf dem Boden im Flur. Sie führten ins Wohnzimmer.

Weller rief aus dem Schlafzimmer: »Mein Gott, was für eine Sauerei!«

Rupert hörte oben im Haus ein Geräusch. Entweder klappte ein Fenster zu, oder es war etwas umgefallen.

Er hatte das Gefühl, augenblicklich nüchtern zu sein. Sein ganzer Körper kribbelte. Energie schoss durch seine Adern. »Oben«, flüsterte er, und Weller antwortete, ohne sich zu Rupert umzudrehen: »Ich hab’s gehört.«

Es war eine Wendeltreppe. Rupert hasste diese Dinger. Je höher er stieg, desto dunkler wurde es. Diese Treppen konnten zu einer schrecklichen Falle werden. Auf einer Wendeltreppe war man schutzlos.

Im Mondlicht, das durch die Scheiben hereinfiel, sah Rupert Flecken auf der Treppe, die verdächtig nach frischem Blut aussahen.

Je höher Rupert kam, umso intensiver wurde ein Uringeruch, als würde er sich auf eine offene Kloake zubewegen.

Er blieb in der Mitte stehen. Weller war jetzt unter ihm und flüsterte in sein Handy: »Es hat eine schreckliche Übertötung stattgefunden.«

Dann fragte er Rupert: »Was ist? Willst du nicht weiter?«

Rupert schüttelte den Kopf: »Wenn da oben einer mit einem Baseballschläger steht, kann der mir die Birne weghauen, bevor ich auch nur …«

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Weller. »Sollen wir hier warten, bis richtige Polizisten kommen?«

Damit verletzte er Rupert. Der arbeitete sich jetzt todesmutig nach oben durch. Ausgerechnet dort war es dunkel.

Rupert hielt die Heckler & Koch mit beiden Händen und fand keinen Lichtschalter. Weller leuchtete mit einer Taschenlampe über den Boden.

Sie befanden sich in einem Jugendzimmer, mit Postern an den Wänden und vielen Buchregalen. Auf dem Nachttisch ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel: Sie sind längst gelandet. Ein ausklappbares Bett erinnerte an die achtziger Jahre. Auf dem Teppich waren rot die Abdrücke von Tierpfoten abgebildet.

Etwas huschte hinter einen Sessel. Rupert richtete die Waffe auf die Lehne und trat den Sessel weg. Ein wolliger weißer Zwergpudel mit gekräuselter Behaarung sah Rupert mit großen Augen an.

Weller befand sich noch auf der Treppe. Rupert rief ihm zu: »Na, das nenne ich mal einen tapferen Wachhund! Er hat sich vor Angst hier hoch verkrochen und alles vollgeschissen«, schimpfte Rupert, »deshalb stinkt es hier so.«

»Guck mal ins Schlafzimmer rein, dann hast du Verständnis für den Hund«, entgegnete Weller.

Es gab in der Polizeiinspektion einen Raum, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet war, mit Sesseln, Sofa und einem Spieleteppich in der Ecke. Hier wurden Gespräche mit Kindern geführt, mit misshandelten Frauen oder Zeuginnen, die durch die Kühle des Büros eher eingeschüchtert werden würden.

Marion Wolters hatte sich viel Mühe gegeben, das Zimmer behaglich zu gestalten. Back- und Kochbücher lagen auf dem Tisch. Die Plastikblumen gefielen Ann Kathrin nicht. Überhaupt zog sie sich bei solchen Gesprächen mit den Betroffenen lieber hinten ins Café ten Cate zurück oder in den Frühstücksraum des Smutje. So schuf sie eine zwanglose Gesprächsatmosphäre.

Doch Silke Humann brauchte die Sicherheit der Polizeiinspektion. Die Frau trauerte nicht nur um ihre Schwester, sondern hatte eindeutig auch Angst um ihr Leben.

Den Tatort hatten sie der Spurensicherung überlassen. Ann Kathrin befragte nun Silke Humann so behutsam wie möglich nach den Geschehnissen. Hinter einer Glasscheibe standen Weller und Rupert. Sie beobachteten Ann Kathrin. Die gesprochenen Worte wurden nach draußen übertragen, das Gespräch wurde aber nicht mit einer Kamera aufgezeichnet. Ann Kathrin befürchtete, Silke Humann könnte dadurch zu sehr eingeschüchtert werden.

Die Frau hatte sich inzwischen notdürftig gewaschen. In ihren Haaren klebte aber immer noch Blut, da sie sich mehrfach mit den Fingern durch die Frisur gefahren war.

»Sie haben den Täter nicht gesehen?«

Silke Humann schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht.«

»Hatte Ihre Schwester einen Freund oder Ehemann? Gibt es irgendjemanden, den Sie verdächtigen?«

»Nein, die hatte es nicht so mit Männern. Die hat ihre Bücher geliebt und ihren Pudel Pupsi.«

Ann Kathrin zögerte einen Moment und suchte nach der richtigen Formulierung. Dann versuchte sie es: »Die Art und Weise, wie Ihre Schwester getötet wurde, deutet nicht darauf hin, dass hier ein Einbrecher überrascht wurde, sondern da war sehr viel Wut im Spiel. Eine hohe Emotion. Daraus folgere ich, dass Ihre Schwester den Täter kannte. Möglicherweise kennen Sie ihn auch.«

Silke Humann verschränkte die Finger und streckte die Arme aus. Sie ließ ihre Knöchel knacken. Sie reckte sich, als sei sie gerade erst aufgestanden.

Ann Kathrin kannte diese Reaktion von erschütterten Menschen. Verschwieg Silke Humann ihr etwas?

Die junge Frau zog ihr Handy aus der Tasche und wischte ein paarmal übers Display. Sie hielt es Ann Kathrin hin. Auf dem Foto war ein erigierter Penis zu sehen.

»Vielleicht war es einer dieser kranken Typen, die uns die Dickpics schicken.«

Ann Kathrin staunte: »Bekommen Sie viele davon?«

Silke Humann lachte bitter: »O ja. Sie nicht?«

Ann Kathrin beantwortete die Frage nicht, sondern hakte nach: »Hat Ihre Schwester so etwas auch bekommen?«

»Na klar. Kriegen das nicht alle Frauen? Haben die sich ausgerechnet uns ausgeguckt, um uns damit zuzumüllen?«

Ann Kathrin gab ein Zeichen in Richtung Weller und Rupert. Silke Humann bekam das gar nicht mit. Die zwei verstanden sofort. Sie sollten das Handy der toten Valentina Humann überprüfen und die Nummern gegebenenfalls zurückverfolgen.

»Reagieren Sie auf solche Fotos?«, fragte Ann Kathrin.

»Ich bin doch nicht verrückt!«

»Kennen Sie die Männer oder …«

»Teils, teils. Arbeitskollegen, Nachbarn, flüchtige Bekannte, Internet-Chats … Bei einigen habe ich aber auch keine Ahnung, wie die an meine Whatsapp-Nummer gekommen sind.«

Weller stieß Rupert an. »Damit hätten wir eine Spur, Alter.«

Rupert wirkte merkwürdig nachdenklich auf Frank Weller.

»Was ist? Hast du Kummer? War doch nicht die erste schlimm zugerichtete Leiche, die du gesehen hast.«

Rupert beschwerte sich: »Nee. Ich finde nur, das ist ungerecht.«

»Ungerecht? Was meinst du damit?«

»Na ja, offensichtlich kriegen Frauen ständig solche Dickpics zugeschickt. Beate hat mir auch schon davon erzählt. Sie sagte, das greift um sich wie eine Seuche. Sie löscht das natürlich immer sofort.«

»Klar«, stöhnte Weller, »verglichen mit dem, was ihr Mann zu bieten hat, sehen diese Pimmel bestimmt lächerlich aus.« Er hoffte, damit das Thema wechseln zu können, doch Rupert war noch nicht fertig. Er kratzte sich und überlegte: »Weißt du, heute geht es so viel um Gleichberechtigung, und einige hier in der Inspektion gendern ja sogar schon. Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen …«

»Ja, und was willst du mir jetzt damit sagen?«, fragte Weller.

»Na ja, wieso kriegen wir Männer nicht auch so was?«

»Häh?«

Rupert bemerkte die junge Kommissarin Jessi Jaminski nicht, die hinter ihm fast lautlos den Raum betreten hatte. Vor der Scheibe war sie immer ganz ruhig, als hätte sie Angst, eine Bewegung könne sie verraten oder ihre Stimme könne im Raum gehört werden. Sie nannte diese Position hier den Lauschposten und hielt sich gern hier auf, weil sie glaubte, an diesem Ort viel lernen zu können.

Rupert war voll in seinem Element: »Ja, ich frage mich, warum machen Frauen das nicht? Oder bekommst du Tittenbilder von Kolleginnen geschickt? Ziehen die morgens zu Dienstbeginn mal kurz ihr T-Shirt hoch, machen ein Selfie und drücken auf An alle? Oder schicken es zumindest an ausgewählte Personen? So, hier lieber Frank, hab ich auch mal meine Muschi für dich fotografiert, morgens direkt nach der Dusche.«

Weller sah Jessi. Er räusperte sich und guckte auf seine Schuhe.

Rupert verstand das Signal nicht. Stattdessen holte er weit aus: »Also, wenn ich solche Fotos bekommen würde, ich würde die sammeln.« Er geriet ins Schwärmen. »Man könnte sich ein Album anlegen und …«

»Halt die Fresse!«, zischte Weller.

»Moin, Kollegen«, flüsterte Jessi. »Störe ich?«

Rupert zuckte zusammen und fragte sich, wie viel vom Gespräch sie mitbekommen hatte. »Nein«, sagte er, »du störst doch nie. Wir haben uns gerade über Fragen der Emanzipation unterhalten.«

Weller machte eine schneidende Bewegung. Er wollte dieses Gespräch auf keinen Fall fortsetzen. »Wir brauchen«, sagte er, »das Handy der Toten. Es muss sofort ausgelesen werden.«

Jessi fragte: »Brauchen wir dafür nicht eine richterliche …«

Rupert unterbrach sie sofort: »Für irgendwelchen Bürokratenscheiß haben wir jetzt keine Zeit. Es ist Gefahr im Verzug.«

So, wie sie nebeneinander die Treppe hinunterliefen, sah es aus, als hätte Jessi zwei Bodyguards bei sich. Rupert räusperte sich mehrfach. Er musste die Frage einfach loswerden: »Sag mal Jessi, bekommst du so was auch?«

»Was?«

»Na ja, solche intimen Fotos von Männern.«

Sie lachte. »Dickpics? Na klar. Gerade gestern habe ich noch eins …« Sie holte ihr Handy heraus und wollte es Rupert zeigen. Der winkte dankend ab.

Weller wusste gar nicht, wo er hingucken sollte. Er hätte das Thema jetzt lieber nicht angeschnitten, sondern sich einfach das Handy der Toten geholt.

»Warum«, fragte Rupert, »machen Männer so etwas?«

Jessi zuckte mit den Schultern und verzog den Mund: »Keine Ahnung. Es glaubt doch nicht ernsthaft einer, dass ich zurückrufe und sage: Mensch, du hast so einen tollen Schwanz, so etwas Schönes habe ich ja noch nie gesehen. Können wir uns treffen? Ich will unbedingt mit dir ins Bett! Im Grunde ist das die dämlichste Anmache, die ich mir vorstellen kann.«

»Nein«, sagte Weller, »das ist keine Anmache. Das ist sexuelle Belästigung. Möglicherweise kommt der Täter aus dieser Szene.«

Jessi blieb stehen, drehte sich um und sah den beiden nacheinander in die Augen. »Jungs«, sagte die deutlich jüngere Frau zu den Männern, »das glaube ich nicht. So was verschicken doch nicht wirklich die Draufgänger, sondern eher die kleinen Klemmies, die Schiss haben, eine Frau richtig anzusprechen.«

»Na«, grinste Rupert, »jetzt wissen wir wenigstens, wonach wir suchen: Unser Täter ist ein kleiner Klemmie!«

Das gefiel ihm.

Eine Handynummer tauchte sowohl bei Valentina als auch bei Silke Humann auf. Sie ließ sich leicht zurückverfolgen. Der Besitzer wohnte in Norden, nicht weit entfernt vom EDEKA-Markt Götz.

»Da können wir ja«, freute Rupert sich, »zu Fuß hingehen.«

»Genau das machen wir jetzt auch«, bestimmte Weller.

Rupert rieb sich die Hände. Büroarbeit war nichts für ihn, aber Leute aufzuspüren, solche Saftsäcke in die Zange zu nehmen und auszupressen, das war genau sein Ding. Er fühlte sich ein bisschen als Held dabei. Als Frauenbeschützer!

Ohne sich mit den anderen Kollegen abzusprechen, stiefelten die beiden los. Auf dem Marktplatz standen ein paar Fressbuden, die heute Food-Trucks heißen wollten, aber weiterhin Fressbuden genannt wurden. Rupert wollte eigentlich eine extrascharfe Currywurst ausprobieren, doch Weller zog ihn weiter. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

»Na ja, so ’ne kleine Stärkung vorher kann ja nicht schaden …«

Rupert mochte es, wenn viele Touristen in der Stadt waren. Diese gutgelaunten Menschen, die wild entschlossen waren, sich zu amüsieren. Sie hatten das ganze Jahr gearbeitet und wollten jetzt Spaß haben. Und so benahmen sie sich auch.

Da das Wetter mitspielte und der Nordwestwind eine sanfte Kühlung brachte, war die Stadt erfüllt von dieser Leichtigkeit, die Rupert so liebte. Überall roch es nach frisch zubereiteten Speisen, dazu die flatternden Röcke der Touristinnen und die rutschenden Spaghettiträger – um diese Zeit war Ostfriesland ein Paradies für Rupert.

Weller hatte Mühe, ihn mit sich vorwärtszuziehen.

»Weißt du«, sagte Rupert, »Männer und Frauen sind echt verschieden.«

»Nee, wie bist du denn zu der Erkenntnis gekommen?«

Rupert flüsterte: »Meine Beate, die ist doch Vegetarierin, und meistens kocht sie sogar vegan. Und neulich hat sie eine Currywurst für mich in die Pfanne gehauen.«

»Nee?!«

»Doch, echt! Und ich dachte – das muss Liebe sein!«

»Und?«

»War es aber nicht.«

»Sondern?«

»Vegan.«

»Wie – vegan?!«

»Na ja, sie hat mich richtig reingelegt!«

»Und? Hast du es nicht gemerkt?«

»Nein, verdammt! Die war ganz toll gewürzt, extrascharf, gleichzeitig fruchtig … Beate weiß halt, wie ich es gerne habe. Unter der Soße noch knusprig, nicht im Pappschälchen, sondern auf einem richtigen Teller angerichtet. Dazu selbstgebackenes Knoblauchbrot.«

»Ja, und wo ist jetzt das Problem, wenn’s geschmeckt hat?«, fragte Weller.

Rupert druckste herum. »Ja, weiß ich auch nicht … Ich mein ja nur … Frauen sind echt anders als Männer.«

Sie klingelten bei Meyerhoff. Die Tür wurde sofort aufgedrückt. Da der Fahrstuhl nicht funktionierte, nahmen sie die Treppe in den dritten Stock.

Weller hatte vor langer Zeit aufgehört zu rauchen, aber es kam ihm so vor, als hätte er sein volles Lungenvolumen noch nicht wieder zurück. Schon im zweiten Stock wurde er kurzatmig.

Dieter Meyerhoff erwartete sie oben im Flur vor seiner Wohnungstür. Er trug Badelatschen, eine ausgebeulte Jogginghose und ein T-Shirt, auf dem die Speisereste vom Vortag ihre Spuren hinterlassen hatten.

So, wie er sich vor der Tür aufbaute, hatte er keineswegs vor, die zwei hereinzulassen. Er gab hier ein bisschen den Wächter vor dem Tor.

Weller und Rupert erkannten das sofort und warfen sich entsprechende Blicke zu. Leute, die etwas zu verheimlichen hatten, machten der Polizei entweder gar nicht auf oder versuchten, sie vor ihrer Wohnungstür abzuwimmeln.

Weller zückte noch auf der Treppe seinen Ausweis und hielt ihn hoch: »Hauptkommissar Frank Weller, K1, Aurich.«

»Das ist die Mordkommission«, ergänzte Rupert, um dem Typen ein bisschen Angst einzujagen.

Der stand mit abwehrender Geste, aber mit Unschuldsmiene da. »Und was kann ich für Sie tun, meine Herren?«, fragte Dieter Meyerhoff herausgestellt höflich.

Da Weller immer noch mit der Atmung kämpfte, beantwortete Rupert die Frage, indem er selbst eine stellte: »Sie haben so schöne Penisfotos herumgeschickt. Ist das eigentlich Ihr eigener?«

Damit hatten weder Weller noch Dieter Meyerhoff gerechnet.

Weller sog Luft ein und konkretisierte: »Wollen Sie uns nicht hereinbitten, Herr Meyerhoff? Wir haben ein paar Fragen.«

Meyerhoff ging einen Meter zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und wurde gleich unangenehm: »Haben Sie einen Hausdurchsuchungsbefehl?«

»Das heißt inzwischen nicht mehr so«, erklärte Rupert, »aber wir …«

»… brauchen auch keinen«, ergänzte Weller. »Hier ist Gefahr im Verzug. Wir können Sie auch mitnehmen und im Präsidium befragen.«

Weller war im Ton nur geringfügig schärfer geworden, aber er erzielte damit bei Meyerhoff gleich eine Wirkung.

»Ja, ich habe nicht aufgeräumt. Ich habe nicht mit Besuch gerechnet.«

»Schon klar«, nickte Weller, »und Ihre Haushaltshilfe hat bestimmt gerade Urlaub.«

Rupert tippte auf seinem Handy herum.

Aus der Wohnung war lautes erotisches Stöhnen zu hören.

»Oh«, grinste Rupert, »entweder Ihre Freundin ist gerade ohne Ihre Mithilfe gekommen, oder Sie haben einen wirklich merkwürdigen Klingelton auf Ihrem Handy.«

»Wollen Sie nicht rangehen?«, fragte Weller und machte eine einladende Geste in die Wohnung.

Rupert steckte sein Handy wieder ein.

Die Energie wich aus Dieter Meyerhoff. Seine angespannte Körperhaltung sackte zusammen, er schien geradezu zu schrumpfen und gab den Weg frei. Sein aufgeblähter Brustkorb verflachte, stattdessen trat der Bauch hervor. Seine hochgezogenen Schultern hingen plötzlich.

Weller registrierte das mit Genugtuung. Es gab immer solche Punkte, wenn bei den Beschuldigten der Widerstand zusammenbrach. An ihrer Körperhaltung sah Weller es zuerst. Daran erkannte er auch, wann Deeskalationsversuche sinnlos geworden waren und die Auseinandersetzung gewalttätig wurde. Es kündigte sich immer einen Augenblick vorher an, wenn man verstand, das Gesicht und den Körper des anderen zu lesen.

Er hatte da viel von Ann Kathrin Klaasen gelernt. Nur selten wurde sie von einem Angriff überrascht. Meist erwartete sie ihn, und deswegen konnte sie so gut und hart kontern. Wer sie attackierte, zog meist den Kürzeren.

Der hier würde keine großen Schwierigkeiten machen, vermutete Weller. Er war ein Scheinriese, ein Gernegroß. Weller schätzte ihn als feigen Versager ein. Den würden sie schnell weichkochen. Im Verhör hielt der keine dreißig Minuten aus, dann würde er bereits heulen und von seiner schlimmen Kindheit erzählen, vermutete Weller.

Nachdem Rupert den Anruf beendet hatte, erstickte auch das Gestöhne in der Wohnung.

Rupert schob den Mann zur Seite und ging einfach rein. Meyerhoff glotzte blöd hinter Rupert her. Weller sagte: »Nach Ihnen, Herr Meyerhoff.«

Das Handy lag auf einer Sessellehne. Rupert nahm es an sich, ließ es in einer Plastiktüte verschwinden und grinste: »Das ist hiermit beschlagnahmt.«

Meyerhoff protestierte: »Ja, Sie können doch nicht so einfach mein Handy …«

»Ich glaube doch«, widersprach Weller. »Wir können nicht nur, wir müssen sogar.«

Die Räume sahen nicht so sehr nach Junggesellenwohnung aus, sondern mehr wie eine Ausstellung für Damenunterwäsche.

»Na«, kommentierte Weller, »dieser Hausbesuch ist ja mal wirklich erhellend! Ich nehme nicht an, dass Sie hier gerade die Dessous Ihrer diversen Freundinnen waschen.«

Dieter Meyerhoff ließ sich in den großen Sessel fallen, der den Raum dominierte. Auf der Lehne lag ein schwarzer Seidenslip. Er hob ihn hoch, führte ihn zu seiner Nase und verteidigte sich: »Herrjeh, ich rieche gern an Damenunterwäsche. Das ist doch, verdammt nochmal, nicht verboten. Wir leben in einem freien Land.«

»Früher«, sagte Weller, »haben Leute wie Sie einfach Unterwäsche von der Leine geklaut. Aber wer hängt heute noch seine Wäsche zum Trocknen im Garten auf? Ich frage mich, wie Sie da rankommen.«

Rupert triumphierte mit Kennerblick: »Außerdem ist das alles keine frischgewaschene Wäsche, sondern das Zeug ist getragen. Und einiges, wie sein T-Shirt, mehr als einen Tag lang.«

»Ja, wollen Sie mich jetzt deswegen verhaften?«, fragte Meyerhoff und bemühte sich zu lachen. Es hörte sich aber recht verkrampft an. »Einige Frauen verkaufen gebrauchte Unterwäsche. Man kann das sogar abonnieren.«

Er erhob sich schwerfällig aus dem Sessel, ging zu einem Sideboard, zog eine Schublade auf und nahm ein Album heraus. »Hier – Leslie Stahl. Ich habe bei ihr ein Abo. Einen Slip pro Woche. Fünfzig Euro, das geht ganz schön ins Geld. Dafür schickt sie aber auch noch Fotos und …«

Rupert lachte: »Die kauft sich so einen Schlüpfer für zwei Euro im Supermarkt und vertickt den dann, statt ihn zu waschen, getragen für fünfzig an Schwachköpfe wie den da?« Er zeigte auf Meyerhoff und schüttelte den Kopf: »Weller, wir machen irgendwas falsch. Diese Leslie hat ein unschlagbares Geschäftsmodell. Und ich wette, dafür musste die vorher nicht BWL studieren. Da ist die einfach selbst drauf gekommen.« Er tippte Weller auf die Brust: »Frauen sind eben doch ganz anders als Männer. Ich sag’s dir doch, Alter! Oder kennst du einen von uns, der schmutzige Unterwäsche an Frauen verkauft?«

»Da mangelt es wohl an Nachfrage«, antwortete Weller, ohne lange nachzudenken.

Er blätterte in dem Album. Er fand eine Carola Bornstedt aus Braunschweig, bei der Meyerhoff ebenfalls ein Abo hatte. Selbst die Überweisungsbelege hatte Meyerhoff eingeklebt, wie andere ihre Eintrittskarten von Konzerten ihrer Lieblingsbands.

»Hängen hier«, fragte Rupert und ließ es so nebensächlich wie möglich klingen, »auch Slips von Valentina und Silke Humann?«

Rupert taxierte den Verdächtigen genau, während er auf die Antwort wartete. Weller dagegen schielte nur nach unten. Er achtete vor allem auf Meyerhoffs Fußstellung. Manchmal, wenn ihnen eine kritische Frage gestellt wurde, die das Potenzial in sich hatte, einen Täter zu überführen, stellten sich die Beine des Verdächtigen bereits auf eine Flucht ein und verrieten so den Treffer.

»Ich kenne die Frauen nicht«, behauptete Dieter Meyerhoff.

»Es gibt so ein Märchen«, sagte Rupert, »Pinocchio. Da wächst der Figur die Nase. Die wird immer länger beim Lügen. Vorsicht, Weller, geh ihm lieber aus dem Weg. Seine Nase wird gleich deine Brust durchstoßen.«

»Ich kenne sie wirklich nicht«, beteuerte Meyerhoff.

Weller konfrontierte ihn hart und versuchte, ihn einzuschüchtern: »Und deswegen taucht Ihr Penis auch auf den Handys der Damen auf, ja?«

Um ein breites Lächeln bemüht, öffnete Meyerhoff seine Arme, als wolle er Weller an sich drücken und lachte: »Ach, das meinen Sie!!!«

»Ja, genau«, fuhr Rupert ihn an. »Das!«

Weller präzisierte: »Wieso kommen die Damen an diese Bilder, wenn Sie sie gar nicht kennen?«

»Falls es überhaupt Ihrer ist«, ergänzte Rupert kritisch, und in seiner Stimme lag die Vermutung, dass Meyerhoffs bestes Stück sich nicht ganz so groß und stolz aufreckte wie das auf dem verschickten Foto, sondern eher klein und runzlig war.

Meyerhoff machte eine Geste, als müsse er zu einer längeren Erklärung ausholen: »Sie haben gar keine Vorstellung, wie so was läuft, hm? Setzen Sie sich doch … Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Weller und Rupert antworteten im Gleichklang: »Nein!!!« Keiner von ihnen hatte Lust, sich in irgendeiner Form mit dem Typen zu verbrüdern oder auf etwas einzulassen, das die professionelle Gesprächsgrundlage in Frage stellen konnte.

»Also?«, fragte Weller und wippte mit dem Fuß einen nervösen Takt auf den Boden.

»Jetzt mal raus mit der Sprache«, forderte Rupert. »Wie lebt so ein Vorstadtcasanova wie du? Oder sollte ich geiles Miststück sagen?«

Weller warf Rupert einen Blick zu, der ihn daran hindern sollte, gleich auszuflippen.

Meyerhoff räusperte sich, trank kalten Kaffee aus einem angesabberten Becher und begann: »Ich setze mich gern dahin, wo viele Touristinnen sind. Haus des Gastes Norddeich. An die Wasserkante, heute das DECK genannt. Bei Riva, vor dem Ocean Wave – halt, irgendwo, wo es freies WLAN gibt. Da sitzen die Mädels, loggen sich ein und chatten mit ihren Freundinnen.«

Wellers Fuß wippte schneller. »Weiter, Märchenonkel. Zur Sache.«

»Ich schicke denen dann die Bilder und beobachte ihre Reaktion.« Er beugte sich vor, als wolle er die zwei Kommissare in ein Geheimnis einweihen. Fast komplizenhaft erzählte er: »Die eine wischt das ganz schnell weg und löscht das Foto sofort, die andere bittet den Kellner um die Rechnung, die meisten gucken sich aber um und suchen, weil ihnen schon klar ist, dass das Foto aus der Nähe gekommen ist.«

»Woher haben Sie denn die Namen und Telefonnummern der Frauen?«

Meyerhoff guckte Rupert an, als könne er kaum glauben, dass ein Kommissar so eine dumme Frage gestellt hatte. An Weller gewandt, sagte er: »Habt ihr den aus der Steinzeit?« Dann antwortete er Rupert: »Da gibt es verschiedene Apps für, die zeigen dir an, welche Handys in deiner Umgebung …«

»Geschenkt«, sagte Weller. »Weiter!«

Meyerhoff zuckte mit den Schultern: »Ja, nichts weiter! Ich habe Spaß an ihren Reaktionen.«

»Ruft auch mal eine zurück?«, fragte Rupert.

»Oder wendet sich eine an die Polizei?«, ergänzte Weller.

Meyerhoff winkte ab: »Dates kommen so nur selten zustande. Klar ruft manchmal eine zurück, tut ganz empört …«

»Tut ganz empört …«, äffte Weller ihn nach.

»Ich frage sie dann, was für Unterwäsche sie tragen und ob sie mir einen Slip verkaufen wollen.«

Rupert griff sich an den Kopf.

»Hat das schon mal geklappt?«, fragte Weller.

Er nickte. »Ja, ein-, zweimal.« Meyerhoff machte eine Geste, als würde er sich erinnern und jetzt seinen Freunden eine eigentlich geheime Geschichte erzählen: »Vor zwei, drei Wochen, am Haus des Gastes … Da ist eine sogar an meinen Tisch gekommen. Sie konnte gar nicht glauben, dass ich bereit war, für ihre Unterwäsche zu zahlen. Sie fragte mich, wie viel mir das denn wert sei. Ich sagte: Zwanzig. Das Doppelte, wenn Sie mir den Slip sofort geben. Und was glaubt ihr?« Er sah die zwei an, als würde er mit einer Antwort von ihnen rechnen, rieb sich über den Bauch und warf sich in die Brust: »Die ging direkt zur Toilette, kam Sekunden später wieder, und der Deal war perfekt.« Er zeigte auf einen nachtblauen Stofffetzen, der direkt über Rupert baumelte. »Der da. Ein Stringtanga. Da kann sie im Grunde auch gleich ohne gehen.«

Rupert zog den Kopf ein, als hätte er Angst, einen Schlag in den Nacken zu bekommen.

»Früher«, lachte Meyerhoff, »hat ein Schlüpfer die Arschbacken bedeckt. Heute ist es umgekehrt. Bei den modernen Dingern verschwindet er in der Ritze.«

Weller registrierte, welchen Spaß es Meyerhoff machte, darüber zu reden. Gefällt es ihm, im Mittelpunkt zu stehen, oder hat er tatsächlich die Hoffnung, uns auf seine Seite ziehen zu können, fragte Weller sich.

»Also manchmal«, fuhr Meyerhoff großspurig fort, »steigen die Frauen schon darauf ein … Aber darum geht es ja eigentlich nicht. Ich liebe diesen Moment, wenn die Frauen das Foto zum ersten Mal sehen und sich umgucken, wer es wohl gewesen sein könnte. Das erzählt so viel über sie.«

»Ach ja?«, entfuhr es Rupert.

»Na klar. Man sieht gleich ihre Wünsche und Träume. Zuerst gucken sie zu den schönen jungen Männern, unter deren T-Shirts sie ein Sixpack vermuten.«

»Ja«, grinste Rupert, »und wenn sie dann bei Ihnen landen, sind sie gleich ganz enttäuscht, was?«

»Sie haben also Bilder an Valentina und Silke Humann mehr zufällig geschickt, weil die dort im Café saßen oder wo auch immer?«

Meyerhoff gab den Harmlosen: »Ja, wenn Sie so wollen.«

»Und dann? Was ist dann passiert?«

Mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck, den er draufhatte, sagte Meyerhoff: »Nichts.«

Rupert sagte es so vorwurfsvoll wie möglich: »Nichts nennen Sie das? Valentina Humann liegt tot in ihrer Ferienwohnung.«

»Ermordet«, setzte Weller hinzu.

Meyerhoff hob seine Hände: »Damit habe ich nichts zu tun! Wirklich nicht! Ihr müsst mir glauben, Jungs.«

»Wir sind nicht Ihre Jungs«, wies Weller ihn zurecht. »Und als Vater von zwei Töchtern würde ich Ihnen am liebsten die Fresse polieren. Wenn ich mir vorstelle, dass Sie eins meiner Mädchen …«

»Ich habe zwar keine Kinder, aber ich bin sofort dabei«, strahlte Rupert voller Kampfeslust.

Meyerhoff wich vor den beiden zurück: »Sie werden doch hier jetzt nicht polizeiliche Gewalt …«

»Nee«, sagte Weller, »so sind wir nicht. Ich wollte nur mal meinen Gefühlen Ausdruck verleihen. Es ist ja nicht so, als hätten Kripobeamte keine.«

Einerseits wollte Silke Humann Ostfriesland so schnell wie möglich verlassen, andererseits hatte sie das Gefühl, so nah wie möglich bei ihrer toten Schwester sein zu müssen. Nie war sie ihr näher gewesen als jetzt. Wenn es so etwas wie eine Hassliebe gab, so existierte es zwischen ihnen beiden. Manchmal war Valentina ihr wie eine Feindin vorgekommen, dann wieder wie der wichtigste Mensch auf Erden.

Diesen blöden Pudel mit der kläffenden Stimme und dem ständigen Mundgeruch hatte sie immer gehasst. Jetzt begann sie mit dem Tier zu kuscheln, als sei die Seele ihrer Schwester auf Pupsi übergegangen. Schlimmer konnte es nicht kommen. Sein Mundgeruch hatte inzwischen etwas Tröstliches an sich.

Silke hatte sogar behauptet, allergisch gegen Hundehaare zu sein, um ihre Schwester von dem Trip abzubringen, aber die liebte eben Bücher, fiktive Geschichten, Schokolade und ihren Pudel Pupsi viel mehr als alles andere auf der Welt.

Valentina konnte so einfach glücklich sein. Ein bequemes Sofa, ein spannender Roman, ein gutes Stück Kuchen oder ein paar Kekse – irgendwas zum Knabbern brauchte sie immer, was sich aber nicht auf ihren Hüften niederschlug, obwohl sie Sport langweilig fand und höchstens Spaziergänge am Deich liebte. Wahrscheinlich verdankte sie ihre schlanke Linie Pupsi, denn der wollte ständig Gassi gehen.

Valentina hatte eine App auf ihrem Handy, die ihre Schritte zählte. Sie brachte es täglich auf fünfzehn- bis sechzehntausend.

Was nutzte ihr all die Gesundheit und Ausgeglichenheit jetzt?

Es kam ihr vor, als sei ihre Schwester nicht ermordet, sondern geschlachtet worden. Die Worte von Kommissarin Klaasen gingen ihr nicht aus dem Kopf: »Die Art und Weise, wie Ihre Schwester getötet wurde, deutet nicht darauf hin, dass hier ein Einbrecher überrascht wurde oder so, sondern da war sehr viel Wut im Spiel. Eine hohe Emotion. Daraus folgere ich, dass Ihre Schwester den Täter kannte. Möglicherweise kennen Sie ihn auch.«

Sie hatte schon recht. Der Mörder musste Valentina gekannt haben und sehr wütend auf sie gewesen sein.

Silke kannte eine Menge Typen, die wirklich sauer auf sie waren, und einige hatten wahrlich auch Grund dazu. Sie war in einer Beziehung sehr anspruchsvoll und nicht bereit, Kompromisse zu machen. Wenn es nicht die große Liebe war oder der Mann ihres Lebens, dann musste er eben gehen.

Am Anfang waren sie alle tolle Hechte, doch eine längere Beziehung machte aus vielen Helden nur noch Pantoffelhelden und aus Riesen Zwerge. Da war sie ganz kompromisslos. Wenn sie sich neu verliebte, dann trennte sie sich eben.

Vielen galt sie als Bitch, als männerfressendes Monster. Sie sah sich selbst überhaupt nicht so. Sie war halt nur anspruchsvoll und wollte das Beste für sich herausholen. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

Tief in sich drin bewegte sie einen Gedanken, den sie der Kripo gegenüber noch nicht auszusprechen wagte: War Valentina vielleicht gar nicht gemeint gewesen? Hatte die wütende Attacke ihr gegolten?

Doch sie beide waren so unterschiedlich. Keiner ihrer Ex-Lover würde sie mit ihrer Schwester verwechseln.

Trotzdem: Niemand hatte wirklich einen Grund, Valentina zu hassen, dachte sie. Aber sehr wohl mich …

War jemand, der wusste, dass sie hier wohnten, im Dunkeln eingedrungen? Hatte ihre Schwester an ihrer Stelle im Bett erstochen und war dann, als er seinen Irrtum bemerkte, völlig ausgerastet? Hatte die Wut dann noch einmal zusätzlich an ihr ausgelassen? Oder hatte sowieso alles im Dunkeln stattgefunden?

Da sie natürlich nicht mehr in der gemieteten Ferienwohnung bleiben konnte, hatte Marion Wolters von der ostfriesischen Kriminalpolizei ihr ein Zimmer im Smutje gemietet. Es trug den Namen ihrer Lieblingsinsel Norderney. Das Hotel mit Restaurant lag in der Norder Innenstadt, gar nicht weit von der Polizeiinspektion entfernt. Sie fühlte sich hier sicher, sofern man sich, nach dem, was geschehen war, überhaupt sicher fühlen konnte.

Sie lief eine Weile in der Innenstadt herum. Viele Menschen gaben ihr Sicherheit. In der Osterstraße, im Neuen Weg und in der Westerstraße und um den Marktplatz herum war so viel Gewusel, da war viel los. Was sollte ihr hier passieren? Gleichzeitig wuchs in ihr der Wunsch, allein zu sein, zu heulen, zu schreien.

Sie hatte ein paar Freundinnen per Whatsapp-Sprachnachricht über den Tod ihrer Schwester informiert. Jetzt kamen lange und vermutlich ehrlich gemeinte Angebote, zu telefonieren, und jede Freundin behauptete, für sie da zu sein.

Doch sie wollte nicht sprechen. Es war, als würde mit jedem Wort, das sie darüber verlor, der Tod ihrer Schwester erst wirklich manifest werden.

In Norddeich am Strand war es ihr zu voll. Sie lief in Richtung Greetsiel. Im Watt schrie sie ihren Kummer heraus. Sie brüllte den Meeresboden an, und es war, als würde der Wind ihr das Maul stopfen.

Ja, genau so empfand sie es. Der Wind fuhr in sie hinein.

»Hol mich!«, schrie sie. »Was willst du von meiner Schwester, du Arsch? Ich hab dich verletzt, sie doch nicht!«

Im Watt fühlte Pupsi sich wesentlich wohler als auf der Osterstraße, wo er ständig von anderen Hunden angekläfft wurde. Silke hatte den Pudel noch nie so schmutzig gesehen. In seinen weißen Löckchen pappte der Wattboden zusammen. Seine Ohren hingen schwer und schlapp herunter, mit dicken Matschklumpen daran. Wäre nicht alles so traurig gewesen, hätte Silke jetzt laut gelacht und ein paar Fotos von Pupsi auf Instagram eingestellt. So nahm sie ihn mit und versuchte, ihn abzuduschen.

In ihrer Vorstellung wurde Valentina immer mehr zum Engel. Silke bereute jeden Streit, den sie mit ihrer Schwester gehabt hatte. Nach dem Tod ihrer Eltern hatten sie sich noch mehr entzweit. Wie sehr hatten sie sich um den Verkauf dieser dämlichen Eigentumswohnung gestritten! Und wofür das Ganze?

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie jetzt ganz allein auf der Welt war, keine Verwandten mehr hatte. Vielleicht würde sie ihre Ansprüche Männern gegenüber bald herunterschrauben müssen, um überhaupt noch einen abzukriegen.

Sie ärgerte sich über diese Gedanken, doch sie waren da. Bohrend. Böse.

Und plötzlich war es wie eine Erleuchtung: Sie wusste, wer es getan hatte!

Wolf Eich, die Drecksau! War er nicht der Urgrund für all den Ärger zwischen ihr und Valentina gewesen? Damals, als sie noch Teenies waren und er hinterher zugab, sich nur an sie herangemacht zu haben, um in Valentinas Nähe zu kommen. Er war ihr Freund, und dann hatte sie ihn erwischt, wie er mit Valentina herumknutschte. Das hatte der Beziehung zu ihrer Schwester den entscheidenden Knacks gegeben. Im Grunde war es danach nie wieder richtig gut geworden.

War Wolf zurückgekommen, um sein zerstörerisches Treiben zu vollenden?

Sie ging zurück in ihr Hotelzimmer. Heute würde sie mehr Schritte schaffen als ihre Schwester täglich mit ihrem Pudel.

Sie beschloss, die Polizei anzurufen und dort alles zu erzählen. Sie tat es aus ihrem Zimmer im Smutje heraus. Kommissarin Ann Kathrin Klaasen hörte ihr geduldig zu und notierte alles.

Er traute seinen Augen kaum. Wurde sie wirklich nicht beschützt? Um die Lage problemlos checken zu können, hatte er sich draußen vor dem Smutje einen Tisch reservieren lassen. Er gab an, einen Tisch für vier zu brauchen, saß jetzt aber alleine da und teilte der Kellnerin mit, leider würden die drei anderen nicht kommen. Er durfte den Tisch trotzdem behalten.

Er bestellte sich einen vegetarischen Burger und eine große Flasche Mineralwasser.

Von hier aus konnte er die Tür des Hotels beobachten. Silke Humann war mit ihrem völlig verdreckten Hund hier angekommen und hatte seitdem das Hotel nicht mehr verlassen.

Das Smutje war vollständig belegt. Hier konnte er es nicht machen. Ein Hotel mit vielen Gästen war zu hellhörig.

Der Hund war sein Trumpf. Er würde sie wieder auf die Straße treiben. Und dann war sie dran.

Er beobachtete die Leute in seiner Umgebung ganz genau. Nein, hier draußen saß kein Polizist und erst recht niemand von ihren Leuten. Silke Humann hatte sich wie ein Fisch im Wasser in der Menschenmenge bewegt. Auf der Osterstraße und im Neuen Weg hatte er ihr zugesehen. Das war ganz typisch. Wo sich viele Menschen aufhielten, fühlte sie sich besonders wohl.

Er wusste viel über diese Wesen, aber er verstand sie immer noch nicht wirklich. Warum rückten jetzt nicht ihre Leute an? Warum machten sie nicht Jagd auf ihn? Warum schützten sie die zweite Schwester nicht? Waren ihre Reihen schon so ausgedünnt? Waren sie schon so geschwächt? Oder gab es Leute in der Führungsriege, denen es im Grunde ganz gut gefiel, wenn die unteren Ebenen ausgeknipst wurden? An die Leute ganz oben kam er ja noch nicht ran. Noch nicht!

Überhaupt hatten sie ein komisches Verhältnis zum Tod. Sie schützten sich nur selten, als wüssten sie genau, dass sie wiedergeboren wurden, in einer besseren Form. Stiegen sie vielleicht sogar auf, wenn er sie umbrachte? War das ihre Möglichkeit, befördert zu werden?

Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen. Sie hatten bestimmt eine eigene Sichtweise der Geschehnisse. Eine nicht menschliche.

Nach Einbruch der Dunkelheit war auf der Osterstraße und im Neuen Weg nicht mehr viel los. Dann würde er problemlos seine Arbeit verrichten können.

Es war der beste vegetarische Burger, den er seit langem gegessen hatte. Eigentlich liebte er Fleisch, nur ganz kurz angebraten, fast roh. Doch wenn er einen Job zu erledigen hatte wie den hier, dann wollte er frei sein von allen Giften, ernährte sich von Obst, Gemüse, Wasser und Tee. Später dann aß er gern wieder ein T-Bone-Steak, trank Bier und Cocktails mit Gin.

Er war bereit, der Bedienung heute ein fürstliches Trinkgeld zu geben und einen freundlichen Gruß in die Küche.

Weiter so, Leute!

Er musste nur aufpassen, nicht zu großzügig zu sein. Sie sollten sich nicht zu sehr an ihn erinnern. Am Ende wäre er für die Bedienung nicht mehr gewesen als der nette Gast, dem niemand einen Mord zutraute.

Er winkte der Kellnerin und ließ sich die Dessertkarte kommen.

Rupert sah fasziniert zu, wie Ann Kathrin Klaasen Dieter Meyerhoff im Verhör ins Schwitzen brachte. Dem Mann war praktisch schon der Schweiß ausgebrochen, als Ann Kathrin ihren Verhörgang einlegte: Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte. Bei jedem zweiten Schritt ein Blick auf den Verdächtigen.

Es war nicht der Verhörgang. Es war auch nicht ihre Stimme. Nicht einmal ihre Fragen. Nein, die Tatsache, dass eine Frau ihn mit seinen Taten konfrontierte, machte ihn fertig.

Ann Kathrin Klaasen galt als die Verhörspezialistin überhaupt. Sie gab Seminare und bildete junge Kripoleute aus.

Rupert wollte von ihr lernen. Deswegen stand er, lässig an die Wand gelehnt, im Raum. Er tat aber so, als sei er nur mitgekommen, weil er sich Sorgen machte, der bullige Mann könne auf Ann Kathrin losgehen. Er hatte vorgeschlagen, ihm Handschellen anzulegen oder Fußfesseln.