Outpost – Der Aufbruch - Dmitry Glukhovsky - E-Book

Outpost – Der Aufbruch E-Book

Dmitry Glukhovsky

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Beschreibung

Russland in der nahen Zukunft: Nach einem verheerenden Bürgerkrieg ist das riesige Land gespalten. Westlich der Wolga liegt das neue Zarenreich. Was im Osten noch übrig ist, weiß niemand. Der östlichste Außenposten des Reiches ist Jaroslawl, die Heimat des jungen Jegor. Ein Zug Soldaten, ausgeschickt vom Zaren, soll herausfinden, was im Außenposten passiert ist, nachdem zum ersten Mal seit Jahrzehnten jemand von Osten über die Wolga kam. Wenn Jegor seine Heimat retten will, muss er das um jeden Preis verhindern ...

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Das Buch

Russland in der nahen Zukunft: Nach einem Bürgerkrieg ist das Land gespalten. Westlich der Wolga liegt das neue Zarenreich. Was im Osten noch übrig ist, weiß niemand. Der östlichste Außenposten des Reiches ist Jaroslawl, die Heimat von Jegor und Michelle. Ein Zug Soldaten, ausgeschickt vom Zaren persönlich, soll herausfinden, was dort passiert ist, nachdem der Kontakt zum Posten abgerissen ist. Wenn Jegor und Michelle ihre Heimat retten wollen, müssen sie um jeden Preis verhindern, dass dieser Zug den Posten erreicht …

Der Autor

Dmitry Glukhovsky, 1979 in Moskau geboren, studierte in Jerusalem Internationale Beziehungen und arbeitete unter anderem für EuroNews und die Deutsche Welle. Mit seinem Debütroman METRO 2033 landete er einen weltweiten Bestseller. Glukhovsky, der als einer der bedeutendsten russischen Autoren der Gegenwart gilt, hat sich immer wieder kritisch über Wladimir Putin und die Regierung Russlands geäußert und den Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt. Einige Wochen nach Beginn des Krieges wurde er in Russland zur Fahndung ausgeschrieben und musste das Land verlassen.

Instagram: @glukhovsky, Twitter: @glukhovsky, Facebook: @glukhovskybooks

Von Dmitry Glukhovsky sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:

DASMETRO-2033-UNIVERSUM

Metro 2033

Metro 2034

Metro 2035

OUTPOST

Outpost – Der Posten

Outpost – Der Aufbruch

EINZELBÄNDE

Sumerki

Futu.re

Geschichten aus der Heimat

Mehr über Dmitry Glukhovsky und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

DMITRYGLUKHOVSKY

OUTPOST

DER AUFBRUCH

ROMAN

Aus dem Russischen vonJennie Seitz und Maria Rajer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

ПОСТ 2

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 04/2023

Redaktion: Kristof Kurz

Copyright © 2022 by Dmitry Glukhovsky

Copyright © 2022 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung eines Motivsvon KarenHBlack / Shutterstock.com

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

Agreement by www.nibbe-literary-agency.com

ISBN 978-3-641-28433-6V001

www.diezukunft.de

EINS

»Sie waren mit Unterjessaul Krigow befreundet, nicht wahr, Juri Jewgenjewitsch?«

Oberst Surganow sieht Lissizyn freundlich, fast freundschaftlich in die Augen, aber der bleibt wachsam. Außerdem: Wieso »waren«?

Wenn einem der erste Mann der Armeespionageabwehr eine Frage stellt, muss man wohlüberlegt, aber in erster Linie schnell antworten. Lissizyn fällt gerade noch ein, dass der Oberst die richtige Antwort bereits kennt und mit der Frage nur seine Aufrichtigkeit testen will.

»Jawohl, Herr Oberstleutnant! Nur, warum ›waren‹? Wir sind doch immer noch befreundet.«

Er bemüht sich, Surganows fuchsartigem Blick standzuhalten, seinen erhobenen Augenbrauen, den nach oben gezogenen Mundwinkeln. Versucht einen ähnlichen Gesichtsausdruck – kameradschaftlich und höflich. Als hätte er keine Ahnung von den Säuberungsaktionen innerhalb der Armee, die Surganow befiehlt.

»Immer noch befreundet. Soso.«

Der Georgssaal im Großen Kremlpalast war erfüllt von dem Knarzen von Leder und heiserem Geflüster, vom Geruch des Rasierwassers der Offiziere, das wie Riechsalz in der Nase brannte, und dem süßlichen Duft von Tabak.

Man erwartete den Zaren.

Nur die goldenen Georgskreuze hoben sich von dem weißen Marmor der Wände ab. Von der Decke leuchteten riesige bronzene Lüster mit Hunderten von Kerzen, das spiegelglatte Fischgrätenparkett glänzte unter den Stiefeln. Vor den Wänden standen rote samtbezogene Bänke, aber sitzen durfte man darauf natürlich nicht; genauso wenig, wie man durch den Saal spazieren durfte. Nur von einem Bein aufs andere treten war erlaubt.

Seit anderthalb Stunden warteten sie schon. Wenn es sein musste, würden sie noch ewig warten: Stellung halten konnten die Kosaken.

»Jedenfalls, stell dir vor, sie war noch Jungfrau!«, flüstert Sascha Krigow Juri Lissizyn begeistert ins Ohr. »Was das angeht, hab ich echt Schwein, ich weiß auch nicht, wieso!«

»Du bist eben ein Romantiker«, flüstert Lissizyn zurück. »Die spüren, dass man sich so einem anvertrauen kann. Und wenn sie’s dann kapiert haben, ist die Falle schon zu.«

Lissizyn ist nervös, hat in der Nacht kaum geschlafen. Aber Krigow tut, als sei nichts.

»Die sind scharf auf die Uniform. Besonders auf die Mütze«, verrät Krigow. »Die muss im Café nur auf dem Tisch liegen, und sie schmelzen förmlich dahin. Die kommen ganz von allein.«

»Du hast bloß Glück. Wenn ich das Ding da hinlege, kommt nur die Polizei und fragt nach meinem Urlaubsschein. Von Weibern keine Spur.«

»Weil du vom Dorf bist, Jura. Ein Landei. Du würdest ihnen wahrscheinlich ein paar Sonnenblumenkerne anbieten, oder?«

»Ja, na und?«

»Nix und. Ich werd dir heut Abend mal zeigen, wie das hier in Moskau läuft. Wir gehen zu den guten Angelplätzen und werfen ein paar frische Köder aus!«

Die Tür fliegt auf, und in den Saal kommt der Truppenälteste gestampft, ein graubärtiger Kosak.

»Riiiicht’ euch! Stillge-e-estanden!«

Das Geflüster verstummt auf einen Schlag. Lederriemen straffen sich, knarzen an sich aufrichtenden Schultern und anschwellenden Brustkörben.

Von Weitem hallt das Poltern von Absätzen auf poliertem Holz. Der Zar und seine Gefolgschaft sind im Anmarsch.

Die Gardisten an der Pforte nehmen Haltung an, holen tief Luft und reißen die Türflügel auf – so wie zuvor bereits im vergoldeten Alexandersaal und davor im Andreassaal mit dem Thron und den Wappen und davor im mit flauschigen Teppichen ausgelegten Saal der Kavalleriegarde.

»Seine Majestät, Seine kaiserliche Hoheit, der Imperator und Alleinherrscher über Moskau Arkadij Michailowitsch!«

Lissizyn stockt der Atem. Krigow hält die Luft an. Auch die anderen achtundvierzig Hauptmänner, Jessaule und Unterjessaule, die man für diese Zeremonie aus dem ganzen Heer, dem ganzen Land ausgewählt hat, wagen nicht zu atmen.

Jeder von ihnen wünscht sich nichts sehnlicher, als nur einen Millimeter aus der Reihe auszuscheren und einen Blick auf Seine Majestät zu erhaschen, aber niemand wagt es.

Da ist er also.

Nicht besonders groß, gebeugt, unerwartet jung. Die Porträts in den Paradehallen lassen ihn älter und gesetzter wirken, aufrechter und mit mehr Haltung, aber dafür sind Porträts ja da.

Hinter ihm folgen die Adjutanten, die Ordonnanzoffiziere, zwei Generäle – Sterligow und der einarmige Burja – und schließlich der dickbäuchige Kommandeur Polujarow, der Ataman des Moskauer Heeres. Medaillen klirren, Sporen klacken, Säbel schlagen aneinander.

Sie bleiben stehen.

Man muss einfach hingucken. Der Truppenälteste hatte ihnen noch befohlen, nicht zu glotzen, aber heimlich, als würden sie auf die eigene Nasenspitze schielen, schauen sie alle hin.

Ja, er ist klein und bucklig. Nicht kahl, aber mit schütterem Haar, trotz seines jungen Alters. Und trotzdem weiß man vom ersten Augenblick an, warum ihm jeder ohne Widerrede gehorcht. Schon von seinem ersten Satz – leise, aber deutlich gesprochen – bekommt man Gänsehaut.

»Seid gegrüßt, Soldaten!«

»Seid gegrüßt, Eure Majestät!«, donnert es wie aus einer Kehle.

Er tritt einen Schritt zurück, um die ganze Formation in Augenschein zu nehmen. Seine Uniform ist die eines einfachen Feldoberst, an der Seite ein Halfter und abgenutzte Stiefel, die die besten Jahre schon hinter sich haben.

Lissizyn spürt, wie er schwitzt; nicht einmal in den Schützengräben unter dem Beschuss der Grad-Raketenwerfer hatte er so geschwitzt, nicht einmal bei den Säuberungen in den Bergaulen.

»Ich habe eurem Ataman Wladimir Witaljewitsch aufgetragen, die Besten unter euch für den heutigen Tag auszuwählen«, beginnt der Zar. »Die, die sich im Kampf hervorgetan haben. Die sich selbst nicht geschont haben, um einen Kameraden zu retten. Die sich freiwillig an die Front gemeldet haben. Die es selbst im Lazarett noch in den Kampf gedrängt hat. Ich sagte: Wladimir Witaljewitsch, gib mir eine halbe Hundertschaft solcher Kämpfer, und ich werde mit ihnen zusammen die Welt umkrempeln. Und nun seid ihr hier. Einer tapferer als der andere.«

Lissizyn hört sein Herz pochen.

»Unser Vaterland hat dunkle, wirre Zeiten hinter sich. Eroberungen, die unsere großen Vorfahren über Jahrtausende gemacht haben, hat der Feind über Nacht zunichtegemacht. Weder ihr noch ich könnt etwas dafür. Aber mein Vater, Gott hab ihn selig, hat diesen räuberischen Feldzügen einen Riegel vorgeschoben, und nun fällt mir die Aufgabe zu, zurückzuholen, was uns gestohlen wurde. Mir – mit euch an meiner Seite, wenn ihr mir nur treu dienen wollt. Sagt, wollt ihr das?«

»Jawohl, Eure Exzellenz!«, schallt es ergriffen zurück.

»Die Kosaken haben unser Imperium aufgebaut. Ohne die Kosaken hätte Russland kein Sibirien, kein Kamtschatka, kein Tschukotka, und auch der Kaukasus wäre nicht unser. Ohne Jermak, ohne Pjotr Beketow, ohne Semjon Deschnjow gäbe es keine russische Geschichte. Und jetzt, da aus Moskowien wieder ein ganzes Russland auferstehen soll, wie könnten wir da ohne die Kosaken auskommen! Richtig?«

»Völlig richtig!«

»Das möchte ich meinen! Eine halbe Hundertschaft seid ihr, nicht einer mehr, nicht einer weniger. Ich will offen mit euch sein – ich beobachte euch. Eure Zeit ist gekommen. Ihr sollt wissen: Der Zar und das Vaterland vergessen niemanden, der ihnen treu und ehrlich dient. Aber viel wichtiger noch – auch das Volk wird euch nicht vergessen!«

Er wendet sich zu einem Bediensteten, der ein goldgefasstes Kästchen aus rotem Samt in den Händen hält. »Folge mir.«

Der Zar geht zum Kopf der Kolonne. Er holt ein goldenes Sankt-Georgs-Kreuz aus dem Kästchen hervor und steckt es eigenhändig dem Ersten in der Reihe, dem groß gewachsenen Jessaul Morosow, ans Revers. Schüttelt dessen Hand. Erkundigt sich, wie es im Dienst so läuft. Morosow nickt eifrig, stumm vor Glück.

So schreitet der Zar von einem mit vorgerecktem Kinn dastehenden Kosaken zum nächsten. Ein Ball aus statischer Ladung umgibt ihn, rollt voraus und elektrisiert jeden, in dessen Nähe er kommt, sodass sich die Nackenhärchen der Kosaken aufrichten.

Dann ist Lissizyn an der Reihe.

Der Imperator reicht ihm bis zum Kinn, seine Nase sieht aus, als wäre sie schon mal gebrochen gewesen, aus den Ohren sprießen Haare, und er verströmt den Geruch von gutem Importtabak und einem Hauch Cognac. Diese allzu menschlichen Details nimmt Lissizyn leicht verwundert wahr: Seltsam, dass ein Gottgesandter überhaupt solche Eigenschaften haben kann, Merkmale, die auch in einer Polizeiakte stehen könnten. Lissizyns Gedächtnis speichert sie ab, und gleichzeitig versucht er sie zu vergessen. Seinen Enkelkindern wird er von anderen Dingen erzählen. Von dem überwältigenden Glücksgefühl und dem mit nichts zu vergleichenden Stolz, dass er in diesem Moment an diesem Ort ist.

»Wie läuft es im Dienst?«, will der Monarch wissen, während er die Medaillennadel durch Lissizyns Revers sticht.

»Stets zu Diensten!«, kläfft Juri.

Der Imperator klopft ihm väterlich auf die Schulter und geht weiter zu Krigow. Lissizyn versucht, sein wild schlagendes Herz zu beruhigen, und bedauert, dass der Augenblick so kurz gewesen ist. Seine kaiserliche Majestät fragt, wie es im Dienst läuft, und ich Holzkopf …

»Keine Klagen?«, erkundigt sich der Zar bei Krigow. »Alles zur besten Zufriedenheit?«

Lissizyn kann nicht aufhören, ihn aus dem Augenwinkel zu beobachten.

»Möchten Euer Gnaden eine ehrliche Antwort?«, hört er plötzlich Krigow sagen.

Juri zuckt zusammen. Was tust du da, Saschka, du Vollidiot? Wie kannst du es wagen, dem Zaren …

»Dem Imperator soll man immer ehrlich antworten«, lächelt der Imperator.

»Es wurde ein Unrecht begangen.«

Der Herrscher blickt zu ihm auf. »So?«

»An meiner Stelle sollte hier ein anderer stehen.«

»Und wer?«

Ataman Polujarow und der einarmige General Burja spitzen so neugierig die Ohren, dass sie beinahe vornüberfallen.

»Wasgen Balassanjan. Wir haben zusammen gedient. Wurden in derselben Schlacht verwundet. In Dagestan. Er hat mich vor den feindlichen Kugeln gerettet.«

Lissizyn hört sein Blut in den Ohren pulsieren.

»Und was ist mit diesem Wasgen?«, der Imperator sieht Krigow ernst an. »Ist er gefallen?«

»Er wurde ausgemustert.«

»Aus welchem Grund denn, mein Freund?«

Lissizyn hält es nicht mehr aus und macht eine halbe Drehung zu Krigow und zum Imperator. Warum erzählt er das alles? Warum dem Zaren? Hat er sie nicht mehr alle?

»Er wurde im letzten Moment ausgesiebt. Als Armenier.«

»Warum denn das?«

»Um das Bild nicht zu stören. Das slawische. Bei der feierlichen Auszeichnung. Ich würde, wenn Euer Ehren es gestatten, mein Kreuz gerne ihm überlassen.«

Der alte Polujarow hat alles gehört. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, er wischt sich mit der Faust über den Mund.

»Und wer hat das entschieden?«, fragt der Zar.

»Das weiß ich nicht.«

Polujarow, der Ataman des Moskauer Heeres, fixiert Krigow mit einem Blick, als wollte er im nächsten Moment den Säbel ziehen. Krigow bemerkt es nicht, aber Lissizyn entgeht nichts.

»Wie – du weißt es nicht?«

»Ich kann es nicht wissen, Eure Durchlaucht.«

Der Monarch kneift die Augen zusammen, betrachtet Krigow forschend, seine offenen, ehrlichen grauen Augen, seinen weizengelben Bart und die farblosen Brauen, studiert die Linie seines Mundes und wie er atmet. Und dann bemerkt er den Blick, mit dem Krigow versehentlich den Ataman streift. Der Zar dreht sich sofort um – und sieht, wie Polujarow den Kopf senkt.

»Sind hier noch andere anwesend, die mit diesem Balassanjan gedient haben?«, will der Imperator wissen. »Hat jemand eine Ahnung, worum es hier geht?«

Polujarow tritt vor, räuspert sich. »Erlauben Sie, Eure Hoheit, dass ich …«

»Einen Moment, Wladimir Witaljewitsch, Moment noch. Na? Kann hier jemand seine Worte bestätigen?«

Krigow starrt geradeaus, Lissizyn starrt geradeaus.

Er hat dich nicht darum gebeten, du Idiot! – schreit Lissizyn Krigow in Gedanken an. Was zum Teufel hast du von dieser Gerechtigkeit? Der Zar wird vielleicht nur kurz nicken und die Sache gleich wieder vergessen, weil er genug andere Zarendinge zu tun hat, aber Polujarow – nein, der wird dir das nicht verzeihen, weder dir noch Balassanjan wird er das durchgehen lassen. Dann seid ihr beide dran.

»Wenn wir Armenier in die Reihen der Kosaken aufnehmen, wenn wir von ihnen verlangen, ihr Blut für unser Vaterland zu vergießen – und seit wann ist es wichtig, ob einer Armenier ist oder Tatar ist oder Jude –, dann heißt das, dass sie uns in allem ebenbürtig sind. Nicht der ist ein Kosak, der von einer Kosakenmutter geboren wurde, sondern der, der seine Uniform nicht mit Schande befleckt. Nun sagst du, dass einer von deinen Kommandeuren das anders sieht? Ein schwerwiegender Vorwurf ist das, die Gleichheit der Kosaken, die Bruderschaft in den Dreck zu ziehen. Meinen Sie nicht auch, Wladimir Witaljewitsch?«

»Dann soll es noch jemand bezeugen, Eure Exzellenz … Soll sich noch so ein gemeiner Hundskerl finden, der diesen Vorwurf zu erheben wagt!«, ereifert sich Ataman Polujarow.

Krigow schielt mit einem Auge zu Lissizyn herüber. Sie wissen beide, warum Balassanjan, der mit ihnen zusammen in die Hauptstadt gekommen war, um das Georgskreuz in Empfang zu nehmen, heute Morgen stattdessen in die Kneipe ist, um seinen Kummer zu ertränken.

Weil Polujarow in der Liste der Auszuzeichnenden einen Platz für seinen Neffen gebraucht hat. Vielleicht ist es auch gar nicht sein Neffe – über den jungen Unterjessaul kursieren diverse Gerüchte, genau wie über Polujarows Vorlieben. Angeblich lässt der alte Schwerenöter nichts anbrennen.

Lissizyns Mund fühlt sich plötzlich sandig an, seine Zunge klebt am Gaumen.

Polujarow hat schon seit der Restauration das Kommando über die Moskauer Kosaken, er ist ein Urgestein, undenkbar, an ihm zu zweifeln. Seine Leute kann er mit einem simplen Befehl in den Tod schicken.

»Gut. Sie kümmern sich also darum, Wladimir Witaljewitsch?«

Und ob er sich darum kümmern wird.

Gleich morgen wird er Krigow zurück in den Kaukasus schicken, aufs Schlachtfeld, an die vorderste Front, und ein paar Tage später wird dieser dann mit seinem dritten Verdienstkreuz ausgezeichnet – diesmal posthum.

Ach Saschka, Saschka. Du armer Irrer.

Lissizyn starrt die Spitzen seiner frisch polierten glänzenden Stiefel an.

Wie viel freudige Aufregung hatte bei den Vorbereitungen geherrscht. Ein großer Tag! Klar, als man Balassanjan heute Morgen gesagt hat, dass er nicht mitdarf, hat er die Tür zugeknallt und herumgebrüllt, aber das liegt nun mal an seinem südlichen Temperament … Er hätte Dampf abgelassen und sich schon wieder eingekriegt.

Aber jetzt würde es auch ihm an die Gurgel gehen.

Krigow erträgt Juras Verrat standhaft. Er ruft ihn nicht zu Hilfe, stößt ihn nicht einmal mit dem Ellbogen an. Er will ihn nicht mit in den Abgrund ziehen. Ein guter Kerl bist du, Krigow. Und ein guter Kamerad.

Verzeih, und leb wohl.

Der Imperator ist schon zum nächsten geschritten, irgendeinem Haudegen aus einem anderen Regiment.

»Euer Gnaden …« Lissizyn hört plötzlich seine eigene Stimme. Aber sie klingt fremd – heiser und krächzend. Die Worte kommen nur widerwillig aus der ausgetrockneten Kehle, seine Zunge ist schwer.

Der Imperator scheint nicht zu hören, dafür kapiert Polujarow sofort. Er geht einen Schritt auf Lissizyn zu, gibt ihm zu verstehen, dass er ihn ohne mit der Wimper zu zucken vernichten wird.

»Euer Gnaden!« Jetzt klingt seine, Lissizyns Stimme noch fester und voller.

Der Imperator dreht sich um. »Ja?«

»Hauptmann Lissizyn!«, stößt Jura hervor. »Ich bestätige alles, was Hauptmann Krigow über Balassanjan gesagt hat. Die Auszeichnung wurde ihm von der Kommandantur im letzten Moment genau mit der Begründung, die Hauptmann Krigow vorgetragen hat, verweigert. Ich war dabei.«

»Wer von der Kommandantur war es?«, fragt der Monarch.

Lissizyn schweigt. Er weiß: Das wird man ihm nicht verzeihen. Einem Kameraden aus der Klemme zu helfen, ist eine Sache, aber mit dem Finger auf den Schuldigen zu zeigen, eine ganz andere. Der Imperator blickt ihn schmunzelnd an, er ist offenbar schon von allein darauf gekommen, wen die Offiziere decken. Lissizyns Herz hämmert wie wild. Sein Mut ist verflogen, er wurde verdrängt von einer bösen Vorahnung und der Gewissheit, dass sie soeben ihr eigenes Schicksal besiegelt haben.

Polujarow räuspert sich. »Ich, Euer Gnaden. Ich bin bereit, persönlich Rede und Antwort zu stehen.«

»Das werden Sie wohl müssen. Weil wir unseren Offizieren und Soldaten, Wladimir Witaljewitsch, so etwas ganz sicher nicht beibringen. Weil unser großes Russland ein Land für alle Völker, die darin lebten und wieder leben wollen, war und wieder sein wird. Ein gemeinsames Haus, eine gemeinsame Sache – anders werden wir diesen Scherbenhaufen nie wieder kitten können. Ich rede mir den Mund fusselig, Wladimir Witaljewitsch, verspreche den Aufständischen Absolution, wenn sie Reue zeigen und zurückkommen, und dann stellt sich heraus, dass hier solche Dinge passieren … sozusagen direkt vor meiner Nase.«

»Eure Hoheit … Erlauben Sie, dass wir das unter vier Augen …« Ataman Polujarow ist dunkelrot angelaufen, er stottert.

»Wladimir Witaljewitsch, ich habe Sie um ein halbes Hundert Kämpfer gebeten, mit denen man die Welt umkrempeln kann. Ich habe Ihnen vertraut. Und jetzt stellt sich heraus, dass das nur heiße Luft war. Tun Sie mir den Gefallen und geben Sie Ihren Säbel ab, meinetwegen an Burja.«

»Euer Gnaden … Arkadij Michailowitsch …«

»Ruhe!«

Der Imperator wendet sich Burja zu, dem einarmigen General. »Alexander Stepanowitsch, Sie übernehmen vorübergehend das Kommando. Dann sehen wir weiter.«

General Burja – schmal und sehnig – blinzelt, schreitet zackig auf Polujarow zu und streckt seine eine Hand nach dem Säbel aus. »Darf ich bitten, Wladimir Witaljewitsch?«

Und das alles direkt vor Lissizyns, vor Krigows, vor den Augen der gesamten halben Hundertschaft, in Grabesstille, zwischen dem weißen Marmor und dem blassen Gold des Georgssaals. Die Kosaken blicken starr geradeaus, niemand wagt, Polujarow anzusehen.

Der zieht ungeschickt die Säbelkoppel über seine fleischige Flanke, über die riesigen Schulterklappen, verheddert sich darin, versucht verzweifelt, den Säbel von der Koppel abzuschnallen – und das alles unter dem Schweigen der Formation; auch Polujarow schweigt. Als er endlich fertig ist, nimmt Burja den leidigen Säbel entgegen, und die Soldaten halten die Luft an.

»Das Kosakentum ist eine Bruderschaft, die fast fünfhundert Jahre alt ist«, verkündet Burja. »Nicht sein Blut macht den Kosaken zum Kosaken, sondern seine Tapferkeit und seine Treue zum Vaterland, seine Ergebenheit der militärischen Tradition gegenüber. Wir werden unser Vaterland nicht auferstehen lassen können, wenn wir unsere Traditionen nicht ehren! Wir werden nicht aus der Asche aufsteigen, wenn wir unsere Vorfahren verraten. Wir werden uns nicht von den Knien erheben, wenn wir unsere Geschichte nicht kennen! Diese Uniform, die man euch auf den Leib geschneidert hat, in der ihr gerade steckt, diese Uniform haben bereits eure Urgroßväter getragen. Dies ist nicht die armselige Tarnuniform jener Armee, die Russland nicht zu beschützen vermochte, und auch nicht der grüne Kittel der Gottlosen. Sondern jene Uniform, auf deren Schulterklappen geschrieben steht: Ehre und Gewissen, Tapferkeit und Treue! Ehre, Wladimir Witaljewitsch, und Gewissen. Abtreten.«

Der gedemütigte Ataman macht auf dem Absatz kehrt, um aus dem Saal zu marschieren, seine rechte Hand will sich auf den Säbelgriff stützen, aber sie greift ins Leere. In der Tür stolpert der Ärmste über den Teppichläufer. Die Formation schweigt.

General Burja beachtet weder Krigow noch Lissizyn.

Der Imperator nickt dem Bediensteten zu, öffnet das Kästchen und fährt fort mit der Zeremonie.

»Wie läuft es im Dienst?«

Am selben Abend gehen Lissizyn, Krigow und Balassanjan vom ehemaligen Hotel Peking aus, wo sich jetzt der Stab des Kosakenheeres befindet, über den Ring zu den Patriarchenteichen.

Moskau ist gewaltig. So riesig, als wäre die Stadt nicht von Menschen erbaut, sondern von vorzeitlichen Zyklopen für ihresgleichen: Die Straßen zu breit für ihre winzigen Bewohner, die Häuser zu hoch, zu prachtvoll für das alltägliche Leben – da ist Granit, da ist Marmor, da ist Gold. Wenn man durch diese Straßen marschiert, schwillt die Brust ganz von allein vor Stolz, dass man ein winziger Teil davon ist, ein Bürger Moskaus. Dass man zu dieser uralten Spezies gehört, dieser Macht, die das alles aufgebaut hat! Man muss nur den Gartenring entlanglaufen, um es zu spüren: Wir sind nicht irgendwer, kein herkunftsloser Abschaum, wir stehen auf den Schultern von Titanen, und sie beobachten uns aus dem Schatten der Vergangenheit – liebevoll und fordernd zugleich.

Der Abend verströmt noch sanfte Juniwärme, nicht die schwüle Hitze des Juli. Ein gemächlicher Wind schiebt den Flaum der jungen Pappeln, die vor Kurzem erst anstelle der verkohlten Baumstümpfe gepflanzt wurden, über die Gehwege. Die Häuser riechen nach Medizin, nach frischer Farbe, das Glockenläuten der unzähligen Moskauer Kirchen vermischt sich mit den Stimmen in den Tanzcafés und dem Gelächter, das so leicht wie der Pappelflaum aus den sperrangelweit geöffneten Fenstern flattert.

Bei den Patriarchenteichen brennen die Laternen, an den Straßenkreuzungen patrouillieren Wachen, die böse Mienen aufgesetzt haben, inzwischen aber, da sie es nur mit unbedeutenden Zwischenfällen und den Fragen der Passanten zu tun haben, ziemlich verweichlicht sind. Junge Frauen in luftigen Kleidchen rauchen in kleinen Gruppen vor den Eingangstüren der Restaurants, tuscheln über ihre Kavaliere und werfen den vorbeilaufenden Männern prüfende Blicke zu. Die Kavaliere, allesamt Zivilisten im Anzug, fläzen, schon etwas benommen von der Hitze des Abends und dem perlenden Schaumwein, um die Tischchen. Die drei uniformierten Kosaken mustern sie voller Ironie und unverhohlener Überlegenheit. Doch auch die Kosaken fühlen sich unwohl, abgesehen natürlich von Krigow, der in Moskau zu Hause ist.

Krigows Vater ist Chirurg, seine Mutter arbeitet in einem Archiv; ihre Wohnung, in der Lissizyn kurz vorher mit ihnen auf die Auszeichnung angestoßen hat, liegt direkt am Gartenring, aber auf der Innenseite, im Silbernen Ring der Innenstadt – und sie gehört ihnen ganz allein; auf ihren Sohn sind sie bis zur Vergötterung stolz. In Derbent war Krigow der »kleine Pascha«, der verwöhnte Hauptstadtbengel, deshalb hat er sich immer mitten ins Gefecht gestürzt: um allen zu beweisen, dass er den Rostowern in nichts nachstand. Aber hier, in Moskau, fühlt er sich wie ein Fisch im Wasser.

Doch Lissizyn vermögen weder die maßgeschneiderte Uniform noch sein erstes Georgskreuz, das ihm der Imperator selbst angesteckt hat, aufzumuntern – und auch nicht die hundert Gramm Wodka, die sie noch im Stab heruntergekippt haben, um sich für das abendliche Moskau zu rüsten. Für ihn fängt, genau wie für Balassanjan, diesseits des Silbernen Gürtels ein Leben an, das so atemberaubend und dermaßen anders als alles ist, was er kennt, dass es ihm wie ein Traum vorkommt.

Die Realität war dort, bei Derbent, in den Gefechten gegen die schwarzbärtigen Abreken, bei den Säuberungen ihrer Felsendörfer, den Patrouillengängen in den zerbombten Befestigungsanlagen, die jeden Moment einzustürzen drohten: Dort hat das Herz im Adrenalinrausch wild gehämmert und die Welt in grellen Farben geleuchtet – selbst der graue Beton, die schwarzen Berge und der milchige Nebel. Aber das hier … ist wie ein Film über die alte Vorkriegswelt, ein Paralleluniversum, wie er es auf seinem alten iPad mit verkratztem, gesprungenem Bildschirm sieht. Er will daran glauben, aber es geht nicht.

Und es gibt noch einen Grund, der ihn davon abhält, sich an diesem Abend einfach fallen zu lassen: Der Tag lässt ihn nicht los.

Krigow lacht, klopft pausenlos obszöne Sprüche, Balassanjan spielt leicht angesäuert mit, und Lissizyn macht gute Miene zum bösen Spiel. Aber sein Herz ist schwer. Jura denkt an das, was Krigow nicht gesehen hat: den Blick des ehemaligen Atamans Polujarow, als der Imperator ihm befohlen hat, seinen Säbel abzugeben.

Polujarow ist berüchtigt für seinen nachtragenden Charakter.

»Es gibt Schlangen, denen schlägt man den Kopf ab, und sie beißen trotzdem noch zu und vergiften dich«, hatte Lissizyn beim Mittagessen bei Krigows Eltern zu Sascha gesagt. Aber der hatte nur abgewunken.

Sie fallen in eine Kellerkneipe ein, und Krigow bestellt Champagner für alle – um die Georgskreuze einzuweihen, indem sie sie darin eintauchen. Balassanjan, dem sie vorerst nichts von den Ereignissen des Tages erzählt haben, wird ganz kleinlaut. Sie ziehen die Orden hervor, sehen zu, wie sie im Schaumwein versinken – Lissizyn geknickt, Balassanjan voller Neid, Krigow in Hochstimmung –, und dann tauscht Krigow sein Glas mit Balassanjan.

Er gibt ihm seines und nimmt ihm das ohne Kreuz ab. Und trinkt es aus, bevor Balassanjan begreifen kann, was los ist. Dann erst erzählen sie Wasgen die ganze Geschichte – von der Zeremonie, von dem Zaren, dem seines Amtes enthobenen Ataman, der über den Teppichläufer gestolpert ist. Krigow, der Idiot, kringelt sich vor Lachen, während Lissizyn in allen Details erzählt, wie es sich zugetragen hat.

»Direkt dem Zaren ins Gesicht?«, fragt Balassanjan begeistert mit armenisch gerolltem »r«.

»Polujarow wird uns das nicht einfach so durchgehen lassen«, gibt Lissizyn zu bedenken, während er aus seiner Innentasche Sonnenblumenkerne holt. Er hat eine ganze Tüte voll dabei.

Aber dann bestellen sie Wodka, dann noch einen und noch einen, und Wasgen willigt schließlich ein, sich das goldene Kreuz an die Brust stecken zu lassen – nur zum Spaß, zum Anprobieren. »Ich glaube an die Weisheit und die Gnade des Herrschers!«, spricht er feierlich.

Darauf stoßen sie an. Knacken Sonnenblumenkerne. Balassanjan lacht ausgelassen.

Herrje, Balassanjan, du Tölpel, du glaubst wohl wirklich, dass du das goldene Kreuz auch von Sascha Krigow überreicht bekommen kannst anstatt vom Zaren persönlich! Lissizyn muss den bitteren Geschmack dringend herunterspülen. Er geht an die Bar, um die nächste Ladung Wodka zu holen – und dort trifft er Katja.

Das heißt, zu dem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass es Katja ist, er sieht auf dem Bartresen bloß eine Hand mit einem unwirklich schmalen, fast kindlichen Handgelenk und langen, sehr schönen und beinahe durchsichtigen Fingern, die sich um ein Weinglas schließen. Im Glas ist Wein in der Farbe kalten Blutes, während die Hand völlig blutleer ist. Jura erscheint das wie ein schlechtes Omen, er starrt misstrauisch auf Katjas Hand und das Weinglas, das sie umfasst.

Diese Hand ist nicht dafür gemacht, nach etwas zu greifen und es festzuhalten, sondern wohl eher, um auf einem Klavier Sonaten rauf und runter zu spielen.

Die junge Frau lässt das Glas los, trommelt mit den Fingern im Takt auf dem Bartresen, beobachtet Juras zögerliche Reaktion und formt die Finger zu einem »V«. Als Jura das Victory-Zeichen sieht, atmet er erleichtert auf. Den goldenen Ring an ihrem Zeigefinger bemerkt er zuerst gar nicht.

»Auf den Sieg!«, sagt Lissizyn zu der Frau, die – wie sich herausstellen wird – Katja heißt.

»Amen!«, antwortet sie.

Ihre ganze Erscheinung ist ebenso wenig für ein Leben außerhalb des Gartenrings gemacht wie ihre Hände. Die Schultern sind zu schmal, der Hals zu schwanengleich, die Schlüsselbeine, die Wangenknochen, der Brustkorb – alles scheint so fragil wie aus weißem Papier gefaltet. Die Augen wirken unnatürlich groß, so, als hätte die noch namenlose Katja auch als Erwachsene ihren staunenden Kinderblick behalten.

Keine Kosakin der Welt hätte in dieser schwindsüchtigen Ballerina eine Konkurrentin gesehen; dort, an den Grenzen Moskowiens, leben ganz andere Frauen – mit Nerven und Haaren wie Draht. Ihre Hände und Hüften gleichen denen der Moskauer Männer, und sie sind doppelt so tapfer. Jede Kosakin hätte für Katja, diese ätherische Muse, nur Mitleid übrig.

Und genau deshalb kann Jura, der selbst aus dieser Grenzregion stammt und von der dortigen rauen Liebe gehörig verletzt wurde, gar nicht anders, als sich in Katja zu verlieben. Im vor Lichtern schillernden, trunkenen Nebel betrachtet er ihren gerade geschnittenen Pony, das schulterlange Haar, die grünen Augen.

»Bist du etwa ein Kosak?«, fragt sie und lacht.

»Ganz recht«, sagt er. »Und du?«

Sie ist tatsächlich Ballerina und dient am Bolschoi-Theater, im Corps de Ballet. Dass Balletttänzerinnen auch in der Armee dienen, findet Lissizyn lustig. Das Eis ist gebrochen.

»Eine Soldatin also.«

»Jeder Soldat trägt einen Marschallstab im Tornister«, entgegnet Katja. »Aber du hast in deinem wohl nur Sonnenblumenkerne?«

Erst da hört Lissizyn mit dem Kerneknacken auf. »Oh, na ja … Die sind aus Rostow, natürlich bio. Oje, jetzt hab ich hier überall Schalen verteilt …«

»Wollen Sie einer Dame denn nichts anbieten, Jessaul?«

»Ich bin Sotnik, kein Jessaul … Du willst also … Sonnenblumenkerne?«, fragt Lissizyn verlegen.

»Lass uns doch mal ein bisschen Platz in deinem Rucksack schaffen, dann passt vielleicht auch der Marschallstab rein.«

Sie hält ihre Hand auf. Er lässt die duftenden Kerne hineinrieseln.

»Aus dem eigenen Garten?«, fragt Katja.

»Nicht direkt … Aus dem eigenen Garten gibt es bei uns Honig. Mein Vater ist Imker.«

»Aber Honig hast du nicht auch noch dabei?«

»Mach dich ruhig lustig. Jetzt blühen gerade die Kastanien, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das schmeckt! Und dann kommt die Akazienblüte, da schleckst du dir alle zehn Finger danach. Nächstes Mal bring ich dir welchen mit.«

Katja zieht eine Augenbraue hoch. »Und da heißt es immer, Männer würden keine Pläne für die Zukunft machen.«

Krigow gesellt sich zu ihnen. Entfernt ein Stück Schale, das an Lissizyns Lippe klebt. »Was ist denn hier los? Deinen Kameraden ist die Munition ausgegangen, und du treibst dich hier … Oh, hallöchen. Verzeihung. Sotnik Lissizyn hat sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Das Feldtribunal erwartet ihn.«

»Lissizyn – das bin ich«, erklärt Jura.

»Und ich bin Katja.«

So erfuhr er Katjas Namen.

Als Jura mit Krigow zum Rauchen rausgeht, klopft ihm dieser schwungvoll auf den Rücken.

»Nicht übel, deine Katjuscha. Genau dein Typ, hm?«

»Du willst mich wohl verarschen?«

»Wieso?«

»Na, weil sie aus Moskau ist. Dazu mit einem goldenen Ring. Du bist in Moskau geboren und hast einen Meldeschein. Aber meine Dienstreise ist in drei Tagen rum, dann muss ich zurück in meine Kosakensiedlung.«

»Na, da musst du sie eben heiraten, da gibt’s den Meldeschein gratis dazu!«

»Spinnst du? So was kann ich nicht«, sagt Lissizyn. »Du kennst mich doch.«

»Na klar kenn ich dich: Du bist ein Schisser. Kann er nicht …«

»Als ob sie mich nötig hätte. Eine Ballerina. Vom Reichsballett! Und ich, der letzte Dorfdepp.«

»Wenn du nicht willst, nehm ich sie!«, warnt Krigow.

»Pass bloß auf!«, gibt Lissizyn zurück.

Da geht die Tür wieder auf, und auf der Schwelle erscheint Katja mit einer dünnen Papirossa. »Hauptmann Lissizyn!«, sagt sie. »Ich mache Ihnen ein Angebot.«

Sie fordert ihn heraus.

Krigow gibt ihr Feuer. »Was denn für ein Angebot?«, fragt er.

»Morgen findet ein Ball statt. Irgendeine Benefizveranstaltung. Es ist schon Vormittag, und ich habe noch keinen Partner. Keinen Begleiter, meine ich.«

Lissizyn schaut Hilfe suchend zu Krigow.

»Wie kommt’s, dass eine Schönheit wie du keinen Kavalier hat?«, fragt Krigow.

»Wie gewonnen, so zerronnen«, entgegnet Katja. »Aber ich habe nicht mit dir gesprochen. Hauptmann Lissizyn! Stehen Sie einer Dame in der Not bei?«

»Ich … Ich kann nicht?«, fragt Jura, an Krigow gerichtet.

»Ich kann!«, erklärt der.

»Was, tanzen? Ich bring’s dir bei«, sagt Katja.

»Und wo ist dieser Ball?«, murmelt Lissizyn.

»Im Metropol.«

»Ist das … beim Boulevardring?«

»Direkt beim Kreml.«

»Dafür bekomme ich keinen Passierschein.«

»Ich bekomme einen!«, schiebt Krigow ein.

»Das überlasst mir«, sagt Katja.

Lissizyn sieht sie verloren an, ihre fröhlich draufgängerische Art nimmt ihm allen Wind aus den Segeln.

Katja sieht unwahrscheinlich gut aus. Mehr als gut – sie ist eine richtige Schönheit. Lissizyn schaut ganz scheu, er hat Angst, sie durch ein falsches Wort, eine unvorsichtige Bewegung zu verschrecken. Und schielt böse zu Krigow hinüber, der keine Anstalten macht, die beiden allein zu lassen, sondern im Gegenteil nur darauf wartet, dass Jura ihm das Feld überlässt.

»Du bist wie ein Schmetterling«, sagt er unsicher zu Katja. »Ein schöner Schmetterling. Ich habe Angst, dass du mir davonflatterst.«

»Sehr romantisch. Na, wenigstens keine Fliege. Also, was sagst du?«

Sie ist betrunken. Aber das ist Lissizyn auch. Und solange er betrunken ist, so lange kann er sich einbilden, dass er wirklich morgen mit ihr auf den Ball geht, dass sie sich nicht nur einen Spaß mit ihm machen will, dass sie ihm auf seine Briefe antworten würde und dass sie irgendwann vielleicht – war so etwas möglich? – zusammen wären.

Was willst du von ihr, Saschka?! Hast du noch nie eine Ballerina gesehen? Und wirst du nicht noch Hunderten begegnen? Hau schon ab, Kumpel! Du bist hier einer zu viel! – Juri funkelt Krigow böse an, aber der scheint auf einmal blind geworden zu sein. Er reagiert nicht auf Lissizyns Signale.

»Seht mal, da kommen unsere Jungs!« Der von seinen Kameraden sitzen gelassene Balassanjan ist ebenfalls an die frische Luft getreten und bemerkt sie zuerst. Eine Kosakenpatrouille kommt mitten durch die lärmende Menge, durch das Gedränge hindurch, auf sie zu.

Lissizyn ist auf einen Schlag wieder nüchtern, nimmt Haltung an und blickt starr über die Köpfe hinweg.

»Wollen die zu uns?«

»Paranoia?«, fragt Krigow grinsend. »Oder Größenwahn?«

Aber Lissizyn weiß bereits, dass es kein Wahn ist: Sein Blick trifft auf den des Patrouillenkommandanten. Dieser beschleunigt seinen Schritt und geht jetzt nicht mehr einfach geradeaus, sondern steuert direkt auf die beiden zu. Ein Jessaul und hinter ihm zwei Hauptmänner.

Das ist keine Patrouille. Das ist ein Verhaftungskommando.

Sogar Krigow versteht jetzt. Er streicht seine zerzausten Haare zurück.

Das wird ernst.

Wegrennen? Verstecken?

Sie sind unbewaffnet: Auf Freigang sind keine Dienstwaffen erlaubt, nicht einmal Säbel. Lissizyn hat sich gesammelt und schnell genug begriffen, dass es jetzt das Wichtigste ist, Würde zu bewahren. Er dreht sich zu Katja um. »Du solltest jetzt gehen.«

»Was?«

»Bitte!«

Zu spät.

Der Jessaul, die Hand am Säbelgriff, bleibt direkt vor Lissizyn stehen. Schlägt die Hacken zusammen. Schaut streng. »Sotnik Lissizyn, Sotnik Krigow? Sotnik Balassanjan?«

»Jawohl, Euer Hochwohlgeboren.«

»Wenn Sie uns folgen würden.«

Lissizyn hat auf diesen Moment gewartet, seit Ataman Polujarow über den Teppich im Georgssaal gestolpert ist. Und nun schnappt der abgeschlagene Schlangenkopf zu – Jura weiß noch nicht, wo ihn der Biss treffen wird, aber er weiß, dass er tödlich sein wird.

Krigow sieht den Jessaul an. »Will man uns etwa verhaften, Euer Hochwohlgeboren?«

Katja bleibt stur stehen, rührt sich nicht vom Fleck. Sie schaut missmutig, will sich noch nicht von Lissizyn verabschieden.

»Verhaften? Nicht doch.« Der Jessaul sieht fragend zu Katja hinüber. »Ich würde ungern in Anwesenheit von Zivilisten … General Burja … Der Ataman will Sie sehen. Der neue. Der alte … Polujarow … hat sich umgebracht.«

Am nächsten Abend führt Lissizyn Katja unbeholfen durch den Prunksaal des Metropol, wo der Ball stattfindet. Er hat wieder seine Paradeuniform an, die Schulterklappen sitzen tadellos. Katja trägt eine weiße Ballrobe, die wie ein Brautkleid aussieht.

Die Gäste werden in Maybachs vorgefahren – glänzenden Limousinen aus der Vorkriegszeit, auf Vordermann gebracht in den illegalen Werkstätten der Tadschiken. In Empfang genommen werden sie von formvollendeten Portiers in einer undefinierbaren, aber durchaus eindrucksvollen Mode in Wams und Zylinder und mit weißen Handschuhen. Die Portiers leiten die Gäste an die Kellner weiter, die sie sogleich mit Kaviarhäppchen und Krimsekt in Kristallkelchen versorgen. Hinter den geschnitzten Eichentüren spielt sich, mit Pauken und Trompeten donnernd, das Orchester warm.

Lissizyn versucht seine Gänsehaut zu unterdrücken.

Bis dato hat er nur in den Diskotheken seines Viertels getanzt; na ja, und auf der Offiziersschule hat man ihnen ein wenig die klassischen Tänze beigebracht, die man beherrschen muss, wenn man die weißgardistische Kokarde trägt – unter der Woche lernten sie das Vokabular und die Geschichte des Russischen Reiches und an den Wochenenden eben die Quadrille. Aber eine Quadrille ist noch lange kein Walzer.

Katja ermahnt ihn streng, er solle sich nicht in die Hosen machen, packt ihn entschlossen und zieht ihn durch den Saal. Sie reicht ihm bis zur Brust, gleitet schwerelos dahin – eine Ballerina müsse so sein, hat sie ihm erklärt, damit der Partner sie leicht heben kann.

Vor dem Walzer hat Lissizyn panische Angst, da kann sie sagen, was sie will.

Damit er sich nicht komplett blamiert, haben sie sich schon früh am Morgen getroffen und drei Stunden lang in einem zerbombten Hinterhof jenseits des Gartenrings geprobt. In den drei Stunden hatte Lissizyn es fertiggebracht, sich hoffnungslos in sie zu verlieben, aber ein besserer Tänzer ist aus ihm nicht geworden. Doch an ihrem Entschluss war nicht zu rütteln: Er musste abends im Metropol erscheinen.

Wozu das alles nötig ist, bleibt ihm nach wie vor ein Rätsel. Mit ihrem Lidschatten, den dramatischen Wimpern, den entblößten Schultern und der absurd kindlichen Taille in diesem seltsamen Kleid sieht sie aus, als würde sie zu einem der feisten älteren Herren im Frack oder einem aalglatten jungen Schönling gehören, wie sie am Eingang aus den rabenschwarzen Maybachs steigen, aber auf keinen Fall zu ihm – einem Bauerntölpel und Provinzler.

Jura weiß das, und deshalb schwitzt und stolpert er, bringt keine einzige geistreiche Bemerkung zustande. Aber Katja schwebt übers Parkett, bedenkt die Anwesenden mit einem Lächeln und stellt Lissizyn irgendwelchen befreundeten Bohemiens mit umständlichen, unmöglich zu merkenden Namen vor.

Der Augenblick der Blamage rückt immer näher: Der Zeremonienmeister tritt vor, läutet ein Glöckchen, bittet darum, den Champagner bald auszutrinken und das Kristall an die Kellner zurückzugeben – bis zum eigentlichen Ball sind es nur noch wenige Minuten. Jura stellt sein Glas ab und schnappt sich gleich das nächste, um es in einem Zug zu leeren.

Da kommt ein Mann auf sie zu, der Jura vom ersten Augenblick an unsympathisch ist – der groß wirken würde, ginge er nicht so gebückt, der jünger wirken würde, versuchte er nicht so krampfhaft auf jung zu machen –, und grüßt Katja mit brüchiger Stimme. Lissizyn spürt, dass sie sich freut, ihn zu sehen, und gleichzeitig auch nicht. Jura grüßt der Mann nicht, ignoriert ihn einfach, als würde Hauptmann Lissizyn statt seiner Paradeuniform eine Kellnermontur tragen.

»Wie ich sehe, hast du schnell Ersatz gefunden«, sagt er.

»Das war nicht schwer. Die Schlange ist lang genug.« Katja legt leicht den Kopf in den Nacken. »Von hier bis zum Bolschoi.«

»Natürlich den Erstbesten. Besonders wählerisch war unsere Katja ja noch nie.«

Katja macht einen Knicks. »Dafür bist du der lebende Beweis.«

Der Bucklige ringt sich ein gehässiges Lächeln ab. »Miststück. Bedauernswertes Miststück.«

Und da löst sich in Lissizyn endlich die Sprungfeder, die sich mit jedem krächzenden Wort noch mehr gespannt hat, und er schickt den Mistkerl mit einem gut einstudierten Doppelschlag zu Boden. Der zweite Haken landet genau auf dem Kiefer. Knockout.

Sofort kommt der Sicherheitsdienst angerannt, verdreht Lissizyn die Arme auf dem Rücken, befördert ihn aus dem Metropol, droht mit der Polizei – und nur seine Uniform hält sie davon ab, die Drohung in die Tat umzusetzen.

Lissizyn steht auf, blinzelt, zündet sich eine Zigarette an. Ein paar Minuten steht er einfach so da – von Katja keine Spur. Seine Gedanken überschlagen sich. Wenigstens bleibt mir die Blamage beim beschissenen Walzer erspart, schießt es ihm durch den Kopf. Wenigstens das.

Katja kommt und kommt nicht. Wahrscheinlich kniet sie gerade neben diesem Flachwichser und spritzt ihm kaltes Wasser ins Gesicht.

Genau deswegen hat sie Lissizyn doch auf den Ball geschleppt – damit sie ihn irgendeinem Sugardaddy vorführen kann. Tja, das kommt davon. Sie hat es so gewollt. Und jetzt bettelt sie um Verzeihung für ihn, diesen ungehobelten Wilden.

Sie kann ihm gestohlen bleiben!

Nein, Moment mal, er kann sie nicht einfach so gehen lassen … Sie war doch eigentlich schwer in Ordnung, konnte so normal sein, wenn sie wollte. Als sie ihm in diesem zerbombten Hinterhof die Tanzschritte gezeigt und ihm beigebracht hat, wie man einen Walzer zählt, war sie zwar ungeduldig, aber weder gemein noch überheblich, sie hat sogar über seine dämlichen Witze gelacht … Und das alles nur für diese Schmierenkomödie? Um ihn vor diesem Lackaffen auszuführen wie einen Hund an der Leine?

Er bekommt sie nicht mehr aus dem Kopf. Gestern hatte er noch ganz andere Sorgen gehabt: die Rache des allmächtigen Polujarow und die prozesslose Hinrichtung, die Lissizyn bevorstand. Aber sobald klar war, dass die Hinrichtung ausfiel, wurde wieder alles interessant, was das Leben noch zu bieten hatte.

General Burja, nun frischgebackener Ataman, holt das Kästchen aus dem Schubfach des fremden Schreibtisches, fischt mit seiner verbliebenen Hand umständlich das Georgskreuz daraus hervor und steckt die Nadel an Balassanjans Brust. Schließen kann er sie nicht.

»Den Rest schaffst du allein. Und jetzt hau ab, deine Fahne stinkt ja zehn Meilen gegen den Wind.«

Balassanjan schnaubt glücklich und tritt ab.

»Du kannst auch gehen, Lissizyn.«

Juri sieht zu Saschka Krigow hinüber. Der wartet.

Burja nickt ihm zu. »Krigow. Sie kennen Oberst Surganow?«

Der Oberst, der eher an einen Metzger erinnert und sich trotz Anwesenheit des Atamans erlaubt, gemütlich im Sessel zu lümmeln, erhebt sich kurz.

Saschka dreht sich zu Jura um, nickt: Geh ruhig, du kannst hier eh nichts tun. Lissizyn salutiert und entfernt sich absichtlich langsam, um wenigstens den Anfang des Gesprächs mitzuhören.

»Seine Majestät der Imperator hat Sie nach dem gestrigen Vorfall im Gedächtnis behalten … Er will Sie noch einmal sehen. Es geht um einen Sondereinsatz. Hast du was vergessen, Lissizyn?«

Jura zieht die schwere Tür hinter sich zu.

Was für ein Sonderauftrag das genau war, hat Krigow ihm nie erzählt; aber ein paar Tage darauf kam er mit den Schulterklappen eines Unterjessauls in den Stab. Kaum hatten sie auf die Beförderung angestoßen, wurde Lissizyn auch schon zurück in den Kaukasus abkommandiert. Krigow blieb in Moskau.

Jura kehrte mit einem merkwürdigen und bisher unbekannten Gefühl nach Derbent zurück: Er hatte das Gefühl, dass der Imperator den Falschen auserkoren hatte, dass er sich dem Falschen anvertraute. Was hatte Krigow schon geleistet? Gut, er hatte dem Zaren von Balassanjan erzählt. Aber warum? Weil ihm alles in die Wiege gelegt worden war: in Moskau geboren, der Vater Arzt, die besten Schulen … Und warum hatte Lissizyn geschwiegen? Weil es für ihn ein steiniger Weg zum Hauptmann gewesen war und er Angst hatte, wieder beim Fußvolk zu landen. Ein weiteres Mal hatte Saschka die Lorbeeren eingestrichen: Beförderung, Geheimauftrag, das persönliche Vertrauen des Zaren. Das verpasste Lissizyn den größten Stich.

Ihm blieb nur ein Trost: Katja.

Nach etwa fünf Minuten kam Katja auf die Straße gerannt. In diesen fünf Minuten hatte Lissizyn sich in Gedanken bereits für immer von ihr verabschiedet und war mit gebrochenem Herzen zu seinem Dienst in den Kaukasus zurückgekehrt. Er hatte sich geschworen, sich nie wieder zu verlieben und nach seiner Entlassung ins Kloster zu gehen oder sich zumindest mit niemandem mehr einzulassen, höchstens mit Prostituierten – da war wenigstens von vornherein alles klar.

Natürlich fegte Katja seine Vorsätze im Nullkommanichts beiseite.

Sie küsste ihn auf den Mund und sagte, er habe ihr das beste Geschenk seit Langem gemacht. Das Dreckschwein, das Lissizyn k. o. geschlagen hatte, war offenbar ein bekannter Mäzen, ein wichtiger Sponsor des Zarenballetts, der im Gegenzug für seine großzügigen Spenden das Corps de Ballet als seinen persönlichen Harem betrachtete und sich unter den Tänzerinnen bediente, ohne sie vorher umständlich zu umwerben. Sobald er den Ruf der einen zunichtegemacht hatte, schnappte er sich gleich die nächste. Aber an Katja hatte er sich die Zähne ausgebissen. Das konnte er ihr natürlich nicht verzeihen, also war er dazu übergegangen, ihre Karriere zu zerstören. Aber auch wenn die nun endgültig ruiniert war – Katja fand, dass es wenigstens ein schöner Abgang gewesen war.

Sie küsste ihn noch einmal, und er glaubte ihr aufs Wort. Es waren noch zwei Tage bis zu seiner Rückkehr in den Kaukasus.

Das war wenig, viel zu wenig. Um die Zeit nicht sinnlos zu vergeuden, verließen sie das Bett gar nicht mehr. Auf dem Bahnsteig des Kiewer Bahnhofs, von dem natürlich schon lange keine Züge mehr Richtung Kiew rollten, hatte Katja nicht geweint. Sie klopfte bloß die ganze Zeit Sprüche, und zum Abschied hielt sie um Lissizyns Hand an. Und nahm es gleich wieder zurück: nur ein Scherz.

Oberst Surganow – dem Aussehen nach Fleischer, dem Rang nach Chef der Spionageabwehr – nickt gereizt. »Und ist dir irgendetwas über den Geheimauftrag bekannt, den Krigow ausführen sollte?«

»Nein, Herr Oberst!«, antwortet Lissizyn wahrheitsgemäß.

Der Fleischer sieht ihn aufmerksam und nicht unfreundlich an. »Krigow sollte die Expedition anführen, die der Imperator an unsere Ostgrenze geschickt hat. An die Wolga.«

»Zu den Aufständischen?«

»Nun … Wir sind davon ausgegangen, dass es längst keine Aufständischen mehr gibt. Dass sie entweder längst tot oder verrückt geworden sind … Nach all den Jahren ohne ein Lebenszeichen.«

»Verstehe, Herr Oberst.«

»Aber Krigows Expedition ist spurlos verschwunden. Dabei waren das unsere besten Männer. Aus der 19. Sonderbrigade. Schlimmer noch …«

Surganow schnippt die nächste teure Importzigarette aus der Packung; der Teufel weiß, wie die aus dem verfeindeten Westen nach Moskau kommen.

Sascha Krigow ist ganz sicher noch am Leben, schießt es Lissizyn durch den Kopf.

Surganow steckt die Zigarette an, ohne Lissizyn eine anzubieten.

»Schlimmer noch: Wir wurden informiert, dass der äußerste Grenzposten an der Bahnstrecke gegen uns aufbegehrt. In Jaroslawl.«

»Ein Aufruhr? Weswegen?«

»Tja. Weil … Wegen der Versorgung … Weil wir die Engpässe nicht rechtzeitig in den Griff bekommen haben … Dabei waren die … nun ja. Obwohl ich persönlich etwas anderes vermute. Etwas Schlimmeres: dass es die Aufständischen irgendwie über die Wolga geschafft haben. Wie dem auch sei … Wir wollen dir diese Aufgabe anvertrauen, Bruder.«

Er sieht Lissizyn vielsagend an. Lissizyn glotzt nur verständnislos. Der Oberst wartet.

»Ich soll dort für Ordnung sorgen?«

»Wenigstens herausfinden«, Surganow pustet Rauch aus, »was zum Teufel da los ist. Und ja, für Ordnung sorgen, wenn du kannst. Und noch besser: Du findest heraus, wo dein Kumpel Krigow steckt.«

»Jawohl, Herr Oberst.«

Der Fleischer nickt. »Und du hast also überhaupt keine Ahnung, was da hinter der Brücke los ist? Was da im Krieg los war?«

»Nein, Herr Oberst, überhaupt keine!«, antwortet Lissizyn wahrheitsgemäß.

»Verstehe. Dann werden wir dich mal einweihen. Und noch was: Nimm dir morgen nichts vor. Morgen, mein Guter, empfängt dich nämlich der Zar höchstpersönlich.«

»Mich? Persönlich?« Lissizyn wird ganz anders.

»Ja, dich. Also sei so gut und geh früh ins Bett. Übertreib’s heute nicht.«

»Ich … ganz sicher nicht, Euer Hochwohlgeboren …«

»Und nenn mich ruhig Iwan Olegowitsch. Nicht so förmlich. Zeig mal deinen Ring her, ist das ein silberner? Hier, nimm meinen goldenen, du kannst ihn bis zur Abreise behalten.«

ZWEI

Die ganze Vorstellung hindurch schielt Jura auf die Uhr und fragt die Leute neben sich in zu lautem Flüsterton, wie lange es noch dauert. Man zischt ihn an. Irgendein Lackaffe versucht, seine schwindsüchtige Begleiterin zu beeindrucken, indem er androht, es mit Lissizyn vor der Tür austragen zu wollen, wenn der nicht sofort die Klappe hält.

Aber Jura muss es unbedingt wissen. Er sitzt ganz oben auf der Galerie und wird sich bis zur Bühne vorkämpfen müssen mit seinem riesigen Blumenstrauß, dessen Dornen bestimmt an den Unmengen von Seide und Spitze um ihn herum hängen bleiben werden. Er knabbert nervös Sonnenblumenkerne, der Boden unter seinen Stiefeln ist schon übersät mit Schalen.

Es wird Dornröschen gegeben, »das Opus magnum von Wladimir Warnawa, in seiner Jugend als Rebell verschrien, aber heute ein moderner Klassiker«, wie das Programmheft verspricht. Er ist nicht auf Katjas Einladung hier, er will sie überraschen. Sie weiß nicht einmal, dass er in Moskau ist. Das Ticket für das Bolschoi hat er auf eigene Rechnung kaufen müssen, deswegen sitzt er auch auf den hintersten Rängen.

Katja zwischen ihren vielen Kolleginnen zu erkennen, ist gar nicht so leicht. Er entdeckt sie erst durch sein Armeefernglas. Seine Kameraden haben ihm zum Spaß geraten, es mitzunehmen – was er daraufhin wirklich getan hat. Seine Sitznachbarn schielen genervt zu ihm herüber: Wie er dasitzt, den Rücken durchgestreckt, in voller Kosakenmontur, Sonnenblumenkerne knabbernd, das riesige Fernglas im Gesicht, als wäre die Bühne eine Frontlinie und der Orchestergraben ein feindlicher Schützengraben.

Aber immerhin kann er durch das Fernglas Katja sehen. Worum es in dem Ballett geht, bleibt ihm ein Rätsel, denn er hat nur sie im Visier. Er ärgert sich, wenn andere Tänzerinnen ihm die Sicht verstellen, freut sich, wenn sie sich verteilen und Katja sich ganz zeigt. Er ist eifersüchtig auf ihre Partner, eifersüchtig auf die Prima. Katja tanzt eine kleine Nebenrolle. Die meiste Zeit macht sie das Gleiche wie die anderen: immer synchron, wie beim Exerzieren, als ob ihr nichts Anspruchsvolleres zuzutrauen wäre! Etwas, bei dem sie glänzen könnte.

Lissizyn schnuppert an den Rosen: Duften sie überhaupt? Als er sie gekauft hat, kam es ihm so vor, aber jetzt ist der Duft verflogen. Oder hat er sich nur daran gewöhnt?

Seit einem halben Jahr sind sie gewissermaßen ein Paar – obwohl Lissizyn noch immer im Kaukasus stationiert ist. Drei Wochen war er während dieser Zeit in Moskau, Katja hat ihm die entsprechenden Genehmigungen besorgt.

Drei Wochen lang waren sie über Boulevards und Promenaden geschlendert, hatten in den besten Restaurants gegessen und zum Frühstück Sekt getrunken – und die ganze Zeit über war er eifersüchtig: auf diese satten, sorglosen Moskauer, die sich sicher alle sofort an Katja ranschmeißen würden, sobald er wieder weg war. Er wusste, wie albern seine Eifersucht wirken musste, aber wenn er abends einen intus hatte, konnte er seine Zweifel daran, dass er gut genug für sie war, nicht verbergen und wollte sich mit jedem prügeln, der es wagte, sie unverhohlen anzugaffen. Zweimal hatte ihn die Militärpolizei festgenommen und nur dank Katjas Charme wieder freigelassen, ohne Ermittlungen gegen ihn anzustellen – was an ein Wunder grenzte. Katja war erst böse und verzieh ihm dann wieder; aber sein Vertrauen in sich selbst und die Beziehung war trotzdem nicht gewachsen.

Und da sitzt er nun und fragt sich: Will sie ihn überhaupt sehen?

Wenn er gleich mit diesen Rosen vor ihr steht? Oder ist da vielleicht ein anderer, einer aus dem Parterre, der ihr, während Jura sich noch durch den Saal kämpft, schon einen viel schöneren Strauß überreicht, ihr einen Kuss auf die Hand drückt? Auf die Wange?

Ist es nicht dumm und anmaßend von ihm, sie sehen zu wollen? Vielleicht hat sie ja schon was vor? Vielleicht schaufelt sie sich ja nur Zeit in ihrem Liebeskalender frei, wenn er kommt? Moskau ist sicher nicht so klein, dass es keine Anwärter auf Katjas Zeit und Gesellschaft geben würde.

In der Pause beobachtet er die ersten Reihen mit seinem Fernglas: Sitzt da vielleicht so einer wie der alte Sack, dem Katja damals beim Benefizball eine Abfuhr erteilt hat? Wobei, der Nebenbuhler könnte ja auch ganz anders aussehen. Die, die wie er selbst einen Blumenstrauß dabeihaben, mustert er besonders gründlich.

Dieser geleckte Typ da, der mit dem Schnurrbart, wäre der ein Kandidat? Oder der Halbwüchsige da drüben? Obwohl, so jung ist der gar nicht … Katja ist neunundzwanzig und der … knapp über zwanzig vielleicht. Dieser kleine Bastard.

Er hätte ihr doch Bescheid sagen sollen!

Oder sollte er abhauen, sie nach der Vorstellung anrufen und sagen, dass er morgen kommt? Damit sie sich darauf einstellen kann …

Andererseits will er den Abend nicht verlieren. Die Expedition nach Jaroslawl beginnt schon übermorgen, es bleiben ihnen also nur zwei Nächte. Also Scheiß drauf.

Er steht lange vor dem Ende der Vorstellung auf und drängelt sich an den empörten Theaterbesuchern vorbei, bleibt, wie geahnt, mit den Dornen an ihren Kleidern hängen, schleicht sich geduckt, als wäre er unter Beschuss, zur Bühne, um dort eine geschlagene Viertelstunde zu warten, bis die Darbietung endlich vorüber ist, bis er Katja endlich seine Blumen überreichen kann, und zwar als Erster, noch bevor ein aufgeblasener Knacker mit dem Orden des heiligen Andreas um den Hals – ein Minister? – seinen eleganten Strauß der glühend roten Prima überreicht.

Katja bleibt die Luft weg.

»Warte hier«, flüstert sie ihm aufgeregt zu. Zehn Minuten später, als der Saal fast leer ist, kommt sie wieder herausgerannt und nimmt ihn mit hinter die Bühne, um mit den anderen Tänzerinnen – lauter kindlichen, schwerelosen Frauen mit entstellten Füßen – mit Sekt anzustoßen. Sie scharen sich um Jura wie die Tauben um einen Greis mit Brotkrumen, aber Lissizyn hat nur Augen für Katja.

Es folgen ein Restaurantbesuch, viel Wein und Clubs bis drei Uhr in der Früh. Mit jedem Lächeln von Katja schwinden seine Angst und seine Zweifel, aber die Worte, die er sich heute Morgen zurechtgelegt hat, bringt er trotzdem nicht über die Lippen. Es kommt einfach nicht der richtige Augenblick, er schiebt es immer wieder auf.

Sie nimmt ihn mit zu sich, sie schleichen sich auf Zehenspitzen in die Wohnung, um Katjas Mitbewohnerin, eine Kostümbildnerin vom Theater, nicht zu wecken, verriegeln Katjas Zimmertür, und schon sind die guten Absichten, leise zu sein, vergessen; so wie alles andere vergessen ist, bis zum Glockengeläut am Morgen. Erst da, neben ihr im Bett liegend und rauchend, gesteht Lissizyn Katja, dass sie nur noch eine Nacht zusammen haben und er danach wegmuss, wohin – weiß der Teufel, zu einem Einsatz, Sascha Krigow hinterher.

Wie gerne würde er erzählen, dass er morgen eine Audienz beim Zaren höchstpersönlich hat, aber er reißt sich zusammen, selbst jetzt, in der seligen Erschöpfung nach der Liebesnacht, während Katja ihre Zigarette mit Mundstück mit ihm teilt.

Als das Glockenspiel am Kreml ertönt, wartet die Menge schon, die Mützen in der Hand, den Blick gesenkt.

Leise und feierlich rieselt der Schnee, und der stürmische Wind, den man im November normalerweise erwarten würde, ist an diesem Tag zahm. Der weiche Schnee fällt in dichten Flocken, der Kremlturm ist durch den weißen Schleier selbst aus einer halben Werst Entfernung kaum noch zu erkennen.

Die Schneeflocken legen sich auf die bloßen Köpfe der Erwachsenen und der Kinder, die auf ihren Schultern sitzen, und machen keine Anstalten zu schmelzen. Als das Tor endlich geöffnet wird und allen vor Begeisterung der Atem stockt, wirken die Menschen auf dem Roten Platz vom Schnee wie ergraut.

Paarweise reiten Kavalleristen in Kosakenmützen auf Dressurpferden gemächlich voran: die Garde seiner kaiserlichen Majestät. Der dritte und der vierte Reiter halten je eine Fahne in die Luft: die schwarz-gelb-weiße Trikolore des Imperiums und ein weißes Banner mit scharlachrotem Kreuz.

Die Hengste können sich sehen lassen, deutlich größer als ein gewöhnliches Arbeitspferd sind sie, und auch die Reiter haben die entsprechende Statur. Die Pferde sind hellgrau, fast silbern – wären da nicht die schwarzen Augen, wirkten sie durchsichtig, gespenstisch in dem Schneefall, als schwebten die Kavalleristen mit den blanken Säbeln durch die Luft.

Ein Reiterpaar, das zweite, das dritte – und plötzlich erscheint ein fahles Licht im Halbdunkel des Turms: die Scheinwerfer auf dem Landaulett des Zaren. Das altmodische Fahrzeug ist weiß lackiert, der Fahrersitz überdacht, das Faltdach über den Rücksitzen nach hinten geklappt. Vorn an der langen Motorhaube flattern Fähnchen: die Standarten des Imperiums.

Seine Majestät der Imperator steht aufrecht im Wagen, eine Hand am Türgriff, auf dem anderen Arm ein Junge, der genauso adrett gekleidet ist wie er selbst: in einen Feldmantel, festgezurrt mit einem Koppel, und mit einer Kosakenmütze mit Kokarde.

Jura betrachtet den Imperator. Er kann es immer noch nicht fassen, dass ihm, dem Sotnik Lissizyn, heute Abend die große Ehre zuteilwird, den Zaren höchstpersönlich sprechen zu hören. Womit hatte er das verdient? Was würde ihm der Imperator sagen?

»Aua!«, beschwert sich Katja. »Was krallst du dich so fest?«

»Oh, tut mir leid.« Er lockert den Zangengriff, mit dem er ihre kleine Hand umschließt.

Vom Turm her ertönt eine Stimme, die sich über den gesamten Roten Platz ergießt: »Seine Majestät der Zar, Arkadij Michailowitsch, Alleinherrscher über Moskau. Und seine Hoheit, der Großfürst Michail Arkadjewitsch.«

Lautsprecher greifen die Worte auf und tragen sie in alle Richtungen weiter: zum Historischen Museum, dem Einkaufzentrum GUM, dem Sofienufer, dem Maneschnaja-Platz, der Ilinka, der Lubjanka, der Twerskaja, der Warwarka. Es hallt von überall, wo die Menschen sich für das große Fest versammelt haben.

Hinter der Limousine traben ein Dutzend Reiter im Gleichschritt durch den weichen Schnee: paarweise, mit blankem Säbel, umhüllt von dem Dampf, der aus den Pferdenüstern aufsteigt.

»Hoch lebe Seine Majestät der Zar!«

Wer das auch immer als Erster schreit – sogleich greifen die anderen den Ruf euphorisch auf. Die Begeisterung zieht immer weitere Kreise, breitet sich aus wie eine Welle: von den ersten Reihen an der Absperrung, die den Zaren mit eigenen Augen sehen dürfen, bis zu denen, die weniger Glück hatten und dicht zusammendrängt ganz hinten in der Menschenmenge stehen.

»Hoch lebe der Zar! Hoch lebe der Zar!«

Hier scheinen sich alle versammelt zu haben, die laufen können und einen goldenen Ring besitzen. Der Zar zeigt sich dem Volk nur selten. Und den Thronfolger bekommen die Menschen überhaupt nur einmal im Jahr zu Gesicht: an ebendiesem großen orthodoxen Feiertag, dem Tag des Erzengels Michael und aller Engel. Der Erzengel ist der Schutzheilige des Großfürsten, so wie er bereits der Schutzheilige seines Großvaters und Begründers der Dynastie, Michails des Ersten, war.

Jetzt ist er da, der richtige Augenblick!, schießt es Lissizyn durch den Kopf.

»Katja, ich …«

Den Antrag, den sie ihm vor einem halben Jahr gemacht hatte, hat er nicht vergessen: Lissizyn hat damals gar nicht so schnell antworten können, wie sie »Nur ein Scherz!« hinterherschob. Und bei seinem letzten Besuch haben sie das Thema vermieden. Jetzt muss er ihr den Antrag machen, und zwar richtig, in vollem Ernst. Aber die Angst, dass sie Nein sagt, ist zu groß. Die ganze Nacht hat er darüber nachgedacht, wie er die Sache angehen soll. Sollte er ihr zuerst sagen, dass er, der Sotnik Lissizyn, ein einfacher Imkersohn aus einer Kosakensiedlung, beim Zaren höchstpersönlich eingeladen ist, und zwar noch heute? Und dann, wenn Katja ihn mit großen Augen anguckt, ihr Staunen ausnutzen und den Ring zücken? Außerdem, was wäre ein passenderer Moment als der Auftritt des Zaren am Sankt-Michaelis-Tag? Eine bessere Bühne kann es gar nicht geben, also raus damit!

»Der Zar wird mich heute empfangen«, sagt er zu Katja. »Eine Privataudienz.«

Katja sieht ihn misstrauisch an. Oder ist sie beeindruckt?

»Oha!«

Eher beeindruckt.

»Und was ist der Anlass?«

»Kann ich dir nicht sagen. Staatsgeheimnis.«

Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und tätschelt seine glatt rasierte Wange. »Du bist süß.«

Das Staatsgeheimnis scheint sie nicht weiter zu interessieren. Warum nicht?

»Es geht um einen Einsatz«, sagt Jura.

»An dem du besser nicht teilnimmst.«

»Blödsinn.«

»Ich lass dich nicht.«

»Freust du dich denn gar nicht für mich?«

Katja zuckt mit den Schultern. »Schon, natürlich! Aber … Hast du dich nie gefragt, was mit deinem Freund passiert ist?«

»Klar, aber Saschka wird mit allem fertig. Dem geht’s gut.«

»Warum hab ich dann solche Angst?«

Jura winkt ab. »Es ist nur eine Erkundungstour. Ein Einsatz eben.«

»Wenn es nur ein Einsatz wäre«, wendet Katja ein, »würde dich der Zar wohl kaum persönlich sehen wollen. Würde er jeden Hundertschafter selbst empfangen … Er ist ein Zar und keine Puffmutter.«