Pension der Sehnsucht - Nora Roberts - E-Book

Pension der Sehnsucht E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Ein Gewitter braut sich über dem stillen See in Neuengland zusammen. Die energiegeladene Hotelmanagerin Nelly will das Lakeside Inn weiter als familiäre Pension führen. Ein gemütliches Zuhause für die Gäste. Dazu gehören nostalgische Tangoabende mit Plattenmusik genauso wie die herzliche und persönliche Betreuung. Doch dann taucht der neue Besitzer Percy Reynolds auf. Ihm eilt das Gerücht voraus, dass er die Herberge zum Luxustempel umbauen will. Zwei unterschiedliche Temperamente treffen aufeinander – und die Funken fliegen. In mehr als einer Hinsicht.

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Nora Roberts

Pension der Sehnsucht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Hermann

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Die Originalausgabe From this Dayist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH & Co. KG, HamburgCovergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstockSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12111-2V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Der Frühling in Neuengland hielt immer erst spät Einzug. An vor der Sonne geschützten Stellen blieb der Schnee lange liegen, und das erste junge Grün an den kahlen Ästen der Bäume und Büsche zeigte sich nur zaghaft. Doch schon lag eine erwartungsvolle Stimmung über dem Land, und die Luft roch frisch und würzig.

Schwungvoll öffnete Nelly ihr Schlafzimmerfenster und sog die kühle Luft tief ein. Heute ist Samstag, dachte sie zufrieden und flocht ihr langes weizenblondes Haar zu Zöpfen. Das Hotel »Lakeside Inn« war nur zur Hälfte belegt. Erst in drei Wochen begann die eigentliche Saison.

Wenn alles nach Plan verlief, würden Nellys Pflichten als Hotelmanagerin sie an diesem Wochenende nicht sehr in Anspruch nehmen. Das Personal war Nelly treu ergeben, wenn auch vom Temperament her etwas schwierig. Im »Lakeside Inn« ging es zu wie in einer großen Familie. Man stritt, ärgerte und neckte sich, aber wenn es darauf ankam, hielt man zusammen wie Pech und Schwefel und ließ sich auch von Schwierigkeiten nicht unterkriegen. Und ich, dachte Nelly, bin das Oberhaupt dieser Familie.

Nelly zog sich uralte verwaschene Jeans an und kam gar nicht auf den Gedanken, wie wenig ihr Äußeres zu ihrer Stellung passte. Aus dem Spiegel blickte ihr eine zierliche, kindlich aussehende Frau entgegen. Die saloppe Kleidung verbarg ihre weiblichen Kurven. Die Zöpfe und die Stupsnase wirkten frech, der fein gezeichnete Mund verriet viel Sinn für Humor, und die großen grauen Augen funkelten schelmisch.

Nachdem Nelly in ausgetretene Tennisschuhe geschlüpft war, verließ sie ihr Zimmer. Vor ihrem Spaziergang wollte sie sich noch davon überzeugen, ob mit den Frühstücksvorbereitungen auch alles klappte. Als sie die große Diele durchquerte, hörte sie aus dem Speisesaal das Klappern von Besteck und einen hitzigen Wortwechsel. Sie stöhnte auf. Die beiden Kellnerinnen lagen sich also schon wieder in den Haaren.

»Wenn Männer mit Schweinsäuglein dein Typ sind, kann ich mir vorstellen, dass du sehr glücklich bist.« Liz zuckte abfällig die Schultern.

»Walt hat keine Schweinsaugen«, widersprach Maggie. »Du bist ja bloß neidisch.«

»Neidisch? Ha, dass ich nicht lache! Bildest du dir ernsthaft ein, ich sei neidisch auf einen Mann, der … ach, guten Morgen, Nelly.«

»Guten Morgen, ihr zwei. Liz, bei diesem Gedeck hast du zwei Löffel und ein Messer hingelegt. Ich glaube, statt des einen Löffels wäre eine Gabel angebrachter.«

Maggie lächelte hämisch, als Liz das Besteck auswechselte. »Heute Abend fährt Walt mit mir ins Autokino«, verkündete sie.

Nelly hörte Liz’ Antwort nicht mehr, denn sie befand sich schon auf dem Weg in die Küche.

Dies war der einzige Platz in dem altmodisch eingerichteten Hotel, der daran erinnerte, dass man im zwanzigsten Jahrhundert lebte. Überall blitzte polierter Edelstahl. Regale und Schränke aus Kunststoff standen an den Wänden, und im Linoleumfußboden konnte man sich spiegeln. Es duftete nach frischem Kaffee.

»Morgen, Elsie.« Die rundliche Frau, die sich an der Arbeitsplatte zu schaffen machte, ließ ein undeutliches Gemurmel verlauten. »Wenn nichts Besonderes anliegt, mache ich jetzt erst einmal einen Spaziergang.«

»Betty Jackson will uns kein Brombeergelee mehr verkaufen.«

»Was? Du liebe Zeit, warum denn nicht?« Verärgert nahm sich Nelly ein frisch gebackenes Brötchen aus dem Korb und biss hinein. »Mr. Conners fragt immer extra nach ihrem Gelee, und wir haben das letzte Glas angebrochen.«

»Sie hat gesagt, wenn du keine Zeit hast, eine einsame alte Frau zu besuchen, dann hätte sie keine Lust, uns noch weiterhin damit zu versorgen.«

»Einsame alte Frau?« brachte Nelly trotz ihres vollen Mundes heraus. »In ihrem Haus treffen sich mehr Leute zum Tratschen als im ganzen Ort zusammen. Verflixt noch mal, Elsie, wir brauchen das Gelee. Aber letzte Woche hatte ich so viel zu tun, dass ich wirklich keine Zeit aufbringen konnte, mir stundenlang den neusten Klatsch anzuhören.«

»Machst du dir Sorgen, weil am Montag der neue Besitzer kommt?«

»Unsinn.« Mit finsterer Miene vertilgte Nelly ein zweites Brötchen. »Aber als Managerin des Hotels will ich natürlich, dass alles in bester Ordnung ist.«

»Eddie hat mir erzählt, du hättest vor Wut mit den Türen geknallt, als du hörtest, dass er herkommt.«

»Habe ich nicht.« Nelly schenkte sich ein Glas Orangensaft ein. »Es ist Mr. Reynolds gutes Recht, sich seinen neuen Besitz anzusehen. Aber zum Teufel, mich stören diese verschwommenen Andeutungen über irgendwelche Modernisierungen. Er soll bloß die Finger vom ›Lakeside‹ lassen und sich um seine anderen Hotels kümmern. Hier braucht nichts verändert zu werden. Wir haben alles, was wir benötigen.«

»Außer Brombeergelee«, wandte Elsie mürrisch ein.

Nelly holte tief Luft. »Na schön«, stöhnte sie und ging zur Tür. »Ich hole welches. Aber wenn Betty noch einmal anfängt, mir zu erzählen, Howard Beall wäre der ideale Ehemann für mich, dann fange ich an zu schreien.«

Nachdem Nelly diese Drohung ausgestoßen hatte, verließ sie das Hotel. Draußen in der milden Frühlingssonne besserte sich jedoch ihre Laune. Sie schwang sich auf ihr altes klappriges Fahrrad und radelte munter los.

Mit geröteten Wangen erreichte Nelly die Ortschaft Lakeside, eine kleine Stadt mit alten, aber gepflegten Häusern in liebevoll angelegten Gärten. Im Osten erhoben sich hohe bewaldete Berge, und im Westen schimmerte die ruhige Wasseroberfläche des Champlain-Sees.

Lakeside war von dem Trubel und der Hektik der modernen Zeit unberührt geblieben. Für Nelly, die hier aufgewachsen war, hatte dieses friedliche verschlafene Städtchen nie seinen Reiz verloren. Sie war froh, dass es hier noch ein einfaches Leben gab.

Vor einem kleinen Haus mit grün gestrichenen Fensterläden stellte Nelly das Rad ab, entschlossen, mit allen Mitteln der Überredungskunst um das Brombeergelee zu kämpfen.

»Na so etwas, Nelly, das ist aber eine Überraschung!« Betty öffnete die Haustür und strich sich vorsichtig über das graue Haar. »Ich dachte schon, du seist nach New York gezogen.«

»Im Hotel gab es ungewöhnlich viel zu tun«, antwortete Nelly demütig.

»Ach ja, der neue Besitzer kommt.« Betty nickte wissend und ließ Nelly eintreten. »Ich habe gehört, dass er viele Änderungen vornehmen will.«

In der Gewissheit, dass man vor Betty Jackson nichts geheim halten konnte, weil ihr Nachrichtensystem perfekt funktionierte, nahm Nelly in dem kleinen Wohnzimmer Platz.

»Weißt du schon, dass Tom Myers an sein Haus noch ein weiteres Zimmer anbaut?« Betty nahm eine gehäkelte Schondecke von einem Sessel, ehe sie sich ebenfalls setzte. »Leonie scheint wieder mal in anderen Umständen zu sein.« Sie schnalzte mit der Zunge, um ihren Unmut über den zügellosen Lebenswandel der Myers zu bekunden. »Drei Babys in vier Jahren. Aber du magst ja Kinder, nicht wahr, Nelly?«

»Ich war schon immer sehr kinderlieb, Miss Jackson«, antwortete Nelly und überlegte, wie sie das Gespräch auf das Brombeergelee bringen sollte.

»Mein Neffe Howard auch.«

Nelly unterdrückte den Wunsch, einen Schrei auszustoßen, und entgegnete ruhig: »Zurzeit haben wir bei uns im Hotel auch einige kleine Gäste.« Ihr kam eine Idee, und beherzt fuhr sie fort: »Kinder essen ja so gern Süßes. Unsere Marmeladen und Gelees haben sie buchstäblich verschlungen. Gestern mussten wir das letzte Glas anbrechen. Aber so gute Gelees können auch nur Sie kochen, Miss Jackson. Wenn Sie damit ein eigenes Geschäft eröffnen würden, hätten Sie in kürzester Zeit die großen Firmen vom Markt verdrängt.«

»Tja, das will gekonnt sein.« Betty sonnte sich sichtlich in dem Lob, und Nelly wähnte sich bereits als Siegerin.

»Ich müsste das Hotel wahrscheinlich schließen, wenn Sie mich nicht mit Gelee versorgten«, fuhr sie kühn fort. »Mr. Conners wäre tödlich beleidigt, wenn ich ihm irgendein im Laden gekauftes Zeug vorsetzte. Von Ihrem Brombeergelee schwärmt er geradezu. Es sei einfach göttlich, sagt er immer.«

»Einfach göttlich.« Betty nickte zufrieden.

Eine Viertelstunde später stellte Nelly einen Karton mit zwölf Gläsern Gelee in den Gepäckkorb ihres Fahrrads, winkte Betty zum Abschied zu und radelte davon.

»Ich kam, sah und siegte.« Stolz blickte sie zum Himmel hinauf. »Und ich brauchte nicht einmal zu schreien.«

»Hallo, Nelly!«

Nelly drehte sich um, als sie ihren Namen hörte, und fuhr an den Rand des Spielfelds, auf dem einige Jungen Schlagball spielten.

»Wie steht die Partie?« fragte sie einen kleinen Knirps, der herbeigelaufen kam.

»Fünf zu vier. Juniors Mannschaft gewinnt.«

Nelly beobachtete Junior, einen hoch aufgeschossenen, schlanken Burschen, der an der Abschlagstelle stand und breit grinste.

»Eingebildeter Bengel«, murmelte sie. »Dem werde ich zeigen, was Schlagball ist.« Sie nahm dem kleinen Jungen die Schirmmütze ab, zog sie sich über den Kopf und marschierte auf das Spielfeld.

»Spielst du auch mit, Nelly?« Eine Gruppe Halbwüchsiger umringte sie. Nelly ließ sich ein Schlagholz geben und prüfte, wie es in der Hand lag.

»Aber nicht länger als eine Minute. Ich muss nämlich zurück.«

Junior kam langsam näher, die Hände lässig in die Hüften gestemmt, und sah Nelly herausfordernd an. »Wollen wir wetten, dass du nicht mal bis zur nächsten Ecke kommst?«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich will dich nicht um dein Taschengeld berauben.«

Mit der Unbefangenheit eines Fünfzehnjährigen zog Junior kräftig an Nellys Zopf. »Wenn ich den Ball fange, ehe du an der ersten Ecke bist, musst du mir einen Kuss geben.«

»Geh an deinen Platz, du Möchtegern-Casanova, und werde erst einmal zehn Jahre älter.«

Geringschätzig lächelnd schlenderte Junior über das Spielfeld und nahm seine Stellung ein. Nelly zog sich die geborgte Mütze tiefer in die Stirn. »Seht euch diesen Ball noch mal gut an, Jungs«, prahlte sie, »denn der fliegt jetzt gleich bis nach New York.«

Mit lautem Knall traf das Schlagholz den harten Lederball. Nelly beobachtete kurz, welche Flugbahn der Ball nahm, dann spurtete sie los. Während sie mit angewinkelten Armen und gesenktem Kopf den Spielfeldrand entlangflitzte, hörte sie das Gejohle und die anfeuernden Rufe der Jungen. In gebückter Haltung, mit ausgebreiteten Armen, hielt sich Junior bereit, den Ball aufzufangen, als Nelly sich bäuchlings über die Markierungslinie warf. Eine Staubwolke wirbelte auf, und die Jungen schrien aufgeregt.

»Schade, du hast es nicht geschafft.«

»Was?« Nelly sprang hoch und baute sich vor Wilbur Hayes auf, der den Schiedsrichter spielte. Sie stand so dicht vor ihm, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. Wütend funkelte sie ihn an. »Du spinnst wohl! Ich war schon an der Ecke, als der Ball noch stundenlang durch die Luft segelte. Vielleicht solltest du dir eine Brille kaufen.«

»Du hast es nicht geschafft«, wiederholte Wilbur würdevoll und verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust.

»Wir brauchen einen Schiedsrichter, der nicht auf beiden Augen blind ist.« Empört wandte sie sich an die Zuschauer. »Wer von euch ist unparteiisch?«

»Du hast es nicht geschafft.«

Nelly wirbelte herum, als sie die fremde Stimme hörte. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Mann, der lässig am Rand des Spielfelds stand. Er lächelte spöttisch, strich sich die schwarzen Locken aus der Stirn und kam auf sie zu.

»Du hättest den Ball höher schlagen müssen.«

»Ich habe die Ecke erreicht«, widersprach Nelly hartnäckig und rieb sich die schmutzige Nase.

»Nein«, erwiderte Wilbur seelenruhig.

Nelly bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, ehe sie sich wieder dem Fremden zuwandte, der die hitzige Meinungsverschiedenheit amüsiert verfolgte. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Groll und Neugier.

Er war groß gewachsen und schlank, und das dunkle Haar schimmerte leicht im Sonnenlicht. Der beigefarbene Anzug wirkte leger, doch Nelly erkannte, dass er erstklassig geschnitten und mit Sicherheit sehr teuer war. Das Lächeln des Mannes vertiefte sich, als er merkte, wie kritisch Nelly ihn musterte. Ihre Abneigung gegen ihn wuchs.

»Ich muss jetzt zurück«, verkündete sie und klopfte sich den Staub von den Jeans. »Und Wilbur, mach dich darauf gefasst, dass ich deiner Mutter sage, sie soll mal mit dir zum Augenarzt gehen.«

»He, warte mal.«

Nelly, die sich bereits auf ihr Fahrrad geschwungen hatte, stieg noch einmal ab. Der Fremde kam auf sie zu.

»Wie weit ist es noch bis zum ›Lakeside Inn‹?«

Offenbar hielt er sie für eine Spielgefährtin der Jungen. Nelly packte der Übermut. »Meine Mami hat mir verboten, mit fremden Männern zu sprechen«, antwortete sie mit kindlicher Stimme.

»Das ist auch richtig so. Aber ich will ja nur wissen, wie weit es bis zu dem Hotel ist. Ich schenke dir keine Bonbons, um dich in mein Auto zu locken.«

»Tja.« Sie zog die Stirn kraus und tat so, als dächte sie angestrengt nach. »Fahren Sie einfach der Straße nach. Es sind noch ungefähr fünf Kilometer.«

Er sah sie nachdenklich an. »Vielen Dank, mein Kind. Du hast mir sehr geholfen.«

»Keine Ursache.« Sie schaute ihm nach, als er zu einem metallblauen Mercedes zurückging, und konnte sich nicht verbeißen, ihm hinterherzurufen: »Und ich habe es doch geschafft. Sie brauchen auch eine Brille.« Dann gab sie dem kleinen Knirps die Mütze wieder, die sie sich ausgeborgt hatte, und radelte quer über eine Wiese zum »Lakeside Inn« zurück.

Schon bald tauchte das viergeschossige rote Backsteinhaus mit seinen Erkern und Giebeln vor Nelly auf. Sie hatte eine Abkürzung gewählt, und als sie die breite geschwungene Zufahrt hinauffuhr, stellte sie voller Genugtuung fest, dass sie noch vor dem Mercedes angekommen war.

Sie stellte das Fahrrad ab und hob den Karton mit dem kostbaren Brombeergelee aus dem Korb.

»Guten Morgen.« Lächelnd begrüßte sie das frisch getraute Ehepaar, das über den Rasen geschlendert kam.

»Ach, guten Morgen, Miss Clark. Wir wollen einen Spaziergang am See machen«, erklärte der junge Mann freundlich.

»Dafür ist das herrliche Wetter wie geschaffen«, erwiderte Nelly. Sie betrat das kleine Foyer und stellte den Karton auf dem Rezeptionspult ab.

Danach sortierte sie die eingegangene Post. Als sie einen Brief von ihrer Großmutter entdeckte, riss sie hocherfreut den Umschlag auf und begann sogleich zu lesen.

»Du hast dich aber beeilt.«

Nelly schaute überrascht auf, legte den Brief zur Seite und begegnete dem Blick des Mannes mit dem Mercedes. Er hatte dunkelbraune Augen.

»Ich kenne eine Abkürzung.« Sie ließ sich von seiner gepflegten Erscheinung nicht einschüchtern, richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf und hob das Kinn. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich glaube nicht. Du könntest mir höchstens sagen, wo ich den Manager finde.«

Sein herablassender Tonfall ärgerte sie. Sie zwang sich jedoch zur Höflichkeit. »Gibt es irgendwelche Probleme? Wenn Sie ein Zimmer suchen, können Sie eins bekommen.«

»Sei so gut und hol mir die Managerin.« Er sprach zu ihr wie zu einem schwierigen Kind. »Ich habe etwas Wichtiges mit ihr zu klären.«

Nelly straffte die Schultern und verschränkte die Arme über der Brust. »Die Managerin steht vor Ihnen.«

Er zog die Brauen hoch und sah sie ungläubig an. »Hilfst du nach der Schule und am Wochenende hier aus?«

Nelly schoss das Blut in die Wangen. »Ich helfe nicht aus. Seit fast vier Jahren bin ich für die Leitung dieses Hotels zuständig. Wenn Sie ein Problem haben, das Sie mit mir erörtern wollen, können wir das hier oder in meinem Büro tun. Suchen Sie jedoch nur ein Zimmer, dann tragen Sie sich bitte hier ein.« Sie deutete auf das aufgeschlagene Gästebuch.

»Sie sind Nelly Clark?« fragte er stirnrunzelnd und sah sie ungläubig an.

»Richtig.«

Er nickte kurz, nahm den Kugelschreiber aus dem Halter und schrieb seinen Namen und seine Adresse in das Buch. »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich habe mich durch Ihre sportlichen Übungen auf dem Spielplatz und Ihre ziemlich jugendliche Erscheinung täuschen lassen.«

»Was ich in meiner Freizeit tue«, gab Nelly schnippisch zurück, »wirkt sich in keiner Weise abträglich auf das Geschäft aus. Das werden Sie während Ihres Aufenthalts bei uns bestimmt feststellen, Mr. …« Nelly drehte das Gästebuch herum, damit sie den Namen lesen konnte, und erschrak.

»Reynolds«, stellte er sich vor und lächelte, als er Nellys Verblüffung bemerkte. »Percy Reynolds.«

Nelly rang um Fassung und bemühte sich um eine möglichst geschäftsmäßige Haltung. »Wir hatten Sie erst am Montag erwartet, Mr. Reynolds.«

»Ich habe meine Pläne geändert.«

»Ja, na schön … ich heiße Sie im ›Lakeside Inn‹ herzlich willkommen.« Sie lächelte gezwungen und warf die Zöpfe zurück.

»Danke. Solange ich hier bin, benötige ich ein Büro, in dem ich arbeiten kann. Lässt sich das einrichten?«

»Unser Platz ist begrenzt, Mr. Reynolds.« Nelly nahm den Schlüssel zum besten Zimmer des Hotels vom Haken und trat hinter dem Pult hervor. »Aber selbstverständlich können Sie mein Büro mitbenutzen. Ich glaube, damit werden Sie auskommen.«

»Mal sehen. Ich möchte ohnehin die Geschäftsbücher und die Akten überprüfen.«

»Natürlich«, stimmte sie zähneknirschend zu. Es ging ihr gegen den Strich, dass sich plötzlich ein Fremder in die Angelegenheiten des Hotels einmischte. »Kommen Sie bitte mit.«

»Nelly, Nelly!« Eddie kam die Treppe zum Foyer heruntergepoltert. Die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, und das braune Haar, das dringend geschnitten werden musste, flog um seinen Kopf herum.

»Nelly«, wiederholte er atemlos, »mitten in einem Zeichentrickfilm ging Mrs. Pierce-Lowells Fernsehgerät kaputt.«

»Verflixt. Bring ihr meins und ruf Max, damit er ihren Apparat repariert.«

»Er ist übers Wochenende weggefahren.«

»Macht nichts, ich werde es schon überleben.« Nelly klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und bugsierte ihn zur Tür. »Erinnere mich daran, ihm am Montag Bescheid zu sagen.« Dann wandte sie sich an den neuen Besitzer des Hotels. »Entschuldigen Sie, aber Eddie neigt dazu, alles zu dramatisieren, und Mrs. Pierce-Lowell ist süchtig nach Zeichentrickfilmen. Sie gehört zu unseren ältesten Stammgästen, und unser Haus rühmt sich, möglichst jeden Wunsch der Gäste zu erfüllen.«

»Aha, ich verstehe«, entgegnete Reynolds.

Nelly öffnete die Tür ihres Büros und ließ Percy Reynolds den Vortritt.

»Groß ist es nicht«, meinte sie, während er sich in dem kleinen, voll gestopften Zimmer umsah. »Aber für die paar Tage, die Sie hier sein werden, wird es für uns beide reichen.«

»Ich bleibe zwei Wochen«, erklärte Reynolds. Er schlenderte zum Schreibtisch und nahm den Briefbeschwerer, eine grinsende Schildkröte aus Bronze, in die Hand.

»Zwei Wochen?« wiederholte Nelly entsetzt.

»Sie haben richtig gehört, Miss Clark. Passt Ihnen das nicht?«

»Doch, selbstverständlich.« Reynolds prüfender Blick machte Nelly nervös. Sie senkte die Lider und betrachtete das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch.

»Spielen Sie jeden Samstag Baseball, Miss Clark?«

»Nein, natürlich nicht. Ich kam nur zufällig vorbei, und …«

»Ich fand es sehr mutig von Ihnen, wie Sie über die Ecklinie gehechtet sind.« Reynolds streckte unvermutet die Hand aus und strich Nelly mit dem Zeigefinger über die Wange. »Geschont haben Sie sich nicht, das sieht man Ihrem Gesicht an.«

Leicht verwirrt blickte sie auf seinen schmutzigen Finger. »Und ich war doch eher da als der Ball«, behauptete sie trotzig, während ihr das Herz auf einmal bis zum Hals klopfte. »Wilbur ist als Schiedsrichter untauglich.«

»Ich frage mich, ob Sie das Hotel ebenso energisch leiten, wie Sie Ball spielen. Heute Nachmittag gehen wir mal gemeinsam die Bücher durch.«

»Sie werden alles korrekt und ordentlich vorfinden«, entgegnete Nelly steif. »Der Hotelbetrieb läuft reibungslos, und wie Sie ja wohl wissen, erwirtschaften wir einen hübschen Gewinn.«

»Mit ein paar Änderungen könnte das Hotel noch viel mehr abwerfen.«

»Änderungen?« wiederholte sie misstrauisch. »Welche Änderungen schweben Ihnen vor?«

»Ehe ich konkrete Pläne mache, muss ich mir das Hotel erst einmal genau ansehen. Jedenfalls steht fest, dass seine Lage einmalig günstig ist.«

Geistesabwesend wischte er sich den Schmutz vom Zeigefinger und schaute aus dem Fenster. »Was man aus diesem Hotel alles machen könnte! Ich denke da an einen Swimmingpool, Tennisplätze, an ein Fitnesszentrum … kurz und gut, man müsste den ganzen Bau von oben bis unten modernisieren und die verschiedensten Einrichtungen hinzufügen.«

»An diesem Haus gibt es nichts auszusetzen. Wir beherbergen keine Mitglieder der Schickeria, Mr. Reynolds.« Aufgebracht stemmte Nelly die Fäuste in die Hüften. »Das ›Lakeside Inn‹ ist ein Familienhotel mit allem, was dazugehört – gutbürgerlichem Essen, gemütlichen Zimmern und einer ruhigen, gediegenen Atmosphäre. Das wollen unsere Gäste, und deshalb kommen sie immer wieder zurück.«

»Wenn man hier einige sportliche Einrichtungen schafft, wird sich ein etwas anderer Personenkreis hergezogen fühlen. Vor allem, weil der Champlain-See buchstäblich vor der Haustür liegt.«

»In Ihren übrigen Hotels können Sie von mir aus Diskotheken und Trimm-dich-Keller einrichten«, brauste Nelly auf. »Aber wir sind hier in Lakeside, einer friedlichen, ruhigen Gegend, und nicht in Acapulco. In meinem Hotel wird nichts geändert, es bleibt genau so, wie es ist.«

Reynolds lächelte spöttisch. »Ihr Hotel, Miss Clark?«

»Stimmt. Sie haben sich nicht verhört. Rein rechtlich gesehen sind Sie der Eigentümer, Mr. Reynolds, aber ich kenne diesen Betrieb. Unsere Gäste kehren jedes Jahr zurück, weil sie bei uns etwas bekommen, das sie anderswo nicht finden. Sie werden hier keinen einzigen Stuhl oder Tisch umstellen, wenn ich es nicht will.«

»Miss Clark, wenn es mir beliebt, sämtliche Möbel auf den Sperrmüll zu werfen, dann werden Sie mich bestimmt nicht daran hindern. Egal, welche Entscheidungen ich treffe, Sie werden sich fügen müssen. Auch wenn Sie hier Managerin sind, haben Sie noch lange kein Mitspracherecht.«

»Und der Umstand, dass Sie der Hotelbesitzer sind, bedeutet noch lange nicht, dass Sie Verstand haben«, schoss Nelly zurück. Mit wippenden Zöpfen verließ sie das Büro und schlug die Tür krachend hinter sich zu.

2. KAPITEL

Zornig warf Nelly die Tür zu ihrem eigenen Zimmer ins Schloss. Sie war außer sich vor Wut. Dieser Mann war eine Zumutung! Warum musste er ausgerechnet hierher kommen und sich einmischen? Besaß er nicht schon genug Hotels, die er nach Herzenslust modernisieren konnte? Allein in Amerika gab es bestimmt hundert Betriebe, die zur Reynolds-Hotelkette gehörten. Dazu kamen noch die in den ausländischen mondänen Badeorten. Warum baute er sich nicht ein Hotel in der Antarktis?

Nelly erschrak, als sie zufällig in den Spiegel schaute. Ihr Gesicht war schmutzverschmiert. Sweatshirt und Jeans trugen die Spuren ihrer Bauchlandung auf dem Spielfeld. Die Zöpfe baumelten ihr halb aufgelöst über den Rücken. Du liebe Zeit, dachte sie entsetzt, ich sehe aus wie eine Zwölfjährige, die draußen herumgetobt hat.

»Verflixt noch mal.« Flink löste sie die Zöpfe. »Ich habe mich ja schön blamiert. Aber rauswerfen lasse ich mich nicht von ihm. Eher kündige ich selbst. Ich bleibe nicht hier und sehe mit an, wie er mein Hotel verschandelt.«

Eine halbe Stunde später bürstete Nelly sich das Haar, bis es ihr in duftigen Wellen über die Schultern fiel. Inzwischen hatte sie ein cremefarbenes Kleid mit einem weinroten Gürtel angezogen, der zu den winzigen Rubinen in ihren Ohrläppchen passte. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen und wirkte dadurch größer. Nelly betrachtete sich zufrieden im Spiegel und war davon überzeugt, dass sie nun nicht mehr wie eine Zwölfjährige aussah. Mit einem säuberlich beschriebenen Blatt Papier in der Hand verließ sie energisch ihr Zimmer, um den Löwen in seiner Höhle aufzusuchen.

Nelly klopfte leise und wartete nicht etwa auf eine Antwort, sondern drückte die Klinke nieder und betrat selbstbewusst ihr Büro. Hinter dem Schreibtisch saß Percy Reynolds. Wortlos legte sie ihm das Schriftstück auf die Tischplatte und begegnete ungerührt dem Blick aus den braunen Augen.

»Aha, ich nehme an, Sie sind Miss Clark. Welch eine Verwandlung.« Er lehnte sich zurück und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Verblüffend, was sich unter einem Sweatshirt und ausgebeulten Jeans alles verbergen kann … Was ist das?« Mit spitzen Fingern hob er das Blatt hoch und wedelte damit herum.

»Meine Kündigung.« Nelly stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab, beugte sich vor und machte ihrem aufgestauten Zorn Luft. »Und weil ich jetzt nicht mehr Ihre Angestellte bin, Mr. Reynolds, ist es mir ein Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, was ich von Ihnen halte. Sie sind«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »ein eiskalter, geldgieriger Geschäftsmann, der nur an Profit denkt. Sie haben ein Hotel gekauft, das seit Jahrzehnten für seine familiäre Atmosphäre und die ausgezeichnete persönliche Betreuung seiner Gäste bekannt ist. Nur um jährlich ein paar Dollar mehr herauszuschinden, wollen Sie dieses gemütliche Haus in ein Vergnügungszentrum verwandeln. Damit bringen Sie nicht nur eine Reihe von älteren Hotelangestellten, die zum Teil seit zwanzig Jahren hier beschäftigt sind, um ihre Arbeit, sondern Sie zerstören auch eine Gegend, die bis jetzt noch intakt ist. Lakeside ist kein Ort, der auf Massentourismus eingestellt ist, sondern ein ruhiges, verträumtes Städtchen. Unsere Gäste kommen hierher, weil sie die gesunde Luft und eine unverdorbene Landschaft genießen wollen und nicht etwa, um die neueste Tennismode vorzuführen oder sich in einer Diskothek auszutoben.«

»Sind Sie endlich fertig, Miss Clark?« schnitt Percy Reynolds ihr das Wort ab. Sein Ton war gezwungen ruhig.

»Nein, noch lange nicht.« Mutig schleuderte sie ihm entgegen: »Graben Sie sich hier ruhig Ihren Swimmingpool, von mir aus auch zwei, wenn Sie wollen, aber ich wünsche Ihnen, dass Sie darin ertrinken.«

Sie wirbelte auf dem Absatz herum und wollte den Raum verlassen, wurde jedoch unsanft zurückgerissen und mit dem Rücken gegen die Türfüllung gedrückt.

»Miss Clark«, begann Percy Reynolds, während er sie an den Schultern festhielt, »aus zwei Gründen habe ich Ihnen erlaubt, Ihre Wut an mir auszulassen. Erstens geben Sie einen entzückenden Anblick ab, wenn das Temperament mit Ihnen durchgeht. Das fiel mir schon auf, als ich Sie noch für einen frechen Teenager hielt. Zweitens bin ich für Ihre berufliche Meinung durchaus empfänglich, wenn auch nicht für Ihre Art und Weise, sie an den Mann zu bringen.«

Mit einem jähen Ruck ging die Tür auf. Nelly verlor das Gleichgewicht und wäre gestürzt, wenn Percy sie nicht geistesgegenwärtig festgehalten und an seine Brust gezogen hätte.

»Wir haben Julius’ Mittagessen gefunden«, verkündete Eddie fröhlich und verschwand wieder.

»Sie haben sehr lebhaftes Personal«, bemerkte Percy trocken, während er sie immer noch umschlungen hielt. »Wer, um alles in der Welt, ist Julius?«

»Mrs. Franks Dänische Dogge. Sie nimmt das Tier überallhin mit.«

»Bewohnt der Hund ein eigenes Zimmer?« spöttelte er.

»Nein, er hat im Hof einen kleinen Auslauf.«

Percy lächelte plötzlich. Sein Gesicht war ihrem ganz nahe. Ein seltsames Gefühl durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. Sie riss sich von ihm los und glättete ihr zerzaustes Haar.

»Mr. Reynolds«, hob sie so würdevoll wie möglich an. Doch das Wort blieb ihr im Hals stecken, als er ihre Hand ergriff, sie zum Schreibtisch zurückzog und sie dort ohne viel Umstände auf einen Stuhl drückte.

»Seien Sie endlich still, Miss Clark«, bestimmte er und nahm ihr gegenüber Platz. »Darf ich jetzt vielleicht auch einmal etwas sagen? Was ich letzten Endes mit diesem Hotel tun werde, ist allein meine Angelegenheit. Aber ich bin gern bereit, mir Ihre Meinung anzuhören, denn Sie kennen sich in dem Betrieb und in der Umgebung aus.« Er nahm Nellys Kündigungsschreiben, riss es entzwei und ließ die beiden Hälften auf die Tischplatte fallen.

»Dazu haben Sie kein Recht«, platzte sie heraus.

»Ich habe es mir aber genommen.« Es klang gereizt.

Nelly kniff die Augen zusammen. »Macht nichts, ich schreibe eine neue Kündigung.«

»Verschwenden Sie nicht das teure Papier«, riet er ihr und lehnte sich zurück. »Im Augenblick denke ich nicht daran, Ihre Kündigung anzunehmen. Später können wir darüber reden. Wenn Sie allerdings nichts mehr hier halten kann«, setzte er achselzuckend hinzu, »steht es natürlich nicht in meiner Macht, Sie zurückzuhalten. Leider sehe ich mich dann gezwungen, das Hotel für ein paar Monate zu schließen, bis ich einen entsprechenden Ersatz für Sie gefunden habe.«

»Das kann doch nicht Monate dauern, bis Sie eine neue Managerin finden«, protestierte Nelly.

Percy legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Zimmerdecke. »Ich rechne mindestens mit einem halben Jahr«, entgegnete er gedankenverloren.

»Ein halbes Jahr?« Sie furchte die Stirn. »Aber das geht nicht. Wir haben Reservierungen, demnächst beginnt ja schon die Sommersaison. Sie können doch die Gäste nicht enttäuschen. Und das Personal wäre dann arbeitslos.«

»Richtig.« Er lächelte und nickte. Fromm faltete er die Hände.

Sie riss die Augen auf. »Aber … das ist ja glatte Erpressung!«

»Stimmt. Das ist der einzig passende Ausdruck dafür.« Er schmunzelte. »Sie sind sehr schnell von Begriff, Miss Clark.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein …« Nelly verhaspelte sich vor Aufregung. »Sie schließen doch wohl nicht das Hotel, nur weil ich kündige.«

»Glauben Sie, das brächte ich nicht fertig?« Er schaute sie unergründlich an. »Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«

Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Ihre Blicke begegneten sich, und sie versuchten einander einzuschätzen.

»Nein«, sagte Nelly schließlich mit dünner Stimme. Wesentlich lauter setzte sie hinzu: »Nein, das bringe ich nicht fertig. Und das wissen Sie. Trotzdem verstehe ich Ihre Handlungsweise nicht.«

»Sie brauchen mich auch nicht zu verstehen«, fiel Percy ihr schroff ins Wort.

Nelly seufzte und ermahnte sich, ihre Zunge im Zaum zu halten. »Mr. Reynolds, ich kann mir zwar nicht denken, warum Sie darauf bestehen, mich als Hotelmanagerin hier zu behalten, aber …«

»Wie alt sind Sie, Miss Clark?« schnitt er ihr erneut das Wort ab.