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Edward Snowden

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Beschreibung

Edward Snowden riskierte alles, um das System der Massenüberwachung durch die US-Regierung aufzudecken. Jetzt erzählt er seine Geschichte. »Mein Name ist Edward Snowden. Sie halten dieses Buch in Händen, weil ich etwas getan habe, das für einen Mann in meiner Position sehr gefährlich ist: Ich habe beschlossen, die Wahrheit zu sagen.« Mit 29 Jahren schockiert Edward Snowden die Welt: Als Datenspezialist und Geheimnisträger für NSA und CIA deckt er auf, dass die US-Regierung heimlich das Ziel verfolgt, jeden Anruf, jede SMS und jede E-Mail zu überwachen. Das Ergebnis wäre ein nie dagewesenes System der Massenüberwachung, mit dem das Privatleben jeder einzelnen Person auf der Welt durchleuchtet werden kann. Edward Snowden trifft eine folgenschwere Entscheidung: Er macht die geheimen Pläne öffentlich. Damit gibt er sein ganzes bisheriges Leben auf. Er weiß, dass er seine Familie, sein Heimatland und die Frau, die er liebt, vielleicht nie wiedersehen wird. Ein junger Mann, der im Netz aufgewachsen ist. Der zum Spion wird, zum Whistleblower und schließlich zum Gewissen des Internets. Jetzt erzählt Edward Snowden seine Geschichte selbst. Dieses Buch bringt den wichtigsten Konflikt unserer Zeit auf den Punkt: Was akzeptieren wir – und wo müssen wir anfangen Widerstand zu leisten?

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Seitenzahl: 542

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Edward Snowden

Permanent Record

Meine Geschichte

Aus dem Amerikanischen von Kay Greiners

FISCHER E-Books

Inhalt

Für L.VorwortTeil 1Kapitel 1 Der Blick durch das FensterKapitel 2 Die unsichtbare MauerKapitel 3 Der Junge vom BeltwayKapitel 4 OnlineKapitel 5 HackenKapitel 6 UngenügendKapitel 7 9/11Kapitel 8 9/12Kapitel 9 X-RaysKapitel 10 Überprüft und verliebtTeil 2Kapitel 11 Das SystemKapitel 12 Homo contractusKapitel 13 IndocKapitel 14 Der Graf vom BergKapitel 15 GenfKapitel 16 TokioKapitel 17 In der CloudKapitel 18 Auf der CouchTeil 3Kapitel 19 Der TunnelKapitel 20 HeartbeatKapitel 21 WhistleblowingKapitel 22 Die vierte GewaltKapitel 23 Lesen, Schreiben, AusführenKapitel 24 VerschlüsselnKapitel 25 Der JungeKapitel 26 HongkongKapitel 27 MoskauKapitel 28 Aus Lindsay Mills’ TagebüchernKapitel 29 Liebe und ExilDankAbkürzungsverzeichnisQuellen

Für L.

Vorwort

Mein Name ist Edward Joseph Snowden. Früher stand ich im Dienst der Regierung, heute stehe ich im Dienst der Öffentlichkeit. Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das nicht dasselbe ist, und als es endlich so weit war, bekam ich ein wenig Ärger mit meinem Arbeitgeber. Aus diesem Grund verbringe ich meine Zeit nun damit, die Öffentlichkeit möglichst vor der Person zu schützen, die ich einmal war: ein Spion der CIA (Central Intelligence Agency) und der NSA (National Security Agency). Ich war nur einer von vielen jungen Technikern, der dabei mithelfen wollte, das aufzubauen, was ich für eine bessere Welt hielt.

Meine Karriere im Verbund der Geheimdienste der Vereinigten Staaten, der Intelligence Community (IC), dauerte nur sieben Jahre. Wie ich erstaunt festgestellt habe, ist dies nur ein Jahr länger als die Zeit, die ich nun schon im Exil in einem Land lebe, das ich mir nicht ausgesucht habe. Während dieser sieben Jahre war ich jedoch an der bedeutendsten Umgestaltung in der Geschichte der US-amerikanischen Spionage beteiligt – dem Übergang von der gezielten Überwachung einzelner Personen zur Massenüberwachung ganzer Bevölkerungen. Ich half mit, einer einzelnen Regierung die technischen Voraussetzungen zu verschaffen, weltweit die gesamte digitale Kommunikation zu sammeln, sie für die Ewigkeit zu speichern und beliebig zu durchsuchen.

Nach dem 11. September 2001 machte sich die Intelligence Community bittere Vorwürfe, weil es ihr nicht gelungen war Amerika vor dem verheerendsten und vernichtendsten Angriff auf das Land seit Pearl Harbor zu schützen. Als Reaktion darauf strebte ihre Führung nun den Aufbau eines Systems an, das einen solchen Angriff ein für alle Mal verhindern sollte. Es sollte auf Technologie gegründet sein – ein Begriff, mit dem das in der Intelligence Community tätige Heer aus graduierten Politologen und Betriebswirtschaftlern kaum etwas anzufangen wusste. Die Tore der verschwiegensten Geheimdienste öffneten sich jetzt weit für junge Techniker wie mich. Und so kam der Computerfreak in die Schaltzentralen der Macht.

Wenn ich damals überhaupt von irgendetwas Ahnung hatte, dann von Computern, und so stieg ich schnell auf. Im Alter von 22 Jahren erhielt ich von der NSA meine erste Top-Secret-Freigabe – für eine Position am untersten Ende der Karriereleiter. Nicht einmal ein halbes Jahr später arbeitete ich als Systemingenieur für die CIA und hatte fast unbegrenzten Zugang zu einigen der sensibelsten Netzwerke der Welt. Meine einzige Aufsichtsperson war ein Typ, der während seiner Schichten Thriller von Robert Ludlum und Tom Clancy las.

Auf der Suche nach technischem Nachwuchs brachen die Geheimdienstbehörden ihre eigenen Regeln. Normalerweise hätten sie niemals jemanden eingestellt, der keinen Bachelorabschluss oder einen vergleichbaren Berufsabschluss vorweisen konnte. Ich hatte beides nicht. Von Rechts wegen hätte ich nicht einmal einen Fuß in das Gebäude setzen dürfen.

Von 2007 bis 2009 war ich an der amerikanischen Botschaft in Genf stationiert und gehörte zu den wenigen Technikern, die diplomatischen Schutz genossen. Meine Aufgabe war es, der CIA den Weg in die Zukunft zu ebnen, indem ich in ihren europäischen Außenposten das Netzwerk, mit dessen Hilfe die US-Regierung Spionage betrieb, digitalisierte und automatisierte. Meine Generation stellte die Arbeit der Geheimdienste nicht einfach nur um; wir definierten den Begriff »Geheimdienst« völlig neu. Für uns ging es nicht um heimliche Treffen oder tote Briefkästen, sondern um Daten.

Mit 26 war ich offiziell bei Dell angestellt, arbeitete aber erneut für die NSA. Solche Arbeitsverträge dienten als Tarnung für mich wie für fast alle meine technikbegeisterten Kollegen. Man schickte mich nach Japan, wo ich an der Einrichtung des globalen Backups der Behörde mitwirkte: eines riesigen geheimen Netzes, das die dauerhafte Sicherung sämtlicher Daten garantierte, selbst wenn die Zentrale der NSA nach einem Atomangriff in Schutt und Asche liegen sollte. Damals erkannte ich nicht, dass die Errichtung eines Systems, das das Leben aller Menschen auf ewig dokumentierte, ein tragischer Fehler war.

Mit 28 Jahren kehrte ich in die Vereinigten Staaten zurück, wo mich eine gigantische Beförderung erwartete, nämlich in das technische Verbindungsteam, das für die Beziehungen zwischen Dell und der CIA zuständig war. Ich saß mit den Chefs der CIA-Technikabteilungen zusammen, um ihnen die Lösung für jedes erdenkliche Problem zu präsentieren und schmackhaft zu machen. Mein Team unterstützte die Behörde beim Aufbau einer neuartigen Speicherarchitektur, einer »Cloud«, der ersten Technologie, die jedem Agenten, egal von welchem Ort und aus welcher Entfernung, Zugang zu den gerade benötigten Daten verschaffte.

Unterm Strich wurde ein Job, bei dem es ursprünglich um die Verwaltung und Verknüpfung der Ströme von Geheimdienstinformationen ging, zu einem Job, bei dem es um die dauerhafte Speicherung dieser Informationen ging. Im nächsten Schritt musste ich gewährleisten, dass man weltweit auf die Daten zugreifen und sie durchsuchen konnte. An diesem Projekt arbeitete ich auf Hawaii, wohin mich mit 29 ein neuer Vertrag mit der NSA geführt hatte. Bisher hatte ich unter dem Need-to-know-Prinzip gearbeitet, das die Einsicht in geheime Informationen nur bei Bedarf erlaubt. Meine Aufgaben waren auf enge Bereiche begrenzt gewesen und so spezialisiert, dass ich unmöglich das übergeordnete Ziel meiner Arbeit hatte erkennen können. Erst auf Hawaii, im Paradies, war ich endlich in der Lage zu verstehen, dass all meine Aufgabenbereiche ineinandergriffen wie die Zahnräder einer gewaltigen Maschine – dem System der globalen Massenüberwachung.

Tief in einem Tunnel unter einer Ananasplantage – einer unterirdischen ehemaligen Flugzeugfabrik aus Pearl-Harbor-Zeiten – saß ich an einem Terminal mit nahezu unbegrenztem Zugang zur digitalen Kommunikation fast aller Männer, Frauen und Kinder weltweit, die jemals ein Telefongespräch geführt oder einen Computer berührt hatten. Darunter waren ungefähr 320 Millionen meiner amerikanischen Mitbürger, die überwacht wurden, während sie ihren ganz normalen, alltäglichen Beschäftigungen nachgingen: ein grober Verstoß nicht nur gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten, sondern auch gegen die elementaren Werte jeder freien Gesellschaft.

Du hältst dieses Buch jetzt in Händen, weil ich etwas tat, was für einen Mann in meiner Position sehr gefährlich war: Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen. Ich sammelte interne IC-Dokumente, die den durch die US-Regierung begangenen Rechtsbruch belegten, und gab sie an Journalisten weiter, die sie eingehend prüften und dann der schockierten Weltöffentlichkeit präsentierten.

Dieses Buch erzählt von meinen Gründen für diese Entscheidung, von den moralischen und ethischen Grundsätzen, die ihr zugrunde lagen, und wie ich zu ihnen kam – also auch über mein Leben.

Was macht ein Leben aus? Es besteht aus mehr als nur unseren Worten und Taten. Ein Leben ist auch das, was wir lieben und woran wir glauben. Für mich persönlich sind das Verbindungen, Verbindungen zwischen Menschen und die Technologien, die sie ermöglichen. Zu diesen Technologien gehören natürlich auch Bücher. Doch für meine Generation ist Verbindung größtenteils gleichbedeutend mit dem Internet.

Wenn Du nun vor meinen Ausführungen zurückschreckst, weil Du die gefährliche Entwicklung, die das Internet in den letzten Jahren genommen hat, nur zu gut kennst, bedenke bitte, dass das World Wide Web, als ich es kennenlernte, völlig anders war. Es war ein Freund, es war Mutter und Vater. Es war eine grenzenlose Gemeinschaft, die mit einer oder mit Millionen Stimmen sprach, Neuland, das allen offenstand, besiedelt, aber nicht ausgebeutet von den unterschiedlichsten Gruppen, die einträchtig miteinander lebten. Es stand jedem Mitglied frei, sich einen Namen, eine Geschichte und Regeln zu geben. Zwar trugen alle eine Maske in Form von Alias-Namen, doch diese Kultur der Anonymität durch Polyonymie brachte mehr Wahrheit als Unwahrheit hervor, denn sie war kreativ und kooperativ statt kommerziell und konkurrenzorientiert. Zweifellos gab es auch Konflikte, aber guter Wille und Freude überwogen – der wahre Pioniergeist.

Das heutige Internet hat damit nichts mehr zu tun. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Wandel bewusst herbeigeführt wurde, dass er das Ergebnis systematischer Bestrebungen einiger weniger Privilegierter war. Das eilige Bemühen, Kommerz in E-Commerce zu verwandeln, erzeugte rasch eine Blase und führte unmittelbar nach der Jahrtausendwende zum Kollaps. Jetzt erkannten die Unternehmen, dass Menschen, die online gingen, viel weniger am Geldausgeben als an Kommunikation und Austausch interessiert waren. Aber auch dies ließ sich gewinnbringend vermarkten. Wenn Menschen online am liebsten ihrer Familie, ihren Freunden oder auch Fremden mitteilten, was sie vorhatten, und im Gegenzug von Familie, Freunden und Fremden erfahren wollten, was diese vorhatten, dann mussten die Unternehmen einfach nur herausfinden, wie sie selbst zum Dreh- und Angelpunkt dieses sozialen Austausches werden und daraus Profit schlagen konnten.

Dies war die Geburtsstunde des Überwachungskapitalismus und der Tod des Internets, wie ich es kannte.

Nun brach das kreative World Wide Web zusammen und mit ihm unzählige wunderbare, komplexe und individuelle Websites. Aus Bequemlichkeit tauschten die Menschen ihre persönlichen Seiten, die permanente und aufwendige Wartung verlangten, gegen eine Facebook-Seite und einen Gmail-Account ein. Der Glaube, diese kontrollieren zu können, war trügerisch, denn sie gehörten uns bereits nicht mehr. Damals verstanden das nur wenige von uns. Die Nachfolger der gescheiterten E-Commerce-Unternehmen hatten nun ein neues Produkt im Angebot.

Das neue Produkt waren WIR.

Unsere Interessen, unsere Aktivitäten, unsere Aufenthaltsorte, unsere Sehnsüchte – alles, was wir wissentlich oder unwissentlich von uns preisgaben, wurde überwacht. Unsere Daten wurden verkauft, heimlich, damit wir möglichst lange nicht merkten, dass wir ausgebeutet wurden. Die Überwachung wurde von Regierungen, die nach unendlich vielen Informationen gierten, aktiv gefördert und sogar finanziell unterstützt. Abgesehen von Log-ins, E-Mails und finanziellen Transaktionen war die Online-Kommunikation in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends kaum verschlüsselt. Das hieß, dass sich Regierungen in den meisten Fällen gar nicht erst die Mühe machen mussten, an Unternehmen heranzutreten, um herauszufinden, was deren Kunden machten. Sie konnten die ganze Welt einfach ausspionieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

In eklatanter Missachtung ihrer Gründungscharta fiel die US-amerikanische Regierung genau dieser Versuchung zum Opfer. Nachdem sie die vergiftete Frucht dieses Baumes erst einmal gekostet hatte, wurde sie von einem erbarmungslosen Appetit gepackt. Im Geheimen führte sie die Massenüberwachung ein, eine Maßnahme, die per Definition Unschuldige in weitaus größerem Maße betrifft als Schuldige.

Erst als ich diese Überwachungsmechanismen und den Schaden, den sie anrichteten, besser durchschaute, erkannte ich, dass wir, die Öffentlichkeit – und zwar nicht nur die Öffentlichkeit eines einzigen Landes, sondern der ganzen Welt – niemals ein Mitspracherecht in dieser Sache gehabt hatten. Wir haben nicht einmal die Chance gehabt, unsere Meinung dazu zu äußern. Das System der nahezu weltumspannenden Überwachung war nicht nur ohne unsere Zustimmung errichtet worden, es waren uns auch sämtliche Einzelheiten bewusst verschwiegen worden. Zu jeder Zeit wurden alle Stufen des Prozesses und seine Folgen vor der Bevölkerung und den meisten Abgeordneten geheim gehalten. An wen konnte ich mich wenden? Mit wem konnte ich über all das reden? Wenn man jemandem die Wahrheit auch nur zuflüsterte, und sei es einem Richter oder einem Anwalt oder dem Kongress, wäre dies ein gravierendes Verbrechen. So gravierend, dass auch nur ein grobes Umreißen der Fakten dazu geführt hätte, dass man eine lebenslange Freiheitsstrafe in einem Bundesgefängnis verbüßen müsste.

Ich fiel in ein tiefes Loch, während ich mit meinem Gewissen rang. Ich liebe mein Land, und der Dienst an der Öffentlichkeit ist mir heilig. Meine Familie und meine Vorfahren haben jahrhundertelang diesem Land und seinen Bürgern gedient. Ich selbst hatte einen Diensteid geschworen – nicht einer Behörde, nicht einmal einer Regierung, sondern der Öffentlichkeit, um die Verfassung, gegen deren zivile Freiheiten man jetzt so eklatant verstoßen hatte, zu schützen und zu verteidigen. Nun war ich nicht nur Zeuge dieses Verstoßes geworden, ich hatte ihn selbst mit herbeigeführt. Für wen hatte ich gearbeitet, all diese Jahre? Wie sollte ich meine Verschwiegenheitspflicht gegenüber den Behörden, die mich eingestellt hatten, mit dem Eid, den ich auf die Gründungsstatuten meines Landes geleistet hatte, in Einklang bringen? Wem oder was gegenüber war ich mehr verpflichtet? Ab wann hatte ich die moralische Pflicht, das Gesetz zu brechen?

Ich dachte über diese Grundsatzfragen nach und fand die Antwort: Wenn ich aus der Deckung käme und Journalisten das Ausmaß des Machtmissbrauchs eröffnete, der sich in meinem Land abspielte, würde ich damit weder die Regierung stürzen noch die Geheimdienste zerstören. Die Regierung und Geheimdienste müssten sich wieder an den Idealen orientieren, die sie selbst festgelegt hatten.

Der einzige Maßstab für die Freiheit eines Landes ist die Achtung vor den Rechten seiner Bürger. Und ich bin überzeugt, dass diese Rechte de facto die Macht des Staates eingrenzen, insofern als sie genau definieren, wo und wann eine Regierung nicht in jenen Bereich persönlicher oder individueller Freiheiten eindringen darf, der zur Zeit der Amerikanischen Revolution »Liberty« genannt wurde und heute, zu Zeiten der Internetrevolution, »Privatsphäre« heißt.

Es ist nun sechs Jahre her, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, weil ich feststellen musste, dass sich die Regierungen sogenannter hochentwickelter Staaten auf der ganzen Welt immer weniger um den Schutz dieser Privatsphäre scherten, den ich – wie übrigens auch die Vereinten Nationen – als elementares Menschenrecht betrachte. Im Laufe der vergangenen sechs Jahre hat sich dieser Trend jedoch noch weiter fortgesetzt, weil Demokratien in autoritären Populismus zurückgefallen sind. Und nirgendwo zeigt sich dieser Rückschritt deutlicher als im Verhältnis einer Regierung zur Presse.

Die Versuche gewählter Amtsträger, dem Journalismus die Legitimation abzusprechen, sind durch einen schonungslosen Angriff auf das Prinzip der Wahrheit befördert und begünstigt worden. Tatsachen und Verfälschungen werden absichtlich vermischt, unterstützt von Technologien, die es schaffen, diese Melange zu einem beispiellosen globalen Durcheinander aufzublähen.

Ich kenne diesen Prozess so genau, weil das Herstellen von Unwahrheit schon immer die dunkelste Seite der Geheimdienste war. Dieselben Behörden, die während meiner beruflichen Laufbahn Geheimdienstinformationen so manipuliert hatten, dass sie als Vorwand für einen Krieg dienten, die mit Hilfe illegaler Strategien und eines Schattengerichts Kidnapping als »außerordentliche Überstellung«, Folter als »erweiterte Verhörpraxis« und Massenüberwachung als »Sammelerhebung« genehmigten, zögerten keine Sekunde, mich als chinesischen Doppelagenten, russischen Dreifachagenten und, noch schlimmer, als »Millennial« zu bezeichnen.

Sie konnten sich vor allem deshalb so umfassend und frei äußern, weil ich darauf verzichtete, mich zu verteidigen. Von dem Moment an, als ich an die Öffentlichkeit ging, war ich fest entschlossen, niemals irgendwelche Details über mein Privatleben preiszugeben, die meiner Familie und meinen Freunden, die schon mehr als genug unter meinen Prinzipien zu leiden gehabt hatten, noch mehr Unannehmlichkeiten bereitet hätten.

Aus Sorge, ihr Leid noch zu vergrößern, habe ich gezögert, dieses Buch zu schreiben. Letztlich ist mir der Entschluss, Beweise für die Verfehlungen unserer Regierung offenzulegen, leichter gefallen als die Entscheidung, hier mein Leben zu schildern. Die Verstöße, deren Zeuge ich wurde, erforderten mein Handeln. Aber es ist nicht nötig, seine Memoiren zu schreiben, weil man den drängenden Ruf seines Gewissens nicht länger ignorieren kann. Darum habe ich sämtliche Familienangehörige, Freunde und Kollegen, die auf den folgenden Seiten namentlich genannt werden oder anderweitig zu identifizieren sind, vorab um ihre Zustimmung gebeten.

Ich achte die Privatsphäre meiner Mitmenschen. Und ich würde nie allein entscheiden, welche Geheimnisse meines Landes der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen und welche nicht. Aus diesem Grunde habe ich die Regierungsdokumente nur Journalisten anvertraut. Tatsächlich habe ich kein einziges Dokument direkt der Öffentlichkeit präsentiert.

Genau wie diese Journalisten glaube ich, dass eine Regierung dazu berechtigt ist, gewisse Informationen zu verschweigen. Selbst die transparenteste Demokratie der Welt darf die Identität ihrer Undercover-Agenten oder Truppenbewegungen im Kriegsfall geheim halten. Solche Geheimnisse werden in diesem Buch nicht offenbart.

Von meinem Leben zu erzählen und dabei gleichzeitig die Privatsphäre der Menschen, die ich liebe, zu wahren und keine legitimen Staatsgeheimnisse zu enthüllen, ist keine leichte Aufgabe. Aber genau das ist meine Aufgabe. Zwischen diesen beiden Verpflichtungen ist mein Platz.

Teil 1

Kapitel 1Der Blick durch das Fenster

Das erste System, das ich geknackt habe, war die Schlafenszeit.

Ich fand es unfair: Meine Eltern zwangen mich, ins Bett zu gehen, bevor sie sich selbst schlafen legten, bevor meine Schwester sich schlafen legte, und bevor ich überhaupt müde war. Die erste kleine Ungerechtigkeit im Leben.

Von den ersten rund 2000 Nächten meines Lebens endeten viele mit zivilem Ungehorsam: Ich weinte, bettelte, feilschte, bis ich in der Nacht Nummer 2193 – der Nacht, in der ich sechs Jahre alt wurde – die direkte Aktion für mich entdeckte. Die Obrigkeit interessierte sich nicht für meine Forderungen nach Reformen, aber ich war nicht auf den Kopf gefallen. Gerade hatte ich einen der schönsten Tage meines jungen Lebens erlebt, mit Freunden, einer Geburtstagsfeier und sogar Geschenken; jetzt wollte ich ihn nicht enden lassen, nur weil alle anderen nach Hause gehen mussten. Also verstellte ich heimlich alle Uhren im Haus um mehrere Stunden. Die Uhr der Mikrowelle ließ sich einfacher zurückstellen als die des Backofens, was vielleicht daran lag, dass ich sie besser erreichen konnte.

Als meine Aktion der Obrigkeit in ihrer unendlichen Ignoranz nicht auffiel, galoppierte ich begeistert von meiner Macht durch das Wohnzimmer. Ich war der Herr über die Zeit, und man würde mich nie wieder ins Bett schicken. Ich war frei. Und so kam es, dass ich auf dem Fußboden einschlief, nachdem ich endlich den Sonnenuntergang des 21. Juni gesehen hatte, am Tag der Sommersonnenwende, dem längsten Tag des Jahres. Als ich aufwachte, stimmten die Uhren im Haus wieder mit der Armbanduhr meines Vaters überein.

 

Angenommen, heute würde sich jemand die Mühe machen, seine Uhr stellen zu wollen: Woher wüsste er, auf welche Zeit er sie einstellen soll? Wenn Du bist wie die meisten Menschen, würdest Du Dich nach der Zeit auf dem Handy richten. Aber wenn Du Dir Dein Handy ansiehst – und ich meine wirklich: ansehen – und tief durch die Menüs zu den Einstellungen vordringst, erkennst Du irgendwann, dass die Zeit auf dem Telefon automatisch eingestellt wird. Hin und wieder fragt Dein Telefon leise, in aller Stille, das Netzwerk Deines Handyanbieters: »Hallo, hast Du die genaue Zeit?« Das Netzwerk fragt daraufhin wiederum ein größeres Netzwerk, das ein noch größeres Netzwerk fragt, und das setzt sich über eine lange Reihe von Antennenmasten und Kabeln fort, bis die Frage schließlich bei einem der wahren Herren über die Zeit ankommt, einem NTP-Zeitserver. Solche Server werden von Atomuhren betrieben oder mit ihnen abgeglichen. Diese werden von Einrichtungen wie dem National Institute of Standards and Technology in den Vereinigten Staaten, dem Eidgenössischen Institut für Metrologie in der Schweiz oder vom National Institute of Information and Communications Technology in Japan betrieben. Dieser lange, unsichtbare Weg, der in Sekundenbruchteilen zurückgelegt wird, sorgt dafür, dass wir auf dem Bildschirm unseres Handys nicht jedes Mal 12:00 blinken sehen, wenn wir es wieder einschalten, nachdem der Akku leer war.

Ich wurde 1983 geboren, als jene Welt, in der die Menschen ihre Uhren selbst stellten, zu Ende ging. In diesem Jahr teilte das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten sein internes System aus vernetzten Computern in zwei Teile: Ein Netzwerk, MILNET genannt, war für die Benutzung durch den Verteidigungsapparat bestimmt, das andere, das Internet, für die Öffentlichkeit. Bevor das Jahr zu Ende ging, waren die Grenzen dieses virtuellen Raumes durch neue Regeln definiert: So entstand das System der Domainnamen, das wir noch heute nutzen: die .govs, .mils, .edus und natürlich die .coms, außerdem die Ländercodes für den Rest der Welt: .uk, .de, .fr, .cn, .ru und so weiter. Schon damals war also mein Land (und damit auch ich) im Vorteil: Wir hatten einen Vorsprung. Und doch sollte es noch sechs Jahre dauern, bis das World Wide Web erfunden wurde, und etwa neun Jahre vergingen, bevor meine Familie einen Computer mit einem Modem hatte, das sich mit ihm verbinden konnte.

Das Internet ist natürlich kein einheitliches Gebilde, auch wenn wir häufig so darüber sprechen, als wäre es eines. Die technische Realität sieht anders aus: Jeden Tag werden in der globalen Masse verknüpfter Kommunikationsnetzwerke, die Du – und rund drei Milliarden andere Menschen oder etwa 42 Prozent der Weltbevölkerung – regelmäßig nutzen, neue Netzwerke geboren. Dennoch werde ich den Begriff weiter verwenden. In dessen weitestem Sinn meine ich damit das universale Netzwerk der Netzwerke, durch das die Mehrzahl aller Computer auf der Welt über eine Reihe gemeinsamer Protokolle verbunden ist.

Vielleicht machst Du Dir gerade Gedanken, weil Du nicht weißt, was ein Protokoll ist, da Du nur die Oberfläche kennst. Aber wir alle haben Protokolle schon oft benutzt. Man kann sie sich als Sprache für Maschinen vorstellen, als gemeinsame Regeln, die Maschinen befolgen, damit sie sich untereinander verstehen. Wer ungefähr in meinem Alter ist, erinnert sich vielleicht noch daran, dass man am Anfang der Adresse einer Website die Buchstaben »http« in die Adressleiste des Webbrowsers eintippen musste. Damit ist das Hypertext Transfer Protocol gemeint, die Sprache, mit der wir Zugang zum World Wide Web bekommen, einer riesigen Sammlung vorwiegend textbasierter, aber auch audio- und videofähiger Seiten wie Google, YouTube und Facebook. Jedes Mal, wenn wir unsere E-Mails abrufen, bedienen wir uns einer Sprache namens IMAP (Internet Message Access Protocol), SMTP (Simple Mail Transfer Protocol) oder POP3 (Post Office Protocol). Dateien werden über das Internet mit Hilfe des FTP (File Transfer Protocol) übertragen. Und was die erwähnte Einstellung der Zeit auf dem Handy angeht: Eine solche Aktualisierung wird über das NTP (Network Time Protocol) abgerufen.

Alle diese Protokolle werden als Anwendungsprotokolle bezeichnet und stellen nur eine von unzähligen Protokollfamilien dar, die es online gibt. Damit beispielsweise die Daten in einem solchen Anwendungsprotokoll durch das Internet laufen und auf dem Computer, Laptop oder Handy des Empfängers ankommen können, müssen sie zunächst in einem dafür vorgesehenen Transportprotokoll verpackt werden: Denken wir nur daran, dass auch der normale Postdienst es bevorzugt, wenn wir unsere Briefe und Pakete in Umschlägen und Kartons in Standardgrößen unterbringen. Das TCP (Transmission Control Protocol) dient neben anderen Anwendungen dazu, Websites und E-Mails weiterzuleiten. Mit dem UDP (User Datagram Protocol) werden zeitkritische Echtzeitanwendungen übertragen, beispielsweise bei der Internettelefonie oder Liveübertragungen.

Jede Darstellung der vielschichtigen Funktionsweisen des Cyberspace, des Netz, der Info- oder Datenautobahn, wie das Internet in meiner Kindheit genannt wurde, muss unvollständig bleiben, aber eines kann man sich merken: Diese Protokolle haben uns die Mittel in die Hand gegeben, nahezu alles in der Welt, was wir nicht essen, trinken, anziehen oder bewohnen, zu digitalisieren und online zu stellen. Das Internet ist für unser Leben ein nahezu ebenso unverzichtbarer Bestandteil geworden wie die Luft, durch die ein großer Teil seiner Kommunikation fließt. Und jedes Mal, wenn unsere Social-Media-Kanäle uns über ein Posting benachrichtigen, das uns in einem zweifelhaften Licht erscheinen lässt, werden wir an eines erinnert: Etwas zu digitalisieren heißt, es aufzuzeichnen, und zwar in einem Format, das für immer bestehen bleibt.

Wenn ich an meine Kindheit und insbesondere an die ersten neun internetlosen Jahre zurückdenke, fällt mir eines auf: Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was damals geschah, denn ich kann mich nur auf mein Gedächtnis verlassen. Es gibt über diese Zeit keine Daten. In meinen Kindertagen war eine »unvergessliche Erfahrung« noch eine leidenschaftliche, metaphorische Umschreibung für ein Erlebnis von großer Bedeutung: meine ersten Worte, meine ersten Schritte, mein erster ausgefallener Milchzahn, meine erste Fahrt auf dem Rad.

Meine Generation ist in Amerika und vielleicht auch in der Weltgeschichte die letzte, für die das gilt: die letzte nicht digitalisierte Generation, deren Kindheit nicht in der Cloud gespeichert ist, sondern vorwiegend in analogen Formaten festgehalten wurde, in handgeschriebenen Tagebüchern, auf Polaroidfotos und VHS-Kassetten, unvollkommenen Objekten zum Anfassen, die mit zunehmendem Alter zerfallen und unwiederbringlich verlorengehen können. Meine Hausaufgaben machte ich auf Papier mit Bleistift und Radiergummi, nicht auf vernetzten Tablets, die meine Tastenanschläge aufzeichnen. Meine Wachstumsschübe wurden nicht mit Smart-Home-Technologie festgehalten, sondern in dem Haus, in dem ich aufwuchs, mit einem Messer in den hölzernen Türrahmen eingekerbt.

 

Wir wohnten in einem großen alten Haus aus rotem Backstein. Es stand auf einem kleinen Stück Rasen, auf den die Schatten von Hartriegelbäumen fielen. Im Sommer war das Gras von weißen Magnolienblüten bedeckt, die mir als Tarnung für die Plastiksoldaten dienten, mit denen ich über den Rasen robbte. Das Haus hatte einen ungewöhnlichen Grundriss: Der Haupteingang lag im Erdgeschoss und war über eine massive Backsteintreppe zugänglich. Dieses Stockwerk war mit Küche, Esszimmer sowie den Schlafzimmern der wichtigste Wohnbereich.

Über der Wohnetage lag ein staubiger, von Spinnweben durchzogener, verbotener Dachboden, der als Abstellraum diente. Meine Mutter erklärte mir, er werde nur von Eichhörnchen heimgesucht, aber mein Vater behauptete steif und fest, dort seien Vampire und Werwölfe, die jedes Kind auffressen würden, das so töricht sei, sich dort hinaufzuwagen. Unter der Wohnetage lag ein mehr oder weniger fertig ausgebauter Keller, eine Seltenheit in North Carolina und insbesondere so nahe an der Küste. Keller werden leicht überschwemmt, und unserer war sicher das ganze Jahr über feucht, obwohl ständig ein Entfeuchter und eine Pumpe liefen.

Als meine Familie einzog, wurde die Hauptetage nach hinten erweitert. So entstanden ein Hauswirtschaftsraum, ein Badezimmer und ein Zimmer für mich sowie ein Fernsehzimmer mit einer Couch. Von meinem Zimmer aus konnte ich durch ein Fenster, das sich in der ursprünglichen Außenwand des Hauses befand, in das Fernsehzimmer sehen. Dieses Fenster, das früher nach draußen ging, blickte jetzt nach innen.

Fast während der gesamten Zeit, in der meine Familie in dem Haus in Elizabeth City wohnte, gehörte dieses Zimmer mir, und das Fenster ebenfalls. Obwohl das Fenster einen Vorhang hatte, bot es wenig bis gar keine Privatsphäre. Solange ich mich zurückerinnern kann, bestand meine Lieblingsbeschäftigung darin, den Vorhang zur Seite zu ziehen und durch das Fenster in das Fernsehzimmer zu spähen. Oder anders gesagt: Soweit ich mich zurückerinnern kann, war Spionage meine Lieblingsbeschäftigung.

Ich spionierte meine ältere Schwester Jessica aus, denn sie durfte abends länger aufbleiben als ich und die Zeichentrickfilme sehen, für die ich noch zu jung war. Ich spionierte meine Mutter Wendy aus, wenn sie auf der Couch saß, sich die Abendnachrichten ansah und dabei die Wäsche faltete. Aber die Person, der ich am meisten nachspionierte, war mein Vater Lon – oder Lonnie, wie er nach Art der Südstaaten genannt wurde –, der das Fernsehzimmer in den frühen Morgenstunden in Beschlag nahm.

Mein Vater war bei der Küstenwache, aber damals hatte ich nicht die geringste Ahnung, was das bedeutete. Ich wusste, dass er manchmal eine Uniform trug und manchmal nicht. Er ging morgens früh aus dem Haus, und wenn er spät nach Hause kam, hatte er oft neue Gerätschaften dabei: einen wissenschaftlichen Taschenrechner TI-30 von Texas Instruments, eine Casio-Stoppuhr an einem Trageband, einen einzelnen Lautsprecher für eine Stereoanlage; manches davon zeigte er mir, anderes versteckte er. Man kann sich leicht vorstellen, wofür ich mich mehr interessierte.

Das Gerät, auf das ich am neugierigsten war, traf eines Abends kurz nach der Schlafenszeit ein. Ich lag schon im Bett und war fast eingeschlafen, da hörte ich die Schritte meines Vaters auf dem Flur. Ich stellte mich auf mein Bett, zog den Vorhang zur Seite und beobachtete. Mein Vater hatte eine rätselhafte Kiste von der Größe einer Schuhschachtel in der Hand und entnahm ihr ein beigefarbenes Objekt, das aussah wie ein Betonziegel. Aus dem Gegenstand hingen lange schwarze Kabel heraus, die sich wanden wie die Tentakel eines Tiefseeungeheuers aus einem meiner Albträume.

Mit langsamen, systematischen Handgriffen – die zum Teil der disziplinierten Herangehensweise des Ingenieurs, zum Teil aber auch dem Bemühen, leise zu sein, geschuldet waren – entwirrte mein Vater die Kabel und verlegte eines davon über den groben Wollteppich von der Rückseite der Kiste bis zur Rückseite des Fernsehers. Dann steckte er das andere Kabel in eine Steckdose hinter der Couch.

Plötzlich leuchtete der Fernseher auf, und damit auch das Gesicht meines Vaters. Normalerweise saß er abends einfach auf der Couch, trank Limonade und sah zu, wie Leute im Fernsehen auf einem Spielfeld herumliefen, aber das hier war etwas anderes. Es dauerte nur einen Augenblick, dann kam mir die verblüffendste Erkenntnis meines ganzen bisherigen, zugegebenermaßen noch kurzen Lebens: Mein Vater bestimmte darüber, was auf dem Bildschirm geschah.

Es handelte sich um einen Commodore 64, eines der ersten Heimcomputersysteme auf dem Markt.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, was ein Computer war, und erst recht wusste ich nicht, was mein Vater damit tat, ob er ein Spiel spielte oder arbeitete. Er lächelte zwar, und es schien ihm Spaß zu machen, aber er widmete sich den Vorgängen auf dem Bildschirm mit der gleichen Konzentration, mit der er sich auch jeder Aufgabe rund ums Haus widmete. Ich wusste nur eines: Was er auch tat, ich wollte es ebenfalls tun.

Von nun an stand ich jedes Mal, wenn mein Vater in das Fernsehzimmer kam und den beigefarbenen Stein herausholte, in meinem Bett, zog den Vorhang zur Seite und spionierte seinen Abenteuern nach. Eines Abends zeigte der Bildschirm eine fallende Kugel und am unteren Rand einen Balken; mein Vater musste den Balken horizontal bewegen, die Kugel treffen, so dass sie nach oben geschleudert wurde, und eine Mauer aus vielfarbigen Steinen umwerfen (Arkanoid). An einem anderen Abend saß er vor einem Bildschirm, auf dem Steine in verschiedenen Farben und in unterschiedlichen Formen zu sehen waren. Sie fielen fortwährend herunter, und während sie fielen, bewegte und drehte er sie so, dass sie unten vollständige Reihen bildeten, die dann sofort verschwanden (Tetris). Wirklich verwirrt war ich aber, als ich meinen Vater eines Nachts – ob zur Erholung oder im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit – fliegen sah.

Meinem Vater hatte es immer Spaß gemacht, mir draußen die echten Hubschrauber vom Flugstützpunkt der Küstenwache zu zeigen, wenn sie an unserem Haus vorüberflogen; jetzt steuerte er hier, in unserem Fernsehzimmer, seinen eigenen Helikopter. Er startete von einer kleinen Basis, die sogar mit einer winzigen, wehenden amerikanischen Fahne ausgestattet war, erhob sich in einen schwarzen Nachthimmel mit blinkenden Sternen und stürzte dann ab. Er stieß einen kleinen Schrei aus, der meinen übertönte, aber gerade als ich dachte, jetzt sei der Spaß vorüber, war er schon wieder auf der kleinen Hubschrauberbasis mit der winzigen Fahne und hob ein weiteres Mal ab.

Das Spiel hieß Choplifter!. Das Ausrufezeichen war dabei nicht nur ein Teil des Namens, sondern auch Teil des Spielerlebnisses. Choplifter! war spannend. Immer und immer wieder sah ich zu, wie die Maschinen aus unserem Fernsehzimmer hinaus und über einen flachen Wüstenmond flogen, auf feindliche Flugzeuge und Panzer schossen und von ihnen beschossen wurden. Immer wieder landete der Hubschrauber, um kurz darauf wieder abzuheben, als mein Vater versuchte, eine aufblitzende Menschenmenge zu retten und in Sicherheit zu bringen. Das war mein erster Eindruck von meinem Vater: Er war ein Held.

Der Jubel, der von meinem Bett kam, als der kleine Helikopter zum ersten Mal mit einer ganzen Ladung von Miniaturmenschen unversehrt landete, war ein wenig zu laut. Mein Vater drehte den Kopf ruckartig zu dem Fenster, um zu sehen, ob er mich gestört hatte, und blickte mir geradewegs in die Augen.

Ich ließ mich ins Bett fallen, zog die Decke über mich und lag vollkommen still, während die schweren Schritte meines Vaters sich meinem Zimmer näherten.

Er klopfte an das Fenster. »Es ist schon längst Schlafenszeit, mein Lieber. Bist Du noch wach?«

Ich hielt den Atem an.

Plötzlich öffnete er das Fenster, streckte den Arm in mein Zimmer, griff nach mir – einschließlich der Decke – und zog mich hinüber ins Fernsehzimmer. Es ging alles ganz schnell, meine Füße berührten nicht einmal den Teppich. Bevor ich auch nur einen Gedanken fassen konnte, saß ich als Copilot auf dem Schoß meines Vaters. Ich war so jung und aufgeregt, dass ich gar nicht merkte, dass der Joystick, den er mir gegeben hatte, nicht angeschlossen war. Wichtig war nur, dass ich zusammen mit meinem Vater einen Hubschrauber steuerte.

Kapitel 2Die unsichtbare Mauer

Elizabeth City ist eine idyllische, mittelgroße Hafenstadt mit einem relativ gut erhaltenen historischen Kern. Wie die meisten anderen Siedlungen aus der Frühzeit der Vereinigten Staaten entstand sie am Wasser, in diesem Fall an den Ufern des Pasquotank River. Der Name ist die englische Abwandlung eines Wortes aus der Algonquin-Sprache, das so viel wie »wo der Strom sich gabelt« bedeutet. Der Fluss verläuft an der Chesapeake Bay entlang durch die Sümpfe an der Grenze zwischen Virginia und North Carolina und mündet zusammen mit dem Chowan, dem Perquimans und anderen Flüssen in den Albemarle Sound. Wenn ich daran denke, in welche anderen Richtungen mein Leben hätte laufen können, fällt mir immer diese Wasserscheide ein: Ganz gleich, welchen Verlauf das Wasser von der Quelle im Einzelnen nimmt, letztlich hat es immer den gleichen Bestimmungsort.

Meine Familie war insbesondere auf mütterlicher Seite stets dem Meer verbunden. Ihre Abstammung geht unmittelbar auf die Pilgerväter zurück: Ihr erster Vorfahre an unserer Küste war John Alden, der Küfer oder Böttcher der Mayflower. Er heiratete eine Mitreisende namens Priscilla Mullins, die in dem zweifelhaften Ruf stand, die einzige alleinstehende Frau im heiratsfähigen Alter auf dem Schiff und somit auch in der gesamten ersten Generation der Kolonie von Plymouth gewesen zu sein.

Die Verbindung von John und Priscilla um die Zeit des Thanksgiving Day hätte aber beinahe nicht stattgefunden, weil sich Myles Standish, der Kommandant der Kolonie von Plymouth, einmischte. Seine Liebe zu Priscilla, ihre Zurückweisung und die spätere Eheschließung mit John wurden zur Grundlage eines literarischen Werkes, auf das während meiner Jugend immer wieder Bezug genommen wurde: The Courtship of Miles Standish von Henry Wadsworth Longfellow (der selbst ein Nachkomme von Alden und Mullins war):

In dem Zimmer hörte man nichts außer der eiligen Feder des Bürschchens,

welches geschäftig wichtige Nachrichten schrieb: Er wolle mit der Mayflower fahren

und sei bereit, morgen oder spätestens übermorgen in See zu stechen, so Gott wolle!

In Richtung Heimat mit den Neuigkeiten über diesen ganzen schrecklichen Winter,

Briefe, geschrieben von Alden, voll mit dem Namen Priscilla. Voll mit dem Namen und Ruhm der puritanischen Maid Priscilla!

Elizabeth, die Tochter von John und Priscilla, war das erste Kind der Pilgerväter, das in Neuengland geboren wurde. Meine Mutter, die ebenfalls Elizabeth heißt, ist ihre direkte Nachfahrin. Da die Abstammungslinie aber fast ausschließlich über die Frauen verläuft, änderte sich der Familienname nahezu in jeder Generation – eine Alden heiratete einen Pabodie heiratete einen Grinnell heiratete einen Stephens heiratete einen Jocelin. Meine seefahrenden Vorfahren segelten an der Küste entlang vom heutigen Massachusetts nach Connecticut und New Jersey, sie befuhren die Handelsrouten zwischen den Kolonien und der Karibik (wobei sie den Piraten auszuweichen versuchten), bis sich während des Unabhängigkeitskrieges die Jocelin-Linie schließlich in North Carolina ansiedelte.

Amaziah Jocelin, neben anderen Varianten auch Amasiah Josselyn geschrieben, war ein Freibeuter und Kriegsheld. Als Kapitän der mit zehn Kanonen bestückten Dreimastbark The Firebrand schrieb man ihm das Verdienst zu, das Cape Fear verteidigt zu haben. Nachdem die Vereinigten Staaten unabhängig geworden waren, wurde er der US Navy Agent bzw. Nachschuboffizier im Hafen von Wilmington. Er gründete dort auch die erste Handelskammer der Stadt, die er witzigerweise Intelligence Office nannte. Die Jocelins und ihre Nachkommen – die Moores und Halls und Meylands und Howells und Stevens und Restons und Stokleys, die den restlichen Teil der Familie aufseiten meiner Mutter bilden – kämpften in allen Kriegen in der Geschichte meines Landes, vom Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg (in dem die Verwandten aus North Carolina aufseiten der Konföderation gegen ihre Vettern aus Neuengland aufseiten der Union kämpften) bis hin zu beiden Weltkriegen. Meine Familie folgte stets dem Ruf der Pflicht.

Mein Großvater mütterlicherseits, den ich Pop nenne, ist besser als Konteradmiral Edward J. Barrett bekannt. Zur Zeit meiner Geburt war er stellvertretender Stabschef der Abteilung für Luftfahrttechnik am Hauptquartier der Küstenwache in Washington, D.C. In seiner weiteren Laufbahn hatte er das Kommando über verschiedene technische und operative Einheiten von Governors Island in New York City bis nach Key West in Florida, wo er Direktor der Joint Interagency Task Force East war (einer behördenübergreifenden, multinationalen Einheit unter Leitung der US-Küstenwache, deren Aufgabe es war, den Rauschgiftschmuggel in der Karibik zu unterbinden). Mir war nicht klar, in welche hohen Ränge Pop aufgestiegen war, aber ich wusste, dass die Willkommenszeremonien an neuen Einsatzorten im Laufe der Zeit immer aufwendiger wurden, die Reden länger und die Kuchen größer. Ich erinnere mich noch an das Andenken, das mir ein Wachtposten der Artillerie bei einer solchen Gelegenheit schenkte: die Patronenhülse eines 40-Millimeter-Geschosses. Sie war noch warm, roch nach Schießpulver und war gerade als Salut zu Pops Ehren abgeschossen worden.

Dann ist da mein Vater Lon. Er war zur Zeit meiner Geburt Oberbootsmann beim technischen Luftfahrt-Ausbildungszentrum der Küstenwache in Elizabeth City, wo er als Lehrplangestalter und Dozent für Elektronik arbeitete. Er war häufig unterwegs, während meine Mutter sich zu Hause um mich und meine Schwester kümmerte. Um unser Pflichtbewusstsein zu fördern, übertrug sie uns Aufgaben im Haus; um uns das Lesen beizubringen, brachte sie an allen unseren Kleiderschubladen Schilder an, die über deren Inhalt Auskunft gaben: SOCKEN, UNTERWÄSCHE und so weiter. Sie lud uns in unseren Red-Flyer-Kombi und schleppte uns in die örtliche Bibliothek, wo ich sofort meine Lieblingsabteilung fand: Ich nannte sie »GROSE MASCHIENEN«. Als meine Mutter mich fragte, ob ich mich für bestimmte große Maschinen interessierte, war ich nicht mehr zu bremsen: »Kipplaster und Dampfwalzen und Gabelstapler und Kräne und …«

»Ist das alles, mein Freund?«

»Ach«, sagte ich dann, »und auch Zementmischer und Bulldozer und …«

Meine Mutter stellte mir gern schwierige Rechenaufgaben. Bei K-Mart oder Winn-Dixie durfte ich mir Bücher, Modellautos und Lastwagen aussuchen, die sie mir kaufte, wenn ich im Kopf die Preise richtig zusammenzählte. Im Laufe meiner Kindheit steigerte sie den Schwierigkeitsgrad: Zuerst sollte ich Schätzungen anstellen und auf den nächsten Dollar aufrunden, dann musste ich den genauen Betrag in Dollar und Cent ermitteln, und dann ließ sie mich drei Prozent des Betrages berechnen und zur Gesamtsumme hinzufügen. Diese letzte Aufgabe stürzte mich in Verwirrung: nicht wegen der Rechenaufgabe, sondern wegen der Begründung. »Warum?«

»Das nennt man Steuer«, erklärte meine Mutter. »Für alles, was wir kaufen, müssen wir drei Prozent an den Staat zahlen.«

»Was machen die damit?«

»Du magst doch Straßen? Du magst Brücken?«, antwortete sie. »Die repariert die Regierung mit dem Geld. Und sie schaffen damit Bücher für die Bibliothek an.«

Ein wenig später fürchtete ich, meine aufkeimenden mathematischen Fähigkeiten könnten mich verlassen haben, weil die im Kopf ermittelte Summe plötzlich nicht mehr mit dem Betrag auf der Anzeige der Registrierkasse übereinstimmte. Aber wieder einmal hatte meine Mutter eine Erklärung parat. »Sie haben die Umsatzsteuer erhöht. Jetzt musst Du vier Prozent dazurechnen.«

»Dann bekommt die Bibliothek jetzt also noch mehr Bücher?«, fragte ich.

»Hoffen wir’s«, sagte meine Mutter.

Meine Großmutter wohnte ein paar Straßen von uns entfernt gegenüber der Carolina Feed and Seed Mill und einem hoch aufragenden Pekannussbaum. Nachdem ich in meinem Hemd herabgefallene Nüsse gesammelt hatte, ging ich hinüber zu ihrem Haus und ließ mich auf dem Teppich neben den langen, niedrigen Bücherregalen nieder. Gesellschaft leisteten mir dabei in der Regel eine Ausgabe der Fabeln von Äsop und Bulfinch’s Mythology, eines meiner Lieblingsbücher. Ich blätterte die Seiten durch, hielt nur inne, um ein paar Nüsse zu knacken, und verschlang Berichte über fliegende Pferde, komplizierte Labyrinthe und Gorgonen mit Schlangenhaaren, die Sterbliche in Stein verwandelten. Ich hatte Ehrfurcht vor Odysseus, und ich mochte auch Zeus, Apollon, Hermes und Athena. Aber die Gottheit, die ich am meisten bewunderte, war Hephaistos, der hässliche Gott des Feuers, der Vulkane, der Schmiede und Zimmerleute, der Gott der Bastler. Ich war stolz darauf, dass ich seinen griechischen Namen buchstabieren konnte, und ich wusste auch, dass man seinen römischen Namen Vulcanus in Star Trek für den Heimatplaneten von Spock verwendet hatte. Auch die Grundidee hinter der griechisch-römischen Götterwelt war mir sympathisch. Auf dem Gipfel eines Berges saß diese Gang von Göttern und Göttinnen, die ihr unendlich langes Leben zum größten Teil damit zubrachten, miteinander zu kämpfen und die Menschen auszuspionieren. Wenn ihnen etwas auffiel, was sie faszinierte oder störte, tarnten sie sich hin und wieder als Lämmer, Schwäne oder Löwen und stiegen die Hänge des Olymp hinab, um die Sache zu untersuchen und sich einzumischen. Wenn die Unsterblichen den Menschen ihren Willen aufzwingen und in die Angelegenheiten der Sterblichen eingreifen wollten, kam es oftmals zur Katastrophe. Immer ertrank jemand, wurde vom Blitz getroffen oder in einen Baum verwandelt.

Einmal fiel mir eine illustrierte Ausgabe der Sage von König Artus und seinen Rittern in die Hände, und so las ich von einem anderen sagenumwobenen Berg, dieses Mal in Wales. Er diente einem tyrannischen Riesen namens Rhitta Gawr als Festung. Rhitta Gawr wollte nicht hinnehmen, dass die Zeit seiner Herrschaft vorüber war und dass die Welt in Zukunft von menschlichen Königen beherrscht werden würde, denn er hielt sie für klein und schwach. Entschlossen, sich an der Macht zu halten, stieg er von seinem Gipfel herab, griff ein Königreich nach dem anderen an und vernichtete ihre Armeen. Schließlich gelang es ihm, jeden einzelnen König von Wales und Schottland zu besiegen und zu töten. Nachdem er sie getötet hatte, rasierte er ihnen die Bärte ab und webte sich daraus einen Mantel, den er als blutige Trophäe trug. Dann entschloss er sich, Artus, den stärksten König Britanniens, herauszufordern und vor eine Wahl zu stellen: Artus konnte sich entweder selbst den Bart abrasieren und sich unterwerfen, oder Rhitta Gawr würde den König enthaupten und den Bart entfernen. Erbost über diese Anmaßung machte sich Artus zu Rhitta Gawrs Bergfestung auf. Der König und der Riese trafen auf dem höchsten Gipfel zusammen und kämpften mehrere Tage, bis Artus schwer verwundet wurde. Aber als Rhitta Gawr nach den Haaren des Königs greifen und ihm den Kopf abschlagen wollte, versenkte Artus in einer letzten Kraftanstrengung sein sagenumwobenes Schwert im Auge des Riesen, der daraufhin tot umfiel. Anschließend errichteten Artus und seine Ritter über Rhitta Gawrs Leiche einen Grabhügel. Aber bevor sie ihre Arbeit vollenden konnten, begann es zu schneien. Als sie aufbrachen, war der blutbefleckte Bartmantel des Riesen vollkommen weiß.

Der Berg hieß Snaw Dun, und eine Anmerkung erklärte, dies sei ein altenglisches Wort für Snow Mound (Schneehügel). Der Snaw Dun heißt heute Mount Snowdon. Er ist ein längst erloschener Vulkan und mit 1085 Metern der höchste Gipfel in Wales. Ich weiß noch, welches Gefühl ich hatte, als mir mein Name zum ersten Mal in diesem Zusammenhang begegnete. Es war aufregend, und die altertümliche Schreibweise vermittelte mir zum ersten Mal ein bewusstes Gefühl dafür, dass die Welt älter ist als ich und sogar älter als meine Eltern. Dass der Name mit den Heldentaten von Artus, Lancelot, Gawain, Parzival, Tristan und den anderen Rittern der Tafelrunde verbunden war, erfüllte mich mit Stolz – bis ich erfuhr, dass es keine historischen Taten, sondern Legenden waren.

Jahre später durchforstete ich mit Hilfe meiner Mutter die Bibliothek in der Hoffnung, Mythos und Tatsachen zu trennen. Dabei fand ich heraus, dass man das schottische Stirling Castle zu Ehren von Artus’ Sieg und im Rahmen der schottischen Bestrebungen, den Anspruch auf den englischen Thron geltend zu machen, in Snowdon Castle umbenannt hatte. Ich stellte fest, dass die Wirklichkeit fast immer chaotischer und weniger heldenhaft ist, als wir es uns wünschen, aber eigenartigerweise ist sie auch oftmals reicher als die Mythen.

Als ich die Wahrheit über Artus entdeckte, war ich schon längst von einer neuen, ganz andersartigen Geschichte besessen, oder eigentlich von einer neuen, andersartigen Form des Geschichtenerzählens. Zu Weihnachten 1989 tauchte bei uns zu Hause ein Nintendo auf. Ich nahm die in zwei Grautönen gehaltene Konsole so vollständig in Beschlag, dass meine beunruhigte Mutter eine Regel einführte: Ich durfte nur dann ein neues Spiel kaufen, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen hatte. Die Spiele waren teuer, und nachdem ich diejenigen, die mit der Konsole geliefert worden waren – eine einzige Kassette mit Super Mario Bros. und Duck Hunt – bereits beherrschte, war ich erpicht auf neue Herausforderungen. Der Haken an der Sache war nur, dass ich mit meinen sechs Jahren nicht so schnell lesen konnte, wie ich ein Spiel abschloss. Es war wieder einmal an der Zeit für einen meiner Anfänger-Hacks. Von nun an kam ich mit dünneren Büchern aus der Bibliothek nach Hause und mit Büchern, die viele Abbildungen enthielten. Es waren Bilderlexika von Erfindungen mit drolligen Zeichnungen von Velozipeden und Kleinluftschiffen, außerdem Comicbücher, von denen mir erst später klar wurde, dass es sich um gekürzte Vorschulausgaben von Jules Verne und H.G. Wells handelte.

NES – das einfache, aber geniale 8-Bit-Nintendo-Entertainment-System – vermittelte mir meine eigentliche Bildung. Aus der Legende von Zelda erfuhr ich, dass die Welt im Grunde dazu da ist, erforscht zu werden; vom Mega Man lernte ich, dass ich von meinen Feinden viel lernen kann; und Duck Hunt, nun, Duck Hunt brachte mir etwas Wichtiges bei: Selbst wenn jemand Dich wegen Deiner Schwächen auslacht, solltest Du ihm nicht ins Gesicht schießen. Letztlich jedoch lernte ich von Super Mario Bros. die vielleicht bis heute wichtigste Lektion meines Lebens. Ich meine das sehr ernst. Und ich bitte Dich, ernsthaft darüber nachzudenken. Die Version 1.0 von Super Mario Bros. ist unter den Side-Scroller-Spielen vielleicht das größte Meisterwerk aller Zeiten. Auf dem legendären Eröffnungsbildschirm steht Mario zu Beginn des Spiels ganz links und kann sich nur in eine Richtung bewegen: nach rechts, und von dieser Seite tauchen ständig neue Landschaften und Feinde auf. Er durchläuft acht Welten mit jeweils vier Levels, die alle zeitlichen Beschränkungen unterliegen, bevor er schließlich den bösen Bowser erreicht und die gefangene Prinzessin Toadstool befreit. Während aller 32 Levels bewegt sich Mario vor einer »unsichtbaren Wand«, wie sie im Sprachgebrauch der Gamer genannt wird, die ihm den Rückweg versperrt. Es gibt kein Zurück, sondern nur ein Vorwärts: für Mario und Luigi, für mich und für Dich. Das Leben verläuft immer in einer Richtung, der Richtung der Zeit; ganz gleich, wie weit wir vorankommen, die unsichtbare Wand steht immer unmittelbar hinter uns, schneidet uns von der Vergangenheit ab und treibt uns ins Unbekannte. Ein kleines Kind, das in den achtziger Jahren in einer Kleinstadt in North Carolina aufwuchs, musste irgendwoher ein Gespür für die Sterblichkeit bekommen, warum also nicht von zwei aus Italien eingewanderten Klempnerbrüdern mit einem großen Appetit auf Pilze aus dem Abwasserkanal?

Eines Tages startete meine so oft benutzte Super-Mario-Bros.-Kassette nicht mehr, ganz gleich, wie stark ich pustete. Das musste man damals tun, oder zumindest glaubten wir, man müsse es tun: in die Öffnungen der Kassette blasen, um sie von Staub, Schmutz und den Haaren der Haustiere zu reinigen, die sich dort gern ansammelten. Aber ganz gleich, wie oft ich sowohl in die Kassette selbst als auch auf den Kassettenschlitz der Konsole blies, auf dem Fernsehschirm erschienen nur Wellenlinien, die alles andere als beruhigend wirkten.

Rückblickend betrachtet war es wahrscheinlich nur eine fehlerhafte Pin-Verbindung, aber mit meinen sieben Jahren wusste ich nicht einmal, was eine Pin-Verbindung ist, und so war ich frustriert und verzweifelt. Und was am schlimmsten war: Mein Vater war gerade auf einem Einsatz mit der Küstenwache; er würde erst in zwei Wochen zurückkehren und konnte mir so lange nicht helfen, die Sache in Ordnung zu bringen. Ich kannte auch keine Tricks wie Mario, um die Zeit zu verbiegen, und es gab auch keine Röhren, in die ich abtauchen konnte, um die Wochen schneller vergehen zu lassen; also entschloss ich mich, das Ding selbst zu reparieren. Wenn es mir gelang, würde mein Vater sehr beeindruckt sein. Ich ging hinaus in die Garage und suchte nach seiner grauen metallenen Werkzeugkiste.

Eines war mir klar: Wenn ich herausfinden wollte, was mit dem Gerät nicht in Ordnung war, musste ich es zuerst auseinandernehmen. Im Grunde machte ich einfach die Bewegungen nach – oder versuchte sie nachzumachen –, die mein Vater vollführte, wenn er am Küchentisch saß und den Videorekorder oder das Kassettendeck der Familie reparierte, die beiden Haushaltsgeräte, die in meinen Augen der Nintendo-Konsole am stärksten ähnelten. Ich brauchte ungefähr eine Stunde, um das Gerät mit meinen ungelenken kleinen Händen auseinanderzunehmen – unter anderem versuchte ich, Kreuzschlitzschrauben mit einem Flachschraubenzieher zu lösen –, aber am Ende hatte ich Erfolg.

Von außen war die Konsole langweilig und grau, aber das Innere war ein Durcheinander von Farben. Ein Regenbogen aus Drähten und schimmernden Dingen aus Silber und Gold ragte aus der grasgrünen Platine. Ich zog hier ein paar Dinge fest, lockerte dort einige andere – mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip – und pustete auf jedes Einzelteil. Danach wischte ich alles mit einem Papiertuch ab. Schließlich musste ich noch einmal auf die Platine blasen, um Papierstückchen zu entfernen, die an den Dingern festhingen, von denen ich heute weiß, dass es die Pins waren.

Nachdem ich meine Reinigungs- und Reparaturarbeiten beendet hatte, war es an der Zeit, alles wieder zusammenzusetzen. Vielleicht hatte Treasure, unser goldener Labrador, eine der winzigen Schrauben verschluckt, oder vielleicht war sie auch nur auf dem Teppich oder unter der Couch verschwunden. Und offensichtlich baute ich auch nicht alle Einzelteile wieder so ein, wie ich sie vorgefunden hatte, denn sie passten jetzt kaum noch in das Gehäuse. Der Deckel sprang immer wieder auf, also quetschte ich die Bauteile zusammen, wie man Kleidungsstücke in einen überfüllten Koffer zu quetschen versucht. Schließlich rastete der Deckel ein, allerdings nur auf einer Seite. Die andere beulte sich aus, und wenn ich diese Seite einrasten ließ, platzte die andere wieder auf. So ging es eine Zeitlang hin und her, bis ich schließlich aufgab und das Gerät wieder in die Steckdose steckte.

Ich drückte die Power-Taste: nichts. Ich drückte die Reset-Taste: nichts. Das waren die beiden einzigen Tasten auf der Konsole. Vor meiner Reparatur hatte das Licht neben den Tasten immer dunkelrot geleuchtet, aber sogar das war jetzt tot. Die Konsole lag jetzt einfach schief und nutzlos da, und in mir stieg eine Welle von Schuld- und Angstgefühlen hoch.

Wenn mein Vater von seinem Einsatz mit der Küstenwache zurückkam, würde er nicht stolz auf mich sein. Er würde mir auf den Kopf springen wie ein Goomba. Aber nicht seinen Zorn fürchtete ich, sondern seine Enttäuschung. Mein Vater galt unter seinen Kollegen als meisterhafter Elektroniker, der sich auf Luftfahrttechnik spezialisiert hatte. Für mich war er der verrückte Wissenschaftler, der alles selbst reparieren wollte: Steckdosen, Spülmaschinen, Heißwassergeräte und Netzteile. Manchmal durfte ich ihm dabei zur Hand gehen und hatte sowohl das Vergnügen manueller Arbeit als auch das intellektuelle Vergnügen grundlegender mechanischer Zusammenhänge kennengelernt, ebenso die Grundprinzipien der Elektrik, die Unterschiede zwischen Strom und Spannung, zwischen Leistung und Widerstand. Alles, was wir gemeinsam unternahmen, endete entweder mit einer erfolgreichen Reparatur oder mit einem Fluch, mit dem mein Vater das Gerät, das nicht mehr zu retten war, in die Pappschachtel mit den irreparablen Dingen warf. Solche Fehlschläge schmälerten meine Bewunderung für meinen Vater nicht, dazu war ich viel zu beeindruckt davon, dass er überhaupt den Versuch gewagt hatte.

Als er nach Hause kam und herausfand, was ich mit dem NES angestellt hatte, war er zu meiner großen Überraschung keineswegs verärgert. Wirklich erfreut war er auch nicht, aber er hatte Geduld. Er erklärte mir, dass zu wissen, warum und wie etwas schiefgegangen war, in jeder Hinsicht ebenso wichtig sei, wie zu wissen, welches Bauteil versagt hatte: Wenn man über das Warum und Wie Bescheid weiß, kann man verhindern, dass es in Zukunft noch einmal zu der gleichen Funktionsstörung kommt. Er zeigte nacheinander auf die einzelnen Teile der Konsole, erklärte mir nicht nur, worum es sich dabei handelte, sondern auch welche Aufgabe sie hatten und wie sie im Zusammenwirken mit allen anderen Teilen zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Ganzen beitrugen. Nur wenn man einen Mechanismus in allen Einzelteilen analysiert, kann man feststellen, ob sich die Aufgabe mit dieser Konstruktion am effizientesten lösen lässt. Wenn es schon der effizienteste Mechanismus war, der einfach nur nicht funktionierte, konnte man ihn reparieren. Wenn nicht, brachte man Veränderungen an, um den Mechanismus zu verbessern. Das war nach Ansicht meines Vaters die richtige Vorgehensweise für Reparaturarbeiten, und nichts daran war beliebig. Das war für ihn die grundlegende Verantwortung, die man gegenüber der Technologie hat.

Wie alle Lektionen, die mein Vater mir erteilte, so ging auch diese weit über die unmittelbare Aufgabe hinaus. Letztlich war es eine Lektion in Eigenverantwortung, und diese, so erklärte mein Vater, sei in Amerika irgendwann zwischen seiner und meiner Kindheit in Vergessenheit geraten. Wir lebten jetzt in einem Land, in dem der Preis für den Ersatz eines defekten Geräts durch ein neueres Modell in der Regel niedriger war als die Reparaturkosten bei einem Fachmann, und die waren wiederum in der Regel niedriger als die Kosten, die man hatte, wenn man die Reparatur selbst durchführte. Allein diese Tatsache führte zu einer technologischen Tyrannei, die nicht nur durch die Technologie selbst aufrechterhalten wurde, sondern durch das Unwissen aller, die sich ihrer täglich bedienten und sie doch nicht verstanden. Wenn man sich nicht über die grundlegende Funktionsweise und Instandhaltung der Geräte informierte, auf die man angewiesen war, nahm man die Tyrannei passiv hin und unterwarf sich ihren Bedingungen: Wenn Deine Geräte funktionieren, funktionierst Du auch, aber wenn Deine Geräte versagen, versagst Du. Deine Besitztümer besitzen Dich.

Wie sich herausstellte, hatte ich vermutlich nur eine Lötstelle beschädigt, aber um herauszufinden, welche, wollte mein Vater besondere Testapparaturen verwenden, die ihm in seinem Labor im Stützpunkt der Küstenwache zur Verfügung standen. Ich nehme an, er hätte die Geräte auch mit nach Hause bringen können, aber aus irgendeinem Grund nahm er mich stattdessen mit zur Arbeit. Ich glaube, er wollte mir einfach sein Labor zeigen. Er war zu dem Schluss gelangt, dass ich jetzt so weit war.

Ich war nicht so weit. Noch nie hatte mich ein Ort so beeindruckt. Nicht einmal die Bibliothek. Nicht einmal der Radioladen in der Lynnhaven Mall. Im Gedächtnis sind mir vor allem die Bildschirme geblieben: Das Labor selbst war ein düsterer, leerer Raum mit dem beige-weißen Standardanstrich staatlicher Gebäude, aber noch bevor mein Vater das Licht einschaltete, war ich vollkommen gefesselt von dem pulsierenden, elektrisch-grünen Glimmen. Warum gibt es hier so viele Fernsehgeräte?, war mein erster Gedanke, und als Nächstes dachte ich: Warum sind sie alle auf den gleichen Kanal eingestellt? Mein Vater erklärte mir, das seien keine Fernsehgeräte, sondern Computer. Das Wort hatte ich zwar zuvor schon gehört, ich wusste aber nicht, was es bedeutete. Ich glaube, ich nahm anfangs an, die Bildschirme – die Monitore – seien selbst die Computer.

Er zeigte sie mir einen nach dem anderen und bemühte sich zu erklären, wozu sie dienten: Der hier verarbeitete Radarsignale, jener gab Nachrichten über Funk weiter, und ein dritter simulierte die elektronischen Systeme in einem Flugzeug. Ich behaupte nicht, ich hätte auch nur die Hälfte davon verstanden. Diese Computer waren weiter entwickelt als nahezu alles, was zu jener Zeit im privaten Sektor in Gebrauch war, und sie waren fast allem, was ich mir jemals ausgemalt hatte, weit voraus. Natürlich, ihre Prozessoren brauchten volle fünf Minuten zum Hochfahren, die Bildschirme hatten nur eine Farbe, und Lautsprecher für Klangeffekte oder Musik gab es nicht. Aber solche Einschränkungen kennzeichneten sie nur als etwas Ernsthaftes.

Mein Vater setzte mich auf einen Stuhl und stellte ihn so hoch ein, dass ich gerade den Schreibtisch erreichen und ein darauf liegendes rechteckiges Gebilde aus Plastik greifen konnte. Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich vor einer Tastatur. Mein Vater hatte mich nie auf seinem Commodore 64 tippen lassen, und meine Zeit vor dem Bildschirm war auf Videospielkonsolen mit ihren zweckgebundenen Controllern beschränkt gewesen. Das hier aber waren keine Spielgeräte, sondern professionelle Allzweckcomputer, und wie man sie zum Laufen bringt, verstand ich nicht. Es gab keinen Controller, keinen Joystick, keinen Gashebel. Die einzige Schnittstelle war dieses flache Stück Plastik mit seinen Reihen von Tasten, auf denen Buchstaben und Zahlen aufgedruckt waren. Die Buchstaben waren in einer anderen Reihenfolge angeordnet, als ich sie in der Schule gelernt hatte. Der erste Buchstabe war kein A, sondern ein Q, dann folgten W, E, R, T und Y. Wenigstens die Zahlen standen in der Reihenfolge, die ich kannte.

Wie mein Vater mir erklärte, hatte jede Taste auf der Tastatur – jeder Buchstabe, jede Zahl – einen Zweck, und auch ihre Kombinationen hatten bestimmte Zwecke. Es war genau wie mit den Knöpfen auf einem Controller oder einem Joystick: Wenn man die richtigen Kombinationen kannte, konnte man Wunder bewirken. Um es zu beweisen, griff er über mich hinweg, tippte einen Befehl ein und drückte die Enter-Taste. Auf dem Bildschirm erschien etwas, von dem ich heute weiß, dass es ein Texteditor war. Dann griff er nach einem Post-it-Zettel und einem Bleistift, kritzelte einige Zahlen und Buchstaben darauf und sagte mir, ich solle sie genau so eintippen, während er hinausging und den defekten Nintendo reparierte.

Sobald er weg war, fing ich an, auf eine Taste nach der anderen zu tippen und so sein Gekritzel auf dem Bildschirm zu reproduzieren. Als linkshändiges Kind, das zum Rechtshänder erzogen worden war, erschien mir dies sofort als die natürlichste Methode des Schreibens, die mir jemals begegnet war.

10INPUT »WHAT IS YOUR NAME?«; NAME$

20PRINT »HELLO« + NAME$+»!«

Für Dich mag sich das einfach anhören, aber Du bist auch kein kleines Kind. Ich war eines. Ich war ein kleines Kind mit dicklichen Stummelfingern und wusste noch nicht einmal, was Anführungszeichen sind, ganz zu schweigen davon, dass ich die Shift-Taste drücken musste, um sie zu produzieren. Nach vielen Versuchen und vielen Fehlern gelang es mir schließlich, den Text fertigzustellen. Ich drückte auf Enter, und daraufhin stellte mir der Computer blitzschnell eine Frage: WHAT IS YOUR NAME?

Ich war fasziniert. Auf dem Zettel stand nicht, was ich als Nächstes tun sollte, also entschloss ich mich zu antworten und drückte noch einmal meinen neuen Freund Enter. Plötzlich erschienen aus dem Nichts in Neongrün, das auf der Schwärze schwamm, die Worte: HELLO, EDDIE!

Das war meine Einführung in das Programmieren und die Computertechnik im Allgemeinen: Ich lernte, dass diese Maschinen tun, was sie tun, weil jemand es ihnen auf eine ganz besondere, sehr sorgfältige Weise sagt. Und dass dieser Jemand nicht älter als sieben Jahre sein muss.

Fast sofort begriff ich, welchen Beschränkungen die Spielsysteme unterliegen. Im Vergleich zu Computersystemen waren sie langweilig. Nintendo, Atari, Sega: Bei allen war man auf Levels und Welten beschränkt, die man durchlaufen und sogar besiegen konnte, aber ändern konnte man sie nie. Die reparierte Nintendo-Konsole wanderte wieder ins Wohnzimmer, aber dort ließ ich sie mehr oder weniger links liegen. Ich spielte nur noch mit meinem Vater Mario Kart, Double Dragon oder Street Fighter. Mittlerweile war ich in all diesen Spielen bedeutend besser als er – die erste Tätigkeit, in der ich mich als begabter erwies als mein Vater –, aber hin und wieder ließ ich ihn gewinnen. Er sollte mich nicht für undankbar halten.

Ich bin kein geborener Programmierer und habe mir nie eingebildet, darin besonders gut zu sein. Aber in den nächsten rund zehn Jahren wurde ich immerhin gut genug, um gefährlich zu sein. Bis heute ist es für mich ein magischer Prozess: Man tippt Kommandos in fremden Sprachen ein, die der Computer dann in etwas übersetzt, das nicht nur mir zur Verfügung steht, sondern allen. Mich faszinierte der Gedanke, dass ein einzelner Programmierer etwas Universelles codieren kann, etwas, was nicht von Gesetzen, Regeln oder Vorschriften eingeschränkt wird außer denen, die sich vollständig auf Ursache und Wirkung zurückführen lassen. Zwischen meinem Input und dem Output bestand ein vollkommen logischer Zusammenhang. Wenn mein Input fehlerhaft war, war auch der Output fehlerhaft; war mein Input fehlerfrei, war es der Output des Computers ebenso. Nie zuvor hatte ich etwas so Einheitliches und Gerechtes gesehen, etwas so eindeutig Unvoreingenommenes. Ein Computer wartete ewig darauf, mein Kommando entgegenzunehmen, verarbeitete es aber in dem Augenblick, in dem ich auf Enter drückte, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. So geduldig und doch so zugänglich war kein Lehrer jemals gewesen. Nirgendwo sonst – mit Sicherheit nicht in der Schule und nicht einmal zu Hause – hatte ich das Gefühl, etwas so umfassend kontrollieren zu können. Dass eine fehlerfrei geschriebene Reihe von Kommandos fehlerfrei immer und immer wieder die gleichen Tätigkeiten auslöste, erschien mir – wie auch so vielen anderen schlauen, technik-affinen Kindern des neuen Jahrtausends – als einzig stabile, rettende Wahrheit unserer Generation.

Kapitel 3Der Junge vom Beltway

Kurz vor meinem neunten Geburtstag zog meine Familie von North Carolina nach Maryland. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass mein Name mir vorausgeeilt war. Snowden war in Anne Arundel County, wo wir uns niedergelassen hatten, allgegenwärtig; warum, erfuhr ich erst einige Zeit später.

Richard Snowden war ein britischer Major. Er war 1658 in die Provinz Maryland gekommen und davon ausgegangen, dass man die von Lord Baltimore garantierte Religionsfreiheit für Katholiken und Protestanten auch auf die Quäker ausweiten würde. Zu Richard gesellte sich 1674