Politische Theologie der Modernen Welt - Jürgen Moltmann - E-Book

Politische Theologie der Modernen Welt E-Book

Jürgen Moltmann

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Beschreibung

Hoffnungstheologie gegen die Verzagtheit

Propheten blicken nicht in die Zukunft voraus, sie sagen vielmehr an, was in einer bestimmten Zeit zu erinnern, zu fordern und zu tun ist. So geben Propheten Orientierung in der Gegenwart. In diesem Sinne ist die Theologie Jürgen Moltmanns immer auch eine prophetische Theologie gewesen. Eine Rede von Gott, die in der Gegenwart gründet und auf das Handeln für eine bessere Zukunft hin gerichtet ist, eine politische Theologie der Hoffnung.

Dieses Buch führt wesentliche Beiträge des theologisch-politischen Denkens Moltmanns in einem Band zusammen. Nüchterne Bestandsaufnahmen von Wirklichkeit, die aus der Botschaft biblischer Verheißung Kraft gegen Verzagtheit gewinnen und Mut für Zukunft schöpfen.

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Politische Theologie

DER MODERNEN WELT

Eine Theologie der Hoffnung in unübersichtlicher Zeit

Propheten blicken nicht in die Zukunft voraus, sie sagen vielmehr an, was in einer bestimmten Zeit zu erinnern, zu fordern und zu tun ist. So geben Propheten Orientierung in der Gegenwart.

In diesem Sinne ist die Theologie Jürgen Moltmanns immer auch eine prophetische Theologie gewesen. Eine Rede von Gott, die in der Gegenwart gründet und auf das Handeln für eine bessere Zukunft hin gerichtet ist, eine politische Theologie der Hoffnung.

Dieses Buch führt wesentliche Beiträge des theologisch-politischen Denkens Moltmanns in einem Band zusammen. Nüchterne Bestandsaufnahmen von Wirklichkeit, die aus der Botschaft biblischer Verheißung Kraft gegen Verzagtheit gewinnen und Mut für Zukunft schöpfen.

Dr. Jürgen Moltmann studierte Theologie während der Kriegsgefangenschaft in England und nach seiner Rückkehr nach Deutschland in Göttingen. Von 1953 bis 1958 war er Pfarrer und Studentenpfarrer in Bremen, von 1958 bis 1964 Professor an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal. Von Bonn, wo er von 1964 bis 1967 lebte, kam er 1967 nach Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 lehrte. Seitdem hat er international zahlreiche Gastprofessuren und Vortragsreisen wahrgenommen. Seine besondere Liebe gilt Nicaragua und Korea. Jürgen Moltmann erhielt zahlreiche Preise und 19 Ehrendoktorate.

JÜRGEN MOLTMANN

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Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-27980-6V001

www.gtvh.de

Dem Gedenken

an JOHANN BAPTIST METZ

gewidmet

INHALT

VORWORT

EINFÜHRUNG: WISSENSCHAFT UND RELIGION IN DER CORONA-PANDEMIE 2020

1. Vorbemerkung

2. Hoffnung zu Zeiten der Corona-Pandemie 2020

3. Das Virus und der Tod (Mai 2020)

I. DIE POLITISCHE RELIGION DES WISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHEN ZEITALTERS

1. Pico de la Mirandola: Die Mitte der Welt

2. Francis Bacon: Wissen ist Macht

3. René Descartes: Die vermessene Welt

4. Immanuel Kant: Die Welt als Entwurf des Menschen

5. Theologische Kritik

6. Der Mythos von der gottebenbildlichen Herrschaft des Menschen

II. DIE GEBURT DER NEUZEIT AUS DEM GEIST MESSIANISCHER HOFFNUNG

1. Chiliastische Zukunft und die »goldene Zeit«

2. Die »jüdischen Träume«

3. Die Wiedergeburt des christlichen Chiliasmus im 17. Jahrhundert

3.1 Die Herborner Schule und Johann Amos Comenius

3.2 Menasseh Ben Israel und »Spes Israelis« 1650

3.3 Die Quintomonarchianer und die spanische Weltmonarchie

3.4 Philipp Jakob Speners »Hoffnung zukünftig besserer Zeiten«

4. Die Wendung zum »philosophischen Chiliasmus« im 18. Jahrhundert

4.1 Gotthold Ephraim Lessing

4.2 Immanuel Kant

5. Menschheitspathos und »weiße Vorherrschaft«

III. ÜBERSICHT: FORTSCHRITT UND ABGRUND. ERINNERUNGEN AN DIE ZUKUNFT DER MODERNEN WELT

1. Das Jubiläumsjahr 2000

2. Die Conquista Amerikas und die Entzauberung der Natur

3. Die Vision der » neuen Weltordnung«

4. Die Vision der »Neuzeit«

5. Das Zeitalter der Trümmer: »Der Engel der Geschichte«

6. Der Engel der Auferstehung: Im Ende – der neue Anfang

7. Auferweckung der Toten: Zukunft für die Vergangenheit

8. Die Zukunft der demokratischen Revolution

9. Die Zukunft der industriellen Revolution

10. Eine bewohnbare Erde

IV. VERSÖHNUNG DER NATIONEN FÜR DAS ÜBERLEBEN DER MENSCHHEIT

1. Die »Erlöser-Nation«: Religiöse Wurzel des US-amerikanischen Exzeptionalismus

1.1 Das »auserwählte Volk«

1.2 Die Wiedergeburt der Nation aus dem Opfertod

1.3 »The manifest destiny«

1.4 Das große Experiment

1.5 Zwischenfazit

2. Das »Reich der Mitte«: Harmonie und Fortschritt in China

2.1 Harmonie im Konzept »Natur«

2.2 Fortschritt im Konzept »Geschichte«

2.3 Auf der Suche nach einem lebensfähigen Ausgleich von »Natur« und »Geschichte«

2.4 Die humanen Grenzen des kapitalistischen Fortschritts, oder: »What money can’t buy«

2.5 Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

2.6 Weltmacht durch Attraktivität oder durch Aggressivität?

3. Die Christenheit und Europa

3.1 Christliche Europaideen und die ökumenische Weite des Christentums

3.2 Religionsfreiheit: Laizistisch oder freikirchlich?

3.3 Christliche Identität im Bereich der Religionsfreiheit

4. Der neue Nationalismus und die Versöhnung der Nationen

4.1 Drei politische Versöhnungen

4.2 Der neue Nationalismus

4.3 Die Versöhnung Gottes

4.4 Kirche Christi und die Menschheit

V. DIE GROSSEN ALTERNATIVEN

1. Übersicht: Eine Kultur des Lebens in den tödlichen Gefahren dieser Zeit

1.1 Terror des Todes

1.2 Eine Kultur des gemeinsamen Lebens

2. Gottwerdung der Menschen – Menschwerdung Gottes. Atheistische Selbstvergottung des modernen Menschen

2.1 Ludwig Feuerbach: Anthropologie ist Theologie

2.2 Michael Bakunin: Weder Gott noch Staat

2.3 Wissenschaft und Technik als Meta-Religion (Noah Harari)

2.4 Ernst Blochs Religionskritik und messianischer Atheismus

2.5 Warum wurde Gott Mensch (cur Deus homo)?

3. Der Tod: Unsterblichwerden oder Auferstehen des Lebens?

3.1 Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

3.2 Seinen Tod in die eigene Hand nehmen

3.3 Die Kunst der Lebensverlängerung

3.4 Tiefgefroren, um wieder aufgeweckt zu werden

3.5 Unsterblich werden durch Algorithmen

3.6 Kritik

3.7 Eine Alternative

4. Die große Alternative: Globales Raumschiff oder Gemeinschaft des Lebens?

VI. MODERNE POLITISCHE THEOLOGIE

1. Voraussetzungen

1.1 Säkularisierung

1.2 Verwirklichung

2. Liberale Theologie

3. Die soziale Ungleichheit und die »Theologie der Befreiung«

4. Der weiße Rassismus und die »Schwarze Theologie«

5. Das Patriarchat und die »Feministische Theologie«

6. Die ökologische Wende in der christlichen Theologie

6.1 Von der Weltherrschaft zur kosmischen Gemeinschaft

6.2 Die Schöpfungsgemeinschaft

6.3 Eine Theologie der Erde

6.4 Die neue Schöpfung

6.5 Der kosmische Christus: »at home in the universe«

6.6 Der neue Himmel und die neue Erde

6.7 Welt ohne Tod

Namenregister

VORWORT

Ich habe immer in politischer Zeitgenossenschaft gelebt. Die langfristigen politischen Bewegungen und die weiträumigen kulturellen Fragen haben mich interessiert. Wie ist es aus der Christlichen Welt zur Westlichen Welt gekommen? Welche Ereignisse und Faktoren waren wirksam? Wie ist es aus der Westlichen Welt zur globalisierten Modernen Welt gekommen? Welche internen und externen Gründe waren für diese Paradigmenwechsel maßgeblich?

Mich interessierte historisch immer das nachreformatorische und voraufklärerische 17. Jahrhundert. Vorbild war für mich Paul Hazard und insbesondere sein Buch »Die Krise des europäischen Geistes 1680–1715« aus dem Jahr1935, in dem er die Entstehung der Aufklärung in Frankreich behandelt. Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648 war die erste europäische Urkatastrophe, die alles veränderte. Die Weltreiche der Spanier, Portugiesen, Engländer und Holländer breiteten sich aus. Zugleich begann zu dieser Zeit – zwischen Kopernikus (1473–1543) und Isaac Newton (1643–1727) – die Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften, von der Max Weber sprach und aus der letztlich die Westliche Welt hervorging.

Welche christliche, theologische Perspektive auf dieses Geschehen ist angemessen? Ist das die Säkularisierung, die von der sakralen Welt des Mittelalters zur säkularen Welt der Moderne führte? Oder ist das die geschichtliche Verwirklichung der im Christentum verheißenen Welt, wie das messianische Wort »Neuzeit« für dieses Zeitalter, das auf »Antike« und »Mittelalter« folgen sollte, es nahelegt?

Die Muster der Westlichen Welt sind in der globalen Modernen Welt klar ersichtlich. Doch sind auch die Muster der Christlichen Welt in der Westlichen Welt erkennbar? Ich gehe von der These aus: Die Westliche Welt lebt von einer impliziten Theologie, auch wenn sie in Europa humanistisch und atheistisch erscheint. Ich verstehe den europäischen Humanismus als versuchte Verwirklichung der christlichen Reich-Gottes-Hoffnung und den abendländischen Atheismus als Anthropotheismus, als »Gotteskomplex« des modernen Menschen (Horst Eberhard Richter).

Erleiden wir heute die ökologische Katastrophe der Modernen Welt global, dann ist die christliche Theologie zur Kritik an der impliziten Theologie der Modernen Welt aufgefordert und zur selbstkritischen Veränderung. Christliche Theologie ist nicht nur kirchliche Theologie und nicht nur Theologie des privaten Glaubens, sondern auch öffentliche Theologie der Christenheit in ihrer politischen Verantwortung. Ich nehme damit auf, was Johann Baptist Metz 1968 die »Theologie der Welt« nannte. Seine »neue Politische Theologie« schloss an meine »Theologie der Hoffnung« (1964) an und führte sie in die politische Weite.

Im vorliegenden Buch habe ich in erster Linie Artikel und Vorträge versammelt und zu Kapiteln umgearbeitet – man merkt den Kapiteln ihren Ursprung noch an der einen oder anderen Stelle an. Ausgewählt habe ich Texte zur impliziten Theologie aus den letzten 20 Jahren: zur Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Welt, zur Überholung der Religion durch die »Neuzeit«, zur Überwindung des neuen Nationalismus im Interesse der Menschheit und zur Gemeinschaft des Lebens mit dieser Erde. Hier habe ich zwei Übersichtsvorträge eingeordnet: »Fortschritt und Abgrund«, den ich als Milleniums Lecture im Jahr 2000 in St. Andrews, Schottland, hielt, und »Eine Kultur des Lebens gegen die tödlichen Gefahren dieser Zeit«, den ich im März 2020 in Westminster Abbey, England, präsentierte. Dann setze ich mich auseinander mit der neuen Wissenschaftsgläubigkeit und ihren Heilsversprechen, dass wir Menschen unsterblich werden wie die künstlichen, intelligenten Roboter.

Meine Texte enden mit der Schicksalsfrage von Bill McKibben: Wollen wir diesen Planeten »Erde« zu einem globalen Raumschiff umbauen, oder integrieren wir Menschen uns in die Gemeinschaft des Lebens dieser Erde?

Zuletzt stelle ich die politischen Theologien dar, die sich mit der modernen Westlichen Welt im Ganzen und mit wichtigen Dimensionen im Speziellen auseinandersetzen: die protestantische Liberale Theologie im 19. Jahrhundert, die katholische »Theologie der Befreiung«, die »Schwarze Theologie« in den USA, die »Feministische Theologie« und die ökumenische »Theologie der Erde«.

Ich danke Herrn Diedrich Steen und den Mitarbeitenden im Gütersloher Verlagshaus für die Betreuung meines Buches.

Tübingen, im Februar 2021

Jürgen Moltmann

EINFÜHRUNG: WISSENSCHAFT UND RELIGION IN DER CORONA-PANDEMIE 2020

1. VORBEMERKUNG

Ich beginne, dieses Buch in den Zeiten der Corona-Pandemie zu schreiben. Es wurden alle meine Vortragseinladungen bis Jahresende abgesagt. Am 3. März 2020 war ich noch in Westminster Abbey für die Charles Gore Lecture, aber danach war ich im Haus. Die Epidemie hat die besten und die schlechten Seiten der betroffenen Menschen öffentlich gemacht. Die Epidemie hat die Spaltungen unserer Gesellschaft in arm und reich sowie in alt und jung offenbart. Doch die Epidemie hat auch gezeigt, was die Wissenschaft, in diesem Fall die Virologie, kann und was der Glaube vermag.

Ich steige mit einem Gutachten ein, das ich in der ersten Phase der Pandemie im März 2020 für die evangelische Kirche in Württemberg geschrieben habe. Danach beurteile ich die öffentlichen Reaktionen der Menschen in der zweiten Phase, der Lockerung der staatlichen Maßnahmen.

Ich setze mich mit dem Wissenschaftsoptimismus von Noah Harari in seinem SPIEGEL-Artikel »Das Virus und der Tod« (25. 04. 2020) auseinander, sozusagen als Auftakt zu dem ersten Kapitel über »Die Politische Religion des wissenschaftlich-technischen Zeitalters«.

2. HOFFNUNG ZU ZEITEN DER CORONA-PANDEMIE 2020

Die Corona-Katastrophe ist wie das »finstere Tal« von Psalm 23: Niemand übersieht sie, niemand weiß, wie lange sie dauert, niemand weiß, wann sie jemanden trifft. Gott erspart uns nicht das »Tal des Todes«, aber Gott ist bei uns in unseren Ängsten. Gott geht mit uns in die Dunkelheit. Er erspart sich selbst nicht das »finstere Tal«. Gott durchleidet unsere Ängste mit uns und weiß doch den Weg für uns. Darum fürchte ich kein Unglück, denn seine Treue ist da in meinem Unglück. »Nah ist und schwer zu fassen der Gott«, dichtete Hölderlin. Gott ist uns näher, als wir wissen können. Darum ist er so schwer zu fassen, aber man kann auf seine Nähe vertrauen. Gottvertrauen trägt das Selbstvertrauen, wenn es angegriffen wird. Alle wissenschaftlichen Zukunftsprognosen sind unsicher geworden, und die Zukunftsgewissheit der Modernen Welt ist gebrochen, jetzt kommt es auf die Hoffnung an.

Christliche Hoffnung ist Reich-Gottes-Hoffnung für die Zukunft der Welt »wie im Himmel so auf Erden«, und wir erwarten »die Auferstehung der Toten in das Leben der kommenden Welt«. Lange Zeit hat diese Ewigkeitshoffnung in den Kirchen die Vorwärtshoffnung auf das Reich Gottes verdrängt. In der Modernen Welt hat der Fortschrittsglaube die Ewigkeitshoffnung verdrängt. Beides ist falsch: Jesu Botschaft vom »nahen Reich« für die Armen, Kranken und Kinder wird von seiner Auferstehung vergegenwärtigt. Die Auferstehungshoffnung gegen den Tod und die Mächte der Vernichtung wird zum Beweggrund für die geschichtliche Hoffnung auf das Reich Gottes.

Im Ende – der neue Anfang: Das ist christliche Hoffnung. Sie gründet in der Erinnerung an das Ende Christi – es war sein wahrer Anfang – und richtet sich auf was immer wir als »Ende« erfahren. Der Gott der Hoffnung schafft immer neu einen Anfang im Leben, und im Tode weckt er uns auf zum neuen Leben in seiner kommenden Welt.

Warum lässt Gott das zu?, ist eine nachträgliche Frage oder eine Zuschauerfrage, nicht die Frage der unmittelbar Betroffenen. Sie fragen nach Heilung und Trost. Sie wollen, dass ihre Leiden aufhören, nicht, dass sie ihnen erklärt werden. Jene alte Warumfrage ist damit nicht abgetan. Sie sucht nach einer Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens ohne Ende. Das ist die Theodizeefrage. Die Antwort lautet: Entweder ist Gott allmächtig oder gut: Gott kann nicht beides zugleich sein. Eine andere Möglichkeit aber ist: »Nur der leidende Gott kann helfen«, wie Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle geschrieben hat. Im gekreuzigten Christus erleidet Gott auch unsere Leiden und nimmt auf sich unsere Schmerzen, um bei uns zu sein in unseren Ängsten. Der gekreuzigte Christus ist der göttliche Trost im Leiden und der göttliche Protest gegen das Leiden, denn Christus ist auferstanden. Übrigens: Wir leben nicht in einer »heilen Welt«. Die Schöpfung ist auch erlösungsbedürftig.

Ist die Corona-Pandemie eine Strafe Gottes für die Menschheit? Manche amerikanischen Evangelikale behaupten das. Die alten heidnischen Opferkulte wollten den Zorn der Götter besänftigen: Die Götter segnen das Wohlverhalten der Menschen und bestrafen ihr Fehlverhalten. Die alte Werkgerechtigkeit sollte die Strafe Gottes abwenden und wollte den Himmel verdienen. Die »Strafe« Gottes mit dem Corona-Virus ist die Kehrseite des evangelikalen »Gospel of Prosperity«.

»Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hatten, und durch seine Wunden sind wir geheilt« (Jes 53,5). Die frühe Christenheit hat den »leidenden Gottesknecht« von Jesaja auf das stellvertretende Leiden Christi am Kreuz bezogen. Wer nach dem Kreuzestod Christi noch von »Strafen Gottes« in der Menschheitsgeschichte spricht, kennt Christus nicht und macht aus der Frohbotschaft der Vergebung der Sünden eine Drohbotschaft vom »strafenden Gott«.

Wer gewinnt in diesen Zeiten der Corona-Pandemie? Die Menschen: Der tägliche Konkurrenzkampf ist stillgelegt. Da alle betroffen sind, lernen wir jetzt, was Solidarität ist. Solidarität gegen einen gemeinsamen Feind wie das Corona-Virus ist gut, Solidarität aus Freude an der gemeinsamen Menschlichkeit – ohne einen Feind – ist besser.

Die Natur: Die Natur der Erde durchlebt eine »Verschnaufpause« von der menschengemachten Umweltkatastrophe: Der Frühling ist in diesem Jahr besonders schön. Die naturgemachte Corona-Katastrophe hat auf die Menschenwelt zu Solidarität und einschneidenden sozialen Maßnahmen geführt. Die Umweltkatastrophe sollte eine ähnliche Solidarität und ähnliche Maßnahmen der Staatengemeinschaft hervorrufen.

Wer verliert in der Corona-Katastrophe? Das Selbstbewusstsein der modernen Menschen: Wir haben die Krise nicht »im Griff«. Die Covid-19-Viren stellen unsere »Machbarkeit aller Dinge« durch Wissenschaft und Technik in Frage. Wir kommen an unsere Grenze. Der Virus wird in den USA zum »Feind« erklärt und seine Bekämpfung wird als »Krieg« gewertet. Ist die Natur wieder der »Feind« des Menschen?

Die Virologen des Robert-Koch-Instituts erschienen in jeder Tagesschau im deutschen Fernsehen und sagten jedes Mal etwas Anderes über ihren wissenschaftlichen Befund über das Virus und seine Verbreitung. Der Befund hatte sich geändert, aber die Zuschauer wollten stabile Ergebnisse haben, und die kann die exakte Wissenschaft in diesem Fall nicht liefern: Einmal sieht die Kurve der Neuinfektionen so aus, als wäre die Epidemie Ende August 2020 in Deutschland zu Ende, dann sieht sie wieder so aus, als zöge sie sich noch bis Jahresende dahin. Auf die Wissenschaft, als Prophetie genommen, ist auch kein Verlass.

Die Sterbenden werden nur in Zahlen erwähnt. Sie sterben aber auf den Intensivstationen in äußerster Isolation und ohne menschliche Nähe. Um die Gesunden zu retten, lassen wir sie allein. Keiner kann sagen, ihn oder sie betreffe solches Sterben nicht. Der modern verdrängte Tod ist wieder ins Zentrum getreten. Das ist für das moderne Selbstbewusstsein schlecht. Statt Arroganz ist Demut gefragt. Die christlichen Kirchen sollten einen Volkstrauertag ausrufen und die Gottesklage über die Corona-Toten öffentlich machen.

3. DAS VIRUS UND DER TOD (MAI 2020)

Der Menschheitshistoriker Yuval Noah Harari1 hat in seinem SPIEGEL-Artikel »Das Virus und der Tod«2 recht: In der gegenwärtigen Corona-Krise rufen die Menschen nach Wissenschaft und Technik, um das Covid-19-Virus »in den Griff« zu bekommen, und nicht nach Religion und Trost, um es zu ertragen. Der Deutschlandfunk hatte zeitweise seine halbe Stunde »Aus Religion und Gesellschaft« von 9:30 bis 10:00 morgens umfunktioniert in »Aus Wissenschaft und Technik«.

Die am Virus Gestorbenen werden nur noch in Zahlen gemessen, und die um sie Trauernden werden auf Abstand gehalten. Es gibt nur das krankmachende Virus, nach dem Wissenschaft und Technik fahnden; die kranken Menschen sind aus der Öffentlichkeit in die Krankenhäuser verschwunden.

Das Gesundheitssystem moderner Gesellschaften ist der Virus-Pandemie nicht gewachsen. Die Ökonomisierung des Medizinalwesens, die Profitorientierung der Krankenhäuser und die Privatisierung der Pflegeheime sind die Ursachen. Die Globalisierung hat internationale Lieferketten für Medizin hervorgebracht. Die Grundstoffe unserer deutschen Medikamente werden in China und Indien hergestellt, weil das billiger ist, so als sei der Schutz der Gesundheit des Volkes nicht Staatsziel, sondern dem freien Markt überlassen.

Harari vertritt eine selbstbewusste, aber nicht selbstkritische Aufklärung und erklärt Religion, ihre Mythen und Rituale einfach zur Vergangenheit der Menschheit und Wissenschaft und Technik zu ihrer Zukunft. Sakralität bestimmte die Vergangenheit und Säkularität bestimme die Zukunft. Wissenschaft und Technik bezögen sich auf »das Leben vor dem Tod«, Religion auf »das Leben nach dem Tod«, darum müsse die Wissenschaft auch noch den Tod abschaffen, wenn sie an die Stelle der Religion treten wolle.

»Für Wissenschaftler ist der Tod kein göttliches Dekret, sondern ein technisches Problem. Menschen sterben nicht, weil Gott es gesagt hat, sondern wegen einer technischen Panne. Das Herz hört auf, Blut zu pumpen, Krebs hat die Leber zerstört, Viren vermehren sich in der Lunge … nichts Metaphysisches. Und die Wissenschaft glaubt, dass jedes technische Problem eine technische Lösung hat. Wir müssen nicht auf die Wiederkunft Christi warten, um den Tod zu überwinden. Ein paar Wissenschaftler in einem Labor können das« (114).

»Die moderne Welt glaubt, dass der Mensch den Tod überlisten und besiegen kann« (114). »Transhumanisten« arbeiten an einer »Lebensverlängerung« durch Abschaffung des Todes, sodass Menschen nicht mehr sterben müssen, indem sie menschliches Gehirn an Computern anschließen.3 »Die Kunst der Lebensverlängerung«, die Professor Hufeland 1796 empfahl, hatte nichts mit der Abschaffung des Todes zu tun, sondern nur damit, wie man im Alter gesund isst und gut schläft.

Kritik

Endlosigkeit hat nichts mit Unendlichkeit zu tun. Ewiges Leben ist nicht endlos verlängertes Leben, sondern eine neue Qualität des Lebens. Insofern ist der Vergleich Hararis zwischen der »Wiederkunft Christi« und »einem Labor« unlogisch. Wenn allerdings die moderne Welt »den Tod besiegt«, hört die Menschheitsgeschichte auf. Das »Ende der Geschichte« des Lebens? – Wenn das das Ziel der »Lebensverlängerung« ist, ist es dann nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung der Menschheit, wie wir sie kennen?

Harari hat die Dialektik der Aufklärung übersehen:

Vernunft wird im Zeitalter der Aufklärung nur noch als »instrumentelle Vernunft« verstanden. Vernunft als »vernehmendes Organ« wird durch den Verstand ersetzt, der sich auf Machbares »versteht«. Das entfremdet die menschliche Vernunft von sich selbst. Wissen ist ursprünglich Teilnahme an anderem Leben, wie jeder Mensch in seiner Kindheit erfährt.Die Beziehungen zu anderem Leben werden allein der Macht über sie unterworfen, der Beherrschbarkeit und dem Machen. Das verarmt die Beziehungen des Menschen zur Natur und vereinsamt das menschliche Subjekt.Die Natur wird als Objekt angesehen, das es zu unterwerfen und auszunutzen gilt. Das entfremdet die Lebenswelt der Natur draußen und auch die Natur des Menschen drinnen. Das Ergebnis ist »L’Homme machine«, der Maschinenmensch.

»Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge nur, sofern er sie machen kann.«4

»Unsere Superhelden sind die Wissenschaftler im Labor«, preist Harari, weil sie alles machen können, weil sie potenziell allmächtig sind. Der Wissenschaftler, der alles Physische prinzipiell beherrschen kann, transzendiert das Physische und ist selbst das metaphysische Subjekt. Soviel zu Hararis Statement: »nichts Metaphysisches«. Je mehr die Wissenschaftler die Welt beherrschen, umso gottebenbildlicher ihr Status.

Damit sind wir bei dem »Mythos« der jüdischen und christlichen Religion, den Harari übernimmt.

»Gott schuf den Menschen zu seinem Bild, zum Bild Gottes schuf er ihn; … macht euch die Erde untertan« (Gen 1,27–28).

Weil Gott der Schöpfer der Welt ist und der Herrscher des Alls, so ist sein Ebenbild der Herrscher der Erde. Des Menschen Erdherrschaft entspricht der Weltherrschaft Gottes. »Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.«5

Die moderne Welt hat von Beginn an diesen »Mythos« aus dem Schöpfungsbericht Israels verwirklicht. Je mehr die Natur der Erde durch Wissenschaft und Technik beherrscht werden konnte, desto gottähnlicher wurde der moderne Mensch. Der Atheismus der Neuzeit ist in Wahrheit ein Anthropotheismus. Heute erleben wir die ökologische Katastrophe im »Klimawandel« und »Artensterben«. Daran ist das Menschenbild aus Genesis 1,27 schuld. Der Anthropozentrismus der modernen Welt ist dem biblischen Menschenbild »imago Dei – dominium terrae« geschuldet.

Um auf Harari zurückzukommen: Er preist zwar die moderne Welt, die den Tod zu besiegen glaubt. Aber noch ist es nicht so weit, »wir müssen uns unserer Vergänglichkeit stellen«. Diese »Last unserer Sterblichkeit zu tragen« ist »Sache des Einzelnen« (116). Religion ist Privatsache, sie soll die moderne Welt in ihrem »Gotteskomplex« nicht stören: Homo Deus.

1 Unter anderem bekannt durch: Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, 23. Aufl., München 2015.

2 Noah Harari, »Das Virus und der Tod«, in: DER SPIEGEL, Nr. 18/2020, 25. 04.2020, 114–116. Seitenzahlen im Folgenden in Klammern.

3 M. O’Connell, Unsterblich sein. Reise in die Zukunft des Menschen, München 2017.

4 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M.1969, 15.

5 Ebd.

I. DIE POLITISCHE RELIGION DES WISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHEN ZEITALTERS

Durch Naturwissenschaft und Technik trat die moderne Welt die Weltherrschaft an. Die Theologie bot dafür die Gottebenbildlichkeit und Herrschaft über die Erde als Deutungskategorie an:

»Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht« (Gen 1,27.28).

Das ist die berühmte »Sonderstellung des Menschen im Kosmos«, wie Max Scheler sie nannte. Dieser Bibeltext ist vermutlich 2500 Jahre alt, wurde aber erst vor ungefähr 400 Jahren »modern« und wird bis heute zur politischen Theologie der Weltherrschaft verwendet.

1. PICO DE LA MIRANDOLA: DIE MITTE DER WELT

In der Zeit der Renaissance wurde dieses biblische Menschenbild zum Anthropozentrismus der modernen Welt gesteigert: Der Mensch steht in der Mitte der Welt, nicht nur der Erde, sondern auch zwischen Himmel und Erde, zwischen Engeln und Tieren. Den klassischen Text lieferte Pico della Mirandola 1486 in seiner Schrift »Über die Würde des Menschen« (De dignitate hominis). Er beginnt mit einem Zitat des islamischen Gelehrten Abdallah: »Nichts gibt es in der Welt, das bewunderungswürdiger ist als der Mensch« – für den Menschen, darf man hinzufügen. Mirandola sieht den Menschen »aus der Reihe des Universums hervorschreiten: beneidenswert nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Sterne, ja sogar für die überweltlichen Intelligenzen [die Engel]«.

»Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du als dein eigener, vollkommen frei schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst.«

Als Ebenbild des Schöpfers der Welt ist der Renaissancemensch ein »Schöpfer seiner selbst« oder, wie heute oft gesagt wird, »seine eigene Erfindung«. Die Welt steht unter dem gesetzlichen Zwang der Notwendigkeit, nur der Mensch ist frei und ihr Herrscher. Er schafft sich selbst und seine Welt. Er macht sich selbst zum »Maß aller Dinge«. Der Mensch ist das einzige Subjekt des Herrschens, alle anderen Geschöpfe der Erde sind ihm unterworfen und sind seine Objekte. Die Beziehung der Menschen zu ihren Mitgeschöpfen ist die einseitige Beziehung des Herrschens. Die anderen Geschöpfe kommen nur in den Blick als beherrschbare Objekte, als menschliche Objekte als »Sklaven« oder »Leibeigene«.

2. FRANCIS BACON: WISSEN IST MACHT

Von dem Engländer Francis Bacon (1561–1626) stammt der Ruf, der das deutsche Schulwesen bis in meine Jugend hinein prägte: »Wissen ist Macht«. Des Menschen naturwissenschaftliches Wissen wurde als Macht über die Natur verstanden und als Ausweis seiner Gottebenbildlichkeit. Weil er die Erlösung vom Sündenfall als die Wiederherstellung der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit verstand, erklärte Francis Bacon es zum Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur; »the restitution and reinvesting (in great part) to the souvereignty and power which he had in the first state of creation«. Die Wiederherstellung der ursprünglichen Weltherrschaft des Menschen durch Naturwissenschaft und Technik soll den Menschen wieder zum Ebenbild Gottes machen und den Sündenfall überwinden. Wissenschaftliche Macht über die Natur ist ein Schöpfungsauftrag und darum unschuldig. Das ist eine genaue Umkehrung des biblischen Denkens: Nach der Bibel begründet die Gottebenbildlichkeit die Weltherrschaft des Menschen, nach Francis Bacon begründet die Weltherrschaft des Menschen seine Göttlichkeit. Welches Gottesbild steht dahinter? Von den Eigenschaften Gottes ist nur die Allmacht übrig geblieben. Will der Mensch diesem Gott entsprechen, muss er die Macht über diese Erde und alle Erdgeschöpfe gewinnen. Welches armselige Gottesbild! Wir gehen am Schluss des Kapitels auf die Kritik an der Bibelstelle Genesis 1,26.27 ein.

3. RENÉ DESCARTES: DIE VERMESSENE WELT

Bei René Descartes (1596–1650) erreicht die Subjekt-Objekt-Spaltung der Welt zum Zwecke ihrer Beherrschung durch den Menschen ihren Höhepunkt und ihre moderne Form. Dabei war er der Meinung, »dass die beiden Fragen nach Gott und Seele die wichtigsten von denen sind, die eher mit Hilfe der Philosophie als der Theologie zu erörtern sind«, wie er im Widmungsschreiben der »Meditationen« schrieb. Er vollendete den Übergang von der platonischen Seelensubstanz zu dem Seelensubjekt, der mit Augustin begann. Der alte Leib-Seele-Dualismus wich der modernen Subjekt-Objekt-Dichotomie. Das menschliche Subjekt wird sich durch Denken seiner selbst bewusst, nicht durch sinnliche Wahrnehmung. Die Sinneswahrnehmungen täuschen einen, doch dass ich mich täusche, ist gewiss. Descartes bemüht ein augustinisches Argument. Also tritt der menschliche Leib mit seinen Sinnesorganen in den Bereich der objektiven Dinge, auch das Gehirn. Es koexistieren im Menschen ein nichtausgedehntes, denkendes Subjekt und nichtdenkendes, ausgedehntes Objekt. Descartes dachte an die Zirbeldrüse als Verbindungsglied, aber er war sich sicher, »von meinem Körper wahrhaft verschieden zu sein und ohne ihn existieren zu können«. Das denkende Ich – cogito ergo sum – ist unsterblich, da nichts ausgedehntes Körperliches an ihm haftet. Der objektiven Welt schreibt Descartes als einziges Merkmal die Ausdehnung zu: res extensa. Das ist die moderne »vermessene Welt«, die nach Länge, Breite und Höhe vermessen und nach Gewicht gewogen wird. Es ist die Welt der mathematischen Formeln, der Algorithmen. Es ist nicht die Lebenswelt der Erde und nicht die Lebenswelt der Menschen.

Werden Seele und Körper als Subjekt und Objekt durch gegenseitige Ausgrenzung definiert – denkend/nichtdenkend, ausgedehnt/nichtausgedehnt –, dann ist die Verknüpfung nicht mehr denkbar. Der auf Ausdehnung reduzierte Körper hat keine sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen mehr. Die auf Denken reduzierte seelische Subjektivität ist in ihrer Selbstbezüglichkeit gefangen. Die Gottesgewissheit kann allein in der Selbstgewissheit wahrgenommen werden. Das ist die neuzeitliche Variante des augustinischen Paradigma »Gott und Seele«. Doch im autonomen Ich verschmelzen Gott und Seele, und dieses Ich wird zum Mittelpunkt des modernen atheistischen Anthropozentrismus.

Wie die psychosomatische Einheit des Menschen durch die Subjekt-Objekt-Aufspaltung aufgelöst wird, so wird auch die Beheimatung des Menschen in der Natur der Erde preisgegeben. Das denkende Ich steht einer vermessenen Welt gegenüber als »Herr und Eigentümer der Natur«, wie Descartes in seiner Schrift »Über die Methode« sagt. Er fügte der Herrschaft das »Eigentum« hinzu. Die »Natur« der Erde ist »Eigentum« des Menschen. Das passt zum beginnenden Imperialismus der europäischen Mächte. Das »herrenlose Gut« der Natur gehört dem, der es zuerst in Besitz nimmt. Damit begann die Kolonisierung der Welt durch die europäische »white supremacy«. Man sagt nicht zu viel, wenn man in Descartes Philosophie die geistige Wurzel für die Selbstentfremdung der modernen Menschen und für die Zerstörung der Natur durch die moderne Welt sieht.

4. IMMANUEL KANT: DIE WELT ALS ENTWURF DES MENSCHEN

In seiner »Kritik der reinen Vernunft« hat Immanuel Kant (1724–1804) auch eine Kritik der modernen, wissenschaftlichen Vernunft geboten. In seiner »Vorrede« zur 2. Auflage stellt er fest,

»dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangeht und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten«.

Das aber heißt, dass die »objektive Wahrheit« der Wissenschaft erst dann möglich wird, wenn die menschliche Vernunft zuvor einen Horizont, einen Entwurf oder eine Fragestellung entwickelt, in dem das Seiende als Objekt unter bestimmten Perspektiven zur Erscheinung gebracht wird. Auf diese Bedingungen wissenschaftlicher »Objektivität« ist die Vernunft genötigt sich zu besinnen. Unter einem solchen Entwurf verstand Kant dasjenige, »was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt«. Um nicht dem Relativismus der Willkür zu verfallen, setzte Kant hinter das »Ding in Erscheinung« das »Ding an sich«. Dieses metaphysische Postulat macht es, dass Wissenschaftler die Dinge, wie sie ihnen erscheinen, nicht für die Dinge an sich halten, und auf diesem Wege von einer Erscheinung zur anderen eilen. Der Entwurf legt die Fragestellung fest, mit der die Natur zur Antwort »genötigt wird«, und schließt andere Fragestellungen als nicht relevant aus. Er legt den Bedeutungshorizont fest, in dem die befragte Natur verständlich wird und man zu sinnvollen Urteilen kommt. Naturwissenschaftliche Experimente verglich Kant mit der Folter, mit der Geständnisse erpresst werden: Sie versuchen, der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen. Doch damit wird die Natur nur in ihren Reaktionen auf menschliche Aktionen erkennbar.

Die alte metaphysische Auffassung einer an sich seienden Welt wird heute verworfen. Wissenschaftliche Theorien können nicht mehr als Kopien der an sich seienden Welt gelten. Nicht ein Bild von der Natur können die Naturwissenschaftler liefern, sondern ein Bild bestimmter Beziehungen der Menschen zur Natur. Damit gewinnen die Naturwissenschaften den Charakter der »Objektivierungskunst«. Die »Natur« der Naturwissenschaften gleicht einer Kunstnatur nach der Idee der Mathematik (H. Hensel).

Die wissenschaftlich-technische Zivilisation entstand aus der Christlichen Welt zur Zeit der Renaissance, breitete sich durch industrielle Revolution und Kolonisation im 19. Jahrhundert als Westliche Welt aus und ist durch die Globalisierung im 20. und 21. Jahrhundert die weltweite Moderne Welt geworden. Die Moderne Weltwirkt auf die verschiedenen Völker und Kulturen seltsam uniform: Flughäfen gleichen sich; die Taxe, die einem zum Hotel fährt, ist von bestimmten Weltmarken gebaut; die Hotels – meist Teil globaler Hotelketten – sind alle ähnlich; die Hochhäuser – entworfen von internationalen Architekturbüros – gleichen sich; mit »basic english« – also einer imperialen Sprache aus Europa – kommt man überall durch; CNN wird auf allen Samsung-TV-Apparaten empfangen; die lokalen Kulturen werden als »Folklore« betrachtet oder abgelichtet. Die Uhren gehen überall gleich, die Messeinheiten sind die gleichen. Die »instrumentelle Vernunft« hat sich in China, Japan und in Afrika durchgesetzt. Überall wird Natur objektiviert, beherrscht und ausgebeutet. Die Menschen verstehen sich als gleiche Subjekte.

Auch die Krisen der Modernen Welt sind global: die atomare Selbstmordfalle, die ökologische Katastrophe, die Überbevölkerung und pandemische Epidemien. Die Völker sind zu einer Schicksalsgemeinschaft der Menschheit zusammengewachsen: Sie gehen gemeinsam unter oder überleben gemeinsam. Diese wissenschaftlich-technische Weltkultur ist entweder »das Ende der Welt« oder das Ziel der Weltgeschichte, der menschlichen Erd-Geschichte, des Anthropozän. Zu Optimismus gibt es keinen Anlass: Die Menschheit hat bisher die atomare Katastrophe nur durch Zufall oder Glück überstanden. Es ist ganz ungewiss, ob die ökologische Katastrophe die Völker eint wie in dem Pariser UNO-Abkommen von 2015 oder die Völker spaltet wie Ex-Präsident Trump in den USA und Präsident Bolsenaro in Brasilien. Die wissenschaftlich-technische Vernunft macht beides möglich, den Untergang wahrscheinlich möglicher.

Die instrumentelle Vernunft muss umkehren und zur teilnehmenden Vernunft werden: Nicht Macht und Machtausübung sind das Ziel der menschlichen Vernunft, sondern das Leben, das Interesse am Gesamtleben und allen einzelnen Lebewesen, die Gemeinschaft des Lebens und die Liebe zum Leben.

5. THEOLOGISCHE KRITIK

Wir beginnen mit zwei Fragen:

Muss naturwissenschaftliches Wissen allein der Herrschaft der Menschen über die Natur dienen?Hat die Moderne Welt ethische Macht über ihre naturwissenschaftliche Macht?

Die Naturwissenschaften stehen in der modernen Gesellschaft unter Zwang, dem Zwang zum Fortschritt. Dieser Zwang zum Fortschritt wird ausgelöst durch den Konkurrenzkampf der modernen Gesellschaften. Durch die Globalisierung der modernen Wirtschaft setzte eine Beschleunigung des Fortschritts ein. Das naturwissenschaftliche Wissen verdoppelt sich alle fünf Jahre. Niemand scheint den beschleunigten Fortschritt aufhalten zu können. Die Studie des Club of Rome 1972 »Die Grenzen des Wachstums« haben den Zwang zum Wachstum nicht aufgehalten. Die ökologischen Grenzen wurden nicht beachtet: Die Vergiftung der Luft mit Kohlenstoffdioxid und die Verschmutzung der Meere mit Plastik gehen weiter, die Unfruchtbarkeit der Erde nimmt zu.

Die erste Formel der Macht sitzt in den Naturwissenschaften und meint die physische Beherrschbarkeit der Welt. Die zweite Formel der Macht wäre die Formel der ethischen Freiheit über diese physische Macht; sie sitzt in der Weisheit. Man muss nicht alles machen, was man machen kann. Gewonnene Macht muss auf das Lebensdienliche in der Menschenwelt und der Welt der Natur angewendet und zur Verhinderung der Vernichtungen des Lebens benutzt werden.

Nach mehr als 400 Jahren der wissenschaftlich-technischen Machtergreifung der Modernen Welt über die Natur und über das Leben brauchen wir eine andere Zeit zur Integration der menschlichen Welt in die Lebensbedingungen der Erde, denn auch wir Menschen sind »ein Teil der Natur«, wie die Earth-Charta von 2000 sagt, und nicht ihre gottähnlichen Herren.

Wie entsteht Weisheit? Aus Gottesfurcht, sagt die biblische Geschichte. Das klingt althergebracht, ist aber ganz modern. Ehrfurcht vor Gott befreit den modernen Menschen vom »Gotteskomplex«. Gottesfurcht führt den Menschen zur Selbstunterscheidung von Gott. Befreit vom Gotteskomplex, verliert sich auch der Machtrausch und der Machbarkeitswahn der Modernen Welt. Aus Ehrfurcht vor Gott entsteht jene ethische Weisheit, mit der der Mensch seine Grenzen erkennt und anerkennt und damit ethische Macht über seine wissenschaftliche und technische Macht gewinnt.

Der Mensch ist mitnichten »die Krone der Schöpfung« oder der Höhepunkt der Evolution des Lebens, er ist das allerabhängigste Geschöpf. Es gibt den Menschen nur, weil es die Erde und die anderen Lebewesen gibt. Der Mensch ist für sein Leben auf die Existenz der Pflanzen und Tiere, auf die Erde, die Luft und das Wasser und das Licht angewiesen. Sie alle können ohne den Menschen existieren, aber der Mensch kann nicht ohne sie leben. Also kann man sich den Menschen nicht als einsamen Herrscher über die Natur der Erde vorstellen. Was immer seine »Sonderstellung im Kosmos« sein mag, zuerst und im Grunde ist der Mensch ein Teil der Erdgemeinschaft und ein symbiotisches Lebewesen. Gottesfurcht befreit von der Arroganz des Herrschens zur »kosmischen Demut« (Richard Bauckham) und macht gemeinschaftsfähig für die Schöpfungsgemeinschaft. Wie wäre es, wenn wir die Natur- und anthropologischen Wissenschaften für das gemeinsame Leben der Erde einsetzen? Das wäre ein neues Interesse der Menschheit, das die Erkenntnis leiten würde. Das wäre ein neues ökologisches Zeitalter.