Weisheit in der Klimakrise - Jürgen Moltmann - E-Book

Weisheit in der Klimakrise E-Book

Jürgen Moltmann

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Beschreibung

Eine Hoffnungsperspektive gegen die Angst

In einer Zeit, die nicht nur von radikalen Veränderungen im geopolitischen Gefüge geprägt ist, sondern in der angesichts der Klimakrise das Leben auf der Erde im ganzen bedroht erscheint, breitet sich Lebensangst aus. In dieser Situation erinnert Jürgen Moltmann daran, dass undifferenzierte Furcht auf konkrete Befürchtungen begrenzt werden muss, wenn Menschen als einzelne und die Menschheit als ganze handlungsfähig bleiben wollen. Er plädiert in diesem Buch darum für eine Weisheit, die Wissen und Technologie, historische Erfahrung und Spiritualität zusammenführt. Moltmann verschließt die Augen nicht vor dem Ernst der Lage. Aber er hält daran fest, dass allen Menschen eine Perspektive der Hoffnung und eine Verheißung des Heils gegeben ist, die Wirklichkeit werden kann, wenn sie tatkräftig ergriffen wird.

  • Eine gelassene Stimme in Zeiten großer Unsicherheit
  • Ängste begrenzen, auf Lösungen fokussieren, Handlungsfähigkeit bewahren
  • Perspektiven einer Weisheitstheologie des Lebens

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Seitenzahl: 207

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Perspektiven einer Weisheitstheologie des Lebens

In einer Zeit, die nicht nur von radikalen Veränderungen im geopolitischen Gefüge geprägt ist, sondern in der angesichts der Klimakrise das Leben auf der Erde im Ganzen bedroht erscheint, breitet sich Lebensangst aus. In dieser Situation erinnert Jürgen Moltmann daran, dass undifferenzierte Furcht auf konkrete Befürchtungen begrenzt werden muss, wenn Menschen als Einzelne und die Menschheit als Ganze handlungsfähig bleiben wollen. Er plädiert in diesem Buch darum für eine Weisheit, die Wissen und Technologie, historische Erfahrung und Spiritualität zusammenführt. Moltmann verschließt die Augen nicht vor dem Ernst der Lage. Aber er hält daran fest, dass allen Menschen eine Perspektive der Hoffnung und eine Verheißung des Heils gegeben ist, die Wirklichkeit werden kann, wenn sie tatkräftig ergriffen wird.

Dr. Jürgen Moltmann studierte Theologie während der Kriegsgefangenschaft in England und nach seiner Rückkehr nach Deutschland in Göttingen. Von 1953 bis 1958 war er Pfarrer und Studentenpfarrer in Bremen, von 1958 bis 1964 Professor an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal. Von Bonn, wo er von 1964 bis 1967 lebte, kam er 1967 nach Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 lehrte. Seitdem hat er international zahlreiche Gastprofessuren und Vortragsreisen wahrgenommen. Seine besondere Liebe gilt Nicaragua und Korea. Jürgen Moltmann erhielt zahlreiche Preise und 19 Ehrendoktorate.

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Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covermotiv: © DOERS - Adobe Stock.com

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-31604-4V001

www.gtvh.de

Ich widme dieses Buch der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal

INHALT

EINLEITUNG

DER BLÜHENDE KIRSCHBAUM – EIN LEBENSZEICHEN

KAPITEL 1: DER MENSCH – EINE MISSGLÜCKTE SCHÖPFUNG?

1. Wie sich der Mensch zum Problem wurde

2. Die Reue Gottes über die misslungene Schöpfung »Mensch«

3. Was ist » nicht gut« in der Schöpfung im Anfang?

4. Christologische Deutung der neuen Schöpfung

KAPITEL 2: WER IST DER MENSCH? VON DER ANTHROPROZENTRISCHEN ZUR KOSMISCHEN ANTHROPOLOGIE

I. Anthropozentrische Anthropologie

1. Der Mensch als Herrscher

2. In der Mitte der Welt

3. Herr und Eigentümer der Natur

4. Das Waisenkind der Natur

5. Höhepunkte philosophischer Anthropologie in Deutschland im 20. Jahrhundert: Max Scheler und Arnold Gehlen

6. Wer ist »der moderne Mensch«?

II. Die Wendung zur kosmischen Anthropologie

1. Die Schöpfungsgemeinschaft

2. Die Größe der nichtmenschlichen Schöpfung

3. Ordnung der Schöpfungsgemeinschaft

4. Die kosmische Christologie und die Weisheit des Kosmos

5. Der Herrschaftsauftrag des gottentsprechenden Menschen

III. Die neue kosmische Anthropologie

1. Die Erde und die Menschen

2. Der Himmel und die Erde

3. Ethos der Erde und des Himmels

4. Der leidenschaftliche Mensch

IV. Der ökologische Mensch

1. Von der Weltpolitik zur Erdpolitik: Menschliche Identität im Wandel

2. Die ökologische Stadt

KAPITEL 3: WEISHEIT IN DER KLIMAKRISE

1. Die technische Transformation

2. Ökologische und soziale Gerechtigkeit

3. Ein neues Naturverstehen

4. Ein neues Menschenbild

5. Kosmische Spiritualität

KAPITEL 4: DIE FEMINISTISCHE THEOLOGIE DES LEBENS VON ELISABETH MOLTMANN-WENDEL

1. Der Anfang

2. Die feministische Bibelarbeit

3. Frauen um Jesus – ein eigener Mensch werden

4. »Ich bin gut, ganz und schön« 1980

5. Theologische Relevanz der Körperräume

6. Und was war meine Rolle in der Entwicklung von Elisabeths Feministischer Theologie?

KAPITEL 5: DIE ZEIT: KREISLAUF UND GESCHICHTE, UND EWIGKEIT

1. Zwei Kirchenlieder aus dem 17. Jahrhundert

2. Der Zeitkreis und der Kreislauf

3. Geschichtliche Zeit und Ewigkeit

4. Die Verschränkung von Zeit und Ewigkeit: Ewigkeit in der Zeit – Zeit in der Ewigkeit

KAPITEL 6: WAHRHEIT ZUR ZEIT DER LÜGEN (FAKE NEWS)

1. Wahrheit im Übergang zur Lüge

2. Objektivität ist Wahrheit: Wissenschaft

3. Die Personalität ist Wahrheit: Humanität

4. Der Geist der Wahrheit

KAPITEL 7: VERHEISSUNG DER HERRLICHKEIT

1. Was meinen wir, wenn wir etwas oder jemand »herrlich« nennen?

2. Biblischer Sprachgebrauch

3. Das Ungute. Die Vergänglichkeit

4. Was ist eine »Verherrlichung«?

5. Mose will die Herrlichkeit Gottes mit eigenen Augen sehen

6. Sehnsucht nach dem Schauen

7. Die orthodoxe Taufe Russlands

8. Die Auferweckung Christi zur Herrlichkeit Gottes

9. Das Reich der Herrlichkeit

Meditation über: »Auch dich lockt er aus dem Rachen der Angst in den weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist« (Hiob 36,26)

Nachweise der Erstveröffentlichung

EINLEITUNG

Die Gegenwart ist von radikalen Veränderungen gekennzeichnet: Die Corona-Krise erscheint heute wie der Beginn einer katastrophischen Zeit, die im Krieg Putins gegen die Ukraine mit all seinen globalen wirtschaftlichen und politischen Folgen eine Dramatik gewonnen hat, deren Tragweite wir noch gar nicht überschauen können. Und über allem liegt die Klimakrise, die schlimmste aller Zukunftserwartungen, weil sie nachhaltig ist und den ganzen Planeten Erde betrifft.

Statt Lebenshoffnung breitet sich Lebensangst aus. »Fürchtet die Erwärmung der Erde!«, möchte man ihnen zurufen. »Fürchtet das Artensterben!« »Fürchtet die Vergiftung der Luft!« Das sind die Mahnrufe der Gegenwart, die auch diejenigen wecken sollen, die die kommenden Gefahren nicht ernst genug nehmen. Diese Furcht ist berechtigt. Aber sie muss auf konkrete Befürchtungen eingegrenzt werden, wenn wir unsere Handlungsfähigkeit nicht einbüßen wollen. Furcht ist das Gefühl für die kommenden Gefahren, sozusagen das Radar unseres Geistes, das uns warnt, aber nicht lähmen soll. Zur Furcht gehört der Lebensmut, der es uns möglich macht, aus der Sorge heraus die Konsequenzen zu ziehen und schnell und radikal zu handeln. Und unser Handeln sollte von Weisheit geleitet sein.

Weisheit in der Klimakrise entsteht, wenn man die Möglichkeiten des Wissens und der Technik und die Erfahrungen der Lebenspraxis zu der veränderten Wirklichkeit ins Verhältnis setzt. Wenn man die negativen Erwartungen im Hinblick auf die Klimakrise, die Möglichkeiten der Wissenschaft und unsere Fähigkeit, unsere Lebenspraxis zu ändern, zusammennimmt, ist Weisheit möglich. Das zeigt sich in der Gegenwart schon, wenn wir sehen, wie es mehr und mehr gelingt, erneuerbare Energie zum Energieträger einer neuen Industriegesellschaft zu machen.

Allerdings steht heute mehr in Frage, nämlich das ganze wissenschaftlich-technische Weltbild, auf das unsere naturzerstörende Industrie und Lebenspraxis aufgebaut sind. Eine kluge Anwendung neuer technischer Mittel wird darum nicht reichen, wenn wir Zukunft gewinnen wollen. Neben das Wissen und die Technik, die beides Instrumente der Machtausübung über die Natur sind, müssen Verstehen und Empathie treten. Wir müssen unser Verhältnis zur Natur an der Wurzel verändern: Wir müssen beginnen, die Lebewesen in ihrem natürlichen Umfeld, die Ökosysteme und den Planeten Erde nicht nur wissenschaftlich zu erklären, sondern empathisch zu verstehen. Wir müssen die Natur als Subjekt verstehen, nicht als Objekt unseres Handelns. Objekte können erklärt werden, Subjekte müssen verstanden werden.

Ich spreche im Titel dieses Buches von »der Klimakrise«. Dabei vergesse ich nicht, dass diese auf den verschiedenen Kontinenten sehr verschiedene Ausprägungen annimmt und die eine Krise eine Vielzahl von Katastrophen mit sehr unterschiedlichen Gesichtern zur Folge hat. Und dabei vergesse ich auch nicht, dass es in der Klimakrise um mehr geht als allein um das Klima. Es geht um Leben, um das Überleben der Menschheit, um das Überleben der Natur, wie sie sich in Jahrmillionen der Evolution entwickelt hat. Ich habe darum mein Thema weiter gespannt, als es der Titel dieses Bandes vermuten lässt. Ich gehe auf die Ewigkeit in der Zeit ein, ich behandele die »Wahrheit in der Zeit der Lüge (fake news)«, nehme Bezug auf die »Feministische Theologie des Lebens«, wie sie meine Frau Elisabeth Moltmann-Wendel entwickelt hat, und spreche über die biblische »Verheißung der Herrlichkeit«. Manche der Beiträge sind eher im Vortragsstil gehalten, andere tragen den Charakter einer Abhandlung, wobei ich mit Anmerkungen sparsam umgehe.

Den Abschluss bildet eine Meditation über Hiob 36,16. Dieser Vers hat mein Leben begleitet und die Artikel dieses Bandes werden meine letzten Beiträge zur ökologischen Theologie des Lebens sein.

Ich widme dieses Buch der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, die mir von 1958 bis 1964 die akademische Freiheit geschenkt und mir am 1. November 2022 die Ehrendoktorwürde verliehen hat. Auch in dieser Hinsicht schließt sich ein Lebenskreis.

Tübingen, am 1. April 2023

Jürgen Moltmann

DER BLÜHENDE KIRSCHBAUM – EIN LEBENSZEICHEN

Das belgische Gefangenenlager in Zedelgem war grauenhaft. Es war ein altes Munitionslager mit riesigen Hallen. Wir saßen und schliefen auf dreistöckigen Pritschen zu 200 Mann in einer Halle. Abends wurden die Hallen dicht gemacht und zwei Kübel hineingestellt. Der Gestank war entsetzlich. Noch schlimmer war der Naziterror nachts. Da waren HJFührer oder SS-Leute, die jeden verprügelten, der am »Endsieg« zweifelte oder abfällige Bemerkungen über Hitler machte. Das Kriegsende am 8. Mai 1945 beendete diesen Nazispuk.

Besser wurde es aber nicht. Das Rote Kreuz erklärte, nicht für uns im Lager zuständig zu sein, weil es kein Deutsches Reich mehr gab. Unsere Rationen wurden drastisch gekürzt, der englische Porridge wurde mit Wasser verdünnt.

Alleinsein konnte man nicht. Die Gefangenen wussten nichts mit sich anzufangen. Wir waren dem Inferno des Krieges entronnen, aber auf jeden von uns Überlebenden kamen Hunderte von Toten. In den schlaflosen Nächten stiege diese schrecklichen Erinnerungen in einem auf, die Toten erschienen und sahen einen mit erloschenen Augen an. Im Krieg war man von einem zum anderen gehetzt worden, sodass man nicht zum Nachdenken kam, aber in Gefangenschaft war man dem Erlebten und Erlittenen schutzlos ausgeliefert. Jeder versuchte, sein blutendes Herz hinter einem Panzer von Unberührbarkeit und Gleichgültigkeit zu verstecken. Das war die innere Gefangenschaft der Seele, die zu jener äußeren Gefangenschaft hinzukam.

Die Gefangenen sind ganz auf ihre innere Welt zurückgeworfen wie die Nonnen und Mönche in ihren Klosterzellen. Der zwangsweise Zölibat verbindet beide. »Schließ zu die Fenster deiner Sinnen und suche Gott tief drinnen«, hatte Gerhard Tersteegen geraten. Aber »drinnen« sind die zerstörenden Erinnerungen, die sich aufdrängen. Ich war in jenen Nächten allein und fühlte mich wie Jakob am Jabbokfluss den finsteren Mächten ausgesetzt. Erst später wurde mir klar, mit wem ich da rang, und wer mit mir rang.

Ich habe die sechs Monate im belgischen Gefangenenlager als »spirituelle Zeit« erlebt. Die Außenwelt war abstoßend, dafür tat sich unter Seelenqualen eine innere Welt auf. Ich bin zwar kein Mystiker geworden wie Therese von Avila mit ihrer »Seelenburg« oder Thomas Merton mit seinem »Sevenstorey Mountain«. Aber ich habe meine innere Welt damals wahrgenommen und kehre jetzt in der Einsamkeit des Alters dorthin zurück.

Dort findet sich eine ausgesprochen schwierige Seelenlandschaft und es braucht Mut, sich ihr zu stellen. Aber sie ist nicht ohne Hoffnung. So war es schon 1945. Im Mai 1945 schoben wir einen offenen Güterwagen aus dem Lager. Wir waren tief deprimiert und ließen die Köpfe hängen. Plötzlich sah ich einen Kirschbaum in voller Blüte. Ich wäre vor Glück beinahe ohnmächtig geworden: Das volle Leben sah mich an. Ich sah nach langer Zeit interesseloser Blindheit in diesem spirituellen Moment auf einem Mal wieder Farben und spürte das Leben in mir. Ich fasste wieder Lebensmut, der mich durch die drei Jahre der Gefangenschaft, die noch folgen sollten, trug.

Es begann mit dem blühenden Kirschbaum und vollendete sich im Liebesglück mit meiner Frau Elisabeth, dass ich aus dem Schneckenhaus meiner Seele ausbrach und die Fülle des Lebens fand. Ich war drinnen und der lebendige Gott war draußen und lockte mich ins Weite mit den Freuden und Schmerzen des gelebten Lebens.

KAPITEL 1:DER MENSCH – EINE MISSGLÜCKTE SCHÖPFUNG?

1. Wie sich der Mensch zum Problem wurde

Zum Beginn der europäischen »Neuzeit« erhob sich ein Teil der Menschheit aus den Gesetzen und Rhythmen der Natur und erklärte sich zur gottgleichen Mitte seiner Welt.1 Mit Entdeckungen, Eroberungen und Erfindungen wurde eine menschliche Umwelt aus der Natur der Erde geschaffen. Damit wurde der neuzeitliche Mensch einsam.2 Auf die Frage »Wer bin ich?« muss er sich selbst Antwort geben. Die moderne, deutsche, philosophische Anthropologie beginnt mit Herders Klage über die Natur: »Die Natur war gegen ihn die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter war … Bei dem Menschen ist alles in dem größten Missverhältnis«.3 Der Mensch ist von Natur ein Mängelwesen, dafür hat er die Freiheit, den »Keim für Ersatz seiner Mängel«. Max Scheler und Arnold Gehlen sind ihm darin gefolgt, aber sie haben so wenig wie Herder nach der Natur der Erde gefragt und wie die Natur aus »Mutter Erde«, wie sie in früheren Kulturen verehrt wurde, zu des modernen Menschen »härtester Stiefmutter« wurde.

Zu Herders Zeiten stand die deutsche »Neuzeit« noch unter dem Eindruck des »philosophischen Chiliasmus« von Lessing und dem jungen Kant.4 Darum ist die »Neuzeit« das »Dritte Zeitalter« nach dem Mittelalter und der Antike, das Joachim von Fiore vorausgesagt hat. »Die Erziehung des Menschengeschlechts« zum Guten ist möglich, denn nach Offb 20,1 ist der »Satan für tausend Jahre gebunden«, so dass sich das Gute ungehindert ausbreiten kann. Der Übergang vom partikularen Kirchenglauben zum universalen Vernunftglauben ist der Weg: Völkerfrieden ist möglich. Das Tor zum Weltfrieden ist offen. Es winkt »das goldene Zeitalter«, wie die schwäbischen Reich-Gottes-Pietisten Albrecht Bengel, Friedrich Oetinger und Christoph Blumhardt weissagten. Als ein messianisches Zeichen galt die Emanzipation der Juden aus dem Ghetto in die bürgerliche Menschenrechtsgesellschaft.

Das 20. Jahrhundert brachte den Zusammenbruch der westlichen Fortschrittswelt und der imperialen Welteroberungen. Die europäischen Großmächte vernichteten sich gegenseitig in den »Materialschlachten« des ersten Weltkriegs. Der zweite Weltkrieg kostete 55 Millionen Menschen das Leben. Nazideutschland ermordete 6 Millionen Juden. Die Amerikaner beendeten den zweiten Weltkrieg mit Atombomben und eröffneten die nukleare Endzeit. Dies ist das Zeitalter, in dem der »nukleare Selbstmord« (Sacharow) der Menschheit möglich wird. Der Fortschrittsblick in die Zukunft wandelte sich zum Blick in den Abgrund. An die Stelle des »philosophischen Chiliasmus« trat die säkulare Apokalypse der »Selbstabschaffung der Menschheit«: Weltuntergang ohne Hoffnung. Das geht mit Kernwaffen plötzlich in wenigen Stunden, das geht durch ökologische Katastrophen langsam, aber unaufhaltsam, das geht durch das digitale Gefängnis der unbegrenzten Überwachung und Manipulation, ohne dass wir es bemerken.5

Damit stehen wir vor der existentiellen Frage: Ob eine Menschheit sein soll oder nicht? Die Evolution des Lebens zeigt kein »starkes anthropisches Prinzip«. Das Weltall wirkt auf uns sinnlos, je mehr wir davon begreifen. Jedenfalls sagen uns weder die Sterne noch unsere Gene, ob eine Menschheit sein soll oder nicht, und wozu sie da sein soll. Und unsere eigenen Selbsterfindungen und Umbaupläne sind nicht überzeugend. Wie können wir das Leben lieben und »Mut zum Sein« (Paul Tillich) fassen, wenn unser Leben möglicherweise eine Fehlentwicklung der Evolution ist und unser Dasein für diese Welt im besten Fall belanglos ist? Gibt es eine »Pflicht zum Dasein« und »eine Pflicht zur Zukunft«, wie Hans Jonas meinte?

Fassen wir beides zusammen: Wenn wir die Möglichkeit zur Erziehung des Menschengeschlechts zum Leben in Frieden und die Möglichkeiten der tödlichen Selbstabschaffungen des Menschengeschlechts nebeneinanderstellen, kommen wir auf den Begriff »Experiment« – der Mensch ist ein Experiment der Natur und seiner Selbst. Wie jedes Experiment kann das Experiment »Mensch« gut und schlecht ausgehen. Ernst Bloch hat die ganze Welt zu einem großen »Experimentum Mundi« erklärt.6 Alles ist noch in der Vorgeschichte, das Ziel ist noch nicht erreicht, aber auch noch nicht verloren: Es kommt auf uns an, dass es gelingt. Aber der Begriff hat auch seine Misslichkeit: Ein Experiment kann man wiederholen oder anders anlegen, das Experiment »Mensch« gibt es nur einmal. Wenn es misslingt, ist kein Mensch mehr da, der daraus klug werden kann.

2. Die Reue Gottes über die misslungene Schöpfung »Mensch«

Vor 2500 Jahren haben die Weisen in Israel schon über die Abschaffung des Menschengeschlechts nachgedacht.7 Anlass waren das Erdbeben und die große Flut, die ganze Kulturen im östlichen Mittelmeer zerstörten, die »Sintflut« genannt. Unser Wort »Weltuntergang« erinnert noch an diese urzeitliche Flut. Genesis 6 hat diese Geschichte:

»Als Gott sah, dass die Bosheit der Menschen auf der Erde groß war, und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war allzeit, da reute es Gott, dass er die Menschen auf der Erde gemacht hatte und er war tief bekümmert.

Und Gott sprach:

Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, von der Oberfläche der Erde austilgen, von den Menschen bis zum Vieh, den Kriechtieren und den Vögeln des Himmels, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Noah aber hatte Gnade gefunden in den Augen Gottes« (Gen 6,5-8).

Wir wollen zunächst nach der Bosheit der Menschen fragen, die zur Reue Gottes geführt hat; danach fragen wir nach der Reue und der Treue Gottes.

»Und es geschah, als die Menschen auf der Erde sich zu mehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Göttersöhne, wie schön die Menschentöchter waren und sie nahmen sich von ihnen allen, an welchen sie Gefallen fanden« (Gen 6,1-2).

Es sieht danach aus, als seien zwei verschiedene Geschichten zusammengesetzt worden, aber auch dann stellt sich die Frage: Warum? Gewöhnlich wird diese Geschichte mythologisch ausgelegt als ,,Engelehen«, aber mir fällt eine politische Deutung der antiken »Tyrannen« ein.

Die mythologische Deutung geht von den Göttersöhnen und den Menschentöchtern aus: »Mit der ehelichen Verbindung dieser zwei Gruppen ist ein Spannungsmoment gegeben«, stellt Claus Westermann fest, und hält es für einen »die Grenzen des Menschen gefährdenden Übergriff der Göttersöhne … gegen den Gottesinbegriff«.8 Wer aber sind die »Göttersöhne«? Sind sie Götter oder Engel, Halbgötter oder Übermenschen, Titanen oder Giganten, Dämonen oder Heroen? Auf jeden Fall sind es männliche Wesen, die von der Schönheit der Menschenfrauen angezogen werden und zeugungsfähig sind. Das verwischt aber die Grenze vom Göttlichen zum Menschlichen.

In der griechischen Antike war die Vorstellung einer göttlichen Zeugung mit einer menschlichen Frau weit verbreitet. Aber das erklärt nicht, warum diese Geschichte mit der Sintflutgeschichte und der »Reue Gottes« zusammengesetzt wurde.

Meine politische Deutung geht nicht von oben vor, sondern von unten. Wer waren in jener Zeit die »Göttersöhne«, für die schöne Frauen Freiwild waren? Es waren die Herrscher, die sich über das Volk erhoben und ihren übermenschlichen Status mit politischer Religion schützten. In Ägypten wurden die Pharaonen nach den Göttern benannt, wie Tutench-Amon. Amon war der Reichsgott. In Israel wurde demgegenüber der Gott Israels nach den Menschen genannt, denen er erschienen war: »Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs«. Auf Vergottung der Herrscher reagierte Israel empfindlich und widerständig. Also nehmen wir an, dass die »Göttersöhne« vor der Sintflut menschliche Herrscher waren und dass die schönen Töchter des Landes ihrer Willkür ausgeliefert waren: Harem und Jus primae noctis.

Für die mythologische Deutung müsste die Sintflut eigentlich nicht auf der Erde, sondern im Himmel stattfinden, weil nicht die Menschen, sondern die »Göttersöhne« böse wurden und ihre Grenzen überschritten.

Für die politische Deutung besteht die Bosheit der Menschen darin, sich solchen Tyrannen und Diktatoren und ihrer Willkürherrschaft zu unterwerfen, indem sie diese vergöttern und ihnen ihre schönen Töchter ausliefern. Mit der Aufgabe der Freiheit an die Willkürherrschaft von Tyrannen beginnt die Bosheit und das Verderben der Menschen. Sie dienen nicht mehr dem lebendigen Gott, sondern opfern ihre Töchter den politischen Götzen, die sie als »Göttersöhne« ehren. Damit wird das Herz der untertänigen Menschen böse von Grund auf. Die Deutschen haben diesen Wandel zur Bosheit in der Nazi-Zeit erlebt: »Führer befiel, wir folgen dir« – bis ins Morden nach Auschwitz und bis in den eigenen Untergang in Berlin.

Vielleicht versteckt sich hinter der Komposition der beiden Geschichten auch eine Ironie, mit der die heldischen Tyrannen als Liebhaber der Frauenschönheit lächerlich gemacht werden. Denn das »Verderbnis der Menschen« in Vers 13 besteht nicht in etwas, das unter dem Begriff »Sünde« gefasst werden kann, sondern bezeichnet etwas Außerordentliches, einen Frevel, eine Vernichtung. »Die Gewalttaten der Menschen hatten ein Maß angenommen, dass die Erde, die Menschenwelt, davon verderbt war«.9 Der hebräische Ausdruck meint im ursprünglichen Sinn »Gewalttat, Untat, Blutvergießen, frevelhafte Vergewaltigung, Bedrückung«.10 Davon ist die Erde voll. Diese Verderbnis der Menschen wirkt sich auf ihren Lebensraum, die Erde, aus: »Die Erde aber war verderbt vor Gott« (Gen 6,11).

Wer sich an das letzte Kriegsjahr 1945 erinnern kann, weiß, was gemeint ist. Eine Anthropologie ohne das Verderben von Auschwitz ist illusionär. Statt Genesis 1 ist Genesis 6 zum Verständnis des Geschöpfes »Mensch« zu nehmen, wie Gott ihn sieht. Verdorben war die Erde von Frevel, aber »Noah hatte Gnade gefunden in den Augen Gottes«. Von diesem Vertrauensvorschuss leben wir heute noch, obwohl wir alles tun, das Verderben auf der Erde zu vermehren und uns selbst zu verderben.

Die Fluterzählung offenbart einen Zwiespalt in Gott zwischen seiner Reue, »dass er die Menschen auf der Erde geschaffen hat«, und seiner Treue zum ursprünglichen Schöpfungsratschluss. Bedenkt man, dass Gott die Menschen sich zum Bilde in der irdischen Schöpfung geschaffen hat, muss diese Reue auch auf Gott selbst zurückfallen. »Das im ersten Ansatz Geschaffene ist ›nicht gut‹; es ist noch nicht der Mensch, den Gott eigentlich zu schaffen beabsichtigte. Die Fluterzählung setzt damit ein, dass ›der Mensch‹, den Gott erschaffen hat, missraten ist: der Mensch ist böse (Gen 6,5f), die Erde verderbt (Gen 6,11f).«11 Die Fluterzählung ist auf die Schöpfungsgeschichte bezogen. Das zeigt sich darin, dass dem Entschluss zur Vernichtung der Menschheit der Entschluss zur Bewahrung des Einen hinzugefügt wird. So wie die Sintflut Menschen und Tiere vernichtet, werden Mensch und Tiere in Noahs Arche gerettet. Menschenwelt und Tierwelt gehören als Lebenswelt zusammen. »Die Sintflut ist der Archetyp der Menschheitskatastrophe, als solche zur Erzählung gedichtet«.12

Der Satz, dass es Gott gereute, Menschen geschaffen zu haben, wird in Vers 6 noch intensiviert; »und es bekümmerte ihn tief«. Das hebräische Wort drückt den »Schmerz Gottes« aus, seine eigene Schöpfung zu vernichten, da sie misslungen ist! »Es ist dieses Motiv des in sich widersprüchlichen Leidens Gottes an dem Gericht, das er selbst bringt«.13

Als Gott Menschen schuf, hätte er da nicht schon vorhersehen können, dass ihn diese Geschöpfe enttäuschen würden?, fragt der jüdische Exeget Jacob. »Und siehe, es war sehr gut«, lesen wir in Gen 1,31. »Gott hatte keinen Grund, das zu sagen«, kommentierte Ernst Bloch. Oder hat Gott alle Dinge fertig geschaffen, den Menschen aber auf Hoffnung hin? Dann ist die Menschenschöpfung zwar riskant, aber nicht ohne Vertrauensvorschuss. Dass Gott mit Noah eine neue Menschheit anfängt, zeigt, dass seine Hoffnung auf den gottentsprechenden Menschen seinen Enttäuschungsschmerz überwunden hat. »Die Güte des Herrn ist es, das mit uns noch nicht gar aus ist«, sagen die Klagelieder 3,22.

Die Erde war verderbt vor Gott, voll war die Erde von Frevel, und doch errichtet Gott einen Bund mit der Erde: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde um der Menschen willen verfluchen«, und: »ich stifte einen ewigen Bund zwischen mir und allem Fleisch, das auf Erden ist«. Die Erde und das Leben bekommen eine ewige Verheißung, durch die sie zu Hoffnungsträgern werden, denn Gott erträgt das Verderben der Menschen und der Erde in der Geduld seiner Leidensfähigkeit. Um seiner selbst willen hält er seinen Geschöpfen die Treue.

3. Was ist » nicht gut« in der Schöpfung im Anfang?

Wir lesen die Schöpfungsgeschichte immer vom Anfang, nicht vom Ende her. Am Ende steht die »neue Schöpfung«. Blicken wir vom Ende her auf die anfängliche Schöpfung, so erkennen wir ihre Defizite sofort. Es ist wirklich nur eine vor-läufige Schöpfung, die ewige Schöpfung kommt erst noch. Die neue, ewige Schöpfung kommt mit der Auferstehung Christi und dem damit einsetzenden Auferstehungsprozess für die ganze Schöpfung.

Die anfängliche Schöpfung endet mit der Erschaffung der Menschen, die neue Schöpfung beginnt mit den Menschen: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur« (2 Kor 6, 17). Der erste Mensch war der Sünde, der Gottlosigkeit, und des Bösen, des Verderbens, fähig. Er hatte die Wahlfreiheit zwischen gut und böse, wie Augustin sagte: er hatte das posse peccare. Der in Christus neue Mensch verliert diese Fähigkeit zur Sünde und zum Bösen, seine Freiheit liegt allein im Guten: non posse peccare. Das ist eine größere Freiheit als die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse, denn die Freiheit zum Guten ist Lebenskraft und schafft Leben. Diese Freiheit zum Guten ist kommunikative Freiheit.Das Leben in der neuen, ewigen Schöpfung ist eine Welt ohne Tod und Töten! »Und der Tod wird nicht mehr sein« (Offb 21,4). Es ist ewiges Leben im Licht der Herrlichkeit Gottes. Das gilt sowohl für den Menschen als auch für das Leben: Auch die Tiere werden auferweckt und neu geschaffen werden (1 Kor 15, 35-44), sonst könnte kein Löwe Stroh fressen. Zwar ist vom »Bruder Tod«, wie Franz von Assisi in seinem Sonnengesang ihn nennt, in den ersten Schöpfungsberichten keine Rede. Der Tod ist nie ein »Bruder«, sondern immer ein Ende von Leben. Für Paulus ist der Tod der letzte »Feind« Gottes (1 Kor 15,26). Der Tod kam erst mit der Sünde in die Welt. Mit dem Verderben der Menschen kam die Lebensgrenze über sie, wie die Sintflutgeschichte erzählt. Aber die Erde hat auch Raubtiere hervorgebracht, wie ich annehme. Dass der Tod allein durch die Sünde der Menschen in die Welt kam, ist eine These, die nur zu halten ist, wenn man die Menschen- und die Tierwelt als eine Lebensgemeinschaft ansieht.

Sonst ist der Tod ein anderes Verderben als die Sünde.