Portugiesische Wahrheit - Luis Sellano - E-Book

Portugiesische Wahrheit E-Book

Luis Sellano

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Beschreibung

Pastéis, Galão und eine Leiche im Swimmingpool

Ein heißer Sommer in Lissabon: Da ist es besonders ärgerlich, dass die Gäste des Hotel Oriente den Swimmingpool nicht benutzen können. Dort wurde bei Renovierungsarbeiten nämlich eine vor 25 Jahren einbetonierte Leiche gefunden. Henrik Falkner, Experte für ungeklärte Verbrechen, stellt sofort Nachforschungen an. Dabei kommt ihm zupass, dass sich seine Mutter während ihres Besuchs in Lissabon ausgerechnet im Oriente einquartiert hat: Henrik kann dort ein und aus gehen, ohne Verdacht zu erregen. Allerdings muss er sich auch deutlich mehr als geplant mit seiner Mutter auseinandersetzen

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Seitenzahl: 447

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Das Buch

Im renommierten Hotel Oriente in der Avenida da Liberdade wird der Swimmingpool renoviert. Die Bauarbeiten fördern eine vor 25 Jahren einbetonierte Leiche zutage. Obduktion und forensische Auswertungen ergeben, dass der Tote mit einem Draht erdrosselt wurde und sehr wahrscheinlich aus Nordafrika stammte. Offenbar gehörte er dem Bautrupp an, der vor einem Vierteljahrhundert die Gartenanlage samt Pool anlegte. Ein Illegaler, der bei einem Streit unter den Arbeitern getötet und dann auf diese Weise entsorgt wurde – so lautet zumindest die offizielle Erklärung. Henrik Falkner, der ein Gespür für derart ungeklärte Verbrechen entwickelt hat, beschließt, sich näher mit dem Fall zu befassen – und ahnt nicht, dass er dabei einem der mächtigsten Männer Lissabons gefährlich nahe kommen wird …

Der Autor

Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.

Lieferbare Titel

Portugiesisches Erbe

Portugiesische Rache

Portugiesische Tränen

Portugiesisches Blut

LUIS SELLANO

Portugiesische

Wahrheit

EIN LISSABON-KRIMI

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2020 by Oliver Kern

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Elijah Lovkoff (2x), PhuchayHYBRID, Woody Alec, Pakhnyushchy, Tetiana Chernykova)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-22047-1V003

www.heyne.de

»Die Welt gehört demjenigen, der nicht fühlt.«

Fernando Pessoa

1

Es war dieser scheue Moment. Kaum mehr als ein Wimpernschlag. Die Kellnerin schenkte ihm Kaffee ein und neigte dabei den Oberkörper für eine Sekunde so weit nach vorne, dass Henrik Falkner über ihre Schulter hinweg einen Blick ins Foyer werfen konnte. Zufällig, ohne jede Absicht, durch die offene Flügeltür des Restaurants hinaus in die Hotellobby, und eigentlich zu kurz, selbst für einen Gedanken. Und doch war sie es, die in diesem gedankenlosen Augenblick dort draußen vorbeiging. Während des darauffolgenden Atemzugs wägte er ab, wie sicher er sein konnte. Ob er sich nicht vielleicht doch irrte. Nur allzu deutlich erinnerte er sich noch an seine Halluzinationen vor wenigen Tagen. Doch diesmal wollte er seinen Augen einfach trauen, und die Gewissheit gewann die Oberhand über den Zweifel. Sie war es, die das Foyer durchquerte und sich mit schnellem Schritt durch die in dunklem Holz gehaltene Empfangshalle bewegte, der das aus bunten Glasornamenten bestehende Oberlicht eine fast schon träumerische Atmosphäre bescherte. Als wäre man ein oder gar zwei Jahrhunderte zurück in der Zeit gereist. Oder an einem Filmset gelandet, wo ein historischer Hollywood-Streifen gedreht wurde.

Klassische Musik wehte sanft durch das Restaurant. »Entschuldige mich eine Minute!«, sagte Henrik zu seiner Mutter und legte die reinweiße und etwas zu steife Leinenserviette neben dem akkurat eingedeckten Besteck und den auf den Millimeter ausgerichteten Gläsern ab.

Simone Falkner behielt für sich, wie sie über seine Bitte dachte, vor allem, weil sie nicht über den Tisch hinweg ihre Stimme erheben wollte, um ihren Unmut zu äußern. So ein unschickliches Verhalten würde sie hier in dem gediegenen frühmorgendlichen Ambiente dieser Nobelherberge niemals an den Tag legen, da war er sicher. So war sie schlicht nicht erzogen worden. Stattdessen bewahrte sie äußerlich Ruhe, auch wenn er sich in ihren Augen bereits seit Beginn ihrer Begegnung taktlos verhielt und ihr der Unmut darüber ins Gesicht geschrieben stand. Schon früher war es ihm selten gelungen, sich ihren Vorstellungen entsprechend angemessen zu benehmen, und daran hatte sich nichts geändert. So gesehen, bestand für ihn ohnehin keine Möglichkeit, den Morgen noch zu retten, um sie in irgendeiner Weise versöhnlich zu stimmen.

Sie hatte ihn zum Frühstück gebeten, und er hatte zugesagt, obwohl er wegen der dramatischen Ereignisse der vergangenen Tage noch reichlich durch den Wind war. Ein Zustand, den das morbide Geschenk, das man ihm nach seinem Eintreffen in der Lobby durch einen Hotelangestellten hatte überreichen lassen, durchaus verstärkt hatte. Wie auch immer, er musste das Aufeinandertreffen mit seiner Mutter irgendwie durchstehen, denn auch was die familiären Angelegenheiten betraf, gab es jetzt kein Zurück mehr.

Simones Haltung wurde noch aufrechter. Sie trug ein elegantes, curryfarbenes Kostüm, zu grell für seine müden Augen, mit steifem Kragen und brillantbesetzer Brosche am Revers. Alter deutscher Adel, hätte man meinen können, auch wenn es ihr nie gelungen war, blaues Blut in die Familie zu bringen.

Eine Minute.

Er erhob sich also, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten. Wenn sie es tatsächlich gewesen war, würde diese eine Minute, die er sich so dreist herausnahm, nicht genügen, aber egal. In diesem Moment schien alles möglich.

Mit dem stechenden Blick seiner Mutter im Nacken, eilte er hinaus in die Lobby. Nicht eben unauffällig. Noch etwas, das sie ihm ankreiden würde, wenn er nach einer Minute zum Tisch zurückkehrte.

In der Empfangshalle angelangt, versuchte er die Situation zu erfassen, ohne stehen zu bleiben.

Nichts.

Zumindest keine Spur von ihr, was in erster Linie der Unübersichtlichkeit der Empfangshalle geschuldet war. Holzgetäfelte Säulenreihen zu drei Seiten, die eine Galerie trugen. Ausladende, exotische Topfpflanzen, die den Raum teilten – durchaus angenehm, wenn man sich als Hotelgast etwas Diskretion wünschte, für ihn jedoch nur lästige Sichtbehinderung. Im gedämpften Licht konnte Henrik hinter dem üppigen Grün ein gutes Dutzend Leute ausmachen, die Hälfte davon in Bewegung. Er zählte fünf Koffer, die von ebenso vielen Leuten hinter sich hergezogen wurden, hin zu den Aufzügen oder Richtung Ausgang. Ein Livrierter, der ein Silbertablett vor sich her trug und übertrieben aufrecht auf die ausladenden Sitzgelegenheiten zustrebte, die um niedrige Loungetische drapiert waren. Zwei Herren, die dort in den wuchtigen Ledersesseln saßen, beide hinter Tageszeitungen versteckt. Dazu weitere vier Personen, die anscheinend ein und derselben Gruppe angehörten und an der Rezeption warteten.

Wo bist du bloß?

Offensichtlich hatte sie – in einem Tempo, das zu den Gepflogenheiten des Hotel Oriente in krassem Gegensatz stand – die Empfangshalle bereits hinter sich gelassen. Vermutlich war sie ihm ja gerade deswegen aufgefallen. Auf hochflorigem Teppich umrundete er die kalbsledernen Sitzecken und schlug den Weg ein, von dem er glaubte, dass sie ihn genommen hatte.

Er wusste nur nicht, wie er in den Hotelgarten kommen sollte, der momentan wegen einer polizeilichen Ermittlung für Gäste geschlossen war.

Die Beschilderung war äußerst dezent, ganz der Tradition des Hauses angemessen. Das Publikum, das hier logierte, fand sich dennoch zurecht. Zum einen wohnten die meisten nicht zum ersten Mal im Oriente, zum anderen herrschte hier ein gewisses intellektuelles Niveau. Das renommierte Hotel beherbergte kaum Pauschaltouristen. Vielmehr Männer und Frauen aus dem gehobenen Management oder Akademiker, die geschäftlich in der Stadt weilten, Vorträge hielten, wichtige Transaktionen abwickelten, Einfluss nahmen auf die Weltwirtschaft und das politische Klima, indem sie monetäre Werte in Bewegung hielten oder anhäuften. Zu ihnen gesellten sich betuchte Nostalgiker, gesellschaftliche Influencer mit Anspruch, die diesem Anspruch selbst gerecht wurden und nicht nur auf digitalem Weg Schwachsinn für leicht beeinflussbare Jugendliche verbreiteten. Natürlich gab es hier auch Künstler – sofern deren Kunst keine brotlose war.

Seine Mutter passte wunderbar in dieses exklusive Etablissement. Allein schon aufgrund ihrer komfortablen finanziellen Situation, vor allem aber auch wegen ihres Selbstverständnisses. Kein anderes Hotel in Lissabon galt als dermaßen niveauvoll und diskret. Von daher war der Vorfall, der das Oriente letzte Woche getroffen hatte, umso ärgerlicher. Ein unvorhersehbares Ereignis, das bei den Gästen zu Reaktionen von Naserümpfen bis hin zu einem mittelschweren Beben der Entrüstung geführt hatte – je nach Gemütslage. Allen voran seine Mutter konnte nicht aufhören, sich über diesen Zustand zu echauffieren, selbst wenn sie ohnehin nicht auf die Idee gekommen wäre, den Swimmingpool in der Gartenanlage zu nutzen.

Darin war zum großen Verdruss des Hotelmanagements bei Renovierungsarbeiten am Fundament des Bassins eine Leiche gefunden worden.

2

Diese Leiche war mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund dafür, dass die Kommissarin vor kaum einer Minute durch die Empfangshalle geeilt war. Der Tatort – oder immerhin der Fundort – war offenbar immer noch nicht freigegeben. Lagen dort unter Umständen noch mehr Tote im Beton?

Niemand hielt Henrik auf, als er den Gang entlangschlenderte, hin zu der Tür, die in den Garten führte und nicht abgeschlossen war. Man hatte dort lediglich ein Schild postiert, auf dem das Hotelmanagement sein Bedauern darüber aussprach, dass der Garten auf polizeiliche Anordnung hin wegen kriminalistischer Untersuchungen vorläufig nicht betreten werden konnte. Henrik ignorierte diesen Hinweis, trat ins Freie und folgte dem gepflasterten Weg, der sich zwischen üppigen Blumenbeeten hinaus in den Garten schlängelte und sich schon nach wenigen Schritten mehrfach verzweigte.

Es war still. So still, wie es in einer Großstadt nur sein konnte. Der Gebäudekomplex schirmte den Lärm der Avenida da Liberdade ab, die den Verkehr auf mehreren Spuren hinunter ins Zentrum und hinauf in die nördlichen Stadtteile führte. Neben dem alltäglichen Radau der Straße fehlte hier ebenso der Wind, der üblicherweise vom Tejo her über die schnurgerade verlaufende Hauptverkehrsader wehte. Die in mehrere Spuren geteilte Avenida da Liberdade war durchgängig mit jahrhundertealten Platanen bepflanzt, was ihr den Charakter eines lang gestreckten Stadtparks verlieh, mit landestypischen gefliesten Wegen und gelegentlichen Wasserspielen sowie Palmenhainen und Esplanaden, die zum gemütlichen Sitzen bei Kaffee, Tee oder auch Wein einluden. Rechts und links wechselten sich exklusive Boutiquen, Cafés, Restaurants und Hotels ab, die für einen steten Trubel auf der Prachtstraße sorgten, bis hinauf zum Parque Eduardo VII, von dessen Höhe aus man den gesamten Boulevard bis hinunter zum Praça Dom Pedro IV überblicken konnte. Doch wer im Oriente ein Zimmer hinaus in den Garten angemietet hatte, bekam davon kaum etwas mit und schlief daher wohl einigermaßen ruhig.

Nach wenigen Schritten stand Henrik tatsächlich vor einem Absperrband der Divisão de Investigação Criminal und wusste, dass er richtig war. Tropisch anmutende Bäume umgaben ihn, dazwischen dichtes Buschwerk. Eine gewollt wild arrangierte Botanik mit ausladender Blütenpracht, die den Gästen den Eindruck vermitteln sollte, sie befänden sich in Afrika oder Südostasien. Kolonialismus im Kleinen. Das heiße Wetter der letzten Wochen trug seinen Teil zu dem Gefühl bei, sich in Äquatornähe aufzuhalten – und das ganz ohne die kreislaufbelastende Luftfeuchtigkeit jenseits der neunzig Prozent, die in diesen Breiten üblicherweise vorherrschte.

Während der Lärm der Großstadt hier außen vor blieb, galt das nicht für die Natur. Vogelgezwitscher und Zikadengesänge verstärkten den Eindruck, von dichtem Dschungel umgeben zu sein. Ein Eindruck, der bei Henrik sehr unerfreuliche Erinnerungen an seinen erst kürzlich durchlebten Drogenrausch weckte, den man ihm aufgezwungen hatte. Immer noch litt er an den Nachwehen der belastenden Halluzinationen, die er dabei hatte ertragen müssen. Darin war er in einem Dschungel verstorbenen Leuten begegnet, die ihm beängstigend real vorgekommen waren.

Er schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Die Bewachung war längst aufgehoben worden. Wann hatte man wohl die Leiche geborgen? Er rechnete zurück. Vor knapp einer Woche hatte man darüber in der Zeitung lesen können. Warum war dann immer noch abgesperrt? Warum durften die Renovierungsarbeiten nicht fortgesetzt werden?

Die Arbeit der Forensiker war jedenfalls schon lange getan. Alles, was er um das Schwimmbecken herum ausmachen konnte, waren zwei Haufen Bauschutt, gespickt mit abgeschlagenen Kacheln, Schubkarren, Schaufeln, Schnittholz für Verschalungen und dazwischen eine Zementmischmaschine. Ringsumher noch mehr Absperrbänder zwischen den Bäumen, die sonst die Sonnenterrasse beschatteten. Die Liegen und Sitzgelegenheiten aus Teakholz waren beiseitegeräumt und neben der geschlossenen Poolbar gestapelt worden. Das Becken selbst war mit einer Plane abgedeckt, vermutlich, um den Hotelgästen den Anblick aus den Fenstern zu ersparen. Allerdings fiel auf, dass bei einem der Pool-Einstiege ein Stück der Abdeckung umgeschlagen war, sodass dort nun ein dunkles Loch klaffte. Jetzt tanzte aus der Schwärze am Grund des Swimmingpools für den Bruchteil einer Sekunde das ovale Licht einer Taschenlampe über die Beckenwandung. Er hatte sich also nicht geirrt.

Augenblicklich kam ihm die Minute wieder in den Sinn, die er sich von seiner Mutter erbeten hatte. Nun würde er ihre Geduld wohl deutlich länger strapazieren. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht auf ihn wartete, sondern sich bereits am reichhaltigen Frühstücksbuffet bediente; vielleicht würde die Auswahl an Köstlichkeiten ihre Laune ja verbessern.

Leise ging er auf den Einstieg zu. Er wollte sie nicht erschrecken. Jetzt legte er eine Hand auf die Aluminiumleiter, die in den Pool führte, drehte sich um und stieg vier Sprossen in die Tiefe. Bei der letzten musste er sein Bein strecken, um den Fuß sicher auf den Grund des Bassins setzen zu können. Das war kein Nichtschwimmerbecken, nichts, worin Kinder planschen konnten.

Auf der Suche nach dem umherwandernden Lichtkegel bückte er sich unter der in der Mitte durchhängenden Abdeckung. Es war ungemein stickig unter der lichtdichten Plane, die hier von triefender Feuchtigkeit überzogen war. Schon spürte er den Schweiß im Nacken. Sand knirschte unter seinen Sohlen. Dann schoss mit einem Mal das Licht aus dem Nichts auf ihn zu und leuchtete ihm grell direkt in die Augen. Und obwohl er für den Moment nichts sehen konnte, wusste er, dass sie nicht nur mit der Stablampe, sondern auch mit ihrer Dienstpistole auf ihn zielte.

3

»Henrik! Merda!«

»Helena …«

Sie richtete den bläulichen Strahl der LED-Lampe zu Boden. Lichtpunkte in unterschiedlichen Gelbtönen tanzten im Dunkel vor seinen Augen.

»Was machst du hier?«

Die Frage klang vorwurfsvoll, was verständlich war, immerhin hatte er unbefugt einen möglichen Tatort betreten.

»Ich hab dich … gesehen.« Was für eine unsinnige Erklärung. »Ich meine, ich bin mit meiner Mutter zum Frühstück verabredet. Sie wohnt hier im Hotel.«

Sie musste nicht fragen, warum seine Mutter nicht bei ihm in der Rua do Almada übernachtete. Er hatte ihr von den schwierigen Verhältnissen innerhalb seiner Familie erzählt.

»Und da dachtest du, du schnüffelst mir kurz mal hinterher, bis die Spiegeleier fertig sind?«, fragte sie verärgert.

Die gekrümmte Haltung, die er wegen der durchhängenden Abdeckung einnehmen musste, verursachte ein leichtes Zwicken in seinem Lendenwirbelbereich. Allerdings widerstrebte es ihm, die mit Kondenswasser beperlte Plane zu berühren, unter die Helena problemlos in aufrechter Haltung passte.

»Der Tote im Fundament, ist das jetzt dein Fall?«

»Warum, glaubst du, bin ich sonst hier?«

Alleine, ohne ihren Kollegen? Ja, warum eigentlich? Um nach einer Woche noch einmal einen Blick auf das aufgebrochene Fundament zu werfen, aus dem man die Leiche geborgen hatte? Ihre Anwesenheit ergab nicht wirklich Sinn. Henrik sah an ihr vorbei, suchte die Stelle, wo der Tote einzementiert gewesen war. Laut den Berichten in den Zeitungen musste man ihn dort vor einem Vierteljahrhundert mit Beton übergossen haben, als das Hotel den Pool bauen und den Garten neu anlegen ließ. Es hieß, dass in diesem Bereich des Beckens über die Jahre immer wieder Risse aufgetreten waren und sich Kacheln gelöst hatten. Bewegungen im Fundament, wie sachverständige Architekten anführten. Doch was sich hier bewegte, war nicht allein die Erde oder das Baumaterial. Nachdem die Ursache bekannt geworden war, machte die Boulevardpresse daraus ihre eigene Story: Der Tote wollte aus seinem unfreiwilligen Grab. Zwar waren die Risse stets ausgebessert und die Fliesen wieder angebracht worden, doch das Flickwerk war nie von Dauer gewesen. Die Stelle am Grund des Schwimmbeckens war wie eine Wunde, die nie vollständig verheilte. Deshalb hatte das Hotelmanagement nach langen Jahren endlich den Entschluss für eine Grundsanierung gefasst. Nicht zuletzt, weil sich die Beschwerden der Gäste häuften und es ab und an zu Verletzungen wie Schnittwunden kam.

»Besser, du lässt deine Mutter nicht länger warten!«, unterbrach Helena seine Gedanken. »Dass sie allerdings ausgerechnet in diesem Hotel …«

»Die Medien berichten von einem Bauarbeiter«, warf Henrik ein. Er verspürte keinerlei Motivation, ins Restaurant zurückzukehren. »Ist das noch die offizielle Stellungnahme? Ein Illegaler aus dem Bautrupp, der diesen Pool anlegt hat? Stimmt das Gerücht, dass er bei einem Streit mit seinen Kollegen getötet und auf diese Weise entsorgt wurde?«

»Warum interessiert dich das?«

Mittlerweile hatten sich seine Augen wieder erholt, und er konnte ihre Mimik ausmachen. Sie war auf der Hut. Das verriet auch ihre angespannte Schulterpartie. Lag das vielleicht an seiner Anwesenheit? Das hättest du wohl gern! Eher stand sie unter Strom wegen dieses Falls. Er ging davon aus, dass die Berichte der Journalisten auf nichts als Mutmaßungen basierten. Immerhin hatte es noch nicht einmal eine Pressekonferenz seitens der PSP, der Polícia de Segurança Pública, gegeben.

»Wieso haben sie ausgerechnet dir diesen Fall gegeben?«

Sie verzog spöttisch den Mund. »Ich war unartig. Das ist einfach die Art meiner Vorgesetzen, es mich wissen zu lassen.«

»Das heißt, keine Ermittlungen mehr hinsichtlich Morgado?«

»Dieser Untersuchung war ich sowieso nicht zugeteilt. Falls du dich erinnerst, bin ich nur wegen dir da reingeraten. Offiziell spricht niemand im Dezernat von Befangenheit, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. Obwohl sie immer versucht hatten, es geheim zu halten, wussten ihre Kollegen und Vorgesetzten natürlich von dem freundschaftlichenVerhältnis zu Henrik. Vermutlich hatte sie auch darüber Rapport abliefern müssen. Er war schließlich der Grund, warum sie vor drei Tagen ins Sintragebirge gefahren war und unberechtigt das Grundstück des ehemaligen Oberstaatsanwalts Orlando Morgado betreten hatte. Zum Glück hatte sie das getan, sonst hätte er sehr wahrscheinlich nicht überlebt. Ob das wohl auch so in ihrem Bericht stand? Er hütete sich, jetzt danach zu fragen.

»Sie geben mir eine Aufgabe ohne große Aussicht auf Erfolg, bei der ich außerdem wenig anrichten kann.« Sie klang nicht allzu vorwurfsvoll. »Diesmal ist es ein namenloser Toter, der fünfundzwanzig Jahre in einem Betongrab gelegen hat. Wie auch immer, diese Ermittlung dürfte mich lang beschäftigten.«

Es lag sehr wahrscheinlich nicht nur an ihm, dass man sie momentan dermaßen aufs Abstellgleis schob. Inspetora Helena Gomes war innerhalb ihrer Abteilung als unangenehme Kriminalpolizistin bekannt. Möglicherweise bezeichnete man sie auch als undiszipliniert. Was völlig unberechtigt war, denn sie erledigte ihre Arbeit äußerst gewissenhaft. Doch genau das schien für so manchen bei der PSP das Problem zu sein. In den Augen ihrer Kollegen war sie eine Polizistin, die nicht wegsehen konnte, wenn es nach dem Verständnis ihrer Vorgesetzten angebracht war. Sie hielt auch nichts von Gefälligkeiten – und war mit dieser Einstellung ziemlich allein innerhalb das Polizeiapparats.

»Und du, warum interessierst du dich für diesen Mord?«

»Tu ich gar nicht.« Ich interessier mich für dich. Darum bin ich dir nachgeschlichen. Das sprach er natürlich nicht laut aus. Nicht unbedingt, weil er diese Offenheit scheute. Auch nicht wegen des recht wahrscheinlichen Risikos einer Zurückweisung. Nein – ein anderer Gedanke war einfach schneller. »Es liegt also definitiv ein Tötungsdelikt vor?«

Was wäre auch anderes zu erwarten gewesen, wenn ein Leichnam auf diese Weise entsorgt wurde? Der einzige andere Ermittlungsansatz bestand im Szenario eines Unfalls mit Todesfolge, der sich auf der Baustelle ereignet hatte. Ging man davon aus, dass die Baufirma das Opfer tatsächlich illegal und damit ohne Versicherungsschutz beschäftigt hatte, war die Vorstellung nicht völlig abwegig, dass man den Mann danach lieber unauffällig unter den Beton gebracht hatte, anstatt sich Scherereien mit den Behörden einzuhandeln. Eine Option, die Helena jedoch ausschloss, da sie eben von Mord gesprochen hatte. Der Bericht der Pathologie musste demnach recht eindeutig ausgefallen sein. Kein Unglück, keine unterlassene Hilfeleistung, nicht einmal fahrlässige Tötung, so wie es sich anhörte. Henrik merkte an Helenas Reaktion, dass sie sich bereits darüber ärgerte, diese Information so unbedacht ausgeplaudert zu haben. War es die alte Vertrautheit zwischen ihnen, die sie hatte leichtsinnig werden lassen?

»Geh jetzt bitte!«, forderte sie ihn auf und knipste demonstrativ die Taschenlampe aus.

Schade. Ihre kurze Unterhaltung hatte seinen Polizistenverstand gerade auf Touren gebracht. Plötzlich schwirrten ihm weitere Fragen durch den Kopf, was den Unbekannten aus dem Fundament betraf. Ein über Jahre antrainierter Mechanismus, den er als ehemaliger Ermittler nicht abstellen konnte. Wie war der Mann ermordet worden? Wo die Tat erfolgt? Hier im Hotel? Unmittelbar in der Nähe des Pools? War die ausgehobene Baugrube einfach nur die nächstgelegene Möglichkeit gewesen, die Leiche loszuwerden? Eine spontane Entscheidung, der prekären Situation geschuldet? Was auf eine Tat im Affekt hinweisen konnte, statt auf einen geplanten Mord … Also doch Totschlag? Verdammt, eben noch hatte er getönt, dass ihm dieser Fall egal war, und schon packte ihn brennende Neugier. Nun, wenn er wirklich ehrlich war, schlummerte das Interesse an dem Toten im Fundament bereits in ihm, seit er das erste Mal in der Zeitung darüber gelesen hatte. Zum Teil, weil es schlichtweg in seiner Natur lag, kriminelle Vorfälle zu hinterfragen und Unrecht aufzuklären. Zum andern wegen des Erbes, das ihm sein Onkel hinterlassen hatte und dem er mittlerweile einige nervenaufreibende Erlebnisse hier in Lissabon verdankte, dieser wunderschönen Stadt, die er zu seiner neuen Heimat gemacht hatte.

Stoff zum Grübeln lieferte die Art, wie die Leiche verborgen worden war. Oder die lange Zeitspanne bis zu ihrem Auffinden. Und die fehlende Identität. Das alles passte perfekt ins Portfolio seines obskuren Erbes.

Helena verstaute Lampe und Dienstwaffe in den Etuis an ihrem Gürtel und forderte ihn erneut auf, aus dem Pool zu steigen. Für einen Moment rang sein Wunsch, die unbequeme Körperhaltung aufzugeben und den stickigen, feuchten Ort unter der Plane zu verlassen, mit seiner plötzlich aufgekeimten Gier nach Antworten. Aber dann fügte er sich ihrer Anweisung und erklomm die Leiter hinauf ins Freie. Oben angelangt, drehte er sich um und reichte ihr die Hand. Nach kurzem Zögern ließ sie sich helfen. Als er sie etwas zu heftig vom obersten Tritt zog, gerieten beide ins Stolpern, und Helena landete in seinen Armen. Die Sekunde, die sie länger als nötig an seiner Brust verweilte, fühlte sich gut an. Doch im nächsten Moment wich sie übertrieben brüsk zurück.

»Was hat eigentlich die Obduktion ergeben?«, fragte er, um der verfänglichen Situation zu entkommen.

Sofort verflog jegliche Vertrautheit aus ihrem Blick. »Du bist unverbesserlich.«

»Es ist schwer, alte Gewohnheiten abzulegen.« Im Licht der Morgensonne konnte er sie endlich besser betrachten, auch wenn er genau wusste, wie sie aussah. Er hatte weiß Gott bereits alles von ihr gesehen – und vielleicht machte es ja genau dieser Umstand so schmerzhaft. Die Intimität, die er mit ihr hatte erleben dürfen, war in so weite Ferne gerückt. Womöglich konnte er nie wieder ihrem Herzschlag lauschen, während seine Finger über ihre weiche Haut strichen …

Wie immer, wenn sie im Einsatz war, trug sie ihr tiefbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein tailliert geschnittener Blazer betonte ihre sportliche Figur. Die Erinnerung an den betörenden Duft, der ihrem Haar entströmte und den er jedes Mal nahezu trunken inhalierte, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, stammte noch aus der Zeit, als sie sich an ihn geschmiegt hatte.

»Was versprichst du dir von dieser Information?«

»Seelenfrieden«, meinte er lächelnd. Als ihre Miene unnachgiebig blieb, gestand er: »Ich habe keine Ahnung.«

Für eine Weile sahen sie sich in die Augen, als würden sie sich in einem Wettbewerb messen. Schließlich senkte Helena den Blick und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Obduktion und forensische Auswertungen haben ergeben, dass Zungenbein und Kehlkopf des Toten gebrochen sind.«

»Erdrosselt also«, folgerte er.

»Diese Details halten wir natürlich zurück. Auch was die physischen Merkmale betrifft, die er aufweist«, wehrte sie ab.

Henrik musterte sie mit aufforderndem Blick. Sie biss sich auf die Unterlippe, wusste genau, dass er mehr hören wollte. Aber war sie bereit, ihm noch mehr zu verraten? Dinge auszusprechen, die nicht für die Ohren Außenstehender bestimmt waren?

»Kein Wort zu niemanden, versprich mir das!«

Er nickte und war froh, dass sie ihn nicht schwören ließ.

»Wir wissen noch nicht viel, aber es gibt Hinweise, dass er aus Nordafrika stammte. Obwohl ihn die Betonhülle einigermaßen konserviert hat, kannst du dir sicher vorstellen, dass nach einem Vierteljahrhundert außer den körperlichen Überresten selbst nicht mehr viel Brauchbares übrig ist.«

»Keine Papiere?«

»Nur Fragmente, die in den Resten seiner Kleidung gefunden wurden und die bislang zu keinem Ergebnis führten. Die Verwesungsflüssigkeiten haben die Materialien weitgehend zerstört, dazu kamen die chemischen Verbindungen in der Zementmischung, der hohe Kalksteinanteil und das Eindringen von Wasser und Sulfiten … oder waren es Sulfate? Ich habe den Bericht der Spurensicherung noch nicht vollständig verinnerlicht, aber jedenfalls führte all das zu einer aggressiven Zersetzung bestimmter Komponenten …«

»Lass gut sein«, unterbrach er sie und lachte.

Prompt bildete sich zwischen ihren Brauen eine vertikale Falte, offenbar hatte sie sein Lachen falsch interpretiert.

Beschwichtigend hob er die Hände. »Entschuldige. Ich wünsche dir viel Erfolg für diese Ermittlung!«

»Wir werden sehen«, erwiderte sie. Wieder ruhte der Blick aus ihren Mokkaaugen für zwei, drei Sekunden auf ihm, bevor sie sich abwandte und den Weg zurück ins Hotel nahm.

Henrik sah ihr nach. Einerseits hatte ihn die unerwartete Begegnung mit Freude erfüllt, andererseits ärgerte er sich, nicht mehr aus dieser Gelegenheit gemacht zu haben. Er hätte darauf drängen sollen, sie wiederzusehen. Wäre es nicht besser gewesen, offen seine Gefühle für sie anzusprechen? Sie im Notfall anzuflehen, ihm endlich zu verzeihen? Er war sich so sicher, dass sie das Gleiche für ihn empfand wie er für sie und nur falscher Stolz sie daran hinderte, sich das einzugestehen. Wieso konnten sie nicht beide über ihren Schatten springen, das Geschehene vergessen und sich einfach wieder lieben, so wie ihre Herzen es verlangten? Er hörte, wie die Tür zum Hotel ins Schloss fiel, und fühlte sich urplötzlich schrecklich allein. Die Sonne brannte bereits, ihn erwartete ein neuer heißer Sommertag. Die paar Minuten unter der Plane hatten ihm ausgereicht, um sein Hemd komplett durchzuschwitzen. Er sah alles andere als salonfähig aus. Konnte er so überhaupt ins Restaurant zurückkehren? Er spielte mit dem Gedanken, einfach nach Hause zu gehen, verwarf das aber gleich wieder. Und nicht etwa aus Schuldgefühlen gegenüber seiner Mutter. Sondern vielmehr wegen der Gründe, die sie zu ihm nach Lissabon geführt hatten. Und natürlich auch wegen des Gegenstands, den er am Tisch zurückgelassen hatte.

Das Skalpell!

Davon hätte er Helena berichten müssen.

4

Das Operationsmesser, das er Orlando Morgado vor drei Tagen in den Hals gestochen hatte, lag auf der Anrichte in seiner Küche. Ohne einen echten Beweis dafür zu haben, war er überzeugt, dass de Bragança es ihm hatte überbringen lassen, ganz ähnlich wie vermeintlich wichtige Menschen Visitenkarten überreichen ließen. Welche Absicht hinter dieser Inszenierung steckte, war ziemlich klar. Der Mann ohne Nabel gab ihm zu verstehen, wie weit seine Macht reichte. Wie einfach es für ihn war, ein Beweismittel verschwinden und wieder auftauchen zu lassen. Anders ließ sich dieses Geschenk nicht interpretieren. Wir sind jetzt Geschäftspartner, Senhor Falkner. Geschäftspartner nach Mafiamanier, wohlgemerkt. So wie Ladenbesitzer von Schutzgelderpressern in diese Lage gezwungen wurden, ohne dass ihnen bei dieser einseitigen Vereinbarung eine Wahl blieb. Gewiss wollte ihm de Bragança damit verdeutlichen, dass er nun in einer Art Abhängigkeitsverhältnis zu dem Adeligen stand, aus dem es kein Entkommen gab.

Er schlug mit der Hand auf den Tisch, um seine wachsende Lethargie abzuschütteln.

Wach auf!

Verdammt, er musste die Kirche im Dorf lassen. Objektiv bleiben. Bei klarem Verstand, so wie er es zu seiner Zeit als Kriminalkommissar gewesen war. So wie man es ihm auf der Polizeischule beigebracht hatte. Rafael de Bragança, das war nur ein Name, den Anabela ihm genannt hatte. Rafael de Bragança, ein früherer Bekannter ihres Bruders, über den sie sonst nichts wusste. Über den offenbar niemand viel wusste. Ein Dämon, wie Martin ihn bezeichnet hatte.

Nun, wohl eher ein Phantom, korrigierte er seinen Onkel im Geiste. Wenn Anabela recht hatte, war de Bragança sehr wahrscheinlich ein Liebhaber von João gewesen, bevor dieser mit Martin zusammengekommen war. Der Mann ohne Nabel!

Eine Metapher, die auf eine Zeichnung von João zurückging; diese zeigte einen nackten Jüngling ohne Geburtsnarbe. Es lauerte etwas Böses hinter diesem Namen, das hatte Henrik im Gefühl. Wer bist du, Rafael de Bragança?

Der Padre hatte mit dem Namen de Bragança etwas anfangen können. Hatte zumindest angegeben, schon einmal von diesem Adeligen gehört zu haben. Dem Sprössling einer angesehenen, weitverzweigten, blaublütigen Familie. Nur ein Name, ohne Gewissheit. Vor allem ohne echten Beweis, dass es sich bei Rafael de Bragança tatsächlich um den Mann ohne Nabel handelte. Um jenen Dämon, der für all das Unglück verantwortlich war, das über Martin hereingebrochen war.

Aber ein Dämon … War das nicht ein völlig wahnsinniger Gedanke?

Es war weniger die körperliche als die seelische Erschöpfung, die Henrik auf den harten Küchenstuhl zwang, kaum dass er seine Wohnung betreten hatte. Nach dem Frühstück mit Simone hatte er sich in den Laden geflüchtet und versucht, seine Gedanken zu sortieren. Das war ihm nur mäßig gelungen. Genau genommen fühlte er sich den ganzen restlichen Tag lang kaum in der Lage, auch nur eine einzige sinnvolle Überlegung anzustellen. Offenbar hatte sein Körper die bewusstseinstrübenden Substanzen, die man ihm vergangenes Wochenende verabreicht hatte, immer noch nicht vollständig abgebaut. Anders konnte er sich seinen umnebelten Zustand nicht erklären, all diese vergeudeten Stunden mit leerem Kopf.

Auch jetzt starrte er schon wieder seit Minuten vom Küchentisch hinüber zur Anrichte und betrachtete den matten Stahl des lasergeschliffenen Skalpells. Handelte es sich tatsächlich um das vom Tatort verschwundene Messer? Mit bloßem Auge konnte er unter dem milchig trüben Licht der Küchenlampe weder seine Fingerabdrücke noch irgendwelche Blutspuren erkennen. Die Spurensicherer der portugiesischen Ermittlungsbehörde hatten keine Gelegenheit bekommen, es einer kriminaltechnischen Untersuchung zu unterziehen, weil es noch während der Sicherstellung aller Beweismittel entwendet worden war. Das hatte ihm zumindest Helena mitgeteilt, ohne zu ahnen, dass das Corpus Delicti ihm kurze Zeit später überreicht werden sollte.

Zwangsläufig dachte er an das Grauen zurück, das vergangenen Sonntag oben in den Sintra-Bergen auf einem ländlichen Anwesen durch ihn sein Ende gefunden hatte. Ein blutiges Ende. Dass es nicht noch mehr Tote gab, war seinem Einsatz zu verdanken – und dem von Helena. Die Kommissarin war ihm ohne sein Wissen in die Anhöhen fünfzig Kilometer westlich von Lissabon gefolgt. Ohne ihre Hilfe wäre er zweifellos daran gescheitert, den wahnsinnigen Racheplänen des ehemaligen Oberstaatsanwalts Orlando Morgado Einhalt zu gebieten.

Und de Bragança?

Hatte dieser geheimnisvolle wie auch gefährliche Mann tatsächlich vorausahnen können, was passieren würde? Eigentlich unmöglich.

Vage erinnerte sich Henrik daran, wie abfällig Morgado den Namen de Bragança ausgesprochen hatte. Bestand da eine alte Feindschaft? Oder hatte der einstige Staatsanwalt während seiner Zeit am Gericht vergebens versucht, ebenjenem Adelsgeschlecht irgendwelche illegalen Geschäfte nachzuweisen? Kam daher der Groll? Und hatte er, Henrik, etwa de Bragança unfreiwillig einen Gefallen erwiesen und mit Morgado einen potenziellen Widersacher ausgeschaltet?

Nein, gewiss war es vermessen, so zu denken. Morgado war nicht mehr im Amt, was hätte der Pensionär noch ausrichten können?

Wieder schielte er auf das Skalpell. Hatte de Bragança das Operationsmesser, das Henrik dem Ex-Staatsanwalt aus Notwehr in den Hals gerammt hatte, womöglich als eine Art Dank an ihn verschwinden lassen?

Nun, das hörte sich unmöglich an, wenn man es objektiv beurteilte … und doch nistete sich diese Erklärung wie schwer zu entsorgender Sondermüll in seinen Gedanken ein. Was auch immer das Motiv war, de Bragança musste unter den Forensikern jemanden an der Hand haben, der ihm einen großen Gefallen schuldete. Verdammt. O homem sem umbigo, der Mann ohne Nabel war überall. Wie schon bei Martin zuvor, war diese ominöse Figur binnen Kurzem zu einem Schatten auf Henriks Seele geworden. Und es gab kein Entkommen.

Seufzend rieb er sich übers Gesicht. Er musste endlich schlafen. Ruhe finden. Leider war es sehr fraglich, ob es ihm gelingen würde, seinen Geist abzuschalten, selbst wenn er die Kraft fand, sich von der Küche ins Schlafzimmer zu schleppen. Die Anwesenheit seiner Mutter in Lissabon verstärkte seine Erschöpfung noch. Er konnte sich kaum mehr daran erinnern, worüber sie beim gemeinsamen Frühstück gesprochen hatten. Simone hatte sich offenbar sehr zurückgehalten, und das, obwohl er sie wegen seiner Unterredung mit Helena so lange hatte warten lassen. Aber was hieß schon zurückgehalten? Sie hatte ihre Vorwürfe über sein Benehmen ja nur nicht ausgesprochen. Aus jedem ihrer Sätze, die sie über den Tisch hinweg an ihn richtete, konnte er ihren mühsam unterdrückten Ärger hören. Jedes Augenrollen war eine Anklage an ihn gewesen. Deshalb hatte es ihn auch doppelt angestrengt, ihren Ausführungen zu folgen. Nicht nur brummte ihm ja wegen der Drogen nach wie vor der Schädel, er musste auch unentwegt an Helena denken.

Es war wie ein Fluch, dass bei ihm immer alles zusammenkam! Helena, seine Mutter, die Ereignisse der vergangenen Tage, die ihn so nahe an den Abgrund gebracht hatten wie nie zuvor … Jedenfalls war seine Konzentrationsfähigkeit am Tiefpunkt: flatterhaft und so leicht wie eine Daunenfeder, die wechselnden Windböen ausgesetzt ist. Eine äußerste schlechte Voraussetzung, um anhaltende Gespräche zu führen, vor allem mit seiner Mutter.

Das Haus ächzte unter seinen nackten Füßen und erinnerte ihn daran, dass noch wesentlich mehr im Argen lag. Sein neues Leben in Lissabon war in eine bedenkliche Schieflage geraten, und es fiel ihm zunehmend schwerer, darum zu kämpfen. Was hielt ihn eigentlich noch hier? Helena? Ein paar offene Rechnungen? Die Verpflichtung dem gegenüber, was Martin ihm vermacht hatte?

Müde schüttelte er den Kopf. Hätte er sich nicht darauf eingelassen, wäre es niemals so weit gekommen. Er wäre nie in dieses Chaos gestürzt. Andererseits hätte die Alternative auch nicht viel besser ausgesehen. In Deutschland war er lange Zeit ebenfalls sehr knapp davor gewesen, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn auch auf andere Art. Nachdem seine Frau Nina bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, geriet er in einen Sog, der ihn zu verschlingen drohte. Ihr Tod hatte schwere Depressionen in ihm ausgelöst, die ihn schließlich sogar dazu zwangen, seinen Posten bei der Kriminalpolizei aufzugeben.

Dann jedoch war er in Lissabon gelandet, und mit einem Mal tat sich eine neue Perspektive auf, beschienen von der versöhnlichen Sonne Portugals. Warum nur mussten sich nun schon wieder dunkle Wolken davorschieben, warum lief es nicht einfach einmal gut für ihn?

Tatsächlich hatten im Rückblick all die fragwürdigen Geschehnisse der vergangenen drei Jahre dazu geführt, dass er einem Mann ein Operationsmesser in den Hals stoßen musste, nur um am Leben zu bleiben. So weit bin ich also gekommen.

Mühsam stemmte er sich hoch, wickelte das Skalpell in ein Geschirrtuch und legte es in die Küchenschublade. Im Flur schlug er den Weg zum Schlafzimmer ein – hielt jedoch auf halbem Weg inne. Ein Gedanke nagte am Rand seines Bewusstseins. Und zwar nicht erst seit eben, wie er bemerkte. Er hatte ihm bislang nur keine Beachtung geschenkt, weil er sich nicht dazu bereit gefühlt hatte. Weil er gemeint hatte, seinem Geist unbedingt eine Pause gönnen zu müssen. So verworren seine Spekulationen bis zu diesem Moment auch waren, plötzlich machte diese Überlegung nicht nur in seinem Kopf, sondern vor allem auch als untrügliches Bauchgefühl auf sich aufmerksam.

Es ging um etwas, das Helena im Hotelgarten des Oriente geäußert hatte. Diese eine Sache …

5

Er konnte jetzt nicht einfach unter die Bettdecke kriechen. Keinesfalls! Statt seinem Körper die Ruhe zu gönnen, nach der er verlangte, verließ Henrik die Wohnung und stieg die knarzende Treppe hinunter ins Antiquariat. Ein Knarzen und Ächzen, das er schon gar nicht mehr richtig hörte.

Er ließ seine Erinnerung an das Gespräch mit Helena Revue passieren, doch es ging definitiv nicht um etwas, das sie dabei geäußert hatte. Vielmehr war es … der Umstand, dass sie überhaupt eine Unterhaltung mit ihm geführt hatte. Genau, das war es: Was hatte sich innerhalb der letzten Tage zwischen ihnen geändert, dass sie so unverhofft bereit gewesen war, wieder einigermaßen normal mit ihm zu reden?

Was war vorgefallen?

Er öffnete die Tür, die vom Treppenhaus in den Laden führte. Das Antiquariat lag im Halbdunkel, in jenem Zwielicht, das so wichtig war, um das alte Papier, die Schriften und alle anderen Komponenten der Buchdrucker- und Buchbinderkunst über das natürliche Verfallsdatum hinaus zu erhalten.

Das Antiquariat. Der staubige Laden war so viel mehr als nur ein Hort antiker Bücher. Es war die Keimzelle eines Myzelnetzwerks, der Ursprung eines Geflechts, in dem alle Wurzeln zusammenliefen. Wenn es überhaupt Antworten gab, dann waren sie in dem undurchschaubaren Sammelsurium verborgen, das er sein Erbe nannte. Verborgen deshalb, weil Onkel Martin sein Archiv der ungeklärten Verbrechen nicht leicht verständlich angelegt, sondern als paranoides Wahnsystem kompliziert verschlüsselt hatte. Anscheinend in der sicheren Erwartung, dass Henrik wie eine gut geölte Dechiffriermaschine funktionieren würde und alles fand und begriff, was Martin ihm hatte hinterlassen wollen.

Dass Martin in dem verstaubten, düsteren Laden ein Archiv der Verfehlungen, Obszönitäten und Grausamkeiten angelegt hatte, war dem tragischen Schicksal geschuldet, das ihm selbst in Lissabon widerfahren war. Eine Geschichte, die so vielversprechend begonnen hatte – die Geschichte einer Liebe. Vor vierzig Jahren folgte Martin dem Kunstmaler João de Castro in dessen Heimatstadt und ließ sich dort nieder. Damit kehrte er nicht nur seiner erzkonservativen Familie und sämtlichen damit verbundenen, engstirnigen Konventionen den Rücken, sondern verzichtete auch auf eine Karriere bei der Staatsanwaltschaft. Dem Herzen statt dem Verstand folgend, wurde Martin Antiquar und lebte sein Leben im Glück. Henrik hatte nie die Gelegenheit gehabt, Martin persönlich kennenzulernen, da diesem die Abkehr von Deutschland und der Familie nie verziehen worden war. Den wahren Grund sah Henrik allerdings in Martins sexueller Orientierung. Die treibende Kraft hinter allem war Henriks Großvater Walter gewesen, ein Despot und Choleriker, dem das Ansehen der Falkners alles bedeutete. Eine Rolle, die nach Walters körperlichem und geistigem Verfall Henriks Mutter übernahm und seither mit derselben Besessenheit ausfüllte.

Martin seinerseits hatte sich von der Ächtung durch die Familie nicht verunsichern lassen. Im Gegenteil. Es war anzunehmen, dass ihm der Umstand, der falknerschen Sippschaft entkommen zu sein, geradewegs zu einem Stimmungshoch verhalf. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag vor rund drei Jahrzehnten, als João ermordet worden war. Ähnlich wie Henrik nach Ninas Tod stand damit auch Martin vor den scharfkantigen Scherben seines Lebens. Nachdem er jedoch festgestellt hatte, dass im Mord an João viel zu nachlässig ermittelt wurde, verwandelten sich Trauer und Schmerz über seinen Verlust in Wut auf das System. Wut auf die korrupten Behörden und auf diejenigen, die im Hintergrund die Fäden zogen, begünstigt durch ihr Geld, ihre Macht, den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Einfluss, den sie besaßen und gnadenlos ausspielten. Die Namenlosen hinter den Kulissen, denen mit legalen Mitteln nicht beizukommen war. Das war der Ausgangspunkt, an dem Martin, geschult von seinem Jurastudium und den Jahren im Staatsdienst, begann, seine eigenen Ermittlungen anzustellen. Und alles, was er dabei an Ungerechtigkeit zutage förderte, alle ungeklärten Verbrechen, nicht geahndeten Vergehen, all das verursachte und nie gesühnte Leid, all das, was den Anschein von Vertuschung, Verblendung und Machtmissbrauch erweckte, fand auf bisweilen unerklärliche Weise seinen Weg ins Antiquariat. Über dreißig Jahre lang betrieb Martin seine Recherchen, sammelte und archivierte, immer mit der Prämisse, Joãos Mörder doch noch irgendwann überführen zu können. Jemand aus einer jüngeren Generation hätte dafür wahrscheinlich verschlüsselte Dateien auf dem Computer angelegt. Doch ob ein digitales Archiv es für Henrik wirklich einfacher gemacht hätte, selbst wenn er die Daten ohne fremde Hilfe hätte öffnen können, blieb fraglich.

Martin jedenfalls hielt an seiner archaischen Methode fest, bis es ihn selber traf. Schließlich war nicht verborgen geblieben, womit sich der schwule Antiquar in Wirklichkeit beschäftigte. Doch als Martin für immer zum Schweigen gebracht wurde, hatte niemand damit gerechnet, dass er seine prekäre Sammlung einem Neffen übertragen könnte, der aufmerksam genug war, die Zeichen und Botschaften zu erkennen und in einzelnen Fällen auch zu deuten. Und der zu allem Überfluss ein erfahrener Kriminalkommissar war.

Henrik betrat den Laden, der ihn mit dem längst vertrauten Duft empfing, dieser chemisch-organischen Mischung aus Verfall und Ewigkeit. Mittlerweile kannte er jeden Gang, jede Regalreihe, jede Ecke in- und auswendig, konnte blind den aus Büchern gestapelten Stolperfallen, wurmstichigen Kanten antiker Möbel oder den tief hängenden Lampenschirmen ausweichen. Er machte erst Licht, als er hinter dem Verkaufstresen angekommen war. Von dort, wo die uralte mechanische Kasse stand, blickte er in den unübersichtlichen Raum und fragte sich zum gefühlt tausendsten Mal, wo er bloß mit seiner Suche beginnen sollte. Zugleich kramte er in seinem Gedächtnis, ob er nicht schon irgendwann in all der Zeit, in der er sich durch das Inventar gewühlt hatte, zufällig auf etwas gestoßen war, was ihm nun weiterhalf. Und da war tatsächlich etwas, tief verborgen in seinem Hinterstübchen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde diese Ahnung zur Gewissheit, schon einmal ein Indiz in die Finger bekommen zu haben, das eine Verbindung zu dem Toten im Betonfundament herstellte. Etwas, womit er nichts hatte anfangen können, als er vor unbestimmter Zeit darauf gestoßen war, weil jeglicher Bezug fehlte. Und jetzt? Wenn es sich nicht unmittelbar im Antiquariat befand, blieb noch der Keller. Das baufällige Untergeschoss, das notdürftig mit zusätzlichen Stützen gegen den Einsturz abgesichert worden war, nachdem über Monate aus einem undichten Rohr gesickertes Wasser bereits Decke, Holzgebälk und tragende Wände durchweicht hatte. Ein modernder Keller, in dem alles, was dort lagerte, nach und nach von Feuchtigkeit und Pilzfraß zersetzt wurde und verrottete. Allein der Gedanke, planlos dort unten herumzuwühlen, verursachte ihm eine Gänsehaut.

Sicher hatte nicht einmal der Rekordsommer etwas an der Nässe dort unten ändern können, ein Sommer, der landesweit zur Qual geworden war und großen Schaden verursacht hatte. Allein die Waldbrände in Zentralportugal hatten Leid und Tod über die Portugiesen gebracht und dem allgegenwärtigen Weltschmerz Nahrung gegeben, dem sich dieses Volk stets ausgesetzt fühlte. Nicht, dass sie übermäßig klagten. Vermutlich jammerten die Portugiesen wesentlich weniger als die Deutschen. Doch wenn sich die Portugiesen erst einmal der Melancholie hingaben, dann mit jeder Faser – und genau das machte vermutlich den Unterschied. Hier existierte nicht diese Oberflächlichkeit, wie er sie in seiner alten Heimat empfunden hatte. Auch keine Uneinsichtigkeit, keine gesellschaftliche Spaltung, basierend auf Nichtigkeiten – und keinesfalls jener Hass, der vor allen in den sozialen Netzwerken grassierte.

Henriks Blick blieb an einem der handgeflochtenen Körbe hängen, wie sie einst für die Ernte benutzt worden waren; Martin hatte sie dazu zweckentfremdet, unterschiedlichste Papierrollen aufzubewahren. Eine ungeordnete Sammlung historischer Plakate, uralter, an den Rändern bereits zerbröckelnder Landkarten und Pergamente, die man nur noch mit dem Risiko ausrollen konnte, dass sie in mehrere Teile zerbrachen. Wenn er sich richtig erinnerte, steckten in dem einen Korb auch einige Gemarkungskarten und Katasterpläne aus den letzten zwei Jahrhunderten, die eigentlich im Liegenschafts- und Vermessungsamt der Stadt lagern sollten. Derartige Grundstückslagepläne wurden nur an Bauherren ausgehändigt, aber Martin hatte nie gebaut – schon gar nicht Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Bei manchen Dingen war es wirklich besser, wenn man nicht wusste, wie sie ins Antiquariat gelangt waren. Henrik packte den Weidekorb und ging damit ins Büro, das mit einem Vorhang vom Verkaufsraum abgetrennt war. Den Schreibtisch hatte er bereits vor einer Weile von jeder Unordnung befreit, sodass er jetzt Platz hatte, die Papiere dort nacheinander auszubreiten. Allerdings nicht ohne Verluste. Eine uralte und arg angegriffene Seekarte zerbröselte unter seinen Fingern, doch das war zu verschmerzen, da er gleich danach die Pläne fand, die ihm vorhin in den Sinn gekommen waren. Schon vor Wochen hatte er einen flüchtigen Blick darauf geworfen, ohne sie vollständig auszurollen. Es handelte sich um mehrere Liegenschaftskataster, das älteste aus dem Jahre 1897, das einen Teilabschnitt der Avenida da Liberdade zeigte. Vorbild für die Lissaboner Prachtstraße, die seit dem schweren Erdbeben 1755 das Baixa-Viertel mit den nördlichen Stadtteilen verband, waren die Champs-Élysées in Paris. Was Henrik nun vor sich liegen hatte, zeigte den Bereich unterhalb des Jardim Botânico da Universidade de Lisboa, wo auch das Hotel Oriente erbaut worden war. Über sein Handy öffnete er eine digitale Stadtkarte. Wie üblich dauerte der Aufbau der Seite eine Ewigkeit. Martin hatte keinen Bedarf für einen Internetzugang gesehen, und jetzt, da das Haus in sich zusammenzufallen drohte, hatte es vermutlich erst recht keinen Zweck mehr, einen Anschluss zu beantragen. Als Henrik die Karte endlich mit dem uralten Plan abgleichen konnte, erhielt er Gewissheit. Er hatte richtig getippt. Das Hotel existierte damals schon, wenn auch nicht mit den heutigen Ausmaßen. Dafür war der Garten einst größer gewesen und reichte bis an den Universitätspark heran. Der Gebäudetrakt, der heute die meisten Zimmer beherbergte, musste deutlich später errichtet worden sein. Dort, wo sich jetzt der Pool befand, hatte allem Anschein nach früher ein kleineres Bewirtschaftungsgebäude gestanden. Er hielt den Atem an. Beugte sich tiefer hinab und rückte die Schreibtischlampe zurecht. Jemand hatte an dieser Stelle nachträglich Markierungen eingefügt und daneben ein paar Zahlen notiert. 93/4/12-14. Ein Datum? Drei Tage im April 1993? Darunter standen weitere Ziffern, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergaben. Entscheidend war vorerst aber, dass die Notizen in einer Handschrift verfasst war, die er längst zur Genüge kannte. Nämlich in der seines Onkels Martin Falkner.

6

Martin hatte sich also irgendwann mit dem Garten des Hotels befasst. Wusste sein Onkel, dass dort jemand einbetoniert worden war? Was er gerade entdeckt hatte, sprach definitiv dafür, so gut war er mittlerweile mit Martins Vorgehensweise vertraut, wenn es um ungeklärte Verbrechen ging. Die Frage war nur, wie viel er gewusst hatte? Fest stand, Martin hatte wie immer keinen Alarm geschlagen, als er auf dieses Verbrechen gestoßen war. Auch das war typisch für seinen Onkel. Er hatte sein Wissen oder seinen Verdacht über diesen möglichen Mord auf geheimnistuerische Art in seinem Antiquariat archiviert – und dabei war es geblieben. Henrik ersparte es sich, dieses Vorgehen zu hinterfragen. Viel wichtiger war es, sich Gedanken darüber zu machen, woher Martin von dem Verbrechen erfahren hatte, von dem die Behörden bis zu dem Moment, als vor ein paar Tagen das Fundament aufgestemmt und die Leiche freigelegt worden war, offensichtlich nichts gewusst hatten. Himmel noch mal! Hätte Martin sich nicht einmal etwas durchschaubarer ausdrücken können? Jedenfalls war der Katasterplan, der ausgerollt vor ihm auf dem Schreibtisch lag, der ausreichende Beweis, dass Martin mehr über den ominösen Toten wusste. Das zeigte sich allein an dem Vermerk über diese drei Tage im April 1993.

Und die anderen Zahlen? Noch einmal suchte Henrik akribisch die vergilbte Papierbahn ab, entdeckte aber keine weiteren Notizen mehr, die nicht zum ursprünglichen Dokument gehörten. Und was fange ich nun damit an? Mit einer Lageplanzeichnung, die an die einhundertdreißig Jahre alt war … Vertieft in seine Überlegungen, schrak er zusammen, als jemand gegen die Ladentür klopfte. Um diese Zeit? Sein erster Gedanke galt Helena, und er spürte, wie sein Puls nach oben ging. Er beeilte sich unwillkürlich, auch wenn der Realist in ihm nicht wirklich daran glauben konnte, dass tatsächlich die Inspetora vor der Tür stand. So hielt die Enttäuschung sich in Grenzen, als er aufschloss und die Tür öffnete. Eine Überraschung war es dennoch.

»Catia!«

Seine ehemalige Angestellte, genauer gesagt, Martins langjährige Mitarbeiterin, stand unter dem Baugerüst, das zwei Seiten der Fassade umfasste. Die grünen, mit Mörtel und Baustaub verdreckten PVC-Planen, die in mehreren Bahnen herabhingen, bewegten sich wellenförmig im Wind. Die Metallösen, mit denen sie befestigt waren, erzeugten ein leises, aber stetes Klicken, wenn sie gegen die Gerüststangen schlugen. Ein Geräusch, dass er nach Wochen nur noch ganz beiläufig wahrnahm.

Selbst im weichen, honigfarbenen Licht der Straßenlaternen sah Catia abgekämpft aus. Unter ihren müden Augen lagen dunkle Halbmonde. Die Falten, die sich von der schmalen Nase hinab zum spitzen Kinn zogen, schienen noch tiefer geworden sein. Die wirren Locken, die sie mit einem bunten Tuch – dem einzigen Farbklecks an ihr – zusammengebunden hatte, waren mit weit mehr grauen Strähnen durchwoben als noch bei ihrer ersten Begegnung vor gut einem Jahr. Der breite Riemen einer großen Reisetasche lag über ihrer knochigen Schulter. »Ich weiß nicht, wohin«, erklärte sie anstelle eines Grußes.

Überrumpelt runzelte er die Stirn. »Deine Bekannte …«

»Sie ist zurück und braucht ihre Wohnung für sich.«

Nachdem Catia für ein paar Monate verschwunden war, hatte sie erst kürzlich wieder bei ihm vorgesprochen und angefragt, ob sie ihren alten Job zurückbekommen konnte. Die Antwort darauf war er ihr bis heute schuldig geblieben. Nun allerdings brauchte sie offenbar auch noch eine Bleibe.

»Sie hat dich einfach rausgeworfen?«

»Es war ohnehin nur eine Übergangslösung.«

»Hast du nicht erzählt, sie wäre im Ausland tätig?«

Ein zaghaftes Schulterzucken. »Pläne ändern sich. Aber du hast recht, ich hatte nicht erwartet, dass dieses Engagement so schnell endet.«

Er dachte an das teure Appartement der ihm unbekannten Freundin, auf halber Höhe gegenüber dem Castelo de São Jorge gelegen, das an die Parkterrassen von São Pedro de Alcântara angrenzte. Es bot einen imposanten Blick über den Praça Dom Pedro und das Baixa-Viertel bis hinunter zum Fluss. Keine Wohnung, die man freiwillig verließ. Er hatte Catia dort erst vor wenigen Tagen aufgesucht und zur Rede gestellt. Sie war nicht nur sehr betrunken gewesen, sondern hatte sich dabei auch als hinterhältige Verräterin entlarvt und Martin, der ihr all die Jahre sein Vertrauen geschenkt hatte, als paranoiden Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Und das war längst nicht ihr schlimmstes Vergehen gegen seinen Onkel. Vielmehr war Martin über Jahre schändlich von ihr hintergangen worden.

Und nun stand sie hier vor Henrik und erwartete Hilfe. Konnte er sie je wieder im Antiquariat arbeiten lassen? Wollte er das überhaupt? Einerseits erschien ihm das völlig unmöglich. Andererseits kannte er nun auch die Wahrheit über ihre eigene traumatisierende Vergangenheit. Und immerhin hätte er sie hier einigermaßen unter Kontrolle. Egal, ob sie im Laden arbeitete oder …

»Renatos Wohnung ist gerade frei«, knurrte er, ohne wirklich sicher zu sein, ob er nicht eine große Dummheit beging.

»Renato? Was ist mit ihm?«, fragte sie.

Natürlich, er hatte ihr noch nicht erzählt, was zwischen Renato und ihm vorgefallen war. Oder besser, was der Alte angerichtet hatte.

»Nicht jetzt«, erklärte er und machte ihr Platz. Die Tasche eng an sich gedrückt, schob sie sich an ihm vorbei. Er lotste sie durch den Laden ins Treppenhaus. »Es ist offen«, sagte er und deutete nach oben, dann sah er sie an und wurde sich wieder ihrer knochigen, kraftlosen Gestalt bewusst. Catia war besorgniserregend dünn geworden. Er seufzte und griff nach ihrem Gepäck. Hintereinander stiegen sie hinauf bis unters Dach und betraten Renatos Wohnung. Die Luft war zäh und roch abgestanden. Es war erst drei Tage her, seit Renato die Flucht ergriffen hatte, und dennoch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.

Renato hatte er bis vor Kurzem noch für einen Freund gehalten. Nun war klar, dass er diese Freundschaft nur vorgespielt hatte. Zum einen, weil er davon ausgehen konnte, dass Henrik ihn um Rat fragen würde – was er auch mehrfach getan hatte. Zum anderen hatte Renato darauf gebaut, in Henriks Recherchen eingeweiht zu werden, um dadurch eine gewisse Kontrolle zu erlangen. Und um frühzeitig zu erkennen, ob und wann er durch die Ermittlungen selbst in Verdacht geriet. Noch einer also, der ein doppeltes Spiel mit ihm gespielt hatte. Schlimmer sogar: nicht nur mit ihm, sondern auch mit Martin, dessen Freundschaft er in abscheulichster Weise missbraucht hatte. Von daher passte Catia ganz gut in diese Verräterwohnung.

»Vorsicht, da liegen Glasscherben rum«, warnte er Catia, nachdem er die Tasche im Flur unter die Garderobe gestellt hatte. Stirnrunzelnd musterte sie ihn.

»Lange Geschichte«, sagte er und zuckte die Achseln, keinesfalls bereit, im Moment mehr über Renatos Sünden preiszugeben. Nicht aus Rücksichtnahme gegenüber Catias angeschlagener Psyche, sondern hauptsächlich seines Misstrauens wegen, das sich mit neuer Wucht in ihm manifestiert hatte, seit er die Wahrheit kannte. Catia und Renato, die so eng mit Martin verbunden gewesen waren und sich beide gegen seinen Onkel gewandt hatten. Das war nicht leicht zu verkraften. Vor allem nicht Renatos Frevel, der nicht nur in einem Verrat bestand … der Sänger und Mime war sogar noch einen Schritt weiter gegangen …

Kurz spielte Henrik mit dem Gedanken, dass Catia wissen mochte, was vorgefallen war, und sich nur verstellte. Hatten die beiden sich womöglich abgesprochen? War sie hier, um für Renato herauszufinden, was Henrik gegen ihn plante? Das hätte ihn nicht einmal besonders überrascht. Er hatte sich in all der Zeit, die er nun hier lebte, schon so viele Lügen anhören müssen, ausgerechnet von den Leuten, die er für integer gehalten hatte …

»Richte dich erst mal ein, wir reden morgen!«, erklärte er kurz angebunden, trat hinaus ins Treppenhaus und zog die Tür hinter sich zu. Auch wenn ihre Reaktion ihn durchaus interessierte, wusste er noch nicht, ob er dieses Versprechen tatsächlich einlösen würde. Momentan fühlte er sich schlicht nicht bereit für eine weitere, düstere Offenbarung.

7

Die Wälder waren nur noch Aschefelder, aus denen schwarze, versengte Stümpfe ragten. Wohin er mit seinen tränennassen Augen auch blickte, stiegen beißende Dämpfe auf und verschleierten die Sicht. Es war, als bewegte er sich durch eine dichte Nebelbank. Dazu kam die Hitze von immer noch schwelenden Glutnestern. Die lauernde Brut der Feuersbrunst, bereit, jederzeit zu schlüpfen, wenn Wind aufkam und Sauerstoff in ihre gierigen Schnäbel blies, um sie damit neu zu entfachen. Schwer atmend stolperte er in dem verkohlten Chaos herum, das sich in jede Richtung bis zum Horizont dehnte; er konnte sich nicht erinnern, was ihn hergeführt hatte. Wohin sollte er gehen? Er folgte einer Spur, ohne zu wissen, was ihn dazu bewog. Rauchwolken verdeckten den Himmel und machten auch eine Orientierung in die Ferne unmöglich. Mit einem Mal trug der heiße Wind leise Stimmen an sein Ohr. Inmitten dieser Zerstörung war er also nicht allein. Galt es, diejenigen zu finden, die wie er durch die knöcheltief mit Asche überzogene Trostlosigkeit irrten? War er hier, um diese Leute zu retten? Oder um sie zu richten? Auch das konnte er nicht beantworten. Er fühlte sich zutiefst zerrissen. Seine Zweifel brannten ebenso wie die rauchige Luft, die er einatmete und die ihn schwindlig machte. Bei jedem seiner Schritte stoben Ascheflocken auf, wirbelten vor seinen Augen, legten sich auf seine verschwitzte Haut, verstopften seine Atemwege. Sein Herz hämmerte ihm gegen den Brustkorb. Besser, er verließ diesen Ort so schnell wie möglich, ehe man auch noch nach ihm suchen musste, weil er selbst nicht mehr in der Lage war, einen Ausweg zu finden. Obwohl – wer sollte schon nach ihm suchen? Wer vermisste ihn? War überhaupt noch jemand übrig, der sich für ihn in Gefahr brachte, so wie er es in einem fort für andere tat?

»Henrik!«

Er wirbelte herum, wedelte die Rauchschwaden beiseite. Verkohlte Äste knackten. Seine Augen brannten, Tränen trübten seinen Blick. Funken tanzten. Da, eine Bewegung. Eine vom Rauch vernebelte Gestalt. »Wer ist da?«

»Henrik!«

»Martin?!«

Unmöglich!