Queen July - Philipp Stadelmaier - E-Book

Queen July E-Book

Philipp Stadelmaier

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Beschreibung

Ein rekordheißer Sommer in Paris. Eine Badewanne voll von kaltem Wasser, darin: July, weißweintrinkend. Sie stellt Fragen, sie hört zu, sie kommentiert an den richtigen Stellen. Wo wäre Azizas Geschichte besser aufgehoben als bei ihr? Auf dem Fliesenboden neben der Wanne sitzend, nachts, erzählt Aziza jener July, einer Frau, die sie kaum kennt, von ihrem Aufwachsen in Paris – und ihrem Leben in Dschibuti. Seit Jahren versucht sie dort, ihr Pariser Leben und Lieben zu vergessen. Das fällt ihr nicht allzu schwer zwischen dem Job als Anästhesistin im chinesischen Krankenhaus, trockenen Gin Martinis mit dem attraktiven Kollegen aus Addis Abeba, der verwüsteten Hotel-Suite nach den Nächten mit den somalischen Khat-Schmugglerinnen und den Yacht-Touren mit einem Playboy aus Mosambik. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Strehler sich wieder meldet. Strehler, den Aziza noch aus der Schulzeit in Paris kennt, ihre erste echte Beziehung. Strehler, der sich ihr aus unerfindlichen Gründen immer wieder entzog, der sich damals dann plötzlich und unerwartet von ihr abwandte. Die rätselhaften Lücken in dieser Romanze haben aus Strehler ein Phantom gemacht, das Aziza die Leichtigkeit am Horn von Afrika vermiest. Und so verwickelt sich Aziza zwischen den Welten schon wieder in Schwärmereien, die nur July in ihrer Badewanne zu entwirren vermag. Der Roman "Queen July" ist wie ein französischer Film – ganz leicht erzählt und trotzdem von erstaunlicher Reflektiertheit.

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Sommer in Paris. Eine Badewanne voll von kaltem Wasser, darin: July, Weißwein trinkend. Auf dem Fliesenboden neben ihr sitzend erzählt Aziza von ihrem Aufwachsen in Paris und ihrem Leben in Dschibuti. Seit Jahren versucht sie dort, ihre Pariser Liebe zu vergessen. Das fällt ihr nicht allzu schwer zwischen dem Job als Anästhesistin im chinesischen Krankenhaus, trockenen Gin Martinis mit dem attraktiven Kollegen aus Addis Abeba, der verwüsteten Hotel-Suite nach den Nächten mit den somalischen Khat-Schmugglerinnen und den Yacht-Touren mit einem Playboy aus Mosambik. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Strehler sich wieder meldet. Strehler, den Aziza noch aus der Schulzeit kennt, ihre erste Liebe. Strehler, der sich ihr aus unerfindlichen Gründen entzog, der sich plötzlich und unerwartet von ihr abwandte. Diese alte Romanze glüht immer wieder auf und vermiest Aziza die Leichtigkeit am Horn von Afrika. Sie verwickelt sich wieder in Schwärmereien, die nur July zu entwirren vermag.

Der Roman »Queen July« erzählt wie ein französischer Film – mit Eleganz, atemloser Spannung und Tiefe zugleich.

Philipp Stadelmaier, geboren 1984 in Stuttgart, studierte Komparatistik und Romanistik in Frankfurt a. M. Zurzeit promoviert er in Filmwissenschaften in Frankfurt und Paris. Seit 2012 schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, seit 2015 für das Filmbulletin. Seine Essays erschienen u. a. in der deutschen Vogue, auf dem Blog des Merkur und in der Literaturzeitschrift Metamorphosen. 2016 erschien der Tagebuch-Essay »Die mittleren Regionen. Über Meinung und Terror«, für den er 2018 mit dem Clemens-Brentano-Preis für Literatur der Stadt Heidelberg ausgezeichnet wurde. Er lebt in Wien.

PHILIPP STADELMAIER

QUEEN JULY

ROMAN

Erste Auflage

Verbrecher Verlag 2019

www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2019

Gestaltung und Satz: Christian Walter

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

ISBN: 978-3-95732-407-8

eISBN: 978-3-95732-418-4

Printed in Germany

Der Verlag dankt Chandra Esser, Leonie Jeismannund Philipp Bräuner.

– Où allez-vous partir?

– Loin de vous.

– J’y viendrai.

– Oui.

– Et de là vous vous en irez encore.

– Oui.

– Et j’y viendrai encore.

– Oui.

– Et de là vous vous en irez encore.

– Oui. Je pars pour vous fuir.

»Agatha et les lectures illimitées«, Marguerite Duras, 1981

– Please don’t ask me to stay.

– Don’t go. I have so many things to say to you.

»The Gay Divorcee«, Mark Sandrich, 1934

I can’t bear feelings between people.

Alfred Hitchcock

PROLOG

DER ABEND IN DER RUE DU GÉNÉRAL CAMOU

DIE BESTEN JIAOZI VON PARIS

DAS VERLORENE PARADIES

JULY REIBT AZIZAS FÜßE EIN

AM GOLF VON ADEN

SCHWARZES FIEBER

SOUND OF JOY

JULY ERZÄHLT VON EINER TURBULENTEN NACHT IN GAMBIA

AZIZA FÄHRT MIT IHRER ERZÄHLUNG FORT

DAS ZITTERN DER LAUBFRÖSCHE

DER TEPPICH DES EROBERERS

CREVETTES À L’AMORICAINE

FROM HERE TO ETERNITY

DIE BADEWANNE

PROLOG

July lag im kalten Badewasser und nippte an ihrem Burgunder, als draußen die Türe ins Schloss fiel. Aziza betrat das Badezimmer, lehnte sich an die Wand und ließ sich, den Rücken gegen die Kacheln gepresst, zu Boden gleiten.

Es war Anfang Juli und July hatte Ferien. Seit einem halben Jahr war sie viel unterwegs und nur selten zu Hause gewesen, weshalb sie beschlossen hatte, in diesem Sommer Paris nicht zu verlassen. Die Hitzewelle hatte dann vor einer Woche begonnen, am Tag von Azizas Ankunft; seitdem verbrachte July ihre Tage in der Badewanne, umgeben von kaltem Wasser und kaltem Weißwein.

Was Aziza betraf, so hatte sie das Wetter bislang noch nicht einmal kommentiert. In Dschibuti waren im Juli Tagestemperaturen von weit über vierzig Grad, die nachts auf knapp dreißig Grad herunterkühlten, Alltag. Vor ein paar Tagen hatte July zu ihr gesagt: In gewisser Weise hast du dich nicht vom Fleck bewegt, bist genau dort, wo du vorher warst, hast dein Milieu nicht verlassen. July wusste indes selbst, wie sich echte Hitze anfühlen konnte. Wenn sie im Sommer bei der Verwandtschaft ihrer Mutter in Tel Aviv war oder bei der Schwester ihres Vaters in Dakar, konnte es ebenfalls unerträglich heiß werden, doch Dschibuti war eine andere Liga. Dschibuti war eines der heißesten Länder Afrikas. Tropisch-heißtrocken. Wüstenklima. Kaum Regen, so gut wie nie.

Aziza fühlte sich tatsächlich, als hätte sie ihr Milieu nie verlassen. Aber das hatte nichts mit der Hitze zu tun. Es hätte zwanzig Grad haben und durchregnen können und sie würde den Unterschied nicht bemerkt haben, sich fühlen, als sei sie immer noch in Dschibuti. Weil sie dort in letzter Zeit zu oft an Paris gedacht, sich ihre Rückkehr in die Stadt, in der sie bis vor sechs Jahren gelebt hatte, in allen Details ausgemalt hatte – und nun kam es ihr oft vor, als würde sie immer noch in Dschibuti sein und nur weiter daran denken. Selbst im milden Sommerregen wäre es, als hätte sie nie für ein paar Wochen Urlaub von der Klinik in Arta genommen, als hätte sie nicht an jenem Montagabend vor sieben Tagen die Maschine der Air France nach Paris bestiegen, und als säße sie nun bei einem Martini in der Bar des Sheraton mit Blick auf den Golf von Aden anstatt bei einem weißen Burgunder auf dem Fliesenboden von Julys Badezimmer.

DER ABEND IN DER RUE DU GÉNÉRAL CAMOU

July war auf ihrem Bett eingenickt, um sie herum drei andere Körper, um halb vier Uhr morgens, kollektiv niedergestreckt vom Burgunder und vom Dope und umweht von einem milden Luftstrom, der durch die geöffneten Fenster kam, aus dem Draußen, das schon nicht mehr ganz schwarz war und sich bereits dunkelblau färbte. Aziza saß mit Jeannine in der Küche. Zuletzt hatten sie sich letzten August gesehen, vor ziemlich genau einem Jahr.

»July hat keinen Typen und kein Kind, und sie hat ein zweites Zimmer«, meinte Jeannine und schenkte sich Wein nach. »Ab einem gewissen Alter ist es wichtig, sich neue Freunde zu suchen.«

Aziza lächelte. »Damit die alten Freunde Unterschlupf finden.«

Sie erinnerte sich an die Zeit vor sechs Jahren. Sie waren beide neunundzwanzig und Aziza hatte gerade ihre Facharztausbildung beendet, als Aziza am Tag nach der Verteidigung ihrer Doktorarbeit von Jeannine erfuhr, dass diese schwanger war. Die Sache war eine flüchtige Affäre gewesen und hatte ihr nichts bedeutet, und da sie zu dem Zeitpunkt keine Lust auf Kinder hatte – und schon gar nicht mit irgendwem – hatte sie sich für eine Abtreibung entschieden. Aziza hatte sie zu dem Termin in der Klinik begleitet und danach auf sie gewartet. Schließlich kam ihr Jeannine über den Flur entgegengewankt, völlig fertig. Aziza hatte sie in den Arm genommen, und dann hatten sie gemeinsam geweint.

Aziza erinnerte sich gut an diesen Moment. Sie hätte weinen können, weil Jeannine von dem Eingriff so mitgenommen war oder aus Erleichterung, dass sie ihn endlich hinter sich hatte. Aber das war es nicht. Aziza hatte geweint vor Freude. Und nicht wegen Jeannine, sondern wegen sich selbst.

Aziza erinnerte sich, dass sie sich in diesem Moment daran erinnert hatte, wie sie Jeannine zwölf Jahre früher kennengelernt hatte, im Sommer nach dem Abitur, das sie gemeinsam auf demselben Gymnasium im Süden der Stadt absolviert hatten. Sie kannten sich schon vom Sehen, hatten allerdings nie viel miteinander zu tun gehabt – bis zu dieser Soirée bei Josephine, die ebenfalls in ihrem Jahrgang gewesen war und die Abwesenheit ihrer Eltern ausnutzen wollte, um in ihrer pompösen Wohnung im siebten Arrondissement die Sau rauszulassen und jeden Benimm zum Teufel zu jagen. Mama und Papa waren auf Mauritius und plätscherten mit den Füßen in paradiesischen Gewässern, während ihre Tochter das Pariser Familienapartment in allen nur denkbaren Positionen nach Strich und Faden ordentlich durchzuficken gedachte, was sich nicht nur auf die diversen zwischenmenschlichen Interaktionen bezog, die sich an diesem Abend zuhauf in den zehn Zimmern des Altbauetablissements abspielten, sondern vor allem auf Möbel und Mobiliar sowie die beeindruckende Sammlung von Ölgemälden von namenlosen und vertrottelt dreinblickenden weißen französischen Marschällen und Herzogen, die illustre weiße Vorfahren einst in Schwerstarbeit zusammengetragen hatten. Mit anderen Worten: Der Staub, der sonst nur träge und bequem im Halbdunkel vor sich hin räkelte, wurde in dieser Partynacht von den Ausdünstungen der spaßwütigen Meute ziemlich derbe und explizit rangenommen, und das aus so ziemlich allen Körperöffnungen, die sich irgendwie auftreiben ließen.

Aziza war allein zu Josephines Party gekommen. Rahel, Sophie und Faizah, mit denen sie normalerweise ausging, waren bereits im Urlaub. In dieser Zeit hatte Aziza sich wie ein Wrack gefühlt, so verletzt, dass sie glaubte, nie wieder aufstehen zu können. Es kam ihr vor, als habe sie das Abitur wie durch ein Wunder bestanden, nachdem sie sich beim Lernen kaum hatte konzentrieren können, doch letztlich funktionierte sie besser, als sie es sich zugetraut hatte. Sie funktionierte auch an diesem Abend, als sie wie ein dem Spaß nicht gänzlich abgeneigter Zombie über das Bacchanal schlurfte.

Aziza beteiligte sich an einem Trinkspiel im Wohnzimmer und hatte eben ihren Tequila runtergeschüttet, als ihr Blick zufälligerweise zwei Meter von ihr entfernt auf jemandem hängen blieb, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Normalerweise konnte sie saufen bis zum Umfallen, selbst auf leeren Magen, ihr Vater und ihr älterer Bruder waren Waschlappen gegen sie. Aber in diesem Moment war es aus ihr herausgebrochen, und sie hatte sich übergeben. Auf den Berberteppich im Wohnzimmer.

Es waren weiß Gott nicht die einzigen Spuren von Körperflüssigkeiten, welche die Wohnung in der Rue du Général Camou an diesem Abend abbekam, und so hatte Azizas Fauxpas unter den Umherstehenden zunächst weniger Aufregung als schulterklopfenden Beistand zur Folge, bis plötzlich ein entsetzter Schrei durchs Zimmer fetzte. Die Musik wurde abgedreht, die Gespräche verstummten. In der Türe stand Josephine. Sie stieß die zwei Kerle, denen sie bis eben noch giggelnd Martini Rosso eingeflößt hatte, zur Seite, knallte die Flasche auf einen Marmortisch und starrte fassungslos auf Aziza und die Kotzlache auf dem Teppich.

Aziza erinnerte sich, dass sie, und sicher nicht nur sie, sich in diesem Moment daran erinnerte, was Josephine jedem einzelnen Gast an diesem Abend schon beim Eintreffen eingetrichtert hatte. Was auch immer man anstellen mochte in dieser Nacht, alles halb so schlimm, selbst wenn irgendwas zu Bruch ging, das konnte mal passieren, ihre Eltern würden es schon nicht merken, bei all dem Kram, der hier so rumflog. Aber eine Sache gab es dann doch, auf die man unter allen Umständen besonders achten möge, weil sie der ganzen Familie, ihr selbst eingeschlossen, extrem wichtig war, und diese Sache war der Teppich im Salon, den sie leider nicht mehr habe einrollen können, was abgesehen davon viel zu aufwendig gewesen wäre, weil viel zu viel Zeug auf ihm drauf stand, aber da er nun mal da auf dem Boden liege und dort auch liegen bleiben müsse, solle man nur ein ganz klein wenig auf ihn Rücksicht nehmen, so dass er keine Spuren des kommenden Geschehens davontrage – merci, und nun amüsiert euch. Woraufhin Josephine jetzt, nachdem geschehen war, was niemals hatte geschehen dürfen, aufgebracht der betretenen Menge die Geschichte des Teppichs erzählte.

Ein Urahn der Familie, Leutnant in Napoleons Armee, hatte das Stück einst während der Ägyptenexpedition des Feldherrn von einem Händler in Kairo erstanden. Und was diesen Teppich so auszeichnete, was ihn so einzigartig machte, war, dass dort, auf diesem Stück Stoff, Napoleon Bonaparte höchstpersönlich gesessen hatte, am 21. Oktober 1798, als er den Aufstand der Araber in Kairo niederschlug. Auf diesem Teppich! Der Leutnant, der sich in den bangen Stunden dieses Tages in der Nähe des Feldherrn aufhielt, erkannte den Teppich später wieder, als er ihn zufällig bei einem Straßenhändler entdeckte. Wie er sich denn so sicher sein konnte, dass es derselbe Teppich war?, fragte jemand vorsichtig. – Wie er sich da so sicher sein konnte?, brüllte Josephine, diese Frage könne sie genau beantworten! Aufgrund einer Unregelmäßigkeit im Webmuster nämlich, auf der schon während jenes 21. Oktobers der Blick des Leutnants hängen geblieben war, und von der er sich trotz der angespannten Situation um ihn herum seltsamerweise nicht mehr hatte losreißen können. Es war dieser Sprung im Ornament, nicht der Körper des Feldherrn, in welchen sich die Aufmerksamkeit des Leutnants an diesem Tag vertieft hatte, und diese Nuance verlieh diesem Stück erst seinen familienhistorischen, intimen, von Außenstehenden unmöglich nachvollziehbaren Wert. Und so hatte Napoleons Leutnant, nachdem die Araber für ihren Ungehorsam blutig bestraft und zusammengeschossen waren, den Teppich gekauft und nach Frankreich gebracht.

Aziza stand beschämt neben der zugekotzten Stelle, an der einst der Arsch des Feldherrn bei seinem Sieg gegen die Araber geruht hatte, dachte daran, dass eine Seitenlinie ihrer Familie ägyptischer Herkunft war und ließ Josephines Zorn über sich ergehen, als sich plötzlich von hinten eine Stimme erhob: »Andere hätten einfach Napoleon angeglotzt und den Scheißteppich vergessen.«

Aziza erinnerte sich an diesen Moment, an dem sie sich umdrehte und Jeannine erkannte. Die grazile Figur, die dunkelblonden, langen, offen getragenen Haare; die weiße, sommersprossengesprenkelte Haut; der strenge, feste Blick, der manchmal abwesend wirken konnte, leicht entrückt, in sich gekehrt, um dann wieder nach außen zu brechen; die klare Stimme, die, egal, was sie sagte, immer einen Vorwurf ans Gegenüber mit sich zu führen schien, zuckersüß und kalt. Jeannine hatte das Signal zur Entspannung verordnet und schlagartig begannen die Leute wieder zu reden, die Musik wurde wieder hochgedreht, und Josephine kriegte sich auch wieder ein. Jeannine trat auf Aziza zu und fasste sie beim Arm.

»Alles klar? Zu wenig gegessen? Napoleons Divan sieht ganz danach aus«. Sie betrachtete die wässrige Kotze am Boden und dann Aziza, die in diesem Moment zum ersten Mal seit Wochen lachen musste. Jeannine lachte auch. »Setz dich, ich mach das.« Aziza war zu schwach, um zu protestieren und ließ sich irgendwo nieder, während Jeannine aus der Küche einen Eimer mit Wasser holte, sich die Ärmel ihrer Bluse hochkrempelte und daran machte, die betroffene Stelle des Teppichs zu schrubben. Aziza schaute sie dankbar an.

»Du musst das nicht machen.«

»Kein Problem.« Jeannine schaute sie an. »Du würdest das Gleiche für mich tun.«

Aziza merkte, wie ihr wieder schlecht wurde, und versuchte aufzustehen.

»Scheiße. Ich muss an die frische Luft.«

»Ich komm mit dir.«

Jeannine warf den Lappen in den Eimer und stellte ihn zur Seite.

»Ich hol nur unsere Sachen.«

Fünf Minuten später saßen sie draußen in der kühlen Nachtbrise auf einer Bank und Aziza erzählte Jeannine, was gerade passiert war.

In dem Moment, in dem Aziza ihren Tequila gekippt hatte, hatte sie völlig überraschend Anselm Strehler entdeckt, der rauchend und in eine Unterhaltung vertieft zwei Meter von ihr entfernt gestanden hatte. Strehler war im selben Jahrgang gewesen wie sie und Jeannine. Das erste Mal aufgefallen war er ihr zum Beginn des letzten Schuljahres, als er auf einmal in ihrer Geschichts-Klasse saß – ein weißer, großer, hagerer Boy mit lockigen schwarzen Haaren und großen, warm dreinblickenden Augen. Sie saßen nebeneinander und verstanden sich bald gut. Irgendwann, es war im Oktober, gingen sie nach der Schule auf einen Kaffee, aus dem ein Aperitif und schließlich ein Spaziergang wurde, und das wiederholten sie so oft, bis sie eines Abends knutschend am Seineufer vor der Bibliothèque Nationale versackt waren, was sie während der Herbstferien ins Bett verlagerten. Drei Wochen später waren sie ein Paar. Aziza war glücklich.

Sie hatte zwar schon einige kürzere Beziehungen gehabt, aber jemand wie Strehler war ihr noch nicht untergekommen. Strehler öffnete sich ihr und erlaubte ihr sich zu öffnen. Es fiel ihm leicht, ihr zu sagen, was er für sie empfand, was auch sie dazu brachte, ihm Dinge zu sagen, die sie zuvor noch niemandem gesagt hatte. Wenn sie ihm etwas erzählte, hörte er aufmerksam zu, und stets lachte er an den richtigen Stellen und hielt an den richtigen Stellen die Klappe. Mit ihm konnte sie alles teilen, Freude, Ausgelassenheit, Trauer. Mit ihm konnte sie nachts auf dem Heimweg von einer Soirée brüllend vor Lachen leere Bierdosen durch die Straßen kicken, bis die Anwohner die Fenster öffneten und sie zusammenschrien; mit ihm konnte sie zusammengekauert in einer Ecke sitzen und weinen, wenn ihr danach zumute war. Niemand hatte sie jemals so sehr durchschaut und verstanden wie Strehler, so dass ihre Eltern und ihr Bruder Amir, die sie im Grunde stets gerngehabt hatte, im Vergleich dazu auf einmal wie empathische Analphabeten wirkten. Strehler, das war die ultimative Wunscherfüllung, das symbiotische Glied, das ihr zur Vollendung ihrer selbst gefehlt hatte. Einmal lagen sie schweigend nebeneinander im Bett, während sie sich einfach nur ewig lang in die Augen schauten und die Welt in dieser unendlichen Widerspiegelung zur Vollkommenheit gelangte. Noch während sie so dalagen, wusste Aziza bereits, dass sie diesen Moment niemals vergessen würde. Welches Unglück auch immer die Zukunft für sie bereithalten mochte, ja, selbst wenn sie irgendwann einmal nicht mehr zusammen sein würden – allein die Erinnerung an diesen Augenblick geballten Glücks würde sie stets mit dem Schlimmsten versöhnen.

Es war irgendwann im Januar, als Aziza zum ersten Mal von dem überrascht wurde, was sie später Strehlers »Panzer« nennen würde. Azizas Eltern waren übers Wochenende nach London gefahren, um ihren Bruder zu besuchen, so dass sie die Wohnung für sich alleine hatten. Aber gerade als sie in ihrem Zimmer entblättert auf dem Bett lagen, machte Strehler die Schotten dicht. Sein warmer Blick verwandelte sich in eisige Kälte, seine Großzügigkeit in schneidende Abweisung. Er lag reglos im Bett, wie gelähmt, während Aziza an ihm rumrüttelte und ihn erfolglos dazu bringen wollte, ihr zu sagen, was mit ihm los sei, bis sie vor Verwirrung bitterlich zu weinen begann. Erst in diesem Moment erwachte Strehler aus seiner Starre, beugte sich über sie und begann sie zu trösten, was schließlich in den geplanten Sex mündete – das Wochenende, eben noch zum Desaster verurteilt, war gerettet.

Aziza dachte nicht mehr daran. Dann saßen sie eines Tages in einem Café und Aziza erzählte ihm, wie ein Freund seines Bruders einmal von zwei weißen Polizisten kontrolliert wurde, die ihn für einen Dealer hielten, und ihn, als sie nichts bei ihm finden konnten, kurzerhand verprügelt hatten. Aziza dachte sich nichts weiter dabei – derartige Schikane waren für Nichtweiße wie sie in Paris Alltag – und nippte an ihrer Leffe, als ihr auffiel, dass Strehler plötzlich in eine ähnliche Starre verfallen war wie damals in ihrem Zimmer. Pierre, Strehlers bester Freund, hatte Aziza später beruhigt und ihr versichert, dass solche Zustände bei Strehler durchaus normal waren. Strehler sei schon immer übermäßig sensibel gewesen und so komme es vor, dass Dinge, die man ihm erzählte, ihn so mitnahmen, dass er katatonisch wurde, um sich zu schützen, sich zusammenzuhalten, nicht auseinandergerissen zu werden. »Der Panzer«, so hatte Pierre diesen Zustand getauft. Nachdem sie einige Male Zeugin dieses Vorgangs geworden war, hatte sie jedoch festgestellt, dass Strehler sich in diesen Augenblicken keineswegs in Dumpfheit und Leere zurückzog, im Gegenteil – unter dem Panzer blieb es laut, ja, sein Innenleben schien in diesen Momenten sogar ganz besonders stürmisch zu sein, und wenngleich sie wusste, dass ihr dieser Teil seines Wesens unzugänglich bleiben würde (sie hatte mehrmals versucht, mit ihm darüber zu reden, aber er schien nicht zu können oder zu wollen und schließlich hatte sie es aufgegeben), so fand sie seine Art, seine ganze Lebendigkeit zu nehmen und tief in sich hineinzustopfen, um sich nach außen hin tot zu stellen, eigentlich auch ziemlich anturnend. Abgesehen davon dauerten diese Zustände ohnehin nie lang – bald entspannte er sich wieder und alles war wieder gut.

Ob Strehlers Eltern die Ursache für seine gelegentlichen Anwandlungen waren? Seine Mutter war Lehrerin, der Vater drehte Dokumentarfilme fürs Fernsehen und Aziza fand sie durchweg sympathisch. Sie gehörten nicht zu denen, die Druck auf ihren Sohn ausübten, und schienen darauf zu vertrauen, dass er für sein Leben schon die richtigen Entscheidungen treffen würde. Allerhöchstens versuchte sein Vater manchmal sanft, Strehler in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Sie erinnerte sich etwa an einen Abend, an dem sie bei seiner Familie zum Essen eingeladen war und der Vater beim Dessert mit einem seiner Lieblingsthemen anfing.

»Du musst ein Buch schreiben über deine Jugend«, sagte Strehlers Vater. »Aber bald, bevor du zu alt bist, denn die anderen sind schon in den Startlöchern und haben ihre Manuskripte schon in der Schublade!«

Zwar hatte Strehler im Unterschied zu ihr für die letzten beiden Schuljahre das literarische Profil gewählt (sie hatte sich für das naturwissenschaftliche entschieden), dies bedeutete allerdings noch lange nicht, dass er mit seinen siebzehn Jahren bereit war (oder überhaupt jemals bereit sein würde), das Meisterwerk abzuliefern, zu dem Strehlers Vater ihn motivieren wollte. Er habe keine verdammte Ahnung, erwiderte Strehler, worüber er schreiben solle, denn außer Plattitüden würde ihm nun mal nichts einfallen.

»Dann schreib eben die Plattitüden auf«, erwiderte sein Vater, »machen doch eh alle.«

Daraufhin tat Strehler, was er bei solchen Gelegenheiten immer zu tun pflegte, er verstummte einfach und blickte für den Rest des Abends missmutig vor sich hin, während sein Vater ihn fröhlich weiter davon zu überzeugen versuchte, die Belanglosigkeiten seines Lebens zu einem Roman zu verdichten. Manchmal, wenn es ihm wieder schlecht ging, zog Strehler über seine Eltern und besonders seinen Vater her, doch Aziza kaufte ihm diese Nummer nie ganz ab, dafür waren die Eltern einfach zu lieb und zu harmlos, was selbst Strehler einräumen musste – dass sein Vater einfach nur viel von seinem Sohn hielt, war noch kein hinreichender Grund, um zum Gelegenheitsdepressiven zu werden.