Radikal emotional - Prof. Dr. Maren Urner - E-Book

Radikal emotional E-Book

Prof. Dr. Maren Urner

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Beschreibung

In ihrem Debattenbuch fordert die Neurowissenschaftlerin und Bestsellerautorin Maren Urner, unser rationales Politikverständnis zu überdenken: Angesichts fortschreitender Krisen müssen wir endlich aufhören, Verstand und Emotionen voneinander zu trennen. Nur, wenn wir beides zusammendenken und danach handeln, können wir konstruktiv Politik gestalten. Wenn es um gesellschaftspolitische Debatten geht, dann erzählen wir uns seit jeher die gleiche Geschichte: Auf unsere Emotionen könnten und dürften wir uns nicht verlassen. Gefühle seien etwas Privates, das von der professionellen und politischen Ebene streng getrennt werden müsse. Psychologische, anthropologische und neurowissenschaftliche Studien allerdings widersprechen dieser Ansicht radikal: Alles, was im politischen Raum passiert, ist von Emotionen geprägt. Auch wenn wir uns sachliche Diskussionen wünschen, zeigt die Realität: Je lauter die Forderung nach Rationalität ist, desto irrationaler und emotional aufgeladener wird die Debatte.Wir werden immer und überall von unseren Emotionen mitbestimmt – Gefühle machen Politik. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Alles fängt mit einer grundlegenden Einsicht an: Auch private Entscheidungen sind immer politisch – und weil wir direkt betroffen sind, reagieren wir emotional. Was wir essen, wie wir uns fortbewegen, wie wir wohnen und wie wir Erfolg definieren – all das hat immer eine politische Dimension. Nur, wenn wir anerkennen, dass wir alle immer und überall emotional und rational zugleich sind, können wir produktiv damit umgehen. Dieser Umgang muss radikal sein – das heißt, er muss die Dinge bei der Wurzel packen. Denn sinnvolle gesellschaftliche Auseinandersetzungen – ob am Frühstückstisch, im politischen Raum oder im Plenarsaal – sollten lösungsorientiert sein. Das politische Sachbuch bietet nicht nur eine kluge Analyse – Maren Urner gibt uns auch einfache Werkzeuge und Methoden an die Hand: 1) Nur wenn wir radikal aufmerksam sind, können wir unsere eigenen Gefühle wahrnehmen und unsere Entscheidungen besser verstehen. 2) Nur wenn wir radikal ehrlich miteinander kommunizieren, können wir die gesellschaftlich notwendigen Veränderungen für eine lebenswerte Welt bestreiten. 3) Nur wenn wir die falschen Trennungen zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Privat und Professionell, zwischen Umwelt und Mensch überwinden, können wir uns radikal verbunden fühlen. Das ist grundlegend für ein zukunftsorientiertes Denken und Handeln.

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Seitenzahl: 375

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Prof. Dr. Maren Urner

Radikal emotional

Wie Gefühle Politik machen

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Hand aufs Hirn: Unser bisheriger Umgang mit Emotionen in der Politik bringt uns bei den großen Herausforderungen der Gegenwart nicht weiter. Bestsellerautorin Maren Urner analysiert auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Forschung, wie Gefühle Politik machen. Sie zeigt eindrucksvoll, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit nur meistern können, wenn wir künftig anders mit unseren Emotionen umgehen. Wie das funktionieren kann, stellt sie in diesem Buch vor.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Widmung

Einleitung

I Radikale Aufmerksamkeit

Frage 1: Was fühle ich?

Wir wollen alle nur das Eine

Emotionale Analphabet:innen

Es gibt keine negativen Emotionen!

Frage 2: Worauf achte ich?

Henne oder Ei: Der Mix aus Umwelt und Genen

Weniger ist tatsächlich mehr

Die Basis für alles: Unser Bewusst-sein

Frage 3: Wie bin ich?

Wer bin ich wann und wo?

Die Sache mit der Motivation, oder: Pandemie der Hilflosigkeit

Neugier als Gewohnheit

II Radikale Ehrlichkeit

Das ist (nicht) normal!

Alles eine Frage der Zeit

Das Angebot bestimmt die Nachfrage?

Recht und Ordnung!

(Nicht) Geschafft!

Falsche Belohnungsstrukturen, oder: Die Suche nach (der) Wahrheit

Freiheit!

III Radikale Verbundenheit

Dichotomie 1: Gefühl vs. Verstand

Dichotomie 2: Privat vs. politisch

Dichotomie 3, oder: Die ultimative Dichotomie

Wir sind alle abhängig!

Gesundheit!

Kein Ende, sondern ein Anfang

Danke!

»The prevalent fear of poverty among the educated classes is the worst moral disease from which our civilization suffers.«

 

William James, Begründer der Psychologie (1842–1910)

Für Ina, Nafast und Dirk

Einleitung

Es ist vielleicht die persönlichste und unpersönlichste Frage zugleich. Vielleicht ist es auch gleichermaßen die einfachste und schwierigste Frage. Vielleicht ist es sogar die am häufigsten gestellte Frage der Welt. Die Frage, die wir in der ersten Lektion einer jeden Fremdsprache lernen. Eine Frage, die uns schnell über die Lippen – oder die Tasten – geht. Obwohl sie so vermeintlich einfach daherkommt, kann sie vielleicht niemand wirklich vollumfänglich beantworten. Selbst wenn wir wollten und alle Kraft in die Beantwortung investieren würden. Wenn wir keine Kosten und Mühen scheuen würden, um der richtigen Antwort auf die Schliche zu kommen. Es ist die Frage, die ich schon ungezählte Male meinen Gegenübern gestellt habe und mindestens genauso häufig selbst gefragt wurde. Und nun weiß ich nicht mehr, ob ich sie mag oder sie mir gewaltig auf die Nerven geht. Weil diese Frage so unscheinbar daherkommt, aber eigentlich eine Tiefe der Auseinandersetzung verlangt, für die wir doch längst alle keine Zeit mehr haben. Mal abgesehen davon, dass es mir schwerfällt, einzuschätzen, ob meine Antwort eigentlich irgendjemanden ernsthaft interessiert. Selbst wenn das der Fall sein sollte, frage ich mich, ob die Fragenden die Antwort aushalten würden. Ob sie es aushalten würden, wenn ich ihnen so richtig ehrlich antworten würde. Ungeschönt und ungebremst, mal laut, dann ganz leise. Lachen, Tränen und Schluchzen. Alles wäre dabei. Aus vollem Hirn und mit voller Wucht. Wörter, Gesten und Mimik. Und bei all diesen Äußerungen wüsste ich trotzdem nicht, ob ich der Frage aller Fragen gerecht werden würde. Selbst wenn ich mich in diesen Zeiten der großen Verunsicherungen aufrichtig mit ihr auseinandersetzen könnte. Und ob es überhaupt möglich ist, eine wirklich ehrliche Antwort auf sie zu geben. Denn es ist schwierig bis unmöglich, eine Frage zu beantworten, wenn ich selbst gefühlt nur begrenzten Zugriff auf die Antwort habe.

Es geht um eine radikal ehrliche Antwort auf die Frage: Wie geht es dir?

 

Vielleicht hat sich die Frage beim Lesen schon ertappen lassen. Vielleicht hast du ein wenig genickt, als du sie erkannt hattest, und alle nachfolgenden Sätze bereits auf sie angewendet. Vielleicht hat sie auch einen kleinen Widerstand ausgelöst, weil du es unverschämt oder unangemessen findest, dass ich in diesem Buch einfach so duze. Schließlich kennen wir uns sehr wahrscheinlich gar nicht. Bevor du deine Lektüre jetzt also möglicherweise vorschnell beendest, bitte ich dich, mir einen kleinen Vertrauensvorschuss zu geben und dich mit mir auf ein paar Gedanken einzulassen und mitzudenken. Wenn du dann genug hast, darfst du das Buch guten Gewissens beiseitelegen und da weitermachen, wo ich dich abgeholt oder gar unterbrochen habe. Vielleicht hat deine Hand eben schon Richtung Smartphone gezuckt, vielleicht hast du dich auf deinen Feierabend mit dem Videostreaming-Angebot deines Vertrauens gefreut. Vielleicht fühlst du dich auch so erschöpft, dass du lieber direkt schlafen gehen könntest.

Aber vielleicht – und das hoffe ich natürlich – hast du dieses Buch auch zur Hand genommen, weil du Lust hast, dich näher damit zu beschäftigen, wie Gefühle und Politik zusammenhängen. Vielleicht hat dich der Untertitel dieses Buches neugierig gemacht: »Wie Gefühle Politik machen«. Immerhin widerspricht das der weitverbreiteten Vorstellung, Gefühle hätten in der Politik nichts zu suchen. Wie also komme ich darauf?

Meine These lautet: »Wie geht es dir?« ist nicht nur die persönlichste Frage, die ich einem anderen Menschen stellen kann, sondern auch die politischste. Diesen einfachen und gleichzeitig sehr komplexen Zusammenhang wollte ich selbst lange nicht wahrhaben und habe mich regelrecht dagegen gesträubt. Schließlich hat doch mein privates Befinden nichts mit Politik zu tun, geschweige denn etwas darin zu suchen. In der Politik geht es um Dinge wie Gesetzesentwürfe, internationale Zusammenhänge und Haushaltsbudgets, aber nicht um meinen oder irgendeinen emotionalen Zustand! Und wenn doch, dann ist es schlechte Politik, irgendwo kurz vor oder hinter Populismus. Nickst du gerade?

Dann halt kurz inne und folge mir gedanklich weiter.

Als Neurowissenschaftlerin hätte ich nie gedacht, dass ich mal ein politisches Buch schreiben würde – schließlich ist das gar nicht mein Feld. Dachte ich. Bis ich verstanden habe, dass meine Bücher schon immer in gewisser Weise politisch waren und sein werden. Warum? Weil fast jede Informationsweitergabe, die wir als Menschen tätigen, politisch ist. Weil fast jede noch so kleine Form der Kommunikation etwas über meine Überzeugungen und Werte aussagt. Etwas darüber aussagt, was ich als Senderin für »richtig« und was für »falsch« halte. Was ich für »angemessen« und was für »unangemessen« halte. Was ich »zeitgemäß« und was »veraltet« finde. Was ich »glaube«, wem ich vertraue und wem ich misstraue. Das alles ist immer politisch. Aus dem einfachen Grund, weil all das unser Zusammenleben betrifft. Nichts anderes ist Politik in ihrem ursprünglichen Sinne.

So definiert die Bundeszentrale für politische Bildung Politik als »jegliche Art der Einflussnahme und Gestaltung sowie die Durchsetzung von Forderungen und Zielen, sei es in privaten oder öffentlichen Bereichen«.1 Im Wörterbuch der Oxford University Press wird zwischen zwei Definitionen unterschieden, die den von mir gemachten Aspekt der eigenen Überzeugungen betonen: Demnach meint Politik »1. alle Maßnahmen, die sich auf die Führung einer Gemeinschaft, eines Staates beziehen« und »2. [die] Methode, Art und Weise, bestimmte eigene Vorstellungen gegen andere Interessen durchzusetzen«.2

Eigene Vorstellungen! Diese beiden Wörter sorgen in meinem Gehirn dafür, dass einige Alarmglocken läuten und die Neurowissenschaftlerin in mir besonders aufhorcht. Wenn ich in den vielen Jahren, in denen ich mich mit dem menschlichen Gehirn und seinen Funktionsweisen bis heute beschäftigen durfte, eines gelernt habe, ist es Folgendes: Meine Welt ist nicht deine Welt. Aus dem einfachen Grund, weil unser Gehirn auf Basis unserer individuellen Biologie,3 unserer bisherigen Erfahrungen bis zum aktuellen Moment und der Interaktion aus beidem die Welt stets auf seine ganz individuelle Art und Weise interpretiert. Unsere »Vorstellungen« sind also stets verschieden. Das führt zwangsläufig auch dazu, dass wir unterschiedliche »Dinge« für »richtig« und »falsch« halten. Und es führt dazu, dass wir infolgedessen sehr wahrscheinlich unterschiedliche Politik unterstützen.4

Jede Geschichte – und jede Entscheidung – ist politisch

Hand aufs Hirn: Alles soll irgendwie politisch sein? Das klingt ganz schön anstrengend. Vielleicht zu theoretisch, vielleicht zu komplex. Erschwerend kommt hinzu: Unser Gehirn reagiert auf jeden neuen Reiz von außen – oder alltagstauglicher formuliert: Jede Ablenkung von anstrengenden Gedankengängen und Konzentration nimmt es »dankend« an. Die Folge: Vielleicht zuckt deine Hand bei der Lektüre dieser Einleitung nun schon zum zweiten oder dritten Mal Richtung Smartphone. Lieber eine Folge der aktuellen Lieblingsserie schauen oder ein wenig durch Bilder und Videoclips scrollen, um mal runterzukommen. Angesichts von Dauer-, Poli- oder Multikrise, in der wir uns spätestens seit Corona irgendwie befinden, ist jede Form von unterhaltendem Zeitvertreib willkommen. Aber was, wenn dieser Ablenkungsreflex uns gar nicht hilft, wenn es am Ende gar nicht möglich ist, diesen elementaren Fragen zu entgehen? Denn genau wie ich erkennen musste, dass meine eigenen Bücher schon immer politisch waren, ist auch unser Eskapismus in die Popkultur nie unpolitisch.

Die amerikanische Journalistin Judy Berman hat diese Ironie im Juli 2023 in einem Artikel für TIME treffend auf den Punkt gebracht, wenn sie schreibt: »Egal, wie sehr wir Unterhaltung als etwas betrachten, um den endlosen Problemen in der Welt zu entkommen, keine Form des popkulturellen Geschichtenerzählens kann jemals wirklich unpolitisch sein.«5 In ihrem Artikel beschreibt und bedauert Judy Berman die Entwicklung in aktuellen TV-Serien, sich klaren politischen Positionierungen zunehmend zu entziehen. Sicherlich (auch), um den gerade beschriebenen Wunsch nach Ablenkung zu bedienen. Doch egal wie sehr die Drehbuchautor:innen versuchen, Politik außen vor zu lassen, kann es ihnen nicht gelingen. Denn im Kern einer jeden Handlung steckt auch dort der urmenschliche Wunsch, zu wissen, was »richtig« und was »falsch« ist. Er steckt in jeder sprachlichen Formulierung. Oder hast du nicht gerade auch entweder Zustimmung oder Irritation bis hin zu Abwehr verspürt, als ich zum ersten Mal gegendert habe?

Unser Bedürfnis nach Zuordnung und Identifikation steckt in jeder Geschichte, die wir uns erzählen, und ist zugleich Grundlage der Philosophie und jeder Religion. Und es beeinflusst unsere Vorstellungen von Verantwortung und Macht – im Kleinen und im Großen: Wer hat zu Hause »das Sagen«, und wer hat politische Ämter? Männer oder Frauen – und sollten Kinder auch ein Wörtchen mitreden dürfen? Finden wir es »normal«, wenn sich Menschen unterschiedlicher Hautfarbe küssen? Und wie sieht es mit Menschen gleichen Geschlechts aus? Sind Unabhängigkeits- oder Expansionsbestrebungen bestimmter Staaten gerechtfertigt? Und ist Krieg ein notwendiges Übel, um darauf zu reagieren? Essen wir fast täglich Fleisch, oder ernähren wir uns vegetarisch oder vegan? Setzen wir uns für die Erledigung eines kleinen Einkaufs ins Auto oder aufs Fahrrad? Ist es cool oder verpönt, seinen Müll vom Picknick im Wald von der Decke zu schütteln? (Letzteres ist eine Szene der in den 1960ern spielenden Serie Mad Men,6 die mir vor Augen geführt hat, wie sich die »öffentliche Müllmentalität« in den letzten Jahrzehnten verändert hat.)

Was der kleine Fragenkatalog verdeutlicht: Nicht nur die großen Zusammenhänge, sondern auch vermeintlich »rein private« Alltagsentscheidungen sind immer politisch. Was wir essen, wie wir uns fortbewegen, wie wir wohnen, wen wir lieben und wie wir Erfolg definieren – all das hat immer eine politische Dimension.

Emotionale Blobs auf zwei Beinen

Doch was hat das alles nun mit Gefühlen zu tun? Wie schon erwähnt, wird gute Politik von vielen Menschen vor allem als rationale Angelegenheit verstanden, bei der Gefühle idealerweise keine Rolle spielen. Schließlich geht es um grundlegende Entscheidungen für unser Zusammenleben, bei denen wir klug, überlegt und ohne Gefühlsduselei abwägen sollten. Bei mir löst dieses Narrativ seit Jahren ein ungutes Gefühl aus, weil es so verdammt weit von der Realität entfernt ist. Irgendwann, als es in einer Debatte mal wieder darum ging, dass wir »Gefühle« und »Verstand« bitte voneinander trennen sollten, konnte ich nicht länger an mich halten. Die Ignoranz gegenüber eines gewaltigen Korpus an Forschungsliteratur aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und verwandten Disziplinen der letzten Jahrzehnte (!), die dieser Erzählung direkt widersprechen,7 ließen mich aufgebracht das Wort ergreifen: »Wir können doch nur rationale, also zielgerichtete, Entscheidungen treffen, weil wir bestimmte Vorlieben und Werte haben. Und die sind immer durch Gefühle bestimmt. Nur weil wir basierend auf unseren Gefühlslagen unterscheiden, können wir uns für oder gegen etwas entscheiden.« Ich hielt kurz inne und schloss dann meinen Minivortrag fast fordernd ab: »Genau genommen sind wir nichts anderes als emotionale Blobs auf zwei Beinen!« Im ersten Moment ärgerte ich mich ein wenig, dass mir im Affekt kein besserer Begriff als »Blobs« eingefallen war. Mittlerweile mag ich ihn. Denn schon der Klang des Wortes Blob vermittelt ganz viel über unser Innenleben: wabernd, wuselig und zusammengeballt zugleich. Eines meiner Hauptanliegen in diesem Buch ist es, dass wir mit diesem Durcheinander besser umzugehen lernen. Der allererste Schritt dazu besteht entsprechend darin, anzuerkennen, dass wir als Menschen immer emotional sind und unsere Emotionen immer politisch sind.

Wenn wir unsere Zukunft gut und lebenswert gestalten wollen, müssen wir einen grundlegenden Perspektivwechsel vollziehen: Unsere allseits beliebte Geschichte, dass wir uns bei gesellschaftspolitischen Debatten auf unsere Emotionen nicht verlassen können und sollten, ist gelinde gesagt Quatsch. Gefühle sind nichts »Privates«, das wir von der professionellen und politischen Ebene trennen können. Alles, was unser Zusammenleben ausmacht und damit den politischen Raum bestimmt, der – wie eben hergeleitet – immer und überall präsent ist, ist von Emotionen geprägt. Um noch eine Schippe draufzulegen: Die Ansicht, Emotionen hätten in der Politik nichts zu suchen, ist sogar – Achtung! – irrational. Denn Politik ist nichts anderes als ein Aushandlungsprozess über unterschiedliche Gefühle und damit verbundene Werte und Ideen innerhalb einer Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt. In diesen Aushandlungsprozess sind wir alle involviert. Sei es als Landwirt:innen in Traktorenkolonnen, als Lokführer:innen, die streiken, als Reisende, die versuchen, ans Ziel zu kommen, oder als Demonstrierende, die für die Demokratie und gegen rechte Gesinnungen mit Millionen anderer Menschen auf die Straße gehen. Politik ist eine der persönlichsten Angelegenheiten überhaupt, denn es geht darum, wie du, ich und wir leben können und möchten.

Denken wir nur an das Gebäudeenergiegesetz (GEG), das schnell zum Heizungsgesetz wurde und bei dessen Diskussion vor allem eine Frage sehr viel Raum einnahm: Wie ist es um meinen Heizungskeller oder den meines Unternehmens bestimmt? Vielleicht verbunden mit einer diffusen Vorstellung davon, welche Politiker:innen zeitnah persönlich im heimischen Keller vorbeischauen würden, um uns dazu zu verdonnern, ein mittleres Vermögen für eine Aufrüstung der Heizanlage auszugeben.

Allgemein gilt als »psychologische Faustregel«: Je lauter die Forderung nach Rationalität, desto emotional aufgeladener werden die Debatten. Denn unser Gehirn schaltet in solchen Momenten und Phasen in den Angstmodus, der noch stärker im »Hier« und »Jetzt« verankert ist, als es ohnehin der Fall ist. Im überwiegenden Teil der Diskussionen und Debatten werden die zugrunde liegenden finanziellen und möglicherweise existenziellen Ängste inklusive drohendem Statusverlust jedoch nicht adressiert. Denn, hey, hier geht es nicht um Gefühlsduselei, sondern um Politik, die sich selbstverständlich an harten Zahlen und Fakten orientiert. Oder?

Nein! Politik betrifft Menschen und wird von Menschen gemacht – und darum geht es bei ihr vor allem anderen um Gefühle und Emotionen. Es geht um Ängste und Sorgen. Das zeigt sich nicht nur bei Debatten zur Heizreform, sondern auch bei der Frage, wie viele Menschen aus anderen Ländern im »eigenen« Land leben können, dürfen oder sollen. Und auch bei der Frage, ob unterschiedliche Religionen und damit verbundene Vorstellungen von »richtig« und »falsch« gegeneinander in den Krieg ziehen und andere Länder sich entsprechend positionieren (müssen).

Auch wenn diese Fragen sehr unterschiedlich klingen, ist eine Sache immer klar: Egal ob die daran Beteiligten Individuen, Parteien, Organisationen oder Staaten sind – alle müssen sich positionieren, müssen sich zuordnen. Das resultiert schnell in einer »Lagerbildung« und der viel diskutierten Polarisierung, die wir hierzulande und international beobachten. Sie ist das Ergebnis der omnipräsenten Aufgabe, mich »dafür« oder »dagegen« zu positionieren. Diese Zuordnung gibt mir vermeintliche Sicherheit, weil sie mir verdeutlicht, wo ich hingehöre, wer meine Unterstützer:innen sind und wo ich die Menschen, Organisationen oder Länder finde, die so denken – und vor allem fühlen – wie ich. Jede:r, der:die nicht auf meiner Seite ist und meine Position vertritt, wird zum Feind.

Warum? Weil es nicht um die Frage geht, ob 2+245 ergibt, sondern um Fragen nach moralischen Vorstellungen von »richtig« und »falsch«, nach »gut« und »böse«. Und die sind stets gekoppelt an meine Werte und meine Identität. Kritisierst du also meine Position und daran geknüpfte Überzeugungen, trifft die Kritik immer auch mich persönlich. Als Vegetarierin oder Wurstliebhaberin, als Autobesitzerin oder Fahrradfahrerin, als Migrantin oder Einheimische, als Atheistin oder Gläubige.

Das alles sorgt dafür, dass die Debatten nicht nur aufgeheizter und potenziell verletzender werden, sondern im Mittel auch dazu führen, dass wir irrationale Entscheidungen treffen. Irrational in dem Sinne, dass die Ergebnisse und Entscheidungen unser (Zusammen-)Leben nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verschlechtern. Wie kann das sein? Wer oder was hat »Schuld« daran? Vielleicht stellst du dir genau diese Frage gerade, wenn du mir gedanklich weiter gefolgt bist.

Das negative und entmutigende Gefühl, das sich dann möglicherweise bei uns einstellt, ist nicht ganz unbeteiligt daran, wenn politische Debatten entgleisen. Und bei diesem Gefühl spielen, wie bei jedem anderen Gefühl auch, die zahlreichen Vorgänge in unserem Kopf eine wesentliche Rolle. Das heißt – wie kann es aus Sicht einer Neurowissenschaftlerin anders sein –, »Schuld« an der Misere hat natürlich unser Gehirn. Genauer gesagt ein ganz bestimmter Drang in uns. Denn wir suchen doch stets nur das Eine …

Gib mir Sicherheit!

Warum schließen Menschen Versicherungen ab? Warum geben sich Liebende das »Jawort«? Warum bauen wir Häuser? Warum gibt es Grenzen und Militär? Warum schauen wir den Wetterbericht? Und warum wählen und unterstützen wir Politiker:innen, die uns Arbeitsplätze, Autobahnen und Altersvorsorge versprechen?

Weil wir Sicherheit suchen. Weil unser Gehirn vor allem eine Aufgabe hat: das Gefühl zu minimieren, das sich in mir und vielleicht auch in dir ausbreitet, wenn wir mit komplexen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft konfrontiert werden. Das Gefühl von Unsicherheit.

Vielleicht spürst du Unsicherheit darüber, wie du nun mit alldem umgehen sollst. Unsicherheit darüber, wie das alles enden wird – mit dir, mit uns, mit den Menschen insgesamt. Unsicherheit vielleicht auch bezogen auf die Frage, wie du all die multiplen Krisen (weiter) ignorieren kannst.

Es ist der Wunsch nach Sicherheit, der gesellschaftliche Strukturen überall auf der Welt so geformt hat, wie wir sie kennen. Denn er sorgt nicht nur täglich dafür, dass wir die gerade erwähnten Dinge tun, sondern auch dafür, dass wir Gewohnheiten pflegen, dass wir an vorhandenen Strukturen festhalten, dass wir Dinge tun, weil sie gefühlt »schon immer so waren«. Es ist eben dieser Wunsch, der auf vielen Ebenen politischer Systeme präsent ist und uns sehenden Auges auf globale Katastrophen zusteuern lässt. So sorgt der Wunsch nach Sicherheit beispielsweise dafür, dass wir bisher nicht aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern herausgekommen sind. Im Gegenteil: Sie hat in den letzten Jahrzehnten stetig weiter zugenommen und so 2023 wieder für einen neuen globalen Rekordwert an Emissionen gesorgt.8 Schlimmer noch: Die großen Energiekonzerne wie Shell, Exxon und Total wissen seit Jahrzehnten sehr genau über die katastrophalen Folgen ihres eigenen Handelns Bescheid.9 Nicht seit gestern und nicht seit ein paar Jahren, sondern spätestens seit 1959. In dem Jahr feierte an einem typischen Novembertag die US-amerikanische Ölindustrie ihren 100. Geburtstag. Nicht an einem Firmensitz oder hinter verschlossenen Türen, sondern im Rahmen einer Konferenz an der renommierten Columbia University in New York im Beisein von mehr als 300 Regierungsmitarbeiter:innen, Ökonom:innen, Historiker:innen, Wissenschaftler:innen und Führungskräften aus der Ölindustrie. (Da ich keine Gästeliste finden konnte, bin ich mir unsicher, ob die gegenderten Formen in allen Fällen tatsächlich der Realität entsprechen!) Der Titel der Konferenz: Energy and Man.10 Doch was die Industrie-Vertreter:innen dann von einem der renommiertesten Physiker aller Zeiten zu hören bekamen, klang nicht wie ein Motivationsschub für die kommenden 100 Jahre. Im Gegenteil.

»Ladys und Gentlemen, ich werde nun über Energie in der Zukunft sprechen. Ich werde damit beginnen, Ihnen mitzuteilen, warum ich denke, dass die Energiequellen der Vergangenheit ersetzt werden müssen. […] Wann immer wir herkömmliche Treibstoffe verbrennen, entsteht Kohlenstoffdioxid. […] Kohlenstoffdioxid hat eine seltsame Eigenschaft. […] Seine Anwesenheit in der Atmosphäre verursacht einen Treibhauseffekt. […] Es wurde berechnet, dass ein Temperaturanstieg aufgrund eines zehnprozentigen Anstiegs an Kohlenstoffdioxid ausreicht, um die Eiskappe schmelzen zu lassen und New York zu überschwemmen.«11 Der Partycrasher war niemand Geringeres als der »Vater der Wasserstoffbombe«, der ungarisch-US-amerikanische Physiker Edward Teller.

Was wäre die logische, die – Achtung – rationale Reaktion auf eine solche Nachricht? Um die »richtige« Antwort auf diese Warnung aus der Wissenschaft zu erahnen, muss man nicht Physik studiert haben. Natürlich so schnell wie möglich auf neue Treibstoffe zu setzen, um den katastrophalen Folgen des menschengemachten Klimanotfalls zu entgehen. Doch statt rational vorzugehen – und beispielsweise die eigene Stadt vor der Überschwemmung zu bewahren –, handelten die Akteur:innen extrem irrational. Sie machten nicht nur »weiter wie bisher«, sondern orchestrierten die wohl größte Verwirrungskampagne der Menschheit. Sie ist sehr anschaulich beschrieben im 2010 erschienenen Sachbuch »Die Machiavellis der Wissenschaft: Das Netzwerk des Leugnens«12 von den beiden US-amerikanischen Wissenschaftshistoriker:innen Naomi Oreskes und Erik M. Conway. Die Akteur:innen der Kampagne machten sich unser Bedürfnis oder unseren Drang nach Sicherheit zunutze, indem sie gebetsmühlenartig vermittelten: Fossile Brennstoffe sind die Grundlage unseres Wohlstands. Die Warnungen der Wissenschaftler:innen sind übertrieben oder schlichtweg falsch. Wir können so weitermachen wie bisher und müssen uns keine Sorgen machen. Wir müssen weder das Geschäftsmodell der fossilen Megakonzerne hinterfragen noch unseren eigenen Lebensstil anpassen.

In den vergangenen Jahren sind immer wieder neue Dokumente und Protokolle »ans Licht gekommen«, die alle eines belegen: They knew! Sie wussten es! Nicht nur, weil die Verantwortlichen von Shell, Exxon und Co. von den führenden Wissenschaftler:innen der Welt über ihr selbstzerstörerisches Geschäftsmodell frühzeitig informiert wurden, sondern weil ihre eigenen Wissenschaftler:innen teilweise die besten Vorhersagen erstellten. Die Vorhersagen darüber, wie sehr die Zunahme an CO2 in der Atmosphäre aufgrund der weiter ansteigenden Verbrennung fossiler Energieträger das globale Klima verändern würde, waren nämlich erstaunlich genau und bewahrheiten sich nun in Echtzeit.13 Die Entwicklungen zeigen: Es geht um weit mehr als ein paar Einschränkungen, ein paar Unannehmlichkeiten oder ein paar Nachteile für bestimmte Gruppen. Es geht darum, dass wir aktuell auf einem sehr guten Weg sind, unsere eigene Lebensgrundlage nicht nur massiv zu beeinträchtigen, sondern gar zu zerstören.

Grenzen überschritten: Unbekanntes Terrain und globaler Gesundheits-Notfall

Es ist einer dieser Tage, an denen ich mich nicht recht entscheiden kann, ob ich das Leben und menschliches Verhalten eher als Komödie oder als Tragödie betrachte. Ich bin in Hamburg für eine journalistische Veranstaltung und auf dem Weg zum Frühstück in einem Hotel bewege ich mich durch die Eingangslobby mit hohen Decken, schlichtem, aber trotzdem irgendwie auffälligem Design. Der moderne Touch, der irgendwo zwischen Freiheit und Gemütlichkeit schwingt. Ich kann mich nicht erinnern, ob Musik läuft, aber in meinem Kopf spielt eine Art Orchester, das mich musikalisch auf die Absurdität der Szenerie hinzuweisen scheint. Irgendwo zwischen Klassik und Hardcore. Denn während ich die friedliche Stimmung an diesem Donnerstagmorgen in einem Hotel irgendwo in Hamburg beobachte, läuft auf den großen Bildschirmen in der Lobby, die fließend in den Frühstücksbereich übergeht, die Tagesschau. Ich brauche keinen Ton, um zu wissen, was die Sprecherin dort gerade beschreibt. Ein Bild reicht aus. Ein Bild unseres Planeten. Die »blaue Murmel«.14 Ich weiß, dass am Tag zuvor eine Studie veröffentlicht wurde, in der 29 Wissenschaftler:innen die erste vollständige Bestandsaufnahme der Belastungsgrenzen der Erde, den sogenannten planetaren Grenzen oder auch Belastbarkeitsgrenzen, veröffentlicht haben.15 Gemeint sind damit die ökologischen Grenzen des Planeten Erde. Werden sie überschritten, ist nicht nur die Stabilität des Ökosystems der Erde gefährdet, sondern auch die Lebensgrundlage der Menschheit.

Sechs von neun planetaren Grenzen sind bereits überschritten und sind im »Hochrisikobereich«. Die deutsche Übersetzung der Abbildung stammt vom Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU).

Das Ergebnis ist dramatisch: Sechs der neun planetaren Grenzen sind bereits überschritten. Gleichzeitig überrascht es mich nicht, da in den vergangenen Jahren entsprechende Teilveröffentlichungen zu den einzelnen Grenzen bereits gezeigt hatten, dass wir uns – also die Menschheit insgesamt – bereits in fünf Bereichen über die jeweilige Grenze befördert haben. Mit anderen Worten: Die lebenserhaltenden Systeme der Erde sind so beschädigt, dass sie sich sehr weit außerhalb dieses sicheren Rahmens für die Menschheit befinden. Auch diese Warnung ist nicht neu, sondern durch Wissenschaftler:innen verschiedenster Disziplinen in den vergangenen Jahren und mittlerweile Jahrzehnten zunehmend deutlicher und eindrücklicher vorgetragen worden.

Und die Tagesschau titelt: »Der Erde geht die Puste aus«.16

Das ist der Moment, in dem ich mich nicht entscheiden kann zwischen Tragödie und Komödie. Ich werde zum »emotional wabernden Blob«. Denn wie können wir in aller Ruhe zum Frühstück schlendern, während wir gesagt und gezeigt bekommen, in welcher akuten Notlage wir uns befinden? Und wie können wir weiterhin den frisch gebrühten Kaffee schlürfen, wenn wir an die Extremereignisse der letzten Wochen denken, an die heftigen Regenfälle und Überschwemmungen in Slowenien, Österreich, Indien, Japan und China, an die Feuer in Griechenland, Hawaii und Kanada. Und wie bringt die Tagesschau-Redaktion es weiterhin fertig, die Nachricht zu den planetaren Grenzen maximal distanziert von uns Menschen zu vermitteln? Frei nach dem Motto: »Der Erde geht die Puste aus? Na und? Solange ich mein morgendliches Rührei genießen kann!«

Lasse ich solche Gedanken und die damit einhergehenden Gefühle der Tragödie einen zu großen Raum einnehmen, steigt ein Mix aus Beklemmung, Verzweiflung und Trauer in mir auf. Aber mir steht ein langer Tag inklusive Bahnfahrt bevor. Also pendele ich zur Komödie und muss tatsächlich lachen. Es ist kein fröhliches, kein ausgelassenes Lachen, wie wir es von Kindern kennen. Es ist ein Lachen mit zynischer Note, ein Lachen wie am Ende einer Geschichte, bei der ich den komischen Protagonist:innen einen besseren Ausgang gewünscht hätte.

Einen Monat und zehn Tage später folgt der nächste Weckruf.

»Das Leben auf dem Planeten Erde ist im Belagerungszustand. Wir befinden uns aktuell auf unbekanntem Terrain. Seit mehreren Jahrzehnten haben Wissenschaftler:innen beständig vor einer von extremen klimatischen Bedingungen geprägten Zukunft aufgrund von eskalierenden globalen Temperaturen aufgrund fortdauernder menschlicher Aktivitäten, die schädliche Treibhausgase in die Atmosphäre freisetzen, gewarnt. Bedauerlicherweise ist die Zeit abgelaufen. Wir sehen die Ausprägung dieser Vorhersagen als eine alarmierende und beispiellose Folge von gebrochenen Klimarekorden, die zutiefst erschütternde Schauplätze des Leids offenbaren. Wir betreten einen unbekannten Bereich unserer Klimakrise, eine Situation, die niemand zuvor in der Menschheitsgeschichte miterlebt hat.«17

So beginnt die Bestandsaufnahme zum Klima 2023, die am 24. Oktober erscheint und mich ein weiteres Mal in den Taumel zwischen Tragödie und Komödie versetzt. Ich baue einen Teil dieses ersten Paragrafen in einen Vortrag ein und markiere die Wörter »unbekannten Bereich unserer Klimakrise« in Rot. Ich lese sie erneut und hoffe auf ein Wunder. Oder einen Tagtraum, aus dem ich einfach aufwache und völlig klar ist, dass die Menschheit natürlich nicht gerade auf einem sehr guten Wege ist, ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Kurzum: Ich sehne mich nach dem Gefühl von Sicherheit – oder wenigstens einem Hauch davon – und kann das emotionale Wirrwarr in mir kaum ertragen.

Und während ich noch versuche, mir die Augen zu reiben, und auf dieses Aufwachen hoffe, geht es am nächsten Tag direkt weiter: »Zeit, die Klima- und Naturkrise als einen untrennbaren globalen Gesundheits-Notfall zu behandeln«.18 So lautet der Titel eines schriftlichen Appells, der soeben in mehr als 200 wissenschaftlichen Fachjournalen veröffentlicht wurde. Die Adressaten sind die Vereinten Nationen, politische Entscheidungsträger:innen und Beschäftigte im Gesundheitswesen. Sie alle werden eindringlich gebeten, die Klimakrise und den Verlust der Biodiversität endlich als zwei Facetten der gleichen übergeordneten Krise zu betrachten. Damit tätigen die Autor:innen einen grundlegenden Schritt, der den »Wettbewerb« um den Titel als »dringendste Krise« ad absurdum führt, und fordern: Wir müssen Klima- und Biodiversitätskrise zusammen denken. Denn diese Metakrise – wie auch immer wir sie vielleicht in Zukunft nennen mögen – anzupacken sei notwendig, um unsere Gesundheit zu erhalten und die endgültige Katastrophe zu vermeiden. Die globale, allumfassende Umweltkrise sei nun so schwerwiegend, dass sie eine globale Gesundheits-Krise sei. Warum? Weil diese »unteilbare planetarische Krise« erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit haben wird, da die sozialen und wirtschaftlichen Systeme zunehmend zerstört werden.

Damit gelingt den Autor:innen, was so viele Medien – inklusive eben erwähnter Tagesschau-Beitrag – in den vergangenen Jahrzehnten versäumt haben. Sie tun das, was jeder »Rettet die Umwelt«-Jutebeutel und -Aufkleber verpasst hat. Sie sprechen klar aus, was zahlreiche Umweltschutzinitiativen übersehen oder zumindest nicht ausreichend thematisiert haben.

Was meine ich? Die Nähe des Klimanotfalls und die damit verbundenen Katastrophen zu mir, meinem sozialen Leben, meiner Arbeit und übergeordnet meiner Gesundheit. Sie adressieren die Betroffenheit eines jeden Menschen, wenn es um vermeintliche »Umweltfragen« geht. Was ist damit gemeint? Negativ formuliert besteht für uns alle eine Abhängigkeit von lebenserhaltenden Zuständen auf diesem Planeten. Wir sind abhängig von gewissen Temperaturen, die menschliches Leben zulassen, abhängig von Luft zum Atmen und fruchtbarem Boden sowie der Tatsache, dass es regnet. Wir können diese Abhängigkeit aber auch positiv formulieren. Dann wird aus der Abhängigkeit eine ständige und grundlegende Verbundenheit mit ebendiesen lebensermöglichenden Zutaten. Dann fühle ich mich mit meiner Umgebung verbunden, wenn ich einen tiefen Atemzug nehme, wenn ich Wind, Sonne und Regen auf der Haut spüre. Dann schaue ich auf den Boden als Grundlage für meine Nahrung. Und plötzlich erscheint auch der Begriff Lebens-Mittel in neuem Licht. All das hat mit mir und meinen Gefühlen zu tun.

Mache ich mir die Absurdität all dessen bewusst, ist sie kaum zu ertragen: Teil des vorherrschenden Narrativs der Rationalität im politischen Raum ist bekanntlich die Ansicht, um Fragen zur Umweltpolitik kümmere sich in der Regel in jedem Land die Partei, die irgendwas Grünes im Namen trägt. Schließlich ist in der Natur auch vieles grün.

Was für ein fataler Trugschluss. Also nicht die Sache, dass die Farbe Grün in der Natur häufig anzutreffen ist, sondern die Vorstellung, »Umweltthemen« seien die Verantwortung einer bestimmten Partei. Dieser Trugschluss legitimierte bisher, dass sich andere Parteien nicht »für die Umwelt« interessieren müssen. Und dass wir als Bürger:innen nicht direkt davon betroffen sind, es sei denn, wir engagieren uns in unserer Freizeit im Natur- oder Umweltschutz. Gleichzeitig führte er zu der Vorstellung, dass »umweltfreundliches« Verhalten zwar irgendwie gut und erwünscht ist, aber meistens teuer, kompliziert und uncool daherkommt.

Ein wenig humoristischer auf den Punkt gebracht hat diesen Trugschluss der Meteorologe und Wetter-Moderator Özden Terli, als er im Mai 2022 mit Verweis auf den planetaren Notzustand schrieb, »Physik ist links«.19 Vielleicht hat er in dem Moment eine ähnliche Absurdität gespürt wie ich in Hamburg. Vielleicht geht es dir gerade auch ein wenig so, wenn du nach diesen Seiten aus dem Fenster schaust, das Frühstück zubereitest oder gleich die Nachttischlampe ausknipsen wirst. Welches Gefühl spürst du, wenn du den Wahnsinnskurs, auf dem sich die Menschheit aktuell befindet, auf dich wirken lässt? Wenn du dir bewusst machst und wirst, dass die Spezies Mensch es »geschafft« hat, die eigene Lebensgrundlage gewaltig aus dem Lot zu bringen. Wenn du das Bild des Klimawissenschaftlers und Seniorprofessors an der Christian-Albrechts-Universität Kiel Mojib Latif auf dich wirken lässt, der den aktuellen Zustand folgendermaßen beschreibt: »Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Wir sind bei dichtem Nebel auf der Autobahn mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs.«20

Nein, »man« muss kein »umweltfreundlicher« Mensch oder »Öko« sein, um das zu verstehen. Alles, was es benötigt, um sich in »Absurdistan« einmal umschauen zu können, ist ein ehrlicher Blick auf die drei exemplarisch von mir erwähnten Zustandsberichte des Planeten Erde. Und diese dann wirken zu lassen.

Seit Jahren weiß ich von den Leugnungskampagnen der »Machiavellis der Wissenschaft«. Seit Jahren kenne ich die Berichte des Weltklimarats (IPCC)21 inklusive der Zahlen und Prognosen. Seit Jahren beobachte ich die riesige Diskrepanz zwischen Versprechen und Taten von Individuen, Unternehmen und Staaten mit Blick auf das notwendige Ende unseres fossilen Wirtschaftens und damit selbstzerstörerischen Daseins. Und doch haut es mich jedes Mal erneut um, wenn ich mir verdeutliche, wie wahnsinnig und irre all das vor dem Hintergrund der aktuellen Notfalllage ist.

Unweigerlich lande ich wieder bei der Frage »Tragödie« oder »Komödie«? Unweigerlich stelle ich erneut fest, dass das menschliche Gehirn das faszinierendste und frustrierendste Organ zugleich ist. Fast unweigerlich lande ich dann meist bei einem Cartoon, der es besser auf den Punkt bringt als jede lange Beschreibung.

 

Warum? Warum hielten und halten die Verantwortlichen inklusive der Politiker:innen, die entsprechende Rahmenbedingungen schafften und aufrechterhalten (wollen), am eigenen – vermeintlich sicheren – Geschäftsmodell fest? Meine Antwort: Weil sie sich nicht vorstellen konnten und können, wie es anders gehen könnte. Weil sie Angst haben, die häufig bequemen Sicherheiten – auch hier geht der Blick zu den Verantwortlichen in Politik auf allen Ebenen inklusive der Rechtsprechung – zu verlieren. Weil sie nicht in der Lage sind, den Blick von den kurzfristig attraktiven finanziellen Gewinnen zu lösen und eine mittel- und langfristige Perspektive einzunehmen. Sie können oder wollen nicht begreifen, dass sie ihre eigene Lebensgrundlage inklusive jeglicher finanzieller Gewinne mit ihrem eigenen Handeln zerstören.

Dieser Gedanke der Selbstzerstörung lässt mich jedes Mal erneut wieder zum »emotionalen Blob« werden. Ein Wust aus Gedanken und Gefühlen vereinnahmt mich dann von den Haarspitzen auf Scheitelhöhe bis hin zu den Fußsohlen. Das Einzige, was dann hilft, ist, sich des eigenen Daseins (wieder) bewusst zu werden. Am besten, indem ich die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache in meiner Umgebung richte. Ein Bild, ein Geräusch, einen Geruch, eine Berührung auf der Haut oder einen Geschmack. Dann merke ich, wie ich langsam wieder ruhiger und sortierter werde – und spüre gleichzeitig eine riesige Erschöpfung. Es ist diese Erschöpfung, die ich in den vergangenen Jahren bei so vielen Menschen beobachtet habe und die mir immer wieder gespiegelt wurde. Vor allem von denen, die sich tagtäglich für eine lebenswerte Zukunft auf der Erde einsetzen. Sie sehnen sich nach Erholung und Aufatmen.

Demgegenüber steht die Gruppe derer, die noch nicht begriffen haben, nicht begreifen wollen oder können, was auf dem Spiel steht. Ihnen fehlt häufig grundlegendes Wissen zum Status quo. Sie schauen mich nicht selten mit großen Augen an, wenn ich vom Überschreiten planetarer Grenzen berichte und ihr Feindbild von einer »grünen Ideologie« und »Verbotspolitik« zumindest ein kleines bisschen ins Wanken gerät.

In diesen Momenten des Erkennens wird vor allem stets eines deutlich: Es geht um drei Ebenen, die uns Menschen ausmachen. Die globale Ebene inklusive sämtlicher geopolitischer Fragen, die gesellschaftliche Ebene mit all ihren Strukturen wie Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Zivilbevölkerung und die individuelle Ebene eines jeden Menschen, der versucht, sein Leben zu leben.

Genau in diesem Versuch eines jeden Menschen liegt der Kern aller Veränderung, aller Freiheit und aller Innovation versteckt. Denn das, was uns Menschen von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten unterscheidet, ist die Fähigkeit, uns selbst hinterfragen zu können.

Wir Menschen sind in der Lage, unser Verhalten bewusst zu ändern, und sind dem »eigenen Schicksal« nicht unweigerlich ausgeliefert. Doch neben dem Narrativ der Rationalität erzählen wir uns mit Blick auf die aktuellen globalen Herausforderungen auch immer häufiger und lauter eine andere fatale Geschichte: »Wir als Einzelpersonen haben doch ohnehin keinen Einfluss auf das politische Geschehen.« Auch das ist ein Trugschluss, den ich in diesem Buch auflösen möchte. Große und überwältigende Herausforderungen wie der Klimanotfall schweben nicht im luftleeren Raum der institutionellen Politik, sondern betreffen uns als Individuen im Alltag. Darum ist es essenziell, dass wir uns endlich als Einzelpersonen und als Gesellschaft viel stärker weiterentwickeln. Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken oder – noch schlimmer – so tun, als könne alles bleiben wie gehabt. Nur wenn wir jetzt eine andere Perspektive auf Politik und auf unsere Gefühle entwickeln, schaffen wir die notwendigen Schritte für eine lebenswerte Zukunft.

Das klingt nach einer großen Idee, und das ist es auch. Die gute Nachricht: Du kannst das. Du kannst dir selbst bewusst werden und (hinter-)fragen, was du gerade tust. Du kannst begreifen, dass du – wie all die anderen acht Milliarden Exemplare deiner Spezies – dich nur nach dem einen sehnst: dem Gefühl von Sicherheit. Und dann kannst du, dann kann ich und dann können wir beginnen, uns der eigenen Gefühle als Antrieb für alles Tun und Handeln bewusst zu werden. Dann können wir gemeinsam radikal emotional sein. Dann können wir unser rationales Politikverständnis überdenken. Können begreifen, dass ein besserer Umgang mit allen Krisen, die uns umtreiben, nur gelingen kann, wenn wir endlich aufhören, Verstand und Emotionen voneinander zu trennen. Egal ob es gerade um den Klimanotfall, Migrationsdebatten oder Identitätspolitik geht. Denn nur, wenn wir Verstand und Emotionen zusammen denken und danach handeln, können wir konstruktiv leben und Politik gestalten.

Wir können anerkennen, dass wir immer und überall von unseren Emotionen mitbestimmt werden und so unsere Gefühle nicht nur politisch sind, sondern auch »Politik machen«. Wir können begreifen und annehmen, dass jede vermeintlich private Alltagsentscheidung immer politisch ist.

Wie das vielleicht gelingen kann, darum soll es in diesem Buch gehen. Die wichtigste Voraussetzung ist, dass wir es wirklich wollen. Wir müssen also radikal sein, denn radikal heißt in der ursprünglichen Bedeutung nichts anderes, als Dinge bei der Wurzel zu packen.22 Dann können wir uns – kannst du dich – auf einen grundsätzlichen Umgang mit diesen Erkenntnissen einlassen. Meine Einladung: eine neue Reifeprüfung für das 21. Jahrhundert in drei Schritten. Damit diese drei Schritte gelingen, müssen wir das alte, »statische Denken«, das uns im »Hier und Jetzt« verharren lässt, hinter uns lassen und stattdessen »dynamisch« denken. In meinem letzten Buch Raus aus der ewigen Dauerkrise: Mit dem Denken von morgen die Probleme von heute lösen23 habe ich das Konzept des »dynamischen Denkens« anhand von drei Zutaten entwickelt. Keine Angst, du musst die Dauerkrise nicht gelesen haben! Während ich meine Überlegungen für die »radikale Emotionalität« in den vergangenen Monaten zunehmend konkretisierte, stellte ich fest, dass die drei Zutaten des »dynamischen Denkens« wunderbar zu den drei Schritten der radikalen Emotionalität passen:

Schritt 1: Emotionale Reife durch radikale Aufmerksamkeit

Nur wenn wir radikal aufmerksam sind, können wir unsere eigenen Emotionen wahrnehmen und unsere Entscheidungen besser verstehen. Dynamisch denkend bedeutet das, sich immer auf das »Wofür« statt auf das »Wogegen« zu konzentrieren.

Schritt 2: Kommunikative Reife durch radikale Ehrlichkeit

Nur wenn wir radikal ehrlich miteinander kommunizieren, können wir die gesellschaftlich notwendigen Veränderungen für eine lebenswerte Welt bestreiten. Dynamisch denkend erzählen wir uns so neue Geschichten, vor allem darüber, was »normal« und »erfolgreich« ist.

Schritt 3: Soziale Reife durch radikale Verbundenheit

Nur wenn wir die falschen Trennungen zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Privatem und Gesellschaftlichem, zwischen Mensch und Umwelt überwinden, können wir uns radikal verbunden fühlen. Das ist grundlegend für echtes zukunftsorientiertes Denken und Handeln. Dynamisch denkend überwinden wir so unser Lagerdenken und finden neue Antworten auf die Frage, wer und was dazugehört.

Bist du bereit?

I Radikale Aufmerksamkeit

»Die Kunst, weise zu sein, ist zu wissen, was übersehen werden kann.«

 

William James

 

 

Irgendwann fing es an. Dieses Gefühl, dass wir unsere Welt kaum wiedererkennen – vieles scheint anders. Je nach Tagesform rutscht dann auch mal ein »nichts ist mehr, wie es war« raus. Oder wenn es ganz dicke kommt, ertappen wir uns dabei, wie unser viel zu schwer gewordener Kopf auf den verspannten Schultern in eine leichte Nickbewegung übergeht, wenn unser Gegenüber sich nach einer romantisierten Vorstellung von früher sehnt. Frei nach dem Motto: »Früher war doch alles irgendwie besser.« Und selbst wenn wir das »Besser« nicht komplett unterschreiben können, war es zumindest einfacher, übersichtlicher. Es gab weniger Optionen, weniger Ungewissheit. Die Wahl zu haben war noch etwas Gutes, weil sie uns das Gefühl vermittelte, uns entscheiden zu können. Da schwang ab und zu ein Hauch von Freiheit mit. An der Eistheke, im Schuhgeschäft oder dem Möbelladen. Zwischen Ausbildungswegen, Jobangeboten und Bausparverträgen. Aber irgendwann multiplizierte sich alles – und auf einmal war es nicht mehr einfach, sich zu entscheiden. Statt drei gab es 30 und schnell über 100 Fernsehprogramme, bevor Mediatheken und Streamingdienste die Auswahl in jedem Moment ins schier Unendliche katapultierten. Parallel brauchten wir plötzlich einen Internet- und mindestens einen Mobilfunktarif. Das Smartphone wurde zum ständigen Begleiter, vielleicht verbunden mit anderen internetfähigen Endgeräten, die auf einmal auch noch »smart« sein sollen. Die Geräte selbst eröffneten jeweils wieder unbegrenzte Auswahlmöglichkeiten – und sei es nur für die eigene Nachfolge. Und auch wenn wir gar nicht nach diesen Entwicklungen gefragt hatten, verlangte unsere Umgebung immer mehr, dass wir uns positionieren mussten. Dafür oder dagegen. Früher mussten wir vielleicht Staubsaugervertreter:innen an der Tür abwimmeln oder haben uns über die Großplakate mit Zahnpastalächeln und Fitnessstudiowerbung geärgert. Doch auf einmal warteten Tausende bunte, blinkende Banner auf unseren smarten Geräten. Und wir gewöhnten uns an, Handy und Co. immer häufiger aus der Tasche zu ziehen. Schließlich konnten wir nun immer und überall erreichbar sein. Zumindest da, wo es Netz, Empfang und WLAN gab. Nicht nur unsere Geräte waren jetzt Always On Always Connected, sondern auch wir selbst.

Manchmal fühlten wir uns dabei auf eine zunächst unbestimmte Art und Weise ermüdet, ein wenig überfordert und erschöpft. Denn auch unser Gehirn ist überfordert, wenn es andauernd entscheiden soll.24 Entscheiden zwischen Anschauen oder Wegschauen, zwischen Antworten oder Ignorieren, zwischen Tarif 345b oder Farbcode 34, zwischen 45 staatlichen und 54 privaten Vorsorgeplänen, zwischen 200 Matches auf unsere Kontaktanzeige, zwischen 56 Studiengangsprofilen oder 65 Ausbildungsoptionen. Und während die ersten Digital-Detox-Gurus digitales Geld mit dem Abschalten verdienten, hatten viele Menschen das Gefühl, dass sich die Überforderungsspirale weiter abwärtsdrehte. Denn die digitalen Endgeräte erlaubten uns nicht nur den ständigen Zugang zu Supermärkten, Seifenopern und potenziellen Sexpartner:innen, sondern versorgten uns auch mit Live-Feeds zu den Konflikten, Kriegen und Katastrophen in der Welt. Und weil wir weder digital noch analog wie der Ochs vorm Berg dastehen wollen, haben wir mit zunehmender Informationsfülle auch ein zunehmendes Bedürfnis, uns zu all diesen Dingen zu positionieren. Vielleicht nicht fundiert, aber auf jeden Fall deutlich. Während es »früher« reichte, sich für oder gegen Atomkraft zu positionieren, für die FAZ oder für die taz Geld auszugeben und entweder für gleichgeschlechtliche Liebe zu kämpfen oder sie zu verteufeln, vergeht heute kaum ein Tag, an dem wir nicht das Gefühl haben, dass wir zu irgendetwas eine Haltung einnehmen sollten. Selten geht es dabei um etwas »Gutes« oder »Schönes«. Stärker noch: Meistens geht es um die Bedrohung unserer Sicherheit, nach der wir uns doch wie in der Einleitung beschrieben alle so sehr sehnen.

Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020,25 bei der es auf einmal nicht mehr nur 80 Millionen Fußballtrainer:innen in Deutschland gab, sondern auch 80 Millionen Pandemieexpert:innen, wurde uns klar: Ein simples Virus kann unsere globalisierte Ordnung im Großen und unser Gefühl von Selbstbestimmung und gesundheitsbewusstem Verhalten im Kleinen vollständig auf den Kopf stellen. Während wir zwei Jahre später zu Beginn des Jahres 2022 gebeutelt, aber nicht wenig erschöpft, auf ein frühlingshaftes Aufatmen hofften, folgte der Angriff Russlands auf die Ukraine. Der Angriff war und ist auch ein Angriff auf unsere Idee von Europa und das damit verbundene Gefühl von Sicherheit. Selbst wenn wir noch nie zuvor strukturiert über damit verbundene geopolitische Fragen nachgedacht hatten, sahen wir uns auf einmal im Zugzwang, von heute auf morgen Positionen zu möglichen Waffenlieferungen, Verhandlungsprotokollen und strategischen Treffen zu entwickeln – oder sie am besten schon zu haben. Der letzte Rest Sicherheitsgefühl ging vielen verloren, als im Oktober 2023 der Nahostkonflikt eskalierte.

Zwischendrin Haushaltslöcher, Heizungsdebatten, Höhenflüge von rechtspopulistischen Positionen und Hitzetote. 2023 war das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1850,262024 wird diesen »Trend« sehr wahrscheinlich fortsetzen.27 Den Klimanotfall erlebten wir live mit bei der Ahrtalkatastrophe, brennenden Wäldern und evakuierten Ortschaften aufgrund von Überschwemmungen. Klimageflüchtete innerhalb des eigenen Landes.

Welche Krise ist gerade die wichtigste? Die schlimmste? Welche trendet gerade besonders? Während wir diese Frage täglich neu zu beantworten versuchen, stecken uns die Krisen der vergangenen Jahre nicht nur in den Knochen, sondern überall. Wir sind insgesamt erschöpft. In den wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zur Lage der Nation gibt es für dieses Gefühl mittlerweile eine bunte Palette an Wortneuschöpfungen, zum Beispiel gepaart mit dem Wort »Veränderung«. Veränderungsmüdigkeit, Veränderungserschöpfung28 oder gar Veränderungsverweigerung.

Im Dezember 2023 kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache wie jedes Jahr das Wort des Jahres. Auf Platz 1 landete »Krisenmodus«.29 In der Begründung fasste die Geschäftsführerin Andrea Ewels zusammen, was sich wohl mit den Eindrücken vieler Menschen deckt: »Die Liste spiegelt die Realität wider, und die Realität ist derzeit ziemlich düster.« Die Gesellschaft befinde sich seit 2020 im Krisenmodus,30 und der Ausnahmezustand sei längst zum Dauerzustand geworden. Moment mal … Da hat sich die Gesellschaft für deutsche Sprache selbst ein Ei gelegt: Wenn die Ausnahme zur Regel geworden ist, ist sie keine Ausnahme mehr. Hinter dieser kleinen Paradoxie steckt jede Menge Bedeutung31 – und ich bin davon überzeugt, dass in ihr die zentrale Herausforderung unserer Zeit zu finden ist. Diese besteht nicht darin, eine Krise nach der anderen abzuarbeiten. Besteht nicht darin, dass wir uns innerhalb weniger Stunden als digitale Nomaden und Nachrichtenjunkies zu jedem Thema und jeder Krise ein Basiswissen aneignen, um mitreden und entscheiden zu können. Und sie besteht auch nicht darin, das alles nicht zu sehr an uns herankommen zu lassen, um nicht vollends durchzudrehen. Nein.

Die größte Herausforderung auf individueller, gesellschaftlicher und globaler Ebene besteht darin, zu begreifen und zu akzeptieren, dass sich vieles verändern wird. Auch vieles von dem, was als »normal«, als unveränderbar, als sicher und stabil geglaubt war. Um damit gut und besser als bisher umzugehen und im besten Falle diese Veränderungen mit offenen Armen und Hirnen zu empfangen, sie mitzugestalten und andere dazu einzuladen, das ebenfalls zu tun, müssen wir zunächst vom »wir« ins »ich«.