Rausch-Hour - Hank Zerbolesch - E-Book

Rausch-Hour E-Book

Hank Zerbolesch

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Beschreibung

„Hallo. Mein Name ist Hank Zerbolesch. Und ich bin Protestpisser.“ Ein Leben im Rausch. Bewaffnet mit Sonnenbrille und vielen bunten Pillen zieht ein Mensch von der Party zur Afterhour. Immer auf der Suche nach mehr Freiheit, mehr Gefühl, mehr Leben. Doch so ein Dasein auf einem Dauertrip ist nicht ungefährlich. Da wird eine Banane schnell zur Waffe, man wacht als lebendes Mosaik auf, verwechselt Tütchen mit weitreichenden Folgen oder verführt Kühe zum Koksen. Ja, wer in diesem Buch nach einem roten Faden sucht, findet ihn schnell als weiße Line. Euphorie und Exzess. Nicht nur im Umgang mit Drogen. Auch bei den Emotionen oder der zwanghaften Rebellion gegen das System. Hank ist nämlich nur nebenberuflich investigativer Alkoholiker. Hauptberuflich ist er Slam-Poet und Kunstaktivist, der zivilen Ungehorsam predigt, die asoziale Gesellschaft anprangert und konsequente Meinungsfreiheit propagiert. Und so liegt, auch nüchtern betrachtet, in seinen Texten und Gedichten eine ordentliche Portion Wahrheit.

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Seitenzahl: 167

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„Regeln sind nur hilfreiche Richtlinien für Einfaltspinsel.“

Gregory House

periplaneta

HANK ZERBOLESCH: „Rausch Hour“ (Buch mit CD)

1. Auflage, April 2014, Periplaneta Berlin, Edition Mundwerk © 2014 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat & Projektleitung: Sarah Strehle Cover: Marion Alexa Müller Satz & Layout: Thomas Manegold Autoren-Bilder: Sven Pacher

print ISBN: 978-3-943876-71-0 epub ISBN: 978-3-943876-42-0 E-Book-Version 1.2

www.mundwerk.periplaneta.com

www.periplaneta.com

www.zerbolesch.de

Hank Zerbolesch

Rausch-Hour

periplaneta

Der Protestpisser

Hallo. Mein Name ist Hank Zerbolesch. Ich bin 31 Jahre. Und ich bin Protestpisser.

Zur Erklärung. Ein Protestpisser ist jemand, der immer genau das Gegenteil von dem tut, was von ihm erwartet wird. Ab und an aus Überzeugung, meistens aber aus purem Protest. Was zu Beginn sehr unterhaltsam klingt, stellt sich bei genauerer Betrachtung schnell als überaus anstrengend heraus.

Die Bezeichnung Protestpisser stammt von einem meiner ehemaligen Arbeitgeber. Von wem genau, ist nicht mehr nachvollziehbar. Das waren so einige.

Jedenfalls war das derselbe, der auch gesagt hat, das sei pubertäres Verhalten und ich solle endlich mal erwachsen werden.

Und dann?

Was mache ich, wenn ich dann erwachsen bin?

Mich in eine Karriere zwängen, die mir zu eng ist? Damit ich für Leute arbeiten kann, die ich nicht mag? Um mir Sachen zu kaufen, die ich nicht brauche? Da bleibe ich lieber, wie ich bin, und breche weiter Schlösser auf, von denen man lieber die Finger lassen sollte.

Ich habe nach drei Jahren Abstinenz sogar wieder mit dem Rauchen angefangen, nur damit ich mich am Bahnhof zwischen zwei militante Nichtraucher stellen und mir genüsslich eine anstecken kann! Erwachsen …

Erwachsen ist was für Leute mit einem Fünf-Jahres-Plan. Ich weiß morgens nicht mal, ob und wie ich am Abend wieder nach Hause finde.

Unabhängig davon hat so ein Protestpisser auch diverse Vorteile für seine Umgebung. Einer Hausfrau zum Beispiel, die seit zehn Jahren ihr Geschirr abspült, bevor sie es in die Spülmaschine packt. Der kannst du 20 Mal sagen, dass sie das seit Erfindung der 30-in-1-Tabs nicht mehr tun muss. Sie macht es trotzdem! Und wenn du dann fragst: „Warum?!“, ist die Antwort immer die Gleiche: „Das war schon immer so.“

„Wer sagt das?“

„Alle.“

Man fragt einfach nicht nach dem Warum. Das gibt nur böses Blut. Das Warum ist die freie Liebe der Gegenwart. Einmal einen Satz mit warum begonnen und du sitzt schneller auf dem heißen Stuhl, als du gucken kannst.

Glaubst du nicht? Probier es mal aus. Wenn dir demnächst irgendjemand sagt: „Mach das und das doch mal so und so“, frag einfach mal: „Warum?“ Und genieß dieses ungläubige, leicht schockierte Fragezeichen mitten im Gesicht, als ob du gerade gefragt hast, ob es schlimm wäre, wenn du dir mal eben einen runterholst.

Die Menschen sind es nicht gewohnt, dass Dinge hinterfragt werden. Ist ja auch ein Stück weit verständlich in einer Welt, in der alle zu ewigem Wachstum verdonnert sind. Da ist keine Zeit, sich mit Warums rumzuschlagen. Da hat jedes Zahnrad – und sei es noch so klein – zu funktionieren. Tut es das nicht, wird es ausgetauscht. Zack. Denn auch wenn viele es nicht wahr haben wollen. Jeder. Wirklich jeder ist ersetzbar.

Und jetzt mal Hand aufs Herz. Das ist doch kein Leben, oder? Das ist doch scheiße! Immer das tun, was andere sagen. Selbst wenn du weißt: Das ist völliger Bullshit! Ich bin doch kein Lemming, der sich auf Kommando in den Abgrund schmeißt, nur weil irgendjemand brüllt „LAUF!“ Wo ist denn da die Selbstbestimmung?!

Stell dich mal morgens an den Bahnhof. So parallel zum Gleis. Und dann guck mal zu, wenn die Bahn einfährt, sich die Türen öffnen, Menschen raus, neuer Schwung rein, Türen zu, Bahn fährt weiter, Gleis leer.

Ich stehe dann immer da und denk an Rio Reiser:

Züge rollen, Dollars rollen,

Maschinen laufen, Menschen schuften

Die Maschine Mensch läuft auf Hochtouren. Und irgendwo sitzt einer mit einem riesigen Schlüssel und zieht alles mit ganz vielen Ja auf. Ja, Ja, Ja, Ja, Ja … Das ist ein völlig fremdbestimmtes Leben!

Ich nehm dann meistens einen anderen Weg zur Arbeit.

Und weißt du auch warum?

Aus Überzeugung!

Globalisierung. Dein Vatta ist ein Hurensohn!

Ich bin das, was man gemeinhin als freien Autor bezeichnet. Ich schreibe was, und vor allen Dingen, für wen ich will.

Da mein instabiler Lebenswandel allerdings auch finanziert werden muss, bin ich gezwungen, einem richtigen Broterwerb nachzugehen. Und mit richtig meine ich bezahlt.

Und was soll ich sagen. Dieses ressourcenfressende Monster „Vollzeitstelle“ hat es faustdick hinter den Ohren. Wirtschaftlich, sozial, aber vor allen Dingen menschlich tun sich hier Abgründe auf größer als die zwischen Philipp Rösler und der Realpolitik.

Die Firma, der ich vorübergehend meine Arbeitskraft gegen Entgelt zur Verfügung stelle, nenne ich aus rechtlichen Gründen im weiteren Verlauf der Einfachheit halber Firma X.

Besagte Firma X hat es sich vor geraumer Zeit zur Hauptaufgabe gemacht, in dem was sie tut, die Beste von den Besten der Besten zu werden. An sich nichts Verwerfliches. Wer will das nicht?

Nur steckt der Fehler hier, wie so oft, im Detail. Denn es geht nicht darum, für den Kunden die Beste von den Besten der Besten zu werden. Sondern lediglich für die Aktionäre.

Das allerdings hat für die Belegschaft weitreichende Folgen. Unter anderem die, dass ein Gremium von alten, grauen, an einer symbolisch runden Tafel sitzenden Wirtschaftszwergen, Aufgaben und Vorgaben für Menschen festlegen, die nicht etwa eine Stadt oder ein Land – Nein! – sondern einen ganzen, beschissenen Kontinent, also acht Zeitzonen weiter, danach arbeiten müssen.

Dass das so nicht funktionieren kann, dürfte selbst dem Typen einleuchten, der bei RTL im Keller die Kandidaten für Bauer sucht Frau aus dem Ordner „Dumm wie Brot – hervorragend geeignet für Talkshows, Realityshows und als Telefonmarketingopfer“ suchen muss. Als Resultat dieser firmenpolitischen Verfehlung bleiben nicht erreichte Vorgaben. Zeitlicher wie auch finanzieller Natur.

Der gesunde Menschenverstand geht nun hin und fragt sich, was ist da falsch gelaufen? Wo liegen die Fehler und was können wir daraus lernen?

Bei der Firma X hingegen sieht das Verfahren ein wenig anders aus: Liegt der erzielte Gewinn unter dem angestrebten, gibt es ein sogenanntes Cost Cutting. Das bedeutet im Klartext, dass kein neues Personal mehr eingestellt werden darf. Dazu werden jedoch die zeitlichen Vorgaben weiter nach oben geschraubt. Frei nach dem Motto „Das klappt schon! Klappt schließlich immer. Irgendwie.“ Was wiederum zur Folge hat, dass weniger Personal mehr leisten muss.

Ich habe nicht die geringste Ahnung warum. Doch anscheinend springt der Großteil der Arbeitnehmerschaft auf diesen Zug auf und lässt sich als die arbeitende Sau durchs Dorf der Globalisierung jagen. Immer mehr Menschen leiden unter immer größer werdendem Druck. Jeder schielt dem Anderen auf die Zeitkarte.

Zeitkarten. Das sind minutiös geführte Excel-Tabellen, in die jeder Scheiß eingetragen werden muss. Damit auch die letzte Waise einen Kontinent weiter weiß, wann genau ich was getan habe. Und vor allen Dingen, wie effektiv ich für diese Firma bin. Ein Beispiel:

10:35 – 10:37 Uhr, Kacken.

10:37 – 10:38 Uhr, Finger waschen.

10:38 – 10:39 Uhr, Mahnungen Firma Y an Buchhaltung faxen

10:39 – 10:54 Uhr, Gespräch mit der dickarschigen Kollegin von der Weihnachtsfeier ...

und so weiter, und so weiter …

Das wiederum lässt meistens den Gedanken folgen: Hat mein Gegenüber mehr gemacht als ich? Wenn ja, ist er ganz klar ein Arschloch. Sind es doch genau diese verdammten Musterkapitalisten, die dafür verantwortlich zu machen sind, dass das immer irgendwie klappt. Hat das Gegenüber jedoch weniger geschafft, ist er ein fauler Sack.

Das ungesunde Arbeitsklima steckt sich hier den Daumen in den Mund und plustert sich auf, bis es für viele nicht mehr tragbar ist. Steigende Zahlen psychischer Erkrankungen drücken ihre salzigen Finger in genau diese Wunde. Aber sie pulen nicht darin rum. Sie bleiben – zwar zur Kenntnis genommen, aber dessen ungeachtet – regungslos darin liegen.

Die Folgen sind steigende Burnout-Diagnosen, die nichts anderes sind als Depressionen im Deckmantel des Workaholics. Klingt einfach cooler zu sagen: „Ich hab mich total kaputt gebrasselt“ als: „Ich hab ne Depression.“

Immer mehr Menschen brauchen psychiatrische Hilfe, um ohne einen Douglas’schen Fallling Down durch den Tag zu kommen. Die Psychiater haben infolgedessen so viel zu tun, dass sie sich nach Feierabend gegenseitig behandeln müssen. So viel Scheiße will erst mal verdaut werden.

Dessen ungeachtet sitzen die Ritter der Wirtschaftskrise nach wie vor an ihrer Tafel. Quietschen mit dem Rotstift weiter über Existenzen, als gäbe es trotz aller Entlassungen einen nie endenden Nachschub an Personal, der für umsonst all die Arbeit erledigt, die sonst liegenbleiben würde.

Die Commerzbank zum Beispiel hat es kürzlich erst vorgemacht. Sie hat ihre sich selbst gesteckten Ziele nicht erreicht. Was nicht bedeutet, dass sie keine Gewinne eingefahren hat. Nur eben nicht in der Höhe, wie es vorgesehen war. Daraufhin wurde auf einer Aktionärsversammlung bekanntgegeben, dass als Gegenmaßnahme ein Stellenabbau von 4.000 bis 6.000 Mitarbeitern angestrebt wird. Was den Wert der Aktie gleich mal ordentlich nach oben geschubst hat.

Das bedeutet im Umkehrschluss so viel, wie: „Entlasse das Volk und lasse den noch Gebliebenen einen so großen Batzen an beruflicher Unsicherheit zurück, dass sie, ohne zu zucken, all den Scheiß der 4.000 bis 6.000 Entlassenen mitmachen.“ Und das weil – und ich wiederhole mich da gerne – der Gewinn nicht hoch genug war.

Aber Gott sei Dank, gibt es noch andere Branchen. Die Textilbranche zum Beispiel. Hier fallen die Arbeitsplätze nicht gleich weg. Sie werden nur verschoben. Wie Bauern auf einem Schachbrett. Nur mit weitreichenderen, existentiellen Folgen.

Aber was weiß ich proletarischer Rotzlöffel schon von den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Börsenminus. Ich kann mir gar kein Bild davon machen, wie verzweifelt ein Manager sein muss, dass er keinen anderen Ausweg sieht, als die Produktion von Thailand nach Bangladesch zu verlagern.

Ich habe das mal recherchiert. Die thailändische Näherin erhält einen Lohn von 162 Baath pro Tag. Das sind umgerechnet 4,80 Euro pro Zehn-Stunden-Schicht. Macht einen Stundenlohn von unfassbaren 48 Cent! Und das ist den Herren zu teuer! Aber nicht etwa, weil sie volltrunken an den steilen Klippen der Insolvenz entlang stolpern. Sondern weil der Gewinn anstatt der erwarteten 4 Milliarden, lediglich 3,8 Milliarden betrug.

Betrug … Merkt ihr was?

Alle Versuche dagegen anzugehen, sind für die Ritter der Tafelrunde nichts weiter, als eine kleine, atmosphärische Störung im wirtschaftlichen Alltag. Ein bisschen als würde es im Radio kurz rauschen. Da ist zwar etwas. Man nimmt es auch wahr. Ignoriert es aber, weil die Sendung einfach so schön ist.

Viel mehr als ein atmosphärisches Knistern wird dieser Text wohl auch nicht hinterlassen. Und trotzdem. Auch diese Art von Gefühl braucht ein Ventil. Man kann sich ja nicht ständig aus Frust betrinken.

RASEND!

Die Sehnsucht nach Veränderung

Brodelt im humanen Kessel

Der Deckel Kopf er klappert schon

Der Rest liegt in des Anstands Fessel

Ausgebremst durch die Erziehung

Und Erwartungen von außen

Bleibt das Leben in der Spur

Doch streng genomm’. Bleibt’s draußen

Doch eines Tages, glaubt es mir

Da kocht die Suppe über

Der Schalter klickt, es wächst die Gier

Und alle grübeln drüber

Was wohl in diesen Kerl gefahren

Dass er so eskaliert

Höflich, nett in all den Jahren

Doch innerlich so sehr frustriert

Dass dieser Knüppel voller Blut

Sein Meisterstück geworden

Hat die insgeheime Wut

Solange unter Fleisch verborgen

Bis es ihm aus den Nähten platzte

Gleichsam mit all diesen Köpfen

Gezogen von der Raserei

Schröpfte er all den Geschöpfen

Ihre Existenzgrundlage

Und zerlegte ihren Puls

Bis ans Ende aller Tage

Die blaue Blume

„Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!”, grölten sie hinter der Glasfront.

Ich versuchte, zwischen Abteil und Fenster so elegant wie nur möglich über den Kotzfleck hinweg zu steigen. Was gar nicht so einfach war. Der Alkohol hatte mein Gleichgewicht aus den Angeln gehoben. Außerdem nahm dieser eurasienförmige, rotbraune Klumpen eine so große Fläche ein, dass man meinen konnte, jemand habe erst in eine Wasserbombe gekotzt, die dann aufgepustet, ein frisches Weizen untergemischt, das Ganze zugeknotet, ne Woche vor sich hin gären lassen und dann mit Volldampf auf den Boden geschmettert. Vielleicht war es doch nicht so schlau gewesen, die Afterhour auf vier Tage auszudehnen und dann mit der Bahn nach Berlin fahren zu wollen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, zwischendurch mal eine Pause einzulegen. Und zu schlafen. Oder so.

Durch das Fenster auf der rechten Seite des Zuges wehte ein Hauch frischer Landluft. Das machte den Geruch erträglicher.

Nach einigen Versuchen gab ich es auf und stiefelte mit meinen Air Max vorsichtig durch die Lache. Eigentlich schob ich mich mehr hindurch, aus Angst davor, auszurutschen. Ist ein bisschen wie Schlittschuhlaufen, dachte ich. Etwas, das aussah wie Mais, glitt an meiner Sohle entlang. Dann zog ich die Glastür beiseite.

„ICH BIN DER KÖNIG DER WELT!“, brüllte Pozzo. Der Rest hielt sich das Dosenbier vor Lachen. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Lachte aber aus Verlegenheit mit und setzte mich auf den Platz, der wohl meiner gewesen war.

„Alles okay? Geht’s dir gut?“, fragte Didi.

„Ach. Der kriegt’n bisschen Partypulver aufs Brot und dann geht der wieder steil!“, rief Pozzo und reichte mir sein Bier.

Ich nahm einen Schluck.

Pozzos Haut hatte die Rötung eines gekochten Hummer. Eigentlich hatten die alle. Alle bis auf Didi.

Didi war der Vernünftige von uns. Einer, der sich einmal am Tag einen dicken Kopf rauchte, sich ein paar Stunden schlafen legte und dann wieder mitmarschierte. Didi war das lebende Beispiel dafür, dass man auch mit ganz viel Chemie keinen, bis sehr wenig Spaß haben konnte.

„Na? Noch was zu essen?“, fragte Pozzo grinsend und schob mir eine offene Dose Chili in die Hand. Ich sah hinein. Sah genauso aus wie das auf dem Boden. Ich ließ das runde Blechkonstrukt unter dem Sitz verschwinden.

„Hey. Was ist los?“, fragte Pozzo. Er rammte mir seine Faust gegen die Schulter. „Machste schon schlapp oder was?“

Ich wollte so was sagen wie „Ach halt doch die Fresse.“ Aber meine Muskulatur hatte sich von meinem Hirn gelöst wie das Baskenland von Spanien. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass der Mensch mehr als 50 Muskeln alleine im Gesicht hat. Und die gerade alle unter einen Hut zu bekommen, schien mir unlösbar. Ich schüttelte den Kopf. Das musste reichen.

„Moment. Warte mal. Dich kriegen wir schon wieder hin.“ Pozzo holte die CD aus seinem Rucksack und legte sie sich auf den Oberschenkel. Er griff ein kleines Tütchen aus seiner Jackentasche und schüttelte dran rum.

„Was ist eigentlich auf dieser CD drauf?“, fragte Gogo mit der Rhetorik eines BND-Mitarbeiters.

„Hendrix“, sagte Pozzo.

„Quatsch. Mario De Bellis!“, sagte Didi.

„Er wieder, weißte. Keine Ahnung von gar nichts, aber das Maul aufreißen“, sagte Pozzo.

„Woher willst du denn wissen, was da drauf ist, wenn du die CD noch nie aus der Hülle genommen hast?“, fragte Didi.

„Weil ich die gebrannt habe? Und ich da nur ‚Voodoo Chile‘ in Endlosschleife drauf gepackt habe!?“

„Das heißt Voodoo Child!“, korrigierte Didi.

„Voodoo Child is’n ganz anderes Lied du Spinner“, sagte Pozzo. Er schüttelte noch immer am Tütchen herum.

„Wo ist’n da der Unterschied?“, fragte Gogo.

„Das eine geht knapp fünf Minuten, das andere 15. Das eine ist mehr so 70er Jahre Hard Rock und das andere ist eben bluesiger“, dozierte Pozzo.

„Wie kann man eigentlich was in Endlosschleife brennen?“, fragte Didi.

„Indem man von Computern mehr Ahnung hat als du“, sagte Pozzo.

Mir wurde ganz schwindelig. Ich nahm Pozzo die CD ab und popelte mir etwas von dem feuchten Zeug auf das Plastik. Ich griff einen Schein aus dem Portemonnaie, drehte ihn zu einem Strohhalm und pflasterte meine Nasenschleimhäute mit Amphetamin. Ein Gemisch aus pastenartiger Chemie und Rotz tropfte mir in den Rachen und brannte sich eine Schneise durch die Kehle. Mein Magen drehte sich auf links und die Speiseröhre zog sich zusammen wie ein Spritzbeutel vom Konditor. Ich sprang aus meinem Sitz. Schob die Glastür auf. Rannte auf den Gang. Rutschte aus und landete in der Horizontalen. Dann wurde es dunkel.

Ein kalter Schweißfilm rann mir über die zusammengezogene Haut. Die Haare klebten auf meiner Stirn fest. In meinem Kopf rauschte und pfiff es, als stünde ich mit einer Trillerpfeife im Ozean. Ich öffnete die Augen. Menschen. So viele Menschen. Alle brüllten durcheinander. Irgendwo hielt irgendwer eine Rede. Ich kratzte das letzte Bisschen Aufmerksamkeit zusammen. Stopfte es in meine Ohren.

„Wie fühlt ihr euch?“, fragte eine heisere, männliche Stimme. Alle klatschten und grölten. Ich übergab mich. „Wir hoffen, ihr habt eine gute Zeit.“

„Ey. Spinnst du oder was?“, fragte irgendwer.

„Was ist los?“, fragte jemand anders.

„Der hat mich angekotzt“, antwortete irgendwer.

„Es ist schön, euch alle zu sehen. Wir sind hier eine Million Menschen!“

Jetzt kotzte ich ihm auf die Hose. Alle jubelten.

„Musik ist eine Brücke zwischen allen Menschen, Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen.“

„Ey sag mal …“ Irgendwer schubste mich nach hinten. Jemand anderes wieder nach vorne. „Tschuldige“, wollte ich sagen, als ein Presslufthammer unter meinem Auge landete.

„Es ist sehr schön zu sehen, wie viele Menschen hier friedlich zusammenkommen, um zu ihrer Musik …“

Dann wurde es dunkel.

Mein Herz knallte im Stakkato gegen meinen Rippenbogen. Mein Atem ging flach und schwer. Es war noch immer sehr laut. Der Geschmack von Kupfer lag mir auf der Zunge. Ein Gefühl, als würde ich einen Marathon laufen. Nur, dass ich nicht lief.

Und dieser Geruch. Ein bisschen holzig. Leicht blumig, nicht zu aufdringlich.

„Marie!“, rief ich und riss die Augen auf. Ich sah zwar geradewegs auf ein Arschgeweih, aber es war nicht das, von dem ich dachte, dass es das war. Dafür wusste ich jetzt, warum ich trotz ruhender Füße das Gefühl hatte, den New York-Marathon zu laufen. Ich sah mich um. Noch immer Menschen. Noch immer Unmengen von ihnen. Nur war ich jetzt der Redner und mein Schwanz das Mikro.

Mein Blick traf auf Pozzo und Didi. Sie streckten ihre Daumen in die Luft und lächelten mich aus tiefschwarzen Augen an, als hätte ich gerade Aphrodite entjungfert.

Irgendetwas klatschte gegen meinen Hinterkopf. Ich blickte zur Seite. Da stand ein Typ mit einer Kamera in der Hand und deutete mir mit der anderen an, dass ich gefälligst weiter machen sollte. Ich machte weiter.

Mein Herz brauchte immer mehr Raum. Aus meiner Atmung wurde ein Hecheln. Alles grölte und klatsche wie vor einem Elfmeter. Gummi zog in meine Knochen. Dann wurde es unangenehm. Ich konnte nicht genau sagen, was los war. Aber irgendwas lief hier gerade überhaupt nicht so, wie es normalerweise laufen sollte. Ich sah über meine Schulter. Hinter mir hockte ein Mädchen mit langen Rastas und zeigte ihre grüne Zunge, während sie mir einen Finger in den Arsch schob. Mein Herzschlag ging in ein Kammerflimmern über. Ich kam.

Dann wurde es dunkel.

Ein Vogel quiekte. Kinder plärrten. Ein breiter Streifen Wärme lag auf meinem Gesicht. Ich kniff die Augen fest zusammen und streckte mich. Ich zog die Lider hoch und sah mich um. Mein Schlafzimmer.

Ich setzte mich auf die Bettkante, gähnte wie ein Grizzly nach dem Winterschlaf und lächelte. Ich stand auf. Ging ins Wohnzimmer. Pozzo und Gogo lagen auf der Couch. Ich zog die Jalousien hoch und stieß Pozzo mit dem Fuß an.

„Ey. Schlafmütze. Aufwachen. Die Sonne ist da.“

Er drehte sich zu mir. „Hank?“

„Auferstanden aus Ruinen.“ Ich ließ mich in den Sessel fallen.

„Alter. Du solltest ganz dringend mal zum Arzt. Ernsthaft. Du hast echt nen Schaden“, nuschelte er, rieb sich die Augen und vergrub seinen Kopf wieder in der Couch.

Ich versuchte, die Fernbedienung zu finden. Doch der Tisch sah aus, als hätte Alexander der Große auf dem Rückweg von Gaugamela hier haltgemacht.

Ich lehnte mich in meinen Sessel und sah auf das Bild mit den blauen Blumen, den Hügeln und der Kirche, das an meiner Wand hing. Ich kannte weder Titel noch Künstler. Und es war mir auch egal. Ich mochte dieses Bild einfach.