Schulentwicklung gescheitert - Jörg Schlee - E-Book

Schulentwicklung gescheitert E-Book

Jörg Schlee

4,8

  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

"Schulentwicklung" hat bis heute einen steilen bildungspolitischen Aufschwung zu verzeichnen. Sie wird von Kultusbehörden, wissenschaftlichen Einrichtungen, Stiftungen und Verbänden massiv unterstützt. Jedoch sind bislang systematisch erkennbare Auswirkungen ausgeblieben. Vielmehr zeigen sich in der schulischen Praxis eine "Implementationslücke" (Hans-Günter Rolff) und ein "Realisierungsloch" (Elmar Philipp). In den Schulkollegien sind zunehmende Erschöpfung und anwachsender Verdruss zu verzeichnen. Das Buch zeigt auf, wie durch Schulentwicklung humane Potentiale aufgerieben und materielle Ressourcen vergeudet werden. Anhand zahlreicher Kriterien werden ihr Leerformelcharakter, ihre praktische Nutzlosigkeit sowie ihr ethisches Versagen dargestellt. Daraus wird abgeleitet, welche Fehler und Irrtümer zu vermeiden und welche Alternativen zu ergreifen sind, damit künftig Schüler und Lehrkräfte mit mehr Freude und Erfolg die Schule besuchen können.

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Jörg Schlee

Schulentwicklung gescheitert!

Die falschen Versprechen derBildungsreformer

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-020888-9

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-025543-2

epub:  ISBN 978-3-17-025544-9

mobi:  ISBN 978-3-17-025545-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1   Warum »Schulentwicklung« auf den Prüfstand stellen?

1.1   Argumente für eine Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung

1.2   Für welche Personen können die Analyseergebnisse bedeutsam werden?

1.3   Wer sind die Kontrahenten?

1.4   Hinweise zum Vorgehen

2   Zum Verständnis von Schulentwicklung

2.1   Zum Entstehungshintergrund: Erste Bedeutungsveränderung

2.2   Das Institutionelle Schulentwicklungsprogramm nach Dalin & Rolff

2.3   Pädagogische Schulentwicklung nach Bastian

2.4   Vorstellungen zur Schulentwicklung von Klippert

2.5   Zweite Bedeutungsveränderung der Schulentwicklungsidee

2.6   Impulse durch Schulentwicklungsforschung

3   Kriterien für eine Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung

3.1   Zum Zusammenhang von Sprache und Denken

3.2   Klarheit und Eindeutigkeit

3.3   Fruchtbarkeit und Falsifizierbarkeit

3.4   Unterscheidung von De- und Präskriptionen

3.5   Leistung und Tücken von Metaphern

3.6   Risiken bei Abstraktionen und Substantivierungen

3.7   Geeignete Betrachtungsebenen

3.8   Klares und angemessenes Gegenstandsverständnis

3.9   Klare und angemessene Zielformulierungen

3.10   Leistungsfähige Modelle

3.11   Taugliche Theorien

3.12   Bedeutung von Randbedingungen

3.13   Aussagen und Forderungen begründen (können)

3.14   Anwendung erprobter Verfahren

3.15   Beachtung von Nebenwirkungen

3.16   Neu gleich besser?

3.17   Einen Probelauf durchführen

3.18   Einlösung von Ansprüchen

3.19   Zweckmäßige Evaluationen

3.20   Ethische Erwägungen

4   Anfragen an die Schulentwicklungsidee

4.1   Was ist eigentlich unter Schulentwicklung zu verstehen?

4.1.1   Gibt es klare und eindeutige Vorstellungen?

4.1.2    Klärung durch Merkmalsaufzählungen?

4.1.3    Präzisierung durch Hierarchisierung?

4.1.4    Die Einzelschule als handelndes Subjekt?

4.1.5    Was ist eigentlich mit »Schule« gemeint?

4.1.6    Wie ist eine ganze Schule zu denken?

4.1.7    Können gute Schulen Probleme lösen?

4.1.8    Was leistet eine lernende Schule?

4.1.9    Schulentwicklung – ein Lernprozess?

4.1.10  Welche Bilder beschreiben Schulentwicklung?

4.1.11  Was ist unter Entwicklung zu verstehen?

4.2   Wozu soll Schulentwicklung taugen?

4.2.1    Welche generellen Ziele verfolgt Schulentwicklung?

4.2.2    Unterrichtsverbesserung und Lernfortschritte als ultimative Zielidee?

4.2.3    Für welche Probleme soll Schulentwicklung die Lösung darstellen?

4.2.4    Welche Vorteile sollen Neuerungen bringen?

4.2.5    Wie ist Qualität zu gewinnen und zu sichern?

4.2.6    Was soll das Spezifische an Schulentwicklung sein?

4.2.7    Eine Zwischenbilanz

4.3   Wie soll Schulentwicklung erfolgen?

4.3.1    Wie sollen Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung zusammenhängen?

4.3.2    Was sollen Steuergruppen leisten?

4.3.3    Welche Funktionen sollen Schulprogramme erfüllen?

4.3.4    Welche Funktionen sollen Leitbilder erfüllen?

4.3.5    Welche Funktionen sollen Visionen erfüllen?

4.3.6    Wie ist gelingende Teamarbeit zu denken?

4.3.7    Was kann Evaluation in der Schulentwicklung (nicht) leisten?

4.3.8    Den Kontakt verlieren, in den Wolken schweben?

4.3.9    Abstrakta als Akteure?

4.3.10  Können Bildungslandschaften Lehrkräften helfen?

4.3.11  Wo konnte Schulentwicklung bislang wirksam werden?

4.4   Welche theoretischen Vorstellungen fundieren Schulentwicklung?

4.4.1    Was können die verwendeten Modelle leisten?

4.4.2    Welche Theorien werden für Schulentwicklung vorgeschlagen?

4.4.3    Eine Zwischenbilanz

4.5   Die Schulentwicklungsdebatte unter ethischen Erwägungen

5   Bilanzierung und Bewertung der Prüfergebnisse

5.1   Bilanzierung

5.2   Eigentümlichkeiten der SE-Debatte

5.3   Wie konnte es dazu kommen?

5.4   Ein Wort zur Schulentwicklungsforschung

5.5   Unbeabsichtigte Auswirkungen

5.6   Zusammenfassende Einschätzung

6   Desiderate und Alternativen

6.1   Klärung der (Gegenstands-)Annahmen

6.2   Folgerungen und Hypothesen

6.3   Veränderung von Positionen und Verantwortungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Zum Entstehen dieses Buches haben Begegnungen mit vielen Menschen beigetragen. Diesen bin ich dankbar, dass sie mir auf unterschiedliche Weise Impulse gegeben haben. Durch Bernd Semrau bin ich vor mehr als 20 Jahren anlässlich einer Lehrerfortbildung in Nordrhein-Westfalen auf Schulentwicklungsvorhaben aufmerksam geworden. Auf seine Empfehlung hin habe ich das Buch Institutionelles Schulentwicklungsprogramm (ISP) von Dalin & Rolff (1990) gelesen. Die darin vorgestellten Ideen zur Organisationsentwicklung an Schulen schienen mir eine wirksame Veränderung von schulischer Wirklichkeit zu versprechen. Als wenige Jahre später das Institutionelle Schulentwicklungsprogramm in Bremen systematisch implementiert werden sollte, hatte ich die Möglichkeit, mehrere von Hans-Günter Rolff ausgebildete Schulentwicklungsmoderatoren als Teilnehmer meiner Fortbildungen kennen zu lernen. Ihre Erfahrungsberichte und Anfragen boten mir Einblicke in die Schwierigkeiten schulischer Veränderungen. Aus ihnen schloss ich, dass innerhalb des Institutionellen Schulentwicklungsprogramms die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht genügend beachtet würde. In dieser Einschätzung fühlte ich mich durch die Schriften von Elmar Osswald (1995a, 1995b, 1996) bestätigt, dem ich in Basel und Oldenburg begegnete. Er hat seine Thesen zur Schulentwicklung nicht aus Ergebnissen der Bildungsforschung, sondern aus eigenen Erfahrungen bei Veränderungen in/an Basler Schulen abgeleitet. Bei Osswald spielen für das Gelingen einer Schulentwicklung die Sichtweisen und die emotionale Verfassung von Lehrkräften und Schulleitungen eine zentrale Rolle. Meine Skepsis gegenüber dem ISP nahm zu, als ich auch aus Schleswig-Holstein erfuhr, dass dort – wie in Bremen – in den Schulen die Abläufe und Veränderungen ebenfalls nicht so erfolgreich verliefen, wie das Institutionelle Schulentwicklungsprogramm es vorsah. Ich rechne es Hans-Günter Rolff daher hoch an, dass er mich trotz meiner inzwischen entstandenen Skepsis am ISP 1997 zur 5. Tagung des Netzwerks Organisationsentwicklung an Schulen nach Dortmund einlud. Neben Heinz Klippert, der in der Schulentwicklung die Bemühungen um eine Unterrichtsverbesserung vermisste, konnte ich dort vor skeptischen Zuhörern monieren, dass im ISP Schulleiterinnen und Lehrerinnen als die eigentlichen Akteure zu wenig beachtet würden. Gewissermaßen als Reaktion auf die Kritik schlug Rolff auf dieser Tagung mit dem Drei-Wege-Modell eine Bedeutungserweiterung von Schulentwicklung vor. Danach war Schulentwicklung nicht mehr als reine Organisationsentwicklung zu verstehen, sondern sollte nun als Oberbegriff für das Zusammenwirken von Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung gelten. Ich war verwundert, wie dieser Vorschlag ohne theoretische Begründungen von den Teilnehmern der Netzwerktagung leichtgläubig sowie begeistert aufgenommen wurde. Dessen ungeachtet hat danach die auf diese Weise in ihrer Bedeutung erweiterte Schulentwicklungsidee alle Bundesländer erreicht. Selbst die Konferenz der Kultusminister machte die Beteiligung an Schulentwicklung in diesem Sinne zu einer verbindlichen Aufgabe für Lehrkräfte. Außerdem haben mich die Stellungnahmen von Lehrkräften und Schulleitungen angeregt, über Schulentwicklung nachzudenken. Sie fielen unterschiedlich aus, insbesondere im Rahmen der Schulprogrammarbeit. Während die Einen froh darüber waren, endlich einen Anstoß zu gemeinsamen Klärungen gewonnen zu haben, befürchteten die Anderen, dass ihr Arbeitsaufwand letztlich nur für den Papierkorb sei. Den entscheidenden Impuls zu diesem Buch erhielt ich jedoch von meinem Kollegen Hilbert Meyer. Gemeinsam mit einem engagierten Arbeitskreis organisierte er über viele Jahre Tagungen für Schulleiterinnen. Als ich ihm bei der Vorbereitung einer dieser Veranstaltungen meine kritischen Einwände zur Schulentwicklung erläutern wollte, gab er mir den Rat, diese in einem Buch darzustellen.

Ich danke Frau Gerhild Werner für die Durchsicht des Manuskripts und Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag für seine große Geduld, denn die Fertigstellung des Buchs hat sich erheblich verzögert.

Obwohl ich kein Freund von Abkürzungen bin, werde ich aus ökonomischen Gründen »Schulentwicklung« sehr oft mit »SE« abkürzen.

Oldenburg, im Sommer 2013Jörg Schlee

1          Warum »Schulentwicklung« auf den Prüfstand stellen?

In den vergangenen 20 Jahren hat das Thema Schulentwicklung (SE) für Lehrkräfte und Schulleitungen eine sehr große Bedeutung gewonnen. Auf Schulen kamen wie in Wellen immer neue Aufgaben zu und beschäftigen nach wie vor Lehrkräfte und Leitungspersonen. Der Bildungsforscher Hans-Günter Rolff (2007b, 21) konstatiert: »Schulentwicklung steht in diesen Jahren im Zentrum von Bildungspolitik, Fortbildungseinrichtungen und Einzelschulen.« An Universitäten wurde Schulentwicklung in die Denomination von Lehrstühlen aufgenommen. Die Kultusministerkonferenz (2004, 3) hat die aktive Beteiligung an SE zu einer eigenständigen Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern ernannt. SE hat dadurch den Charakter eines verpflichtenden Auftrags erhalten. Ferner wurden in den Bundesländern Einrichtungen geschaffen, um Schulen durch Handreichungen, Empfehlungen und/oder durch ausgebildete Schulentwicklungsmoderatoren für ihren Entwicklungsprozess Unterstützung und Hilfe anbieten zu können.

In Österreich und in der Schweiz ist die Verbreitung der Schulentwicklungsidee vergleichbar verlaufen. Zwischen den entsprechenden Experten der drei deutschsprachigen Länder herrscht ein reger Austausch. Die zum Thema SE in Sammelbänden, Zeitschriften und Handbüchern erschienenen Publikationen sind kaum noch zu überblicken.

1.1       Argumente für eine Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung

Warum soll nun trotz dieser Erfolgsgeschichte Schulentwicklung auf den Prüfstand gestellt werden? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten:

•  Zum einen ist es durch Schulentwicklung innerhalb vieler Schulen zu erheblichen Veränderungen gekommen, die noch gar nicht ausreichend ausgewertet worden sind. Dieser Umstand legt es aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nahe, evaluative Fragen zu stellen.

•  Zum anderen gibt es von Vertretern der Schulentwicklungsidee skeptische Äußerungen zur Schulentwicklung, denen sie selbst nie nachgegangen sind. Beispielsweise weisen Rolff, Buhren, Lindau-Bank & Müller (2000) auf so viele Risiken innerhalb einer Schulentwicklungsberatung hin, dass selbst ein unbefangener Leser hinsichtlich ihres Erfolgs unsicher werden muss. Sie beklagen: »Es kommt häufig vor, dass Schulen im Rahmen ihrer SchuB1-Konferenz Entwicklungsschwerpunkte festlegen und das Kollegium in Gruppen einteilen, die diese Schwerpunkte in einer vage begrenzten Zeit mit Inhalt füllen und abarbeiten sollen. Danach geschieht dann erst einmal wenig, was lange Zeit kaum auffällt. Die Gruppen treffen sich ordnungsgemäß und besprechen verschiedene Dinge miteinander. Der Prozess plätschert dahin. Nach geraumer Zeit erinnert sich kaum noch jemand daran, dass in der Schule jemals von einem Schulentwicklungsprozess gesprochen wurde, geschweige denn an die Ziele, die damit verbunden wurden« (Rolff, Buhren, Lindau-Bank & Müller 2000, 110). Ganz in diesem Sinne berichtet auch Eikenbusch (1998, 216): »Gerade wenn man in Schulentwicklungsprozessen und bei Schulprogrammarbeit meint, endlich alles unter Dach und Fach zu haben, kommen oft die Probleme: Ausführlich geklärte und vereinbarte Ziele oder sorgfältige Planungen werden einfach nicht umgesetzt, sie bleiben Papier, Absicht und schöner Plan.« Entsprechend resümiert auch der viel beachtete und häufig zitierte kanadische Bildungsforscher Fullan (2000, 14): »Die Ergebnisse (von Schulentwicklungsbemühungen, J. S.) sind jedoch fragil; wenn eine oder zwei Schlüsselpersonen die Schule verlassen, kann der Erfolg über Nacht verspielt werden.« In der einschlägigen Literatur zur Schulentwicklung wird sehr häufig die Metapher »Stolpersteine« bemüht, was ebenfalls darauf hinweist, dass Schulentwicklungsprozesse nicht immer glatt und erfolgreich verlaufen. Die Gefährdungen einer Schulentwicklung sind offensichtlich so zahlreich, dass Leonard Horster (1996) sich veranlasst sah, zur Verminderung der Risiken ein sehr einfühlsames Buch »Störungen bearbeiten. Der schulinterne Entwicklungsprozess als Störpotential« zu schreiben. Und als Nestor der Schulentwicklung bilanziert Rolff (2010a, 16) nach mehr als 20 Jahren skeptisch: »Sehr erfolgreich ist Schulentwicklung bisher nicht. (…) Wir haben also eine Menge kritisch aufzuarbeiten und zu lernen, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind.« Daher ist es auch für die Vertreter der Schulentwicklungsidee von Bedeutung, prüfende Rückfragen an sie zu stellen.

•  Mein Kollege Hilbert Meyer (1997, 199) meint in diesem Zusammenhang: »Es gibt meines Wissens (…) noch keine ›Scheiternsforschung‹ für Schulentwicklungsprozesse. Sie dürfte zu erhellenden Einsichten führen.«

•  In Schulentwicklung sind erhebliche Finanzmittel investiert worden. Dies rechtfertigt ebenfalls die Nachfrage, ob die mit einer Schulentwicklung verbundenen Erwartungen eingelöst worden sind.

•  Nicht zuletzt sollte Schulentwicklung auch aus Gründen der Glaubwürdigkeit einer kritischen Bewährungsprobe unterzogen werden. Da den Schulkollegien von Seiten der Schulentwicklungsautoren immer wieder nahegelegt wird, ihre Arbeit intern und extern zu evaluieren bzw. evaluieren zu lassen, ist es folgerichtig, dass sich auch die Schulentwicklungsidee ihrerseits einer evaluierenden Analyse stellen muss.

1.2       Für welche Personen können die Analyseergebnisse bedeutsam werden?

Die Ergebnisse einer Analyse sind für mehrere Personengruppen von Bedeutung.

•  In allererster Linie für die Lehrkräfte und Leitungspersonen in Schulen. Denn sie sind vom Ge- oder Misslingen der Schulentwicklung unmittelbar betroffen. Insbesondere werden sie sich fragen, ob und wie sie ihre Schülerinnen in deren Lernbemühungen durch SE-Maßnahmen erfolgreich unterstützen können.

•  Auch wenn Schüler an der SE-Debatte nicht unmittelbar beteiligt sind, geht es letzten Endes um die Frage, ob sie durch die SE-Idee zu Gewinnern oder Verlierern werden.

•  Die Resultate einer kritischen Bilanzierung von Schulentwicklung können auch für Lehramtsstudenten und Referendare von Bedeutung sein. Sie sollen sich laut KMK-Beschluss in ihrer Lehrerausbildung nicht allein für das Unterrichten, Beraten, Beurteilen, Diagnostizieren qualifizieren, sondern künftig auch an der SE aktiv beteiligen (können).

•  Auch Schulpsychologen und Schulentwicklungsmoderatoren dürften Interesse an den Ergebnissen einer kritischen Überprüfung haben. Denn zu ihren Aufgaben gehört es, Schulleiter und Lehrkräfte bei Entwicklungsprozessen der Schule zu beraten und zu unterstützen.

•  Schließlich ist auch und gerade an die Vertreter der Schulbehörden und an Bildungspolitiker zu denken, die für SE zwar nicht im unmittelbaren Sinne zuständig sind, sehr wohl aber für deren politische Rahmenbedingungen die Verantwortung tragen.

•  Last not least sollten auch die Autoren von SE-Literatur eine skeptische Prüfung ihrer Vorstellungen begrüßen. Da sie Lehrkräften und Schulleitungen immer wieder empfehlen, sich mit der Rückmeldung ›kritischer Freunde‹ auseinanderzusetzen, darf man zu Recht vermuten, dass sie sich für die Ergebnisse einer kritischen Schulentwicklungs-Analyse interessieren.

1.3       Wer sind die Kontrahenten?

Die Vorstellungen zur Schulentwicklung sind das Ergebnis menschlichen Denkens. Ihre kritische Überprüfung impliziert daher auch eine Auseinandersetzung mit den Personen, die sie entwickelt haben. Wer also Schulentwicklung auf den Prüfstand stellen möchte, muss sich notwendigerweise mit den Autoren der entsprechenden Literatur auseinandersetzen, folglich mit den Personen, die durch Wort, Schrift und Bild die Entstehung und Verbreitung der SE-Idee zu verantworten haben. Das sind hauptsächlich Personen, die an Hochschulen forschend und lehrend tätig sind. Sie vertreten untereinander keine konträren Ansichten zur Schulentwicklung. Das ermöglicht mir, in vielen Fällen eine pauschale Auseinandersetzung mit ›den‹ SE-Autoren.

Den Adressaten der Schulentwicklungsidee gilt diese Auseinandersetzung hingegen nicht. Denn Lehrkräfte, Schulleiter, Schulentwicklungsmoderatoren sowie Behördenvertreter und Bildungspolitiker haben kaum Möglichkeiten, pädagogische Konzepte auf systematische Weise zu entwickeln und zu erproben. Dies ist vielmehr eine Aufgabe von Wissenschaftlern und Bildungsforschern. Deshalb müssen Schulleiter und Lehrkräfte einerseits sowie Bildungspolitiker andererseits darauf vertrauen können, dass ihnen von Seiten der Wissenschaft und Forschung Konzepte, Modelle und Theorien für ihre jeweiligen Praxis angeraten werden, die zuvor auf ihre innere Stimmigkeit, ihre praktische Bewährung sowie auf ihren Nutzen hin überprüft worden sind. Andernfalls lässt sich Praxisund Politikberatung ethisch nicht rechtfertigen. Es geht also darum, Lehrkräften, Schulleitern und Bildungspolitikern Kriterien und Argumente an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie die von Erziehungswissenschaftlern und Bildungsforschern angeratenen Empfehlungen zur Schulentwicklung prüfen und beurteilen können.

1.4       Hinweise zum Vorgehen

Für Leserinnen, die mit der Entstehungsgeschichte der SE-Idee nicht vertraut sind, ist im Kapitel 2 ihr Zustandekommen dargestellt, damit deutlich werden kann, worauf sich die Analyse bezieht. Leser, die sich in den Vorstellungen zur SE auskennen, können dieses Kapitel überschlagen.

Im 3. Kapitel sind die Kriterien benannt, die für die Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung der SE-Idee herangezogen werden. Die Leserinnen können sich entscheiden, ob sie sich erst mit diesen Kriterien auseinandersetzen möchten, um sie im Kapitel 4 bei den kritischen Überlegungen zur SE gedanklich parat zu haben, oder ob sie sich jeweils bei Bedarf mit ihnen befassen möchten. In diesem Fall können sie das dritte Kapitel überspringen und gleich im Kapitel 4 den kritischen Fragen an die SE-Idee folgen, um dann ggf. in den entsprechenden Abschnitten die jeweiligen Kriterien heranzuziehen.

Die eigentliche Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung der SE-Idee erfolgt im Kapitel 4, das in fünf Unterkapitel aufgeteilt ist, die ihrerseits wiederum mehrfach untergliedert sind. Es ist das umfangreichste Kapitel des Buches.

Kapitel 5 zieht eine Bilanz der Stimmigkeits- und Bewährungsprüfung. Zusammengefasst sind die wichtigsten Ergebnisse der Analyse noch einmal dargestellt.

In Kapitel 6 werden schließlich in knapper Form einige Desiderate und Alternativen als Ausblick aufgeführt.

Es gehört zum Merkmal seriöser Analysen, den Außenstehenden immer wieder Einblick in das zu analysierende Material zu geben. Sie müssen dadurch prinzipiell in die Lage versetzt werden, ihre Schlüsse selbst zu ziehen. Um den Leserinnen und Lesern dies zu ermöglichen, finden sich im Text sehr viele Zitate aus der SE-Literatur. Eilige Leser können diese Belegstellen überspringen.

2        Zum Verständnis von Schulentwicklung

2.1       Zum Entstehungshintergrund: Erste Bedeutungsveränderung

Unter Schulentwicklung waren ursprünglich bildungspolitische Planungen zu verstehen, durch die in Kommunen eine angemessene Versorgung der unterschiedlichen Schularten gesichert werden sollte. Hierbei spielten Fragen nach dem Bevölkerungswachstum, nach der soziokulturellen Zusammensetzung, nach Wohngebieten und Verkehrsverbindungen, nach anderen Bildungseinrichtungen sowie nach der weiteren regionalen Infrastruktur eine wichtige Rolle.

Nach Holtappels & Rolff (2004, 51), die in der Bundesrepublik zu den renommiertesten Schulentwicklungsforschern zählen, geht der Begriff »Schulentwicklung« auf die Bezeichnung einer Arbeitsstelle an der Pädagogischen Hochschule Ruhr zurück. Aus dieser Arbeitsstelle ist später das »Institut für Schulenentwicklungsforschung« an der Universität Dortmund hervorgegangen. Zu den Aufgaben der Arbeitsstelle bzw. des späteren Institutes gehörten die Planung von Schulstandorten, die Konzeptualisierung geeigneter Gebäude sowie die Berechnung erforderlicher Raumkapazitäten. Es ging also hauptsächlich um kontrollierte Bedarfsanpassungen innerhalb des Schulsystems, nicht um Veränderungen in einzelnen Schulen.

Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts begann sich jedoch die Bedeutung von Schulentwicklung zu verändern. Holtappels & Rolff (2004, 54f.) führen hierzu aus: »Erst etliche Jahre später bildete sich das heute dominierende Verständnis von Schulentwicklung heraus, das mit dem weltweiten Paradigmawechsel von der Perspektive zentralistischer Schulplanung zur Entdeckung der ›Einzelschule als pädagogische Handlungseinheit‹ (Fend 1986) eine vehemente Schubkraft entfachte. Die Einzelschule geriet nicht nur aus pädagogischen Gründen ins Zentrum, sondern aufgrund einer weltweiten ›Krise der Außensteuerung‹. (…) Spätestens seit 1990 wird die Einzelschule als Motor der Schulentwicklung (Dalin & Rolff 1990) gesehen, für dessen Wirkungsweise in erster Linie die Lehrpersonen und die Leitung selbst verantwortlich sind und andere Instanzen eher unterstützende und ressourcensichernde Funktionen ausüben. Bezeichnend für diesen Paradigmawechsel war die Einführung von Steuergruppen als Kernelement eines grundlegend neuen Leitungs- und Organisationsverständnisses von Schule (Dalin & Rolff 1990, 54ff). Die ersten schulischen Steuergruppen im deutschsprachigen Raum entstanden 1987 auf Anregung von Dalin und Rolff in Nordrhein-Westfalen. Inzwischen gibt es Bundesländer, in denen bereits mehr als jede zweite Schule über eine Steuergruppe verfügt. Es handelt sich dabei um eine der größten Innovationen der jüngeren Schulgeschichte, die so gut wie unerforscht ist.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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