Selkie - Antonia Neumayer - E-Book

Selkie E-Book

Antonia Neumayer

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Beschreibung

Als Kate im Hafen ihrer kleinen Heimatinsel im Orkney-Archipel die drei Fremden das erste Mal sieht, weiß sie, dass es Ärger geben wird. Die Männer sind gekommen, um ihren älteren Bruder Gabe mitzunehmen. Doch wohin und warum, das verraten sie nicht. Und das ist völlig inakzeptabel, findet Kate. Heimlich schleicht sie sich auf den Kutter der Fremden, um Gabe zu retten. Doch dann taucht der geheimnisvolle Ian an Bord auf, ein Schuss fällt. Und plötzlich springt Kate an Ians Seite in die eiskalte Nordsee. Mitten hinein in ein Abenteuer, das alles, was sie bisher über ihre Familie und ihre Inselwelt wusste, ins Wanken bringt …

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Seitenzahl: 684

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Das Buch

Das Leben auf den schottischen Orkney-Inseln ist wild und einsam, das weiß die siebzehnjährige Kate Corrigal besser als jeder andere. Vor allem seit ihre Mutter die Familie verlassen hat und der Vater sich nicht mehr um sie und ihren älteren Bruder Gabe kümmert. Trotzdem ist Kate glücklich – schließlich halten sie und Gabe wie Pech und Schwefel zusammen. Bis zu dem Tag, an dem drei mysteriöse Fremde auf der Insel auftauchen, um Gabe mitzunehmen. Ohne Angabe von Gründen.

Kate spürt, dass ihr Bruder in Gefahr ist und schleicht sich heimlich auf das Schiff der Fremden, bevor diese am nächsten Morgen aufbrechen. Doch mitten auf der Nordsee wird Kate entdeckt. Nicht von den drei Fremden, sondern von Ian. Der schweigsame junge Mann hält sich ebenfalls verbotenerweise an Bord auf. Und als ein Schuss fällt, muss Kate sich entscheiden: Lässt sie sich als blinder Passagier von den Männern fangen, die ihr Gabe weggenommen haben, oder springt sie mit Ian ins eiskalte Meer und flieht.

Kate springt. Und taucht an der Seite Ians in das größte Abenteuer ihres Lebens ein. Ein Abenteuer, in dem sie nicht nur alles infrage stellen wird, was sie je über ihre Inselwelt zu wissen geglaubt hat, sondern auch einem unglaublichen Familiengeheimnis auf die Spur kommt …

Die Autorin

Antonia Neumayer wurde 1996 in München geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie verschiedene Praktika, u.a. in den Bavaria Filmstudios, und studiert Germanistik und Theaterwissenschaften in München. Ihre große Leidenschaft gehört jedoch der Fantastik. Bereits als Kind dachte sie sich Geschichten und Abenteuer für ihre Freunde aus. Sie schrieb mehrere Kurzgeschichten, bevor sie mit Selkie ihren ersten Roman verfasste. Die Autorin lebt in der Nähe von München.

ANTONIA NEUMAYER

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Originalausgabe 05/2017

Redaktion: Martina Vogl

Copyright © 2017 by Antonia Neumayer

Copyright © 2017 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karten und Illustrationen: Andreas Hancock

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-19646-2V001

www.heyne.de

»As soon as the seal was clear of the water,

it reared up and its skin slipped down to the sand.

What had been a seal was a white skinned boy.«

»Sobald der letzte Wassertropfen von der Robbe

abgeperlt war, bäumte sie sich auf und ließ ihre Haut

im Sand zurück. Wo zuvor eine Robbe gewesen war,

stand nun ein hellhäutiger Junge.«

GEORGE MACKAY BROWN

PROLOG

Der Junge konnte nicht schlafen.

Er versuchte es nun schon seit Stunden, wenigstens um dem Tosen des Wassers, dem heftigen Schaukeln des Schiffes und dem grollenden Donner von draußen für kurze Zeit zu entfliehen. Doch was er auch tat, ob er nun die Augen zusammenkniff oder sich sein kleines, weiches Kissen, so fest er konnte, aufs Ohr presste, nichts reichte aus, um das Wüten der Naturgewalten auszublenden.

Es war furchtbar.

Bereits an Land hatte er Gewitter gehasst, doch er hätte niemals gedacht, dass es auf dem Meer so schlimm sein würde. Dass es sich an Bord des Schiffes anfühlen würde, als segelten sie geradewegs durch die Hölle.

Das Schiff neigte sich quälend langsam zur Seite, sodass die große Wasserflasche, die neben den beiden Kojen auf dem Boden lag, polternd gegen die gegenüberliegende Wand kullerte.

Fast gleichzeitig rollte ein weiterer tiefer Donner über sie hinweg. Draußen auf dem Gang hörte der Junge hastige Schritte vorbeieilen und den Klang aufgewühlter Stimmen.

Die Erwachsenen waren alle auf den Beinen. Mama und Papa sowie die Eltern seines besten Freundes – sie alle versuchten gemeinsam, das Schiff zu navigieren, es stabil zu halten und wieder heil aus dem Sturm herauszubringen. Nur den beiden Kindern hatte man die Gefahr an Deck offenbar nicht zugetraut. Als sich die ersten dunklen Wolken blitzend am Horizont gezeigt hatten und der Wind langsam an Kraft gewonnen hatte, hatte man ihn und Henry unter beruhigenden Worten ins Bett gebracht. Und so lag er nun hellwach und ängstlich in seiner Koje, über seinem seit einer gefühlten Ewigkeit tief und fest schlafenden besten Freund.

Henry schien der Lärm kein bisschen zu stören. Es war, als wäre das Heulen des Sturms sein Schlaflied und das Schaukeln des Schiffes seine Wiege.

Doch er war auch schon immer der Unbekümmertere, der Mutigere von ihnen beiden gewesen. Henry konnte wie ein Eichhörnchen auf die höchsten Bäume und die dünnsten Äste klettern, während er selbst, der Jüngere, lieber vom sicheren Boden aus zusah. Henry konnte auch bei Wind noch lachend über die Reling des Segelbootes balancieren. Henry kannte das Wort Gefahr gar nicht.

Und genau für diese Eigenschaften beneidete der Junge seinen besten Freund. Wie gerne hätte auch er jetzt geschlafen, statt vor lauter Angst um sich selbst und seine Eltern oben an Deck immer weiter in Panik zu geraten.

Die Flasche rollte wieder zurück auf die andere Seite.

Der Junge zog seine Beine an den Körper und presste sich sein Kissen noch fester aufs Ohr, den Blick starr auf die dunkle Wand vor sich gerichtet. Doch es half nicht.

Obwohl das Kissen das Tosen des Wetters zu einem stetigen Rauschen dämpfte, erschien das nicht enden wollende Schwanken des Schiffes dadurch nur noch stärker.

Würde es bei einem so heftigem Wellengang nicht irgendwann umkippen? Der Junge erinnerte sich an Schiffe im Sturm. Er hatte Filme gesehen und Bücher gelesen, in denen sie kenterten und sich nur die Helden mit letzter Kraft an Land schleppen konnten.

Aber das waren ja nur Geschichten.

Und diese Schiffe waren zumeist riesige, alte Fregatten mit Dutzenden von Soldaten darauf. Ihr Boot hingegen war fast neu und viel, viel kleiner. Das war doch etwas völlig anderes, oder?

Aber was, wenn das Schiff doch umkippte? Würden seine Eltern an Deck den Halt verlieren und in das schwarze, brodelnde Wasser stürzen?

Gegen seinen Willen wurde das Bild des schräg im Wasser liegenden Schiffskörpers im Kopf des Jungen immer klarer. Wie er sich dem Meer zuneigte, bis die Füße der Erwachsenen auf den nassen Holzplanken ausrutschten und ihre Körper haltlos wie Steine hinab in die Wellen stürzten und nie wieder auftauchten.

Nein, nein, nein!

Der Junge machte sich noch kleiner, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Das würde nicht passieren! Schiffe waren zum Schwimmen gemacht, sie konnten nicht so mir nichts, dir nichts umkippen!

Das Boot schwankte wieder, diesmal so stark, dass es sich anhörte, als würde die Flasche senkrecht auf die andere Seite fallen. Vielleicht … vielleicht konnten Schiffe ja doch umkippen. Vielleicht hatte ihm das nur keiner gesagt. Was, wenn sie alle untergehen würden?

Der Junge setzte sich mit pochendem Herzen auf, lehnte sich über den Rand seiner Koje nach unten und versuchte, in der Dunkelheit Henry zu erkennen. Er sah nicht viel von ihm, nur die Silhouette seines Kopfes und die weiße Decke, die Henry sich um den Körper gewickelt hatte, doch sein bester Freund schien noch immer seelenruhig zu schlafen.

»Hey«, flüsterte er. »Bist du wach?«

Keine Antwort. Also schlief er wirklich. Er hätte ihn nicht einfach ignoriert, wenn er wach gewesen wäre, besonders nicht bei so einem Sturm. Der Junge richtete sich wieder auf und überlegte, ob er ihn wecken sollte. Aber wahrscheinlich wusste Henry auch nicht viel mehr als er selbst.

Er wollte zu seinem Vater. Wenn es jemanden gab, den er alles fragen konnte, dann ihn. Papa würde ihm erklären, dass das Boot stabil genug war und nichts passieren würde. Vielleicht konnte er dann auch endlich einschlafen. Und selbst wenn nicht, alles war ihm lieber, als weiter hellwach und untätig in der Koje zu liegen.

Der Junge setzte sich vorsichtig auf, wenigstens so weit es möglich war, ohne mit dem Kopf gegen die Decke zu knallen, schwang die Beine aus dem Bett und kletterte über die schmalen Holzsprossen hinab. Am Boden angekommen, hielt er einen Augenblick inne, die Hände fest um die Leiter gekrallt, bis er glaubte, dass sein Gleichgewicht sich halbwegs an das unregelmäßige Schwanken gewöhnt hatte.

Er würde es schaffen. Nach einem letzten Blick auf den schlafenden Henry ließ er die Leiter los und schlüpfte hinaus auf den Gang.

Dort war es viel heller als in der stockdunklen Kajüte. An den glatten Holzwänden glommen in regelmäßigen Abständen warme gelbe Lampen, die, mehr aus dekorativen Zwecken, in Käfige aus dicken Eisenstangen eingefasst waren. Ihr Licht wurde auf dem matt glänzenden Teakholzboden von mehreren nassen Schuhabdrücken und kleinen Pfützen reflektiert. Weder links noch rechts war jemand zu sehen. Wahrscheinlich waren die Erwachsenen nach wie vor an Deck.

Also gut. Der Gang war nicht allzu lang, und der Junge kannte die Wege durch das Boot in- und auswendig. Es konnte nichts schiefgehen. Er nahm einen letzten tiefen Atemzug, ehe er sich vorsichtig in Richtung Treppe aufmachte.

Der nasse Boden fühlte sich unter seinen nackten Füßen eiskalt an, und immer wieder neigte sich das Schiff so stark zur Seite, dass der Junge sich an der Wand abstützen musste, um nicht zu fallen.

Doch er würde nicht mehr umdrehen. Sein Vater oder Henry, sie wären in so einem Moment doch auch weitergegangen!

Schritt für Schritt kämpfte er sich vorwärts, bis er die Treppe erreichte, die ihn an Deck führen würde. Hastig stieg er die glatten, nassen Stufen hinauf und stieß schließlich die schwere Tür nach draußen auf.

Ein eiskalter Schwall aus Wind und Wasser schlug ihm entgegen, sodass er die Tür nur mit Mühe weit genug aufdrücken konnte, um überhaupt hinauszukommen. Sobald er losließ, knallte sie hinter ihm zu, und er lehnte sich schwer atmend dagegen. Das Bild, das sich ihm auf dem Deck bot, wirkte wie ein Gemälde der Hölle selbst: Riesige Wellen türmten sich wie die Rücken von Ungeheuern unter den tintenschwarzen Wolken auf, aus denen hin und wieder gleißend helle Blitze ihren Weg ins Meer fanden.

Einige Meter vor ihm liefen drei in gelbe Öljacken gehüllte Gestalten hastig umher, während die Wellen gegen die Schiffswände brachen und sich spritzend über das ohnehin schon klitschnasse Deck ergossen. Der vierte Erwachsene war vermutlich am Steuerrad, das sich hinter dem Jungen, oben auf dem Aufbau, befand.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen heraufzukommen. Und wo war denn nun sein Vater? Durch den strömenden Regen und die Dunkelheit, die nur gelegentlich vom Licht der Blitze erhellt wurde, sahen alle Erwachsenen auf dem Deck aus wie nasse, laufende Öljacken.

»Papa?«, rief der Junge, doch seine Stimme war viel zu leise, um über das Tosen von Wasser und Wind hinwegzukommen. »Papa!«

Er ließ den Blick seiner weit geöffneten Augen über das Deck schweifen, während er sich von der Tür abstieß und mit langsamen, wackeligen Schritten nach vorne trat. Durch die Regenschauer nahm er nur undeutlich wahr, dass die Erwachsenen weiterhin umhereilten und sich hin und wieder einzelne Sätze zuriefen. Das Kind bemerkten sie nicht.

»Papa?«, rief der Junge erneut und zuckte zusammen, als ein weiterer Blitz die Wolkendecke zerriss. Nur wenige Sekunden später rollte der zugehörige Donner über das Schiff hinweg.

»Was machst du denn da?«

Er hob den Kopf und sah sich um, als ihn endlich der Klang der vertrauten Stimme erreichte.

»Papa!«, rier der Junge freudig, als er sah, wie sein Vater sich von der kleinen Gruppe löste und mit schnellen Schritten auf ihn zukam. Dann ging er vor ihm in die Hocke und legte vorsichtig seine kräftigen Hände auf die dünnen Arme des Jungen.

»Wieso bist du denn nicht unten bei Henry?«, fragte er mit deutlicher Besorgnis in der Stimme. Sein dunkles braunes Haar war wirr und klebte in nassen Strähnen an Stirn und Schläfen.

Er sah müde aus, gestresst. Der Junge suchte nach dem entspannten Lächeln, das das Gesicht seines Vaters normalerweise erhellte, nach der Selbstsicherheit in seinen grünen Augen, doch er fand nichts davon.

»Papa …«, sagte der Junge. »Ich kann nicht schlafen.«

Sein Vater warf einen hastigen Blick über seine Schulter, wo die anderen beiden Erwachsenen immer noch eilig ihre Aufgaben erfüllten. »Hör mal, mein Schatz«, sagte er dann, nahm das Gesicht des Jungen zärtlich in seine rauen Hände und sah ihn mit einem sanften Lächeln an. Es wirkte gezwungen. »Geh wieder runter, ja? Wir haben alles im Griff, du musst dir keine Sorgen machen. Der Sturm zieht schon wieder weiter, es ist bald vorbei.«

Der Junge blickte zum Bug, wo eine der zwei Gestalten nun direkt zu ihnen herübersah.

Er glaubte, die langen, hellen Haare und das Gesicht zu erkennen, das schon so oft voller Fürsorge, Liebe und Zärtlichkeit auf ihn herabgeblickt hatte. Mama. In ihren Augen spiegelte sich nichts als Sorge und Angst.

Kippte das Schiff vielleicht doch um?

Der Junge sah wieder zu seinem Vater. »Bitte, geh wieder zu Henry. Mama und ich kommen euch holen, sobald das Meer wieder ruhiger ist. Versprochen.«

»Was ist, wenn wir umkippen?«, fragte der Junge.

Sein Vater schenkte ihm ein schmales Lächeln. »So schnell passiert das nicht. Mach dir keine Sorgen.«

»Aber …«

Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch das ganze Boot, stark genug, dass die Gestalt, die der Junge für Henrys Mutter hielt, das Gleichgewicht verlor und auf das harte Deck fiel. In den schrecklichen Sekunden nach dem Stoß schienen alle Rufe an Bord schlagartig zu verstummen, als würden sie von der wortlosen Frage nach dem Grund übertönt.

Der Junge blickte fragend zu seinem Vater, doch der starrte an ihm vorbei, die Augen so weit geöffnet, dass seine Iris als vollständiger Kreis zu sehen war. Das war nicht gut. Der Junge spürte, wie die Panik sich wie eine kalte Hand um sein Herz legte und langsam zudrückte.

»Verdammte Scheiße!«, hörte er hinter sich Henrys Vater fluchen. »Gott im Himmel!«

»Was ist passiert?«, rief Henrys Mutter. Sie klang, als würde sie weinen. Der Junge sah, wie sie sich auf dem rutschigen Deck wieder auf die Füße kämpfte, die Hände nun fest an die Reling gekrallt, während das Schiff unter weiteren, kleineren Stößen erbebte.

Das Deck begann langsam, sich zur Seite zu neigen.

»Die Felsen …! Wir … wir waren zu nah dran, wir sind aufgelaufen«, stieß Henrys Vater hervor, und obwohl seine Stimme kaum laut genug war, um das brüllende Unwetter zu überwinden, war die Botschaft seiner Worte klar und deutlich zu verstehen.

Der Junge krallte sich angsterfüllt an den Ärmel seines Vaters. »Papa …« Das Schiff unter ihren Füßen ächzte und knarzte, während es immer weiter nach rechts kippte, dem schwarzen Meer entgegen.

Sein Vater reagierte endlich. Er stand auf, nahm die kleine, dünne Hand seines Sohnes in seine eigene.

»Wir brauchen das Beiboot!«, rief er den anderen zu. »Ich hole Henry!«

Er packte die Hand des Jungen fester, und gemeinsam eilten sie auf die Tür zu, die unter Deck führte, als plötzlich ein letzter, heftiger Stoß durch das Schiff ging und es schlagartig nach links rollte.

Auf einmal war der Boden viel zu steil, viel zu glatt, um den Füßen noch Halt zu bieten. Eine der gelben Gestalten verlor unter einem hellen Aufschrei das Gleichgewicht, fiel der Länge nach hin und kullerte wie ein Stein das schräge Deck hinab, fiel haltlos über die Reling in das spritzende Wasser, ohne wieder aufzutauchen.

Sein Vater hob den Jungen in die Arme und preschte los, auf die rettende, erhöhte Seite des Decks zu. Er löste eine Hand vom Körper seines Sohnes, streckte sie nach vorn, um die Reling zu ergreifen, als er plötzlich auf dem klitschnassen Holz den Halt verlor und nach hinten wegrutschte.

Der Junge spürte einen schrecklichen Augenblick lang, wie sie durch die Luft flogen, dann den harten Aufprall auf dem Deck, der ihn aus den Armen seines Vaters riss. Er sah nicht, was mit seinem Vater passierte, oder was mit seiner Mutter oder den anderen war, nur eine wirre Mischung aus Schwarz und Stahlgrau, aus Blitzlicht und vereinzelten gelben Öljacken, als er auf das brodelnde Wasser zukullerte.

Kurz schien ihm, als würde ihn ein Paar großer schwarzer Augen aus der Gischt heraus anfunkeln. Bilder von Haien, Monstern und Seeungeheuern schossen durch seine panischen Gedanken, doch der Moment war viel zu schnell vorbei, sein Sturz viel zu rasch, um sagen zu können, was das für ein Wesen in den Wellen war.

Ob es ihm wehtun wollte.

Ob es böse war.

Schmerzhaft schlug der Körper des Jungen gegen das Deck, und er drehte sich um die eigene Achse. Als das viel zu schnell näher rückende Wasser erneut in sein Sichtfeld kam, waren die seltsamen schwarzen Augen verschwunden.

»Papa! Mama!«, rief der Junge. Doch da war niemand, der ihn beschützen konnte, und ihm wurde mit entsetzlicher Klarheit bewusst, dass er ganz allein war. Verzweifelt suchten seine Hände nach Halt und griffen ins Leere, während das Schiff kenterte.

Er würde fallen.

»Papa!«, schrie er ein letztes Mal aus Leibeskräften, doch seine Stimme, das Toben von Wind und Regen, das gequälte Ächzen des Schiffes, all das wurde von tauber Dunkelheit verschluckt, als der Junge ungebremst in das eiskalte Wasser stürzte.

1

Zehn Jahre später

Bonnie! Hey, wo steckst du denn? Bonnie!«

Glasklare Wellen glitten in einem gleichmäßigen, ruhigen Rhythmus den groben Sand des Strandes herauf, leckten über abgerundete Felsen und ausgeblichene Stücke Treibholz und zogen sich schließlich still ins Meer zurück. Es war warm, bestimmt über zwanzig Grad, und weit oben, am wolkenlosen Himmel, erklangen die heiseren Schreie der Möwen. Das Meer war ruhig, der Wind nicht mehr als eine leichte Brise.

Eigentlich ein perfekter Tag.

Wenn nur dieses verdammte Schaf noch da wäre, wo es hingehörte.

»Bonnie!«

Der Strand wurde zusehends schmaler, und bald blieb Kate nichts anderes übrig, als direkt durch das seichte Meerwasser zu laufen. Zum Glück hatte sie daran gedacht, ihre Gummistiefel anzuziehen – obwohl es bereits Sommer war, war das Wasser eisig. Eine der logischen Folgen, wenn man auf einer kleinen Insel am nördlichsten Ende Schottlands lebte.

»Komm schon«, murmelte Kate genervt. Natürlich brachte es nicht viel, ein entlaufenes Schaf beim Namen zu rufen und dann darauf zu warten, dass es fröhlich angetrottet kam, das wusste sie selbst. Aber die Suche dauerte nun schon fast eineinhalb Stunden, und ihrer Meinung nach wurde es langsam wirklich Zeit, dass Bonnie sich wieder blicken ließ.

Außerdem konnte es hier unten ziemlich ungemütlich werden, wenn die Flut zurückkam.

Die Wellen zu ihren Füßen brachten kleine braune Stücke Seegras mit sich, die wie muntere Fische umherschwammen und dann leblos an den Felsen und an ihren Stiefeln kleben blieben.

Nachdem sie ein paar Meter weiter getappt war, stieg sie auf einen flachen, glitschigen Felsen, der sich gerade so über das Wasser erhob, und sah sich kurz um.

Vor ihr lag nichts als das weite tiefblaue Meer, links und rechts von ihr erstreckte sich der schmale, teils mit von Algen bewachsenen Felsen bedeckte Strand. Hinter ihr ragte eine knapp drei Meter hohe Steilwand in den kitschig blauen Himmel hinein, und in der Ferne konnte Kate die grauen und grünen Konturen der anderen Inseln erkennen.

Was aber nirgends zu sehen war, war das Schaf.

Bei jedem anderen Tier der Herde wäre es vermutlich nicht aufgefallen, wenn es weggelaufen wäre, höchstens beim wöchentlichen Durchzählen. Bonnie war da leider ein wenig anders. Ihre Mutter hatte damals Zwillinge bekommen und sich dann dafür entschieden, dass sie nur ein Lämmchen haben wollte. Bonnie hatte sie verstoßen, weshalb Kate und ihr Bruder das kleine Schaf mit der Flasche aufgezogen hatten.

In Anbetracht der Tatsache, dass Bonnie es nun als Hobby betrachtete, alle paar Wochen auf eigene Faust die Insel zu erkunden, statt wie ein normales Tier bei ihrer Herde zu bleiben, war das wohl die falsche Art von Erziehung gewesen. Kate stieß ein frustriertes Schnauben aus. Wenn es so etwas wie böswillige Schafe gab, dann gehörte Bonnie eindeutig dazu.

»Hey, Kate!«

Sie drehte sich überrascht um, als vom oberen Rand der Steilwand die vertraute Stimme ihres älteren Bruders ertönte. »Hast du sie gefunden?«, fragte er.

Die Nachmittagssonne strahlte so hell vom Himmel herab, dass Kate eine Hand über die Augen halten musste, um überhaupt etwas sehen zu können. Aber auch so erkannte sie von Gabriel nicht sehr viel mehr als die lichtumkränzte Silhouette seines Kopfes.

»Nein«, sagte sie. »Noch keine Spur. Bei dir auch nicht, oder?«

»Nee, keine Ahnung. Das Vieh kann ja nicht über Nacht nach Norwegen geschwommen sein«, sagte er, den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt. »Vielleicht ist sie noch da, und unser alter Herr hat sie beim Zählen übersehen.«

»Der zählt eher drei zu viel als eins zu wenig«, erwiderte Kate düster. Da die Küche heute Morgen bereits ziemlich nach Whisky gerochen hatte, war dieser Gedanke leider gar nicht so abwegig.

Gabriel lachte. Obwohl Kate ihre Worte weit weniger lustig fand als er, war es ein schönes Geräusch. In den letzten Wochen hatte Gabriel oft abwesend, manchmal fast niedergeschlagen gewirkt, und Kate war jedes Mal froh, wenn sich seine Stimmung besserte.

»Auch wieder wahr«, sagte Gabriel nun und seufzte. »Dann such ich mal weiter. Viel Glück dir, sag Bescheid, wenn du sie findest, Katy.«

»Mach ich.«

Er wandte sich ab und verschwand hinter dem Rand der Steilwand. Kate wollte ebenfalls weitergehen, als aus ein paar Metern Entfernung ein leises Blöken ertönte.

»Gabriel!«, rief sie. »Warte mal!«

Sie warf einen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und sah dann erneut die Steilwand hinauf, wo nun wieder der Kopf ihres Bruders erschien.

»Was gibt’s?«, fragte er.

»Sie muss hier unten sein!«, sagte Kate. »Ich hab sie gerade gehört.«

Wie um ihre Worte zu bestätigen, erklang das Blöken des Schafes ein zweites Mal, nun so laut, dass auch Gabriel es hören konnte.

»Da unten?«, fragte er ungläubig, und obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass er eine Braue hochzog. »Verrücktes Schaf. Aber gut, wir kommen runter. Vielleicht hast du sie bis dahin.«

Als Gabriel erneut verschwand, senkte Kate den Blick und blinzelte ein paarmal, bis die bunten Flecken, die das helle Licht in ihr Sichtfeld gebrannt hatte, verschwunden waren und sie wieder klar sehen konnte.

Bonnie war weiter gelangt als jemals zuvor. Es war ein gutes Stück von den Weiden bis zur Küste, und Kate wollte nicht daran denken, was passiert wäre, wenn sie das Biest nicht vor der nächsten Flut gefunden hätten. Schafe waren nicht unbedingt die besten Langstreckenschwimmer.

Kate steckte sich ein paar lose Haarsträhnen hinters Ohr, warf ihren locker geflochtenen Zopf zurück über die Schulter und machte sich auf die Suche. Das Blöken war von links gekommen, wo ein paar große Felsen aus den niedrigen Wellen ragten. Wirklich weit weg konnte Bonnie ja nicht sein, also steckte sie höchstwahrscheinlich hinter einem der Steine und wartete darauf, dass man sie abholte.

Kate ging auf die Felsen zu und um sie herum, und tatsächlich entdeckte sie nur wenig später das schwarz-weiß gefleckte Schaf, das genüsslich an einem langen Strang Seetang knabberte und mit mäßigem Interesse aufsah, als Kate näher kam.

»Da bist du ja«, sagte Kate.

Bonnie starrte sie kauend an. Sie wirkte vollkommen entspannt, überhaupt nicht wie ein Schaf, das stundenlang von seiner Herde getrennt gewesen war. Kate trat einen Schritt zurück und spähte um die Felsen herum den Strand entlang, doch natürlich waren weder Crab noch Gabriel zu sehen. Hund und Herrchen hatten gelegentlich die nervige Angewohnheit, sich auf ihren Wegen alle Zeit der Welt zu lassen und lieber dreißig Minuten zu spät zu kommen als nur fünf zu früh.

»Also, Bonnie …«, sagte sie und zog ein schmales Stück Treibholz aus dem flachen Wasser, um dem Schaf damit sanft auf den wolligen Po zu klopfen. »Zurück nach Hause.«

Bonnie ließ nur widerwillig von dem Seetang ab, mit dem sie gerade eben noch beschäftigt gewesen war, gab aber letztendlich nach und hopste zunächst recht ungnädig durch das seichte Wasser, bevor sie dann vor Kate den Strand entlangtrottete.

Crab, Gabriels struppiger schwarzer Hund, kam ihnen erst entgegen, als sie schon die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatten. Unter freudigem Gebell rannte er mit seinen kurzen Beinchen auf sie zu und sprang sofort an Kates Jeans hoch, wo er sandige Pfotenabdrücke hinterließ. Anschließend waren Bonnies Beine dran. Das Schaf trabte mit ängstlich erhobenem Kopf an und verlangsamte seinen Schritt erst wieder, als von weiter vorne ein Pfiff ertönte und der kleine Hund folgsam von ihm abließ, um zu seinem Herrn zurückzukehren.

»Crab!«, rief Gabriel, als auch er endlich in Sichtweite kam. »Hör auf, die Schafe zu ärgern, die sind größer als du.«

»Ein ganz kleines bisschen«, bestätigte Kate mit einem ironischen Lächeln. Crab war vielleicht dreißig Zentimeter hoch und damit gerade einmal halb so groß wie die meisten ihrer Schafe. Aber was dem Hund an Körpergröße fehlte, das kompensierte er mit seinem überdimensionalen Ego. So hatte er sich auch den Respekt der Schafherde verschafft.

»Da ist das kleine Monster ja«, sagte Gabriel, als er bei seiner Schwester ankam und kehrtmachte, um neben ihr hergehen zu können. Crab führte die kleine Gruppe mit hoch erhobener Rute an.

»Und wir haben nicht mal zwei Stunden gebraucht, um sie zu finden«, sagte Kate und wischte beiläufig Crabs sandige Pfotenabdrücke von ihrer Hose.

Der Sand fiel unter den Flecken von Öl, Erde und Schafspucke, die sich dort im Laufe des Tages bereits angesammelt hatten, nicht weiter auf, aber es ging ihr ums Prinzip, nicht endgültig so auszusehen, als hätte sie in ihrem Leben noch keine Wäsche gewaschen.

»Sorry wegen der Flecken«, sagte Gabriel mit einem Blick auf ihre Jeans. »Nächstes Mal, wenn er das macht, zieh einfach kurz dein Knie hoch, dann lässt er’s vielleicht irgendwann.«

»Der arme Hund.«

»Manche Männer lernen’s halt nur so«, erklärte Gabriel grinsend und entblößte dabei die winzige Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, außer seinen stets rauen Händen der einzige Makel an ihm.

Es war klar, dass Gabriel derjenige war, der die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte. Nahezu alles an ihm schien vollkommen – seine sanften Gesichtszüge, seine Augen, die leuchteten wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag, seine kinnlangen goldblonden Locken, selbst seine große, schlanke Statur. Ein paar der Mädels in der Schule auf der Hauptinsel sabberten beinahe auf den Fußboden, wenn er mit ihnen sprach.

Leider war sich Gabriel dessen durchaus bewusst.

Kate hatte ihn weiß Gott wie oft dafür beneidet, dass er aussah wie ein vom Himmel gefallener Engel, während sie selbst neben ihm zu einem kleinen grauen Entchen verblasste. Gut, das mit dem Entchen war vielleicht übertrieben, aber dennoch schwankten ihre Haare zwischen Braun und Blond, ohne sich für eine der beiden Farben zu entscheiden, und auch ihre Augen waren eher grau und farblos, ohne eine Spur des kräftigen, strahlenden Blaus, das Gabriel von ihrer Mutter geerbt hatte. Zumindest ihre Figur war Kates Meinung nach in Ordnung.

Sie war nicht unzufrieden mit ihrem Äußeren, aber zu wissen, dass sie dieselben Eltern hatte wie Gabriel und trotzdem nichts von dieser schieren Perfektion abbekommen hatte, ärgerte sie dann doch gelegentlich.

»Eigentlich blöd, dass wir Bonnie so schnell gefunden haben, was?«, fragte ihr Bruder, nachdem sie ein paar Meter gegangen waren.

»Du meinst, du wärst lieber geschwommen, um sie dann heldenhaft aus den Fluten zu retten«, sagte Kate lächelnd.

Gabriel schüttelte rasch den Kopf. »Nein, nein. Ich meinte, dass wir jetzt keine Ausrede mehr haben, um nicht nach Hause zu gehen … Ich glaube, er hat heute nicht seinen besten Tag. Whisky um sieben Uhr morgens und so weiter.«

Kate nickte. Sie benötigte nicht mehr als diese paar Worte ihres Bruders, um zu wissen, von wem die Rede war. Und Gabriel hatte recht. Wenn ihr Vater bereits morgens anfing zu trinken, dann war das meistens ein schlechtes Zeichen.

Dabei war er, als Gabriel und Kate noch Kinder waren, so lieb gewesen, so normal. Dann, vor ein paar Jahren, hatte seine Frau ihn verlassen, war plötzlich spurlos verschwunden. Nie hatte er es überwunden, dass sie nie anrief, weder Briefe noch Mails schrieb und erst recht nicht zu Besuch kam.

Sie war weg.

Kate hatte ihre Mutter über alles geliebt, aber sie liebte auch ihren Vater. Und zu sehen, was in den letzten Jahren aus ihm geworden war – nicht viel mehr als ein betrunkener Schatten seiner selbst –, machte sie manchmal wütend auf die Frau, die dafür verantwortlich war.

»Er wollte doch noch mit dir den Stall reparieren, oder?«, fragte Kate und warf ihrem Bruder einen kurzen Blick zu. Mittlerweile hatten sie den breiten Teil des Strands erreicht und damit auch den steilen, von rauem Gras bewachsenen Hang, der hinauf zu den Weiden führte.

»Ja, schon, den hat’s beim letzten Sturm ziemlich zerlegt, und irgendwann muss es halt gemacht werden«, sagte Gabriel und stieg vor ihr den Hang hinauf. »Wir schieben das jetzt schon seit Wochen auf.«

Bonnie kletterte mit angestrengt wippendem Kopf neben ihnen her, dicht gefolgt von Crab, der ihr jedes Mal in die Fesseln zwickte, wenn sie ein klein wenig an Tempo verlor.

»Ich helfe euch«, bot Kate an, doch ihr Bruder winkte ab.

»Lass mal«, sagte er. »Kümmer du dich lieber darum, dass dieser gottverdammte Pick-up wieder anspringt. Der Alte wird wahnsinnig, wenn die Kiste heute Abend immer noch nicht läuft.«

»Ich helfe trotzdem«, protestierte Kate, die wenig Lust hatte, sich erneut mit dem alten Auto zu beschäftigen. Es war ihr Hobby, an Motoren und Maschinen herumzubasteln, aber der Pick-up ihres Vaters hatte die lästige Angewohnheit, auch dann zu streiken, wenn eigentlich gar nichts kaputt war. »Wahnsinnig wird er so oder so.«

»Das wiederum liegt daran, dass er wahnsinnig ist.«

»Gabriel!«

»Na schön.« Ihr Bruder erreichte die Kante des Hangs, drehte sich um und ergriff ihre Hand, um sie zu sich hinaufzuziehen. »Du kannst helfen.«

»Außerdem hab ich mir den Pick-up schon vorhin angeschaut, und da war alles okay«, sagte Kate. »Ich hab also sehr wohl Zeit.«

»Wie du meinst. Wenn Katy um jeden Preis Ärger will, dann kann Katy natürlich Ärger haben«, sagte Gabriel, aber mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen. Vermutlich war Kate das einzige Mädchen auf der Welt, das er nicht so behandelte, wie es ihm gerade am besten passte.

Sie sahen Bonnie dabei zu, wie auch sie das letzte Stück des Hanges erklomm, ihre Herde in einiger Entfernung auf der Wiese erblickte und eilig zurück zu ihren Artgenossen trabte. Die anderen Schafe begrüßten sie mit lautem Blöken, stoben aber auseinander wie eine Staubwolke, als Crab kläffend in ihre Mitte drang.

Kate warf ihrem Bruder einen Blick zu. Seine Augen wirkten von Weitem normal, doch bei genauerem Hinsehen erkannte sie auch jetzt den bedrückten, leeren Ausdruck in ihnen, der in den letzten Wochen immer öfter zu sehen gewesen war. Das strahlende Blau schien zu verblassen, abzustumpfen wie alte Buntglasfenster in einer verlassenen Kirche. Früher hätte Kate es nicht für möglich gehalten, dass ihr fröhlicher, stolzer Bruder so abwesend sein konnte, doch nun war es schon mehrmals vorgekommen, dass er minutenlang vor sich hin starrte, ohne wirklich etwas zu sehen. Als würde er über etwas nachdenken, das nur ihn alleine etwas anging. Gelegentlich verschwand er sogar ein oder zwei Tage lang.

An und für sich wäre dieser Umstand nichts Ungewöhnliches gewesen, da Gabriel Freunde treffen und mit ihnen um die Häuser ziehen als Hobby betrachtete, aber Kate kannte die meisten seiner Kumpel und wusste, dass er in letzter Zeit eher Abstand zu ihnen hielt.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, irgendetwas ging in ihm vor, doch sie hatte keine Ahnung, was es war. Sie hatte ihn natürlich schon gefragt, ob alles in Ordnung sei, ob es etwas gäbe, das ihn bedrückte, aber er hatte immer verneint und so getan, als wäre alles wie immer.

Normalerweise hatten sie keine Geheimnisse voreinander, besonders seit ihre Mutter gegangen war. Nun jedoch schien erstmals ein Problem in Gabriels Leben getreten zu sein, das er nicht einmal seiner eigenen Schwester anvertrauen wollte.

»Ist was?«, fragte Gabriel, als er ihren Blick bemerkte. Der unheimliche Ausdruck in seinen Augen verschwand so schnell, wie er gekommen war, und wich einem schrägen Lächeln.

»Nein«, sagte Kate vielleicht etwas zu rasch und deutete auf Crab, der nach wie vor seinen Spaß daran hatte, die Schafe an einem neuen Formieren der Herde zu hindern. »Willst du ihn nicht rufen?«

»Und damit die tyrannische Herrschaft über seine Untertanen beenden?«, fragte Gabriel grinsend.

»Zum Beispiel«, bestätigte sie und konnte es trotz ihrer Sorgen nicht verhindern, dass sich auch auf ihre Lippen ein Lächeln schlich.

»Ach, komm schon. Die Schafe sind eben die Einzigen, die überhaupt vor ihm weglaufen. Sogar die Möwen würden eher ihn fressen als andersrum.«

»Nur weil er andere drangsalieren kann, heißt das nicht, dass er das auch soll«, sagte sie nachdrücklich.

Gabriel lachte hell auf. »Ja. Theoretisch. Aber erklär das bitte mal ihm und nicht mir.«

Nach einem letzten Blick auf die Tiere wandten sie sich ab und gingen auf das Moped zu, das sie in einigen Metern Entfernung am Wegesrand stehen gelassen hatten.

Shapinsay, die Insel, auf der sie lebten, war nicht sonderlich groß. Hauptsächlich von Feldern, Weiden und Moor bedeckt und hatte etwa dreimal so viele Schafe und Rinder wie menschliche Einwohner, von Möwen und Robben ganz zu schweigen. Mit ihren knapp zwanzig Quadratmeilen Landfläche gehörte sie aber bereits zu den mittelgroßen Inseln Orkneys.

»Crab zu erziehen ist unmöglich, und das weißt du auch«, sagte Kate, während sie durch das tiefgrüne Gras der Weide gingen.

Gabriel hob gelassen die Schultern. »Natürlich weiß ich das. Aber du kannst es ja mal probieren. Ich hab gehört, manche Männer sind recht leicht zu beeinflussen, wenn eine Frau mit ihnen spricht.«

Kate schnaubte. »Das funktioniert bei dem vielleicht mit einer Hündin, nicht mit mir.«

Sie hatten den Feldweg mit dem Moped gerade erreicht, als die aufgeregten Rufe eines Jungen zu ihnen drangen.

»Katherine! Gabriel!«

Kate warf ihrem Bruder einen irritierten Blick zu, den er jedoch nur mit einem kurzen, ebenso ratlosen Schulterzucken beantwortete.

»Kate!«, rief die Stimme nun, und wenig später kam die schlaksige Gestalt des Jungen hinter einem nahen Hügel hervor. Er überblickte hastig die Weiden, bis er Kate und Gabriel entdeckte und erleichtert auf sie zulief. »Gabriel! Da seid ihr ja!« Er kam ein paar Meter vor ihnen zum Stehen und sah mit vor Anstrengung geröteten Wangen zu ihnen auf.

»Terry«, stellte Gabriel fest. »Was ist los?«

»Ich hab euch gesucht«, sagte Terry zwischen zwei heftigen Atemzügen.

Der Hafenort, wo der Junge mit seinen Eltern wohnte, war knapp zwei Kilometer von der Weide entfernt. Wenn Terry den ganzen Weg über gerannt war, war es kein Wunder, dass er aus der Puste war.

»Aber warum? Ist etwas passiert?«, fragte Kate besorgt. Sie betete innerlich, dass es nichts mit ihrem Vater zu tun hatte.

»Äh, nicht richtig«, sagte Terry. »Also, schon. Da sind drei Männer an Land gekommen, die dich sehen wollen, Gabriel. Die meinten, du sollst zum Hafen kommen.« In seiner Stimme lag eine Dringlichkeit, die Kate noch nie bei dem sonst immer so fröhlichen Jungen erlebt hatte.

Gabriels Gesicht war auf einen Schlag käseweiß geworden. »Drei Männer?«, wiederholte er nahezu tonlos.

»Ja. Die sind mit einem ziemlich großen Schiff gekommen«, sagte Terry und drehte sich hektisch um, als wäre das Ding mit gebleckten Zähnen hinter ihm her. »Ich war gerade in der Nähe vom Hafen, und da haben die mich gesehen und gesagt, dass ich dich suchen soll. Ich wusste ja, dass ihr bei den Schafen seid, deswegen bin ich gleich hergekommen.«

»Und die Herren kommen nicht auf die Idee, erst mal bei uns zu Hause nachzufragen?«, fragte Kate, der die Vorstellung, dass diese Kerle unbeteiligte Jungs über die halbe Insel hetzten, nicht gefiel.

Terry schüttelte schnell den Kopf. »Ich glaub nicht, dass die wissen, wo ihr wohnt. Die sahen nicht aus, als ob sie sich hier gut auskennen würden, und ich hab die auch noch nie hier gesehen.«

»Die sind mit einem großen Schiff da, sagst du?«, fragte Gabriel nach, was der Junge mit einem eifrigen Nicken bestätigte. »Und die wollten explizit mich sehen? Nicht unseren Vater oder so?«

»Nee. Die haben gefragt, ob ich wüsste, ›wo Gabriel Corrigal sich zurzeit aufhält‹«, zitierte Terry in einem übertrieben gehobenen Tonfall. »Ich hab dann gesagt, dass du bei den Weiden bist, woraufhin die meinten, ich sollte dich so schnell wie möglich zu ihnen bringen.«

»Scheinen ja sehr nett zu sein«, bemerkte Kate abfällig.

»Total«, sagte Terry mit einem angedeuteten Augenrollen. »Aber kennst du die überhaupt, Gabriel? Da war so ein älterer Kerl, ziemlich groß, und er sah ziemlich wichtig aus; und dann noch so zwei Typen. Einer mit ’nem Bart, wie ein Pirat oder so was. Und der andere … Ich weiß nicht, der sah ein bisschen so aus, als ob er in einem Börsen-Film den Bösewicht spielen würde.« Während er die Männer beschrieb, gestikulierte Terry wirr herum, deutete erst mit der flachen Hand in die Luft weit über sich, wohl um die Größe des älteren Mannes zu unterstreichen, und fuhr sich dann am Kinn entlang, um den besagten Bart anzudeuten. »Ziemlich groß und … glatt, weißt du? Könnte auch Versicherungen verkaufen«, fügte er hinzu.

Gabriels Gesicht hatte inzwischen die Farbe der Innenseite einer Muschel angenommen.

»Haben sie gesagt, was sie wollen?«, fragte Kate, doch ihr Bruder schüttelte knapp den Kopf, als Terry zu einer Antwort ausholen wollte.

»Lass es, Kate. Ich weiß, wer das ist«, sagte Gabriel ernst, doch sie hörte, dass seine Stimme bebte. »Ich … ich fahr kurz hin und seh nach, was sie wollen, dann hol ich dich hier … oder nein, geh du mit Terry ins Dorf zurück oder nach Hause … Ich komm dann später nach.«

Kate legte rasch eine Hand auf seinen Arm, als er ein Bein über das Moped schwang und den Schlüssel aus der Tasche seiner Jeans kramte. »Ich begleite dich.«

Er schob ihre Hand sanft von sich. »Ich regel das schon. Mach dir keine Sorgen.«

»Gabe, ich will dir nur helfen …«

»Das geht nicht. Ich muss alleine da hin. Wirklich, es …« Er schüttelte den Kopf, als er den Schlüssel in das Zündschloss steckte. »Es geht nicht anders. Sorry.«

Gabriel trat den Ständer des Mopeds nach hinten weg und drehte es mithilfe seiner Füße in die richtige Richtung. Dann startete er den Motor, warf Kate und Terry noch einen kurzen Blick zu und fuhr ohne ein weiteres Wort los, die beiden in einer Wolke aufgewirbelten Staubs hinter sich zurücklassend.

Crab, den die Schafe letztendlich wohl doch gelangweilt hatten, bemerkte zu spät, dass sein Herrchen soeben ohne ihn abgehauen war. Er rannte zunächst bellend hinter dem Moped her, gab es aber nach einigen Metern wieder auf und kehrte mit hängenden Ohren zu Terry und Kate zurück.

»Es geht nicht anders?«, wiederholte sie ungläubig Gabriels Worte, als ihr Bruder hinter dem kleinen Hügel verschwand, hinter dem Terry zuvor aufgetaucht war. »Was war denn das gerade?«

Irgendetwas stimmte hier doch vorne und hinten nicht. Hatte die Ankunft dieser Männer vielleicht mit der seltsamen Stimmung zu tun, die Gabriel in letzter Zeit immer wieder an den Tag legte? So wie er eben reagiert hatte, schien ihr das nicht unwahrscheinlich. Langsam hatte Kate ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

Terry, der seinen Atem allmählich wieder im Griff hatte, schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wir folgen ihm trotzdem, oder?«, fragte er mit einem kleinen Funkeln in den Augen und sprach damit genau das aus, was Kate sich ohnehin schon gedacht hatte.

»Natürlich folgen wir ihm«, sagte sie.

Sie wusste, dass sie, Crab und Terry keine Chance hatten, das Moped zu Fuß einzuholen, aber das hier war eine Insel, und Gabriel konnte sich ja nicht einfach in Luft auflösen. Vielleicht war die Hälfte der Sache schon gelaufen, wenn sie am Hafen ankamen, aber selbst das war besser, als hier herumzustehen. Kate wollte wissen, was das für Kerle waren, die einfach so auf die Insel spazierten und nach ihrem Bruder verlangten.

»Also los«, sagte Terry, und unter Crabs heiserem Kläffen setzten sie sich in Bewegung.

Sie liefen so rasch sie konnten, ohne nach wenigen Metern aus der Puste zu geraten, aber auch so waren sie nicht einmal halb so schnell unterwegs wie Gabriel.

Im Winter wäre es möglich gewesen, einige Abkürzungen zu nehmen, doch jetzt, wo die meisten Weiden für das Vieh umzäunt waren und auf den Feldern hüfthoch Getreide wuchs, waren sie gezwungen, dem Weg mit seinen zahlreichen Biegungen zu folgen, was sie zusätzlich Zeit und Kraft kostete.

Als das Dorf näher rückte, war von Gabriels Moped natürlich weit und breit nichts mehr zu sehen. Ein paar Minuten später erreichten sie endlich die geteerte Straße, die sie an den Wohnhäusern des Ortes vorbei zum Hafen führen würde. Erst hier fielen sie in ein schnelles Gehen.

»Da ist das Schiff«, sagte Terry, sobald sie das Hafenbecken sehen konnten, und deutete auf einen mittelgroßen Fischkutter, auf dessen dunklen Bug in edel geschwungenen Buchstaben der Name Sealgair gepinselt worden war.

Kate nahm an, dass es ein gälisches Wort war, wusste aber nicht, was es bedeutete. Auf Orkney konnte ohnehin so gut wie niemand Gälisch.

Ganz so groß, wie Kate es sich nach Terrys Beschreibungen vorgestellt hatte, war das Ding nicht – es war insgesamt vielleicht elf oder zwölf Meter lang, mit einem kleinen Aufbau am hinteren Ende und einem von einer Plane verhüllten Beiboot auf dem Deck. Der Kutter schien jedenfalls kein Schiff zu sein, mit dem man mehrere Tage lang unterwegs sein konnte, also mussten die Männer aus der Gegend stammen. Vielleicht kamen sie von Shetland oder von der schottischen Küste.

Terry und sie gingen rasch weiter, bogen um eine Häuserecke – und konnten schließlich den ganzen Hafen überblicken. Eine der Fähren, die mehrmals täglich hier vorbeikamen, legte gerade ab, vermutlich in Richtung der Hauptinsel. Ein paar der Inselbewohner, allesamt Menschen, die Kate schon ihr Leben lang kannte, lungerten am Rande des Hafengeländes herum oder saßen auf der kleinen Terrasse des Inselpubs, von wo aus sie gelegentlich neugierige Blicke zu Gabriel und den drei fremden Männern warfen, die sich dicht am Wasser konzentriert miteinander unterhielten.

Gabriel hielt etwas Abstand zum Rest der Gruppe, als wollte er eigentlich nicht mit den drei Fremden sprechen. Der Wind drückte sein dünnes graues Shirt an seinen geraden Rücken und verriet so die Anspannung seiner Schultern.

Das ungute Gefühl, das Kate schon bei Gabriels fluchtartigem Aufbruch gehabt hatte, verstärkte sich zusehends.

Sie schritt mit Terry und Crab auf die kleine Gruppe zu, ohne anzuhalten oder zu zögern. Erst als sie nur noch einen Meter entfernt waren, unterbrachen die Männer ihre Unterhaltung, um den Neuankömmlingen entgegen zu sehen.

Auch Gabriel drehte sich jetzt um, die blauen Augen viel weiter geöffnet als sonst. »Äh, Kate …«, stellte er verwirrt fest und warf ihr, sobald er sein Gesicht wieder unter Kontrolle hatte, einen Blick zu, der ihr mehr als deutlich mitteilte, dass sie nicht hätte herkommen sollen.

»Ihr kennt euch?«, fragte der jüngste der drei Männer und hob die dünnen Brauen an. Das war wohl derjenige, der den Bösewicht in einem Börsenthriller spielen könnte, auch wenn Terrys Urteil aus Kates Sicht nicht wirklich zutraf. Sie wusste nicht genau, was ihn ausgerechnet an die Börse hatte denken lassen, denn der junge Mann schien nicht viel älter zu sein als Gabriel, höchstens Anfang zwanzig.

Vielleicht war es das kurze, sorgfältig gescheitelte schwarze Haar, das Terrys Eindruck beeinflusst hatte, vielleicht aber auch die kristallblauen Augen, deren stechender Blick Kate und Terry geradewegs zu durchbohren schien.

Noch nie hatte Kate jemanden mit so hellen Augen gesehen – als das Sonnenlicht auf seine Iris traf, war sie blass wie Eis. Er sah eigentlich gut aus. Er hatte ein gerades, fein geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen, war groß und schlank, aber es schien eine Art starre Kälte von ihm auszugehen, die Kate auf Abstand hielt.

Als sie ihren Blick auch über die beiden anderen Männer schweifen ließ, fiel ihr auf, dass alle drei recht muskulös wirkten. Zudem trugen sie alle die gleiche Kleidung: dünne schwarze Pullover mit einer marineblauen Uniformjacke darüber, dazu Jeans und feste schwarze Stiefel. Auf die linke Brusttasche war eine Art Wappen gestickt. Kate erkannte ein Schwert und einen Vogel – eine Möwe? –, wollte aber nicht unhöflich starren. Wer lief denn so durch die Gegend? Ein selbst ernannter Ordnungshüter vielleicht?

Terrys Pirat, ein Mann mit Fünftagebart, den Kate auf Anfang, Mitte dreißig schätzte, ließ den Blick seiner bernsteinfarbenen Augen langsam über ihren Körper wandern, zunächst ohne ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Sie kämpfte gegen den Drang an, vor den Männern zurückzuweichen – sie würde sich nicht einschüchtern lassen.

»Deine Freundin etwa?«, fragte der Pirat mit einer tiefen, rauen Stimme und einem schiefen Grinsen, das eine Reihe strahlend weißer Zähne entblößte. Erst jetzt fiel Kate auf, dass seine Kleidung sich ein wenig von der der beiden anderen abhob – um den Hals trug er ein schwarzes Tuch, das mit goldenen, rankenähnlichen Mustern verziert war, und an seinem rechten Ohr blitzten ein paar schimmernde Ringe unter dem wirren braunen Haar hervor.

»Meine Schwester. Und ein Freund von uns«, korrigierte Gabriel den Mann.

Kate konnte deutlich hören und sehen, wie angespannt ihr Bruder war. Sie hoffte, dass nur sie das wahrnahm, weil sie sich so nahestanden, und dass die Männer es nicht bemerkten.

»Wer? Der Hund oder der Junge?«, fragte der Kerl mit Tuch, und Gabriel geriet einen Moment ins Stocken.

»Jack«, zischte der Jüngste, und Jack hob entschuldigend die Hände, ohne dass das amüsierte Lächeln von seinen Lippen verschwand.

»Bitte vielmals um Vergebung«, sagte er, klang dabei aber keine Sekunde lang so, als würde er es ernst meinen.

Nun erhob der Älteste der drei Männer mit einem strengen Räuspern die Stimme. Die beiden anderen verstummten augenblicklich wie gut abgerichtete Hunde.

»Miss Corrigal, nehme ich an?«, fragte der Mann und sah Kate dabei direkt ins Gesicht. Sein Blick war unheimlich – die Iris war fast genauso hell wie die des Jüngsten, nur noch gemischt mit einem milchig-weißen Ton, der seinen Augen zwar ein wenig von der unbewegten Kälte nahm, ihn aber keineswegs weniger bedrohlich aussehen ließ. Sein kurzes, ordentliches Haar war schneeweiß, obwohl er Kates Einschätzung nach nicht sehr viel älter als fünfzig sein konnte. Aber vielleicht täuschte sie sich da auch.

Kate nickte und warf den anderen beiden Männern einen knappen, fast schon Hilfe suchenden Blick zu. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass sie für sie einsprangen, damit es nicht allein an ihr lag, dem Mann eine Antwort zu geben. Doch keiner der beiden sagte etwas.

»Miss Corrigal, wenn Sie Gabriels Schwester sind, nehme ich stark an, dass Sie beide dieselbe Erziehung genossen haben«, sagte der Mann nun. »Insofern gehe ich davon aus, dass Sie wissen, wie unhöflich es ist, sich unaufgefordert in eine Unterhaltung einzumischen, richtig?«

Kate war geradezu erschlagen von der Art und Weise, wie der Mann sprach. Heutzutage, wo man bei den meisten Leuten schon froh sein konnte, wenn sie grammatikalisch korrekte Sätze zustande brachten, gab es also tatsächlich noch Menschen, die redeten, als verkörperten sie die Hauptrolle in einem Historienfilm.

»Äh … Ja, natürlich weiß ich das …«, brachte sie hervor. Aus dem Augenwinkel konnte sie Jack grinsen sehen. Na ganz toll. Was für einen perfekten ersten Eindruck sie doch machen konnte – sie hätte sich selbst am liebsten getreten.

»Es ist genauso unhöflich, einfach auf unserer Insel aufzutauchen und nach Gabriel zu verlangen, ohne zu sagen, was man überhaupt will«, warf Terry ein, und seine hohe Jungenstimme klang dabei erstaunlich selbstsicher.

»Ich denke, Gabriel weiß sehr wohl, was wir von ihm wollen. Ganz so überraschend war unser Besuch nämlich nicht«, sagte der Anführer.

Kate schaute zu ihrem Bruder. Hatte sich Gabriel deshalb in letzter Zeit so eigenartig verhalten? Aber warum hatte er ihr nie etwas von diesen Männern gesagt?

Gabriel schüttelte kaum merklich den Kopf, doch sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, ob es ein »Glaub ihm nicht« oder ein »Tut mir leid, es ging nicht anders« war, das er ihr damit mitzuteilen versuchte.

»Und, was wollen Sie von meinem Bruder?«, fragte Kate den Anführer und blickte so herausfordernd, wie sie konnte, zu ihm auf. Sie schätzte ihn auf ein gutes Stück über eins achtzig, und so überragte er sie um einiges. »Warum sind Sie hier?«

»Ich denke, das geht die junge Lady nichts an«, antwortete Jack an seiner Stelle.

»Wenn es meinen Bruder etwas betrifft, darf ich es ja wohl auch wissen«, entgegnete Kate stur.

»Ist das hier Feminismus oder so was wie Geschwisterliebe?«, fragte Jack.

»Das ist nun wirklich völlig unerheblich, Dullahan«, knurrte der Anführer, bevor er sich wieder Kate zuwandte. »Abgesehen davon, stimmt es, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die Sie im Moment nicht zu interessieren haben. Und glauben Sie mir, es wäre mehr als ungut für Sie, Ihre Nase zu tief in fremde Angelegenheiten zu stecken.«

Kate zögerte eine Sekunde. War das gerade eine Drohung gewesen? Hier am Hafen? In ihrem Dorf? Ausgesprochen von einem alten Mann in Uniform, den sie zuvor noch nie gesehen hatte? Sie spürte, wie sich etwas in ihr verkrampfte. Es war alles so seltsam, so surreal. Seit wann kamen denn bitte unfreundliche Kerle in peinlichen Uniformen auf einem Fischkutter zu einer Insel mit nicht einmal dreihundert Einwohnern gefahren, außer vielleicht in schlechten Filmen?

Sie wollte gerade zu einer passenden Erwiderung ansetzen, als der Mann weitersprach. »Alaric«, sagte er knapp, und der Blick des Jüngsten huschte zu ihm. Im direkten Vergleich bemerkte Kate, dass nicht nur die Augen, sondern auch die Gesichter der beiden Ähnlichkeiten aufwiesen. Wenn sie nicht alles täuschte, dann waren die beiden verwandt, und das nicht gerade entfernt. Vielleicht waren sie sogar Vater und Sohn?

»Sir?«, fragte Alaric und machte damit Kates Vermutung augenblicklich zunichte. Niemand sprach seinen eigenen Vater mit »Sir« an.

»Geh in den Pub, und sieh nach, ob es dort eine Möglichkeit gibt, sich ungestört zu unterhalten. Ich kenne den Besitzer, er sollte wissen, wer du bist«, befahl der Anführer, woraufhin Alaric ein Nicken andeutete und ging.

Alaric. Der Name passte zu den edlen Zügen des jungen Mannes.

»Sie müssen doch einen Grund haben, warum Sie hier sind!«, versuchte Terry es erneut, als Alaric hinter der schweren Holztür des Pubs verschwunden war.

»Selbstverständlich haben wir den«, sagte der Anführer, der mittlerweile den Eindruck machte, er sei von der Unterhaltung gelangweilt. »Das ändert jedoch nichts daran, dass wir sorgfältig aussuchen, mit wem wir unsere Informationen teilen und mit wem nicht.«

»Aber …«, begann Terry, doch diesmal war es Gabriel, der ihn unterbrach.

»Lass es, Terry«, sagte er, und der Junge bedachte ihn mit einem empörten Blick, in dem mit fetten Großbuchstaben das Wort »Verräter« zu stehen schien. Kate konnte inzwischen nicht mehr anders, als darüber nachzudenken, was diese Kerle ihrem Bruder angedroht haben mochten, damit er eine solche Sache wochenlang vor ihr verschwieg. Sie konnten über alles miteinander reden, das wusste er doch! Sie würde Gabriel noch einmal fragen, wenn sie heute Abend zu Hause waren. Sie hatte bereits gemerkt, dass sie hier und jetzt nicht weiterkommen würde.

So barsch, wie die Männer sie behandelt hatten, wollte sie aber trotzdem nicht ganz kampflos aufgeben.

»Können Sie uns nicht wenigstens sagen, was Sie überhaupt sind?«, fragte sie.

»Wir sind Menschen«, erwiderte Jack mit der Andeutung eines Lächelns.

Kate war sich nicht sicher, ob er sie verarschen wollte, oder ob er das für eine nennenswerte Information hielt. Wahrscheinlich Ersteres.

»Ich meinte die Uniform«, erklärte sie nachdrücklich.

»Dann solltest du fragen, warum wir eine Uniform tragen, nicht, was wir sind«, sagte Jack, als würde er mit einem kleinen Mädchen reden.

Das ärgerte Kate. Sie war siebzehn und wurde in nicht einmal zwei Monaten volljährig – sie war kein Kind mehr.

»Also gut, warum tragt ihr diese komischen Uniformen?«, fragte Terry herausfordernd.

Der Älteste starrte schweigend auf die geschlossene Tür des Pubs, als warte er bereits sehnsüchtig auf Alarics Rückkehr.

»Wir finden das schick. Wichtige Leute tragen eben Uniformen oder Anzüge, aber Anzüge sind so schnell im Arsch«, erklärte Jack. »Deswegen Uniformen.«

Nun war klar, dass er sie nur hinhalten wollte, bis sie einen ruhigen Ort für ihr ominöses Gespräch gefunden hatten. Am liebsten hätte Kate ihren Bruder an der Hand gepackt und wäre mit ihm gegangen. Sollten sich diese unsympathischen Typen doch jemand anderen suchen, nicht Gabe.

Aber bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, schwang die Tür des Pubs auf, und Alaric kam heraus.

»Drinnen ist fast nichts los. Es gibt eine Nische, in der man sich unterhalten kann, ohne dass jemand anderes es hört«, berichtete Alaric im Näherkommen und blieb schließlich neben Kate stehen, ohne sie anzusehen. »Außerdem hat der Besitzer gesagt, es würde ihn freuen, Sie zu sehen, Sir.«

Das war nun schon das zweite »Sir« gewesen. Kate war nach wie vor davon überzeugt, dass die beiden Männer miteinander verwandt waren, und so kam ihr die förmliche Anrede ein wenig seltsam vor.

Den Anführer hingegen schien das nicht weiter zu stören. Er nickte. »Sehr schön. Dann werden wir diese Unterredung dort zu Ende führen. Kommt ihr?«

Er warf Gabriel einen fordernden Blick zu und setzte sich dicht gefolgt von Alaric und Jack in Bewegung. Gabriel zögerte kurz und ging dann mit etwas Abstand hinter ihnen her, offenbar unsicher, ob er noch etwas zu Kate und Terry sagen sollte oder nicht.

Terry nahm ihm die Entscheidung ab. »Sollen wir mit reinkommen, Gabe?«, fragte er leise, aber die anderen drei hörten seine Worte trotzdem.

»Selbstverständlich nicht«, raunzte Jack über die Schulter nach hinten, als sie schon fast auf der kleinen Terrasse waren.

Kate, Terry und Crab ignorierten ihn und blieben dicht bei Gabriel, als er den Pub ansteuerte.

»Kate, es ist besser, wenn ihr heimgeht. Wirklich. Nimm das Moped, ich kann auch nach Hause laufen«, sagte ihr Bruder etwas zerstreut, als der Anführer mit Alaric in den Pub trat, während Jack noch draußen wartete, um ihm die Tür aufzuhalten.

»Für die Lady«, sagte er zu Gabriel.

»Also, ich komm dann später, Kate, ja?«, meinte der und bedachte seine Schwester mit einem dieser »Hör bitte einmal auf das, was ich sage und kletter nicht da hoch«-Blicke, über die große Brüder von Geburt an zu verfügen schienen.

»Aber Gabe …«, protestierte sie schwach.

»Das ist nichts Schlimmes«, sagte er, wohl um sie zu beruhigen, doch sie glaubte ihm kein Wort. »In spätestens zwei Stunden bin ich zu Hause.«

Mit diesen Worten verschwand er im schummrigen Inneren des Pubs.

Terry machte natürlich prompt Anstalten, ihm zu folgen, aber Jack war ebenfalls in den Raum geschlüpft und hatte die Tür nun so weit geschlossen, dass Terry und Kate durch den Spalt nicht viel mehr als eine Hälfte seines Gesichts sehen konnten. Da waren einige kleine Narben an seiner Schläfe und Wange, die Kate zuvor nicht aufgefallen waren.

Crab versuchte, sich an Jacks Füßen vorbeizudrängen, um seinem Herrchen zu folgen, aber Jack schubste den kleinen Hund ohne viel Federlesens unsanft nach draußen.

»Also, Mädel«, sagte er mit einem kleinen Zwinkern zu Kate. »War nett, dich kennenzulernen. Wir reißen deinem Bruder schon nicht sein hübsches blondes Köpfchen ab. Vielleicht tust du einfach, was er sagt, und gehst nach Hause. Und nimm deine beiden Streuner da mit.«

Terry schnappte empört nach Luft, und Kate hielt ihm rasch eine Hand vor die Brust, um ihn davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu sagen.

Jacks Blick blieb noch ein paar Sekunden an ihr hängen. Ein merkwürdiges Funkeln huschte durch seine Augen. »Und … wer weiß, Katherine«, sagte er, »vielleicht kreuzen sich unsere Wege in diesem Leben ja noch einmal.«

Ehe Kate etwas erwidern konnte, schloss Jack geräuschvoll die Tür.

»Woher kennt der deinen Namen?«, fragte Terry, und seine Worte hallten laut über den stillen Hafen.

Die Leute vor dem Pub und auf dem Hafenplatz waren schon länger verstummt, nur ein Tisch voll englischer Touristen hatte bis zuletzt munter weitergeplaudert und Fotos von sich und der Umgebung geschossen. Doch auch ihnen war der seltsame Auftritt nicht entgangen.

Kate schüttelte mit einem leichten Anflug von Ungeduld den Kopf. »Gabriel hat mich vorhin ›Kate‹ genannt, da gibt’s nicht viel mehr Möglichkeiten als das«, sagte sie zu Terry.

In Gedanken war sie aber damit beschäftigt, was wohl passieren würde, wenn sie den Männern in den Pub folgte. Vermutlich würde es ihr nichts bringen – sie würden sie wohl einfach wieder rausschmeißen oder in der hintersten Ecke sitzen lassen, wie die lästige kleine Schwester, die sie nie hatte sein wollen.

Crab winselte leise und sprang mit seinen kleinen Pfoten an der Tür hoch. Er war es nicht gewohnt, dass Gabriel ihn sitzen ließ; eine Sache, die der Hund mit Kate gemeinsam hatte.

Die Leute auf der Terrasse wandten sich langsam wieder ihrem Bier oder Kaffee zu, ohne dass einer von ihnen Fragen stellte. Das allein war schon komisch auf einer Insel, auf der jeder immer sofort über alles ganz genau Bescheid wissen wollte. Was war hier nur los?

»Und jetzt?«, fragte Terry.

Kate zuckte ratlos mit den Schultern. »Was sollen wir schon machen? Wir können nur warten, bis Gabriel nach Hause kommt. Und dann werde ich mal mit ihm reden, denke ich.«

»Und du glaubst, er sagt dir, was das alles soll?«, fragte Terry.

»Nein«, sagte Kate und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.«

2

Kate hob zum zweiten Mal einen kleinen Kiesel vom Rand der asphaltierten Straße auf und warf ihn nach oben, wo er mit einem leisen Klacken von Terrys Fenster abprallte und schließlich zurück auf den Boden fiel. Sie sah zu der Scheibe auf, die die kleinen weißen Lichtpunkte der Sterne am Himmel spiegelte, doch dahinter blieb es dunkel – nichts rührte sich.

Verdammt.

Gabriel war erst spät am Abend nach Hause gekommen. Kate hatte keine Ahnung, ob er wirklich so lange mit den uniformierten Sympathiebomben des Jahrhunderts beschäftigt gewesen war, oder ob er noch Zeit für sich gebraucht hatte und deswegen nicht gleich zurückgekommen war. Doch eigentlich war ihr das auch egal.

Im Moment erschien ihr viel wichtiger, dass sie mit ihrer Vermutung recht behalten hatte – Gabriel hatte ihr so gut wie gar nichts über die Männer oder den Grund ihrer Anwesenheit auf Shapinsay verraten. Was er hingegen ziemlich deutlich gesagt hatte, war, dass er gehen würde.

Er würde die Insel verlassen.

Und zwar morgen.

Für ein halbes Jahr, hatte er gesagt. Vielleicht auch länger.

Als Gabriel die Neuigkeit von seiner Abreise verkündet hatte, war Kate fast die Kinnlade heruntergefallen. Zunächst hatte sie gar nicht glauben können, dass er das ernst meinte. Sie hatte ihren Bruder mit all den Fragen gelöchert, die ihr in den Sinn gekommen waren: Wohin würde er gehen? Warum so lange? Warum, um alles in der Welt, ging er denn bitte überhaupt? Was war mit seinem Studium, für das er im Herbst hatte nach Glasgow ziehen wollen? Warum hatte er ihr nie etwas von den Kerlen gesagt? Was konnte sie tun, um ihm aus der ganzen Sache rauszuhelfen? Um ihn hierzubehalten?

Gabriels Antworten waren sehr dürftig gewesen. Er hatte gesagt, er würde eben nächstes Jahr anfangen zu studieren, er sei ja noch nicht einmal zwanzig und habe noch Zeit. Er habe ihr nie etwas von seinen Plänen gesagt, weil er nicht darüber reden dürfe. Sie könne nichts tun, es wäre jetzt eben so und ließe sich nicht mehr ändern.

Kate hatte das Gefühl gehabt, als sei das empfindliche Glas in seinen Augen endgültig zu Scherben zersprungen. Sie hatte nachgehakt, wieder und wieder, bald der Verzweiflung nahe, während Gabriel immer abweisender geworden war. Das Einzige, das er schließlich zugegeben hatte, war, dass es bei der Sache um eine Art Sommerlager für ein paar ausgewählte junge Männer von Orkney ging.

Also lief man wegen eines Sommerlagers heutzutage in Uniform rum und behandelte jede noch so kleine Information gleich wie ein Staatsgeheimnis, natürlich. Kate wusste genau, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Vermutlich hatte er es nicht mehr ertragen, ihr überhaupt nichts zu sagen. Kate konnte sich nicht erinnern, dass Gabriel sie zuvor jemals angelogen hatte. Zumindest nicht, wenn es um etwas so Wichtiges ging. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die Lüge oder sein Schweigen.

Sie las den nächsten Kiesel vom Boden auf, diesmal ein etwas größeres Exemplar, und warf ihn in Richtung Fenster. Diesmal verfehlte der Stein sein Ziel komplett und prallte stattdessen von der Hauswand ab.

Irgendwann, wohl als ihm die verzweifelten Fragen seiner Schwester und der leere Blick seines Vaters zu viel geworden waren, hatte Gabriel fluchtartig die Küche verlassen, war in sein Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich versperrt. Kate und ihr Vater waren am Tisch zurückgeblieben; keiner von ihnen war ihm gefolgt.

Auf ein Klopfen hätte Gabriel ohnehin nicht reagiert.