Sonnengezeichnet - Clerie Warren - E-Book + Hörbuch

Sonnengezeichnet E-Book und Hörbuch

Clerie Warren

5,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Sie verfügt über das größte Machtpotenzial, das je existiert hat. Er wurde geschickt, um sie zu töten. Gemeinsam könnten sie unbesiegbar sein. Dass sie eigentlich eine Elementbändigerin ist, hat die achtzehnjährige Hannah gar nicht gewusst, denn ihr Leben auf Neuseeland könnte normaler nicht sein. Wären da nicht diese Kopfschmerzen, die sie in letzter Zeit ständig plagen. Als dann auch noch seltsame Dinge um sie herum geschehen, weiß sie nicht, ob sie langsam einfach verrückt wird. So geht eines Morgens die Dusche an, bevor sie überhaupt darunter gestanden hat, Türen öffnen sich wie von Geisterhand oder der Inhalt ihres Kleiderschrankes kommt ihr entgegengeflogen. Hannahs Kräfte manifestieren sich unkontrolliert und bringen sie schließlich nach Neso, wo sie ausgerechnet auf Ren trifft, der beauftragt wurde, sie zu ermorden. Obwohl sie ihm gerade so entkommen kann, scheint er sie seitdem zu verfolgen. Hannah weiß, dass sie sich von ihm fernhalten muss, trotz der seltsamen Anziehung, die sich zwischen ihnen entwickelt. Jedoch fällt ihr das immer schwerer, als er sie plötzlich vorm Ertrinken rettet. Warum kann nur sie ihn sehen? Und wenn er sie wirklich umbringen will, wieso zögert er, als er die Gelegenheit dazu bekommt? Wem kann man mehr trauen? Seinem Verstand oder seinem Herzen?

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Seitenzahl: 729

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Zeit:15 Std. 51 min

Sprecher:Sonja Ortwein-Kubocz; Sebastian Fischer
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Beliebtheit




Magiesystem

Blutmagie

Sonnen- und Mondzeichnungen

Sonnenaffine Fähigkeiten: Geschwindigkeit, Hellsicht, Heilung

Mondaffine Fähigkeiten: Teleportation, Telepathie, Visionen

Weiterentwickelte Elementabstufungen

Metalle, Pflanzen, Kristalle, Schall, Schwingungen, Blitze, Höllenfeuer,

Lava, Eis, Gelee

Grundelemente

Wasser, Feuer, Erde, Luft

Playlist

Tommee Profitt, Fleurie – In My Blood

Ursine Vulpine, Annaca – Wicked Game

Tommee Profitt, Liv Ash – A Storm is Coming

Ruelle – The Downfall

Karliene – Become the Beast

Nilu – Are You with Me

Dove Cameron – We Belong

Kristian Kostow – Beautiful Mess

Ludovico Einaudi, Greta Svabo Bech – Circles

Zayn – Pillowtalk

Ruelle – Deep End

Isak Danielson – Power

Billie Eilish – I Love You

Arctic Monkeys – Do I Wanna Know

Halsey – Control

SVRCINA – Meet Me on the Battlefield

Natalie Taylor – Surrender

The Tech Thieves – Fake

Rihanna – Skin

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Wenn es dir mit den folgenden Themen nicht gut geht, solltest du dieses Buch mit Vorsicht genießen. Dein Wohlbefinden steht an oberster Stelle. Pass auf dich auf.

explizite, detailliert beschriebene Sexszenen

Verrat, Entführungen & Gefangennahmen

Blut, Verletzungen & Wunden

Monster jeglicher Art, Gewalt & Kampfszenen

Rauschzustände, Alkoholkonsum und Gift

Aussichtslosigkeit, Tod & Mord

Stalking & Handschellen

Für alle,

die es wagen, zu träumen …

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

An einem Montagmorgen spürte ich es zum ersten Mal. Ein plötzlicher Schlag, ein Kribbeln von Kopf bis Fuß, als sich alles zu drehen schien. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich ein Gefühl im Bauch, wie wenn man auf der Achterbahn vom höchsten Punkt aus steil bergab rast.

Erschrocken taumelte ich zur Seite und stieß mit der Schulter gegen einen der blauen Spinde, die die Wände des Oneroa Colleges zierten. Die Tasche rutschte mir von der Schulter und landete auf dem Boden. Natürlich schauten alle zu mir herüber.

Die stickige Luft schien zu pulsieren wie vor einem Gewitter, obwohl der Himmel hinter den dreckigen Fenstern klar und blau war. Meine Hand zitterte leicht, als ich mich bückte und nach meiner Tasche griff. Was war bloß los mit mir?

Ich wartete, bis die gaffenden Schüler an mir vorbeischlenderten, dann setzte ich meinen Weg zur Schulmensa fort, doch bereits an der Essensausgabe verging mir der Appetit.

Es gab Vanillepudding zum Nachtisch.

Ich mochte keinen Vanillepudding.

Seufzend ließ ich mich auf einen freien Platz sinken.

»Wow, was ist dir denn widerfahren? Du siehst ja aus wie ein richtiger Sonnenschein«, begrüßte mich Maddie, knallte ihr Tablett auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber.

Ich rollte mit den Augen und genau in dem Moment, als ich ihr die Zunge rausstrecken wollte, verschwamm meine Sicht. Der Raum schien sich zu drehen und ich schwankte.

Der Orangensaft schwappte aus dem Glas und ergoss sich auf meine Schuluniform. Ich unterdrückte einen Fluch und griff nach den Servietten.

»Ich schätze, ich frag dich besser nicht, wie dein Tag bisher lief, wie?« Meine beste Freundin kicherte, während ich die Sauerei notdürftig aufwischte. »Willst du dir meinen Vanillepudding auch noch über die Bluse schmieren?«

»Nein, danke. Ich glaube, meinem Oberteil ist der Appetit vergangen.«

»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Frag nicht.« Ich pustete mir eine Strähne aus der Stirn.

»Uh ... Jetzt werd nicht gleich dramatisch.«

»Ach, sei leise! Verdammt! Der Fleck geht nicht mehr raus.«

»Warte. Hier, nimm!« Sie hielt mir ihre graue Strickjacke entgegen und missmutig schlüpfte ich hinein. Maddie war einen ganzen Kopf kleiner als ich und so endeten die Ärmel zehn Zentimeter vor meinem Handgelenk.

»Danke.«

Sie hob die Brauen, ließ sich meinen gereizten Tonfall ansonsten aber nicht anmerken. Es war zu warm, um sich dick einzupacken, meine ruinierte Bluse ließ jedoch nichts anderes zu. Bereits auf dem Weg zur Schule, wo sonst immer eine leichte Brise vom Meer herüber-wehte, vermisste ich an diesem Morgen den Wind.

»Und jetzt erzähl schon! Was ist los?«

Ich gab den Versuch, meine Bluse zu retten, auf und ließ die Serviette sinken. »Keine Ahnung. Vermutlich liegt es am Wetter. Das spielt schon seit Tagen verrückt. Wahrscheinlich hab ich einen Hitzschlag, zumindest fühle ich mich so. Alleine heute Morgen hab ich es bereits geschafft, gefühlte sechs Mal gegen eine Tür zu laufen, die Mädchentoilette beinahe mit der der Jungs zu verwechseln und vielleicht hab ich sogar ein paar Spindtüren demoliert, als ich dagegen gestolpert bin.«

Sofort schoss ihre Hand hoch und legte sich auf meine Stirn. »Hm. Also ich merk nichts. Einen Hitzschlag hast du schon mal nicht.«

»Dann weiß ich auch nicht, was los ist.« Mein Blick wanderte an mir herab und ich ließ mich ächzend gegen die Stuhllehne sinken. »Das wird noch ein richtiger Scheißtag ...«

Und ich behielt recht, denn auch wenn der Fleck nach einer gründlichen Handwäsche nicht allzu unangenehm ins Auge fiel, blitzte dann mein BH durch den nassen Stoff der weißen Bluse und ich war gezwungen, die warme Strickjacke über der Stelle zuzuknöpfen.

Mitten im Lauf in der Sportstunde spürte ich es erneut. Ein warmer Luftzug strich mir übers Gesicht, während sich das Kribbelgefühl in meinem Magen ausbreitete.

Die Tartanbahn verschwamm vor meinen Augen, unweigerlich blieb ich stehen. Verwirrt drehten sich ein paar Mädchen nach mir um, als sie mich überholten. Meine Beine gaben unter mir nach und ich ließ mich auf die Knie fallen. Die Luft begann erneut unangenehm zu pulsieren und schnürte mir den Hals zu wie eine unsichtbare Schlinge, schien sich immer enger um meinen Hals zu ziehen.

Ich schloss die Augen und rang nach Atem, aber meine Lungen verweigerten den Sauerstoff. Automatisch wanderten meine Gedanken zu meiner Mum. Hatte ich vielleicht doch das Asthma von ihr geerbt, oder konnte sich so etwas auch erst im Laufe des Lebens entwickeln?

Ein eisiger Wind umfing mich. Erschrocken riss ich die Augen auf, als kalte Luft meinen Rachen hinunter strömte und mich schaudern ließ. Die Laufbahn war verschwunden, stattdessen starrte ich in Dunkelheit. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis und die Umrisse von hohen Tannen traten in mein Sichtfeld. Eine beißende Kälte kroch an meinem Körper entlang und mein Herz setzte einen Schlag aus. Wo war ich?

Auf einmal begann es zu schneien und vereinzelte Schneeflocken verfingen sich in meinen Haaren. Fröstelnd rieb ich über meine nackten Oberarme. Ich trug für das Leichtathletiktraining lediglich Shorts und einen Sport-BH, was bei der Hitzewelle trotzdem noch zu viel Stoff war, um als angenehm bezeichnet zu werden. Jetzt bereute ich diese Entscheidung.

Unruhe überwältigte mich und ich wollte aufspringen, als auf einmal Stimmen an mein Ohr drangen. Abrupt verharrte ich in der Bewegung. Mein Kopf wandte sich der Geräuschquelle zu und ich konnte zwei dunkle Gestalten ausmachen, die nicht einmal fünfzig Meter von mir entfernt im Schnee standen. Beide Personen waren groß und in unförmige, bodenlange Mäntel gehüllt, die Augen verborgen im Schatten der tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen. Eine Windböe strich über meine Wangen und ließ mich zusammenfahren.

»Wo ist sie? Und erzähl nicht, du hättest keine Ahnung, über wen ich spreche. Ich weiß von deiner Verbundenheit mit den Aufständen.« Der erste Schatten, ein Mann, baute sich bedrohlich vor der anderen Person auf und ich hielt die Luft an. In was war ich hier hineingeraten?

Es war eine tiefe, röchelnde Stimme, die ihm antwortete. Ruhig und entschlossen. »Von mir wirst du nichts erfahren, Ren. Du wirst sie nie finden. Du kannst Maeva sagen, dass du versagt hast. Schon wieder.«

Ren packte sein Gegenüber am Kragen und hievte den alten Mann in einer fließenden Bewegung in die Luft. Die Kapuze rutschte ihm vom Kopf und gab den Blick auf weiße, strähnige Haare preis. Sein grauer Bart leuchtete im Licht des Mondes, und obwohl er alt war, wirkte er alles andere als zerbrechlich oder schwach. Oder leicht. Wie konnte dieser Ren den Mann einfach so packen und hochheben? Ich bekam eine Gänsehaut.

»Du erzählst mir besser, was ich wissen möchte, oder–«

»Oder was? Glaubst du wirklich, du könntest mir drohen? Ich bin alt, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Wenn nötig, werde ich das Geheimnis mit in mein Grab nehmen.« Er stemmte sich gegen seinen Angreifer, jedoch ohne Erfolg.

Ren schmunzelte und ein Lachen entwich ihm, das mir durch Mark und Bein fuhr.

Als schaltete man eine Taschenlampe ein, erstrahlte in seiner freien Hand eine glühende Säule, was mich unweigerlich an ein Lichtschwert erinnerte. Es kam wie aus dem Nichts und ich blinzelte verwirrt, davon überzeugt, vollends den Verstand zu verlieren, doch sobald ich erkannte, was er in der rechten Hand balancierte, musste ich gegen den Drang ankämpfen, zurückzuweichen.

Flammen schossen aus einem silbernen Handstück hervor, bildeten die spitzzulaufende, heiße Schneide des Schwertes und ich konnte nur hoffen, dass ich aus diesem Albtraum erwachte, bevor er auf mich aufmerksam wurde.

»So sei es«, flüsterte er und warf den alten Mann zu Boden, um ihm kurz darauf sein flammendes Schwert in die Brust zu rammen. Es gab ein widerlich zischendes Geräusch, als sich das Feuer tief in seine Haut brannte und der süßliche Geruch von verkohltem Fleisch wurde zu mir herübergetragen. Der alte Mann zuckte vor Rens Füßen zusammen, das Gesicht im stummen Schrei schmerzhaft verzerrt. Dann schnappte er ein letztes Mal nach Luft, mehr ein Gurgeln als richtiger Atemzug, bevor sein Körper gänzlich erschlaffte.

Scharf sog ich die Luft ein. Meine Lungen brannten und mir schwirrte der Kopf. Der Mann war tot, daran gab es keinen Zweifel. Ein Wimmern überkam mich, erschütterte meine gesamte Gestalt, und ich konnte ein erschrockenes Quietschen nicht verhindern. Ich war so eben Zeugin eines brutalen Mordes geworden.

Ruckartig fuhr Ren zu mir herum, ignorierte den Leichnam zu seinen Füßen, als spielte es keine Rolle, dass er ihn umgebracht hatte. Das rote Leuchten des Schwertes erhellte sein Gesicht unter der Kapuze und hob seine markanten Wangenknochen hervor. Blonde Locken verdeckten seine Augen, doch ich war mir sicher, dass er direkt in meine Richtung sah. Mist. So viel dazu, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken ...

Festen Schrittes kam er auf mich zu, aber ich wartete nicht, bis er mich erreichte, sondern sprang hoch und rannte davon. Meine Schuhe knirschten auf dem frischen Schnee und ich musste aufpassen, nicht wegzurutschen.

Mein Herz pochte mir in den Ohren, trieb mich an weiterzulaufen, schneller zu laufen. Der Atem vernebelte meine Sicht, während sich die Schritte tief in den weichen Neuschnee gruben, Spuren hinterließen. Es musste ein Leichtes sein, mir zu folgen, doch ich wagte nicht, mich nach Ren umzuschauen. Zu groß war die Angst, ihn tatsächlich hinter mir hereilen zu sehen.

Der Wald war ein Labyrinth aus Schnee und Eis, aber ich kämpfte mich durch die tiefhängenden Ästen und rannte geradewegs auf eine Gebirgskette zu, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich laufen sollte.

Ich würde nicht zurückfinden, schließlich wusste ich nicht einmal, wie ich überhaupt hergekommen war. Der flache Untergrund wurde immer mehr durch Erhebungen und kleine Hügel vertrieben, die es erschwerten, das hohe Tempo beizubehalten. Kies löste sich unter meinen Schritten und kurz geriet ich ins Straucheln, rutschte den Abhang hinunter, konnte mich aber irgendwie auf den Beinen halten. Die Sicht verschwamm vor meinen Augen, wurde zu einer Mischung verschiedener Grüntönen, was mich gänzlich die Orientierung verlieren ließ. Ich hätte auf Rens Schritte lauschen können, doch das Einzige, das ich wahrnahm, war mein schlagender Puls, der mir in den Ohren dröhnte. War er nah oder verfolgten mich meine eigenen Schatten?

Bevor ich hinter einer Felswand verschwand, riskierte ich einen Blick über die Schulter und schaute in einen ruhigen, verlassenen Wald, überzogen von pudrigem Schnee, der einzig und alleine durch meine Fußabdrücke gezeichnet war.

Keine Spur von Ren.

Nicht einmal das unheimliche Leuchten des Feuers war zu sehen. War ich ihm entkommen oder hatte er mich vielleicht doch gar nicht gesehen? Verwirrt runzelte ich die Stirn und lief weiter.

Meine Schritte verlangsamten sich und ich schnappte angestrengt nach Luft – als er plötzlich direkt vor mir auftauchte. Erschrocken stemmte ich die Füße in den Boden, um nicht gegen ihn zu rennen, rutschte aus und landete mit dem Hintern auf dem nassen Waldboden. Shit!

»Hab ich dich«, flüsterte er und ich sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen.

Mein Herz stolperte. Flüche schossen mir durch den Kopf und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Meine Finger fühlten sich ganz taub an, denn sie bohrten sich in die kalte Erde. Panisch krabbelte ich zurück, stieß mit dem Rücken jedoch gegen massives Gestein. Ich saß in der Falle und ihm war es genauso bewusst wie mir.

Er zückte seine Waffe und richtete die brennende Schwertspitze auf meinen Hals. Hitze breitete sich auf meinem Gesicht aus, als mir die lodernden Flammen näherkamen. Ich konnte das Knistern des Feuers hören, das nur darauf wartete, sein nächstes Opfer zu verschlingen. Wie hatte ich mich bloß in diese Situation gebracht? Ich wusste nicht einmal, wo ich war, geschweige denn wer dieser Typ war. Würde er mich ebenso umbringen, wie den Mann vorhin, weil ich zu viel gesehen hatte? Mein Herz begann noch schneller zu schlagen.

»Wer bist du?«, fragte er eindringlich. »Was hast du hier zu suchen?«

Ich schluckte. Mit dem Schwert vorm Hals, war ich zu nichts imstande.

»Antworte mir!« Seine Stimme war einem ungeduldigen Knurren gewichen, bei dem sich alle Haare an meinem Körper aufrichteten. Schweißtropfen liefen mir über die Stirn in die Augen und ich musste blinzeln. Als ich wieder zu ihm aufsah, war er plötzlich weg. Auch der verschneite Wald und die Kälte hatten sich verflüchtigt, stattdessen schlug mir Hitze entgegen und ich blinzelte gegen die blendende Sonne an. Was zur Hölle?

Ich saß neben dem Weg, der um das Schulgebäude herumführte und für Coach Petrino eine gute Einlaufstrecke dar-stellte. Unbewusst musste ich weitergelaufen sein, und obwohl ich wusste, dass es vermutlich das Beste war, einfach aufzustehen und die Runde zu beenden als wäre nichts gewesen, konnte ich es nicht. Ich konnte mich nicht regen, fast so, als bedrohte Ren mich noch immer.

Beinahe wollte ich mir einreden, das Geschehene nur geträumt zu haben, als mein Blick an meinen Sportschuhen hängen blieb. Im Profil steckten die Überreste des verschneiten Waldbodens und meine Hände begannen zu zittern, sobald ich die Tannennadeln zwischen die Finger nahm.

Das konnte nicht ... Wie war das möglich?

»Hannah!«

Schwere Schritte näherten sich mir von hinten und ich fuhr panisch herum.

»Ist alles in Ordnung? Bist du verletzt?« Völlig aus der Puste blieb Maddie neben mir stehen und reichte mir eine Hand. Ein paar blonde Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und klebten ihr im Gesicht. Ihre Wangen hatten von der Anstrengung eine rosa Farbe angenommen. Laufen war noch nie ihre Stärke gewesen.

»Mir geht es gut, ich bin nur umgeknickt«, log ich und nahm ihre Hand dankend an.

Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. »Du bist ja eiskalt!«

Ich stand auf und betrachtete meine Gänsehaut. »Ich fühle mich auch nicht so gut.«

»Also vielleicht doch ein Hitzschlag?«

Ich zog die Schultern hoch. Das Letzte, das ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Freundin, die mich für durchgeknallt hielt. Es reichte, wenn ich dachte, nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben.

»Lass uns weiter. Wir müssen uns beeilen, wenn wir die anderen noch einholen wollen.« Ich schnaufte und fiel in einen entspannten Trab, sodass Maddie problemlos mithalten konnte, doch sie packte mich am Arm und ich blieb stehen.

»Was heißt hier bitte die anderen noch einholen? Hannah, du bist diese Runde schon zweimal gelaufen, schneller als bei jedem Wettkampf. Coach Petrino hat mich gebeten, dich zurückzuholen.«

»Hä?« Ich sah zu Boden. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich war beinahe vier Kilometer gelaufen? Ich war doch nicht länger als fünf, vielleicht zehn Minuten unterwegs gewesen ...

Stumm und in Gedanken versunken folgte ich meiner Freundin zurück zum Stadion, nur um in der restlichen Sportstunde von absolut jedem angestarrt zu werden. Ich stöhnte, als sich ein pochender Schmerz hinter meiner Schläfe zu manifestieren schien. Morgen würde ich das Gesprächsthema des Tages sein.

Nach der Schule fuhr ich zu Mums Laden. Erst hatte ich überlegt, mich mit der Ausrede, dass es mir nicht gut ginge, vor der Arbeit zu drücken, mein schlechtes Gewissen hatte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich konnte sie nicht im Stich lassen.

Meine Mum betrieb an der Onitangi Bay eine Strandbar, in der man, neben Getränken und Fingerfood, auch allerlei anderer Dinge zu kaufen bekam. Die große Terrasse, auf der man es sich bequem machen konnte, bot einen wunderschönen Blick auf den Pazifischen Ozean, was in der Saison viele Touristen anlockte. Besonders in den Sommermonaten half ich aus, da meine Mum und ihre einzige Angestellte Jes-sica mit dem Kundenandrang nicht hinterherkamen. Jess war trotz des großen Altersunterschieds eine der besten Freundinnen meiner Mum und arbeitete schon seit einer Weile hinter der Theke. Sie hatte in Auckland Gastronomie und Management studiert und ich wusste, der Laden war ihr wichtig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Mum sie als zweite Eigentümerin eintragen ließ. Jess gehörte einfach irgendwie zur Familie.

Ich lehnte mein Fahrrad gegen die Hauswand und trat ein. Das alte Ding würde niemand klauen. »Hi, Jess.«

»Hallo, Hannah. Gut, dass du da bist. Tisch vier hat zwei Latte Mac-chiato und einen hausgemachten Eistee bestellt.«

»So gut wie erledigt«, rief ich ihr hinterher, doch da war sie bereits mit einem vollbeladenen Tablett in Händen auf der Terrasse verschwunden.

Mit Schwung pfefferte ich meine Schultasche hinter den Tresen, band mir eine schwarze Schürze um die Hüften und begann, das erste Glas mit frischer Milch aufzuschäumen.

»Danke.« Jess zwinkerte, als sie sich zwanzig Minuten später neben mich setzte. Sie war so groß wie ich, doch neben ihren Kurven wirkte ich eher wie ein Strich. Ihre Haare hingen locker bis zu den Schultern und wippten bei jeder ihrer Bewegungen fröhlich auf und ab. Sie hatten die gleiche Farbe wie meine Haare, eine merkwürdige Braunstufe, nicht richtig dunkel, aber auch nicht blond.

»Kein Problem, ein wenig Ablenkung tut mir gerade ganz gut, glaub mir. Wo ist Mum abgeblieben?«

»Olivia ist beim Architekten und plant eine mögliche Vergrößerung des Cafébereichs. Ich weiß allerdings nicht, wann sie zurück sein wird.«

Ich runzelte die Stirn. »Aha ... Ich wusste gar nicht, dass ihr plant, das Lokal zu vergrößern ... Seit wann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sie hat ein Angebot bekommen, das sie nicht ausschlagen konnte.«

Zwei Damen winkten in meine Richtung und ich nahm ihre Bestellung auf. Zurück am Tresen griff ich nach Martinigläsern, konnte Jess' Blick aber auf den Schultern spüren, während ich die Cocktails mixte.

»Und dann lässt sie dich einfach alleine im Lokal stehen, obwohl so ein Andrang herrscht? Das finde ich nicht ganz fair.« Was wäre, wenn ich tatsächlich abgesagt hätte? Dann stünde Jess jetzt ganz alleine hier.

»Ich wusste ja, dass du bald kommst.« Sie grinste breit und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Also halb so wild.«

»Hm«, machte ich wenig überzeugt. Die Eiswürfel klirrten gegen das Metall des Shakers, bevor ich den Saft dazu kippte und den Deckel verschloss.

»Wenn ihr den Sitzbereich vergrößert, solltet ihr vielleicht darüber nachdenken, eine Teilzeitkraft einzustellen. Zumindest für die Sommermonate.«

Jess schnaubte. »Und du denkst, dass deine Mutter dem zustimmen würde?«

»Einen Versuch wär’s wert, oder?«

Mein Kopf begann auf einmal zu dröhnen und ich hielt in der Bewegung inne. Etwas stimmte nicht. Ich wusste nur nicht, was. Meine Nackenhaare stellten sich auf, das Glas rutschte aus meiner Hand und fiel zu Boden. Reflexartig griff ich danach – und fing es mitten in der Luft auf.

Verwirrt betrachtete ich den Rand des Cocktailglases, das sich kalt in meine Finger schmiegte. Ich hatte unmöglich so schnell reagieren können, um den Sturzflug gen Boden zu verhindern. Das hätte nicht machbar sein dürfen. Ich sah auf und ließ den Blick über die Theke wandern, um herauszufinden, ob ein paar Kunden den Zwischenfall mitangesehen hatten. Alles wirkte normal. Niemand starrte mich geschockt oder mit weit aufgerissenen Augen an. Auch Jess tippte nur konzentriert etwas in ihr Handy und schenkte mir keinerlei Aufmerksamkeit.

Erleichtert ließ ich die angehaltene Luft aus meinen Lungen und kippte den Cocktail unbeirrt in die Gläser.

»Wie war die Schule heute?«, fragte Jess, als ich nach meiner Runde mit dem leeren Tablett unterm Arm neben ihr Platz nahm.

Meine Miene verfinsterte sich schlagartig. Ich hatte es gerade geschafft, mehr als zehn Minuten nicht an Rens bedrohliches Lächeln zu denken. Obwohl ich fest entschlossen abstritt, dass er und die ganze Situation real waren, begann meine Haut jedes Mal, wenn ich daran dachte, zu kribbeln.

»Frag nicht«, wich ich aus, während Jess einem kleinen Mädchen ihr Wechselgeld für ein Magnum über die Theke schob.

»Warum gehst du nicht nach hinten und füllst die Vorräte auf?«, schlug sie vor und beäugte die Gruppe Jugendlicher, die nur hereingekommen waren, um Süßigkeiten zu kaufen, und jetzt in einer Ecke standen und tuschelten. Es war kein Geheimnis, worüber sie redeten oder besser gesagt über wen.

»Die bleiben nicht mehr zum Glotzen, wenn sie denken, dass du Feierabend hast.«

Ich seufzte. »Manchmal finde ich es beeindruckend, wie schnell sich Ereignisse hier herumsprechen. Haben die an einem Montagabend nichts Besseres zu tun?«

»Auf welcher Insel bist du aufgewachsen? Waiheke ist dafür zu klein«, erwiderte sie zwinkernd und schloss mich kurz in ihre Arme.

Ich legte den Kopf an Jess' Schulter und ließ mir über die Haare streichen.

»Ignorier diese Leute einfach.« Sie trat zurück und schob mich in Richtung Lager. »Du kannst auch ruhig Inventur machen. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich komme hier klar.«

»Du bist die Beste!«

»Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß«, fügte sie hinzu, bevor ich nach hinten verschwand.

Waiheke war eine Insel in Neuseeland, knapp achtzehn Kilometer von Auckland entfernt und nach Great Barrier Island die zweitgrößte Insel im Hauraki Gulf. Im Schnitt beherbergte die neunzig Quadratkilometer große Insel circa zehntausend Menschen, dennoch erschien sie mir, an Tagen wie dem heutigen, viel zu klein.

Ab zwanzig Uhr war die Küche geschlossen, was mich in Ruhe arbeiten ließ. Normalerweise hasste ich Inventur, doch in diesem Moment konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als stumpf durch das Lager und die Küche zu tigern, jedes Glas und jede Verpackung zu zählen und auf Papier festzuhalten. Die stupide Aufgabe beruhigte meine angespannten Nerven irgendwie. Ich war gerade damit beschäftigt, das Besteck durchzugehen, als mich ein Kribbeln im Nacken innehalten ließ.

Oh nein. Nicht schon wieder. Wachsam sah ich mich um, wartete darauf, dass sich die Küche vor meinen Augen in Luft auflöste, aber nichts geschah. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, betrachtete die Küchenschränke, die Arbeitsplatte, den Besteckhaufen – und blieb wie angewurzelt stehen, als ich in weit aufgerissene, schwarze Augen blickte.

Ren wirkte so überrumpelt, wie ich mich fühlte. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, schloss sich dann aber wieder. Er hatte den dunklen Mantel abgelegt und seine blonden, welligen Haare umrahmten sein Gesicht.

»Wie ... wie bist du hier reingekommen?«, stammelte ich, meine Stimme eine Oktave zu hoch. »Dieser Bereich ist nur für Mitarbeiter bestimmt.« Bitte sag, du bist nur ein Kunde und hast dich verirrt. Sieh diesem Typen einfach nur verdammt ähnlich. Bitte. Sonst muss ich einsehen, vollkommen irre zu werden.

Ich lief um die Kücheninsel herum, um Distanz zwischen uns zu bringen, während sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog. Was war bloß los mit diesem Kerl? Er stand mitten im Raum und musterte mich, als wäre ich diejenige, die einem Mann ein brennendes Schwert in die Brust gerammt hatte. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Er war real. Er musste es sein.

Reflexartig griff ich einen Gegenstand, holte aus und schleuderte ihn in seine Richtung. Ich hatte keine sonderliche Hoffnung, dass ihm ein Kochlöffel wehtun würde, aber er könnte für genügend Ablenkung sorgen, um zum Hinterausgang zu gelangen und zur Polizeistation zu laufen. Oder zur nächsten psychiatrischen Einrichtung, je nachdem, was eher in Sicht trat.

Rens Fuß zuckte zurück, aber es war bereits zu spät, um den unwiderruflichen Aufprall vermeiden zu können. Als der Holzstab ihn an der Schulter traf, verschwand er plötzlich und mein Wurfgeschoss mit ihm.

Perplex stand ich da, starrte auf die nun leere Stelle. Mein Atem ging viel zu schnell und ich musste mich an der Arbeitsplatte abstützen, um nicht umzukippen. Waren das erste Anzeichen eines Nervenzusam-menbruches? Wie hatte er mich finden können? Und wie war es möglich, dass sich seine Erscheinung einfach so in Luft auflöste? Ich verstand das nicht. Bildete ich mir das Ganze doch ein?

Nervös begann ich an meiner Unterlippe zu nagen. Ich musste an die frische Luft. Sofort. Ich fuhr auf dem Absatz herum und verließ fluchtartig den Küchenbereich, kam aber nicht dazu, das Gebäude zu verlassen. Vor dem Lagerraum musste ich erneut innehalten. Meine gesamte Haut kribbelte. Es fühlte sich an wie eine Ameisenarmee, die unter der Haut neugebildete Gänge im Gleichschritt erkundete. Eine seltsam vertraute Wärme breitete sich in meinem Nacken aus und die Luft wurde dick, raubte einem den Atem. Mir brach der Schweiß aus und ich stockte.

»Wer bist du? Warum kann ich dich sehen?« Ren stand so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem auf der Haut spüren konnte. Kreischend sprang ich nach vorne und fuhr herum, wich so weit ins Lager zurück, bis mein Rücken eine der langen Regalwände berührte. Er folgte mir, dann fiel die schwere Metalltür ins Schloss und ich saß in der Falle.

Er sah sich um, ließ den Blick über die deckenhohen Regale schweifen, in denen sich die Lebensmittel, wie Gebäck und Kaffeepulver stapelten. »Kannst du meine Umgebung sehen?«, fragte er, blickte kurz über die Schulter und zeigte auf die Tür, die uns vom Rest des Cafébe-reiches trennte.

Würde man mich hören, wenn ich nach Hilfe schrie? Oder würde man meinen Leichnam erst finden, wenn das Kaffeepulver in den Maschinen aufgebraucht war und jemand ins Lager lief, um die Behälter aufzufüllen?

»Ich kann deine nicht sehen, nur dich«, fuhr er fort und kam einen Schritt auf mich zu. Mein Herz machte einen Satz. Instinktiv presste ich mich noch näher an das Regal. Kalte Stahlträger gruben sich in meinen Rücken und kühlten meine überhitzte Haut.

»Keinen Schritt näher!« Meine Stimme zitterte.

»Ich hab–« Die Finger fuhren über das Regal hinter mir, bis ich auf eine kalte, glatte Oberfläche traf. Sachte hob ich das runde Glas an. Schwer. Fest. Besser als nichts. »–ein Einmachglas und keine Angst, es zu benutzen!«

Etwas blitzte in seinen dunklen Augen auf: ein Schimmer, der mir Hitze die Wirbelsäule hinunterschickte. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Ausdruck der Belustigung, oder die Vorfreude darauf war, sich an meinem Schmerz zu ergötzen. Seine Mundwinkel zuckten, als er mir einen weiteren Schritt näher kam.

»Soll das etwa eine Drohung sein?« Noch ein Schritt.

Er stand nun so nah vor mir, dass wir uns hätten berühren können. Der Duft von Moschus mit einem zarten Hauch vanilliger Frische drang mir in die Nase.

»Was willst du von mir?«, fragte ich, meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern. Angst schnürte mir die Kehle zu und ich wandte den Blick ab. Seine Hand strich sanft über meine Schläfe, fuhr meine Wange hinunter bis zu der empfindsamen Haut meines Halses, bevor er die Spitzen meines Zopfes packte und sich eine Haarsträhne um den Finger wickelte.

»Ich suche jemanden«, begann er schließlich in einem abwesenden, ruhigen Tonfall. »Ein Mädchen, das vor vielen Jahren aus ihrem Zu-hause gerissen und seitdem versteckt gehalten wurde. Ich habe schon viel zu viel Zeit damit verschwendet, sie ausfindig zu machen. Niemand konnte sie bisher finden und alle, die von ihrem möglichen Aufenthaltsort wissen, sind entweder untergetaucht oder starben als Märtyrer.«

»Wie der Mann, den du ermordet hast?«

Seine kreisenden Handbewegungen erstarben und er zog an meinen Haaren, sodass ich ihn ansehen musste. Es tat nicht weh, doch seine Nähe fühlte sich zu intim an. »Was hast du gesehen?«

»Genug«, zischte ich und erwiderte seinen Blick. Ich erkannte, dass seine Augen keineswegs schwarz waren, wie ich zunächst angenommen hatte. Um die Pupille herum befand sich ein heller Ring aus grünen Sprenkel, der in Schwarz überging und von einem tannengrünen Umriss abgeschlossen wurde.

»Du hältst mich vermutlich für einen brutalen Mörder, aber glaub mir, wenn ich sage, dass er sein Schicksal selbst gewählt hat. Was auch immer er wusste, er hätte es mir nicht verraten. Er war mir nicht länger von Nutzen und wäre nur Ballast gewesen. Ich musste ihn loswerden.«

»Dafür hättest du ihn aber nicht umbringen müssen.«

Ren ließ die Hand sinken und seine Knöchel berührten meinen Hals, schickten elektrische Impulse bis hinunter in meine Zehen. »Du verstehst das nicht, Prinzessin ... Du hättest das nicht mitansehen sollen, du–« Er stockte und seine Miene verdüsterte sich. »Du hättest gar nicht dort sein dürfen. Wie kamst du nach Neso? Und wie konntest du so plötzlich wieder verschwinden? Das ergibt keinen Sinn, es sei denn ...«

Zwischen seinen buschigen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Ich frage mich ... Wäre es nicht ein witziger Lauf des Schicksals, wenn nicht ich es wäre, der sie findet, sondern–« Er streckte erneut die Hand nach mir aus und packte mein Kinn. Ich zuckte zurück, aber sein Griff ließ nicht von mir ab. »– sie mich fände.«

Mein Mund fühlte sich ganz trocken an.

»Warum willst du das Mädchen überhaupt finden, wenn sie offensichtlich nicht gefunden werden soll? Wahrscheinlich wird es dir niemals gelingen.«

Es dauerte eine Weile, bis Ren antwortete und mit jeder Sekunde wurde mir unbehaglicher zu Mute. »Oh, ich werde sie finden«, flüsterte er selbstsicher. »Und dann bringe ich sie um.«

Ich war so erschüttert, dass sich in mir eine Energie aufbaute und durch meinen Körper rauschte, als stünde ich unter Strom. Hitze sammelte sich in meinen Handflächen und ich schloss sie zu Fäusten. Meine Ohren knackten, Schwindel überkam mich.

Eine Druckwelle walzte durch den Raum, raubte mir den Atem und ließ Ren einige Schritte zurücktaumeln. Dann hörte ich Glas zerspringen und fuhr erschrocken zusammen. Trockene Reiskörner regneten auf mich herab. Mein Blick wanderte zu dem Regalbrett über mir und blieb an einem Scherbenhaufen hängen. Wie betäubt strich ich mir die verbliebenen Körner aus den Haaren. »Was zum ...?«

Ren schnaubte und sofort sah ich zu ihm herüber. »Was zur Hölle ist da gerade passiert?«, fragte ich, doch er antwortete nicht. Stattdessen bückte er sich zu Boden, griff nach dem Reis und ließ ihn sich durch die Finger gleiten.

Stumm beobachtete ich die Bewegung. Dicke Adern traten auf seinen Unterarmen zum Vorschein und sein Oberteil tat nichts, um das Spiel seines muskulösen Oberkörpers zu verbergen.

»Du bist stark, aber ...« Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. »Wer bist du?«

Er suchte meinen Blick und ich hörte auf, zu zappeln. Konnte dieser Albtraum nicht endlich vorbei sein?

»Luft, wenn ich mich nicht irre«, murmelte er. »Für welche Elemente bist du noch empfindsam?«

Verwirrt zog ich die Stirn kraus. »Em-Empfindsam?«

Ren erhob sich und seine beklemmende Größe ließ mich schaudern. »Du hast Angst vor mir.«

Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich unterdrückte ein Augenrollen. »No shit, Sherlock.«

Er trat näher an mich heran und dieses Mal zuckte ich nicht zurück, als er erneut nach meiner Haarsträhne griff. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an, als er mich so eindringlich betrachtete, als sähe er durch mich hindurch. Es war beängstigend und als Klauen plötzlich über meinen Geist strichen, lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinab. Meine Augen wanderten zu seinen Händen, die entspannt in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben waren. Ich musste mir das wirklich einbilden.

»Also sag es mir. Welche Elemente?«

Langsam schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Wurdest du nicht längst auf deine Affinitäten getestet? Oder stellst du dich einfach nur dumm?« Er ließ von meinen Haaren ab und wie von selbst ballten sich meine Hände erneut zu Fäuste. Arsch.

Die Klauen drangen tiefer in meinen Verstand vor. Obwohl ich panisch versuchte, sie auszusperren, vergruben sie sich nur noch stärker in meine Gedanken. Ich erstarrte. Das konnte doch nicht wirklich passieren ...

»Erbärmlich. Für jemanden mit einem so großen Machtpotenzial, ist deine Ausführung schlampig. Du bist für mich wie ein offenes Buch«, neckte er. »Keine Mauern, keine Abwehr. Wer auch immer dein Meister war, hat verdammt schlechte Arbeit geleistet.«

»Meister?«

Mit den Händen stützte er sich an den Metallträgern ab und brachte sein Gesicht dicht vor meines. Natürlich ignorierte er meine Frage.

»Wie alt bist du? Siebzehn, vielleicht achtzehn? Du müsstest deine Fähigkeiten weitaus besser beherrschen, wenn nicht sogar längst eine höhere Machtstufe erreicht haben. Stattdessen dringt deine Kraft unkontrolliert aus dir heraus. Das ist einfach nur lächerlich.«

Hitze schoss mir in die Wangen und Wut keimte in mir auf, brodelte tief in meiner Magengrube und lockerte meine vorschnelle Zunge. »Halt den Rand! Was willst du überhaupt von mir? Wenn du nur gekommen bist, um dich über mich lustig zu machen, kannst du gehen.

Und zwar auf der Stelle!«, zischte ich und klang dabei selbstsicherer, als ich mich eigentlich fühlte.

Ren zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Du musst verstehen, dass ich genau das nicht tun kann. Mit einem solchen Potenzial könntest du eine Sonnen- oder Mondgezeichnete sein. Maeva würde es niemals akzeptieren, wenn ich dich einfach so ziehen lasse. Wer nicht zu der Elite gehört, wird schnell mit den Rebellen assoziiert und du kannst dir sicherlich denken, was mit solchen Leuten geschieht, nicht wahr?«

Sein minziger Atem kitzelte in meiner Nase und mein Blick fiel auf seine vollen Lippen. Das Herz schlug so laut in meiner Brust, dass ich davon überzeugt war, er könnte es hören.

»Man wird mich finden, sollte mir etwas zustoßen ... Damit kämst du nicht davon.« Es war eine lahme Drohung für jemanden, der sich in Luft auflösen konnte. Worte, die aufgrund von Panik aus meinem Mund kamen.

»Keine Sorge.« Er legte seine Hand an meine Wange und strich sanft mit dem Daumen über meine Haut. »Ich habe nicht vor, dir etwas anzutun. Ich will lediglich wissen, auf welcher Seite du stehst. Bist du ein Verbündeter oder Feind?«

Verständnislos sah ich ihn an. Hieß das, er würde mir etwas antun, wenn ich die falsche Antwort gab? Was redete ich da? Natürlich hieß es das! Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Stimme wiederfand.

»Ich weiß nichts von irgendwelchen Rebellen.«

»Hmpf.«

Mit nachdenklichen Augen musterte er mich von Neuem. Sein Blick wanderte meinen Hals entlang, über meine Kurven bis hinunter zu meinen Beinen. Ich bildete mir ein, dass er an bestimmten Regionen länger verharrte als an anderen. Meine Haut brannte unter seinem Blick und ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn es stattdessen seine Fingerspitzen wären, die diese Stellen erkundeten.

Wärme sammelte sich zwischen meinen Beinen und er schmunzelte. Was zur Hölle?! Wie konnte ich nur so etwas denken? Er war ein Monster!

Ich schob mich an der Wand entlang Richtung Tür, doch er versperrte mir den Weg. »Kann es wirklich sein, dass deine Kräfte gerade erst erwacht sind? Das ist viel zu spät. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der so eine ungewöhnliche Entwicklung durchgemacht hätte ...«

Seine Stimme nahm einen sanfteren Tonfall an. »Mit deinem Potenzial könntest du allerdings von großem Nutzen für mich sein ... Du brauchst einen Lehrer. Ich kann dich mit der Kraft in dir vertraut machen, dir die nötige Kontrolle beibringen, damit du sie beherrschen kannst.« Er reichte mir seine Hand und beobachtete mich, meine Reaktion, wie ein Raubtier, das darauf wartete, endlich zuzuschnappen.

»Ren ...« Ich wandte den Blick ab. Seine ausgestreckten Finger hingen in der Luft zwischen uns. Er konnte nicht ernsthaft glauben, dass ich tatsächlich darüber nachdachte, seine Hand zu ergreifen. Oder etwa doch? Eine Hand, die getötet hatte und erneut morden würde.

Bevor ich etwas erwidern konnte, schwang die Lagertür auf. In derselben Sekunde verschwand er und Jess trat an seine Stelle. »Ist alles in Ordnung? Ich hab einen lauten Knall gehört.« Ihr Blick fiel auf den Reishaufen zu meinen Füßen. »Oh.«

In meinem Kopf drehte sich alles. »Es war ein Unfall. Ich kann alles erklären ...«, stammelte ich, obwohl mir nicht einfallen wollte, wie diese Erklärung aussah.

»Ganz ruhig, ich schlage dir nicht den Kopf ab. Mir fallen die Dinger auch ständig runter. Ist doch nur Reis.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln, aber es gelang mir nicht recht. Warum passierte ausgerechnet mir so etwas?

»Geht es dir gut? Du siehst etwas blass aus.«

»Ich bin einfach müde«, log ich, kniete mich hin und sammelte den Reis mit den Händen auf.

Jess ging neben mir in die Hocke und schmunzelte. »Ich will ja kein Klugscheißer sein, aber wie willst du den Reis so zum Mülleimer tragen?«

Ich schürzte die Lippen und ließ die Hände sinken.

Jess lachte. »Ich mach das schon. Du gehst nach Hause. Ich wollte jetzt eh schließen. Es ist spät und du hast morgen Schule.«

»Bist du sicher? Ich sollte dir helfen, schließlich war es meine Schuld.« Ich knirschte mit den Zähnen.

»Ganz sicher«, antwortete sie, zog mich hoch und schob mich zur Tür hinaus. »Deine Mutter dreht mir den Hals um, wenn sie erfährt, dass ich dich montags so lange arbeiten lasse. Könntest du vorne die Tür abschließen, wenn du gehst? Ich kümmere mich nachher um den Hinterausgang. Gute Nacht, Hannah. Schlaf gut.«

Ich nickte stumm und reichte ihr den Besen, der an dem vordersten Regal lehnte. »Du auch.«

Draußen klimperte der Schlüsselbund unangenehm laut in meiner Hand, während ich zu meinem Fahrrad lief. Es dämmerte bereits. Stöhnend griff ich nach dem Lenkrad und radelte die Straße runter.

Zuhause stopfte ich mir ein Sandwich in den Mund. Mum saß in ihrer pinken Pyjamahose auf der Couch, einen dicken Liebesroman auf dem Schoß, und nippte an einem Pfefferminztee. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Dutt gebunden. Sie schaute mir irritiert hinterher, als ich die Stufen in die obere Etage hoch hechtete und in mein Zimmer lief.

»Träum schön, Liebes. Oh, und denk daran, dass dein Vater morgen früh aus der Nachtschicht kommt. Sei also nicht so laut, wenn du das Haus verlässt«, rief sie mir nach.

»Ist gut, Mum. Nacht.«

Nach einer Stunde schlug ich frustriert meinen Laptop zu und trat auf die Dachterrasse. Meine Suchanfragen hatten mich kein Stück weitergebracht. Statt hilfreiche Antworten, spuckte mein Browser nach und nach immer mehr Telefonnummern und Anschriften psychiatrischer Kliniken im Umfeld von vierzig Kilometern aus. Danke für nichts, Google.

Mittlerweile war es dunkel und die zarte Brise, die hin und wieder vom Meer herüberwehte, fühlte sich kühl auf meinem erhitzten Gesicht an. Es war einer dieser Tage, an denen ich am liebsten etwas gegen die Wand geschleudert hätte, weil ich das Gefühl hatte, mich dadurch besser zu fühlen. Aber ich konnte vor meinen Problemen nicht davonlaufen, indem ich etwas kaputt machte.

Was war, wenn es wieder passierte? Wenn das nächste Mal keine Jess in der Nähe war, die Ren verscheuchte? Dann wären Halluzinati-onen und mögliche Wahnvorstellungen mein kleinstes Problem.

Nachdenklich fuhr ich mit den Fingern über meine Stirn, zog sie jedoch schnell wieder zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ich setzte mich auf den Steinboden und presste den Kopf gegen die Knie.

Ich war nicht verrückt. Was geschehen war ... dafür musste es eine logische Erklärung geben. Vermutlich hatte ich wirklich einen Hitzschlag oder brütete eine Grippe aus, die mich Dinge sehen ließ, die nicht da waren.

Hatte ich mir Ren lediglich eingebildet? Existierte er nur in meinem Kopf? Aber was war mit dem Reis? Der Behälter hatte an der Kante gestanden. Ganz sicher sogar. Und es war auch nicht unwahrscheinlich, dass er umgekippt und zersprungen war, als ich das Regal ange-rempelt hatte. Und der Stunt mit dem Cocktail Glas ... Vielleicht hatte ich doch bessere Reflexe, als ich für möglich gehalten hatte.

Ich atmete durch. Alles war in Ordnung.

Logische Erklärungen waren super.

Kaum, dass ich am Donnerstagmorgen die Augen aufriss, spürte ich ein dumpfes Pochen hinter meinen Schläfen. Müde blickte ich auf die Uhr und setzte mich erschrocken im Bett auf. Mist! Ich war viel zu spät dran. Warum hatte Mum mich nicht geweckt, bevor sie zur Arbeit gefahren war? Mein Kursplan hing schließlich nicht zur Zierde am Kühlschrank.

Ich sprang aus dem Bett und hechtete ins Badezimmer, wobei ich dem Wasserhahn einen misstrauischen Blick zuwarf, bevor ich nach meiner Zahnbürste griff.

Am Dienstag war die Dusche angesprungen, bevor ich darunter gestanden hatte. Am Mittwochabend hatte sich die Tür zu meinem Zimmer von selbst geöffnet und mich ins Gesicht getroffen. Und heute Morgen hatte ich verschlafen und die ersten beiden Stunden verpasst.

Als ich wieder in meinem Zimmer stand und entscheiden wollte, was ich anziehen sollte, kam mir der gesamte Inhalt meines Kleider-schranks entgegengeflogen.

Erschrocken sprang ich zurück und suchte dann den Boden nach meiner Schuluniform ab. Zu spät fiel mir auf, dass sie zu klein war. Frustriert schüttelte ich den Kopf.

Der akzeptable Prozentsatz an Abnormalität in meinem Leben war eindeutig überschritten worden. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Klamotten zurück in den Schrank zu kramen. Wozu auch? Damit sie mir abends wieder um die Ohren flogen?

Die Haare band ich zu einem Pferdeschwanz und schulterte meinen Rucksack. Dass mir mein Schlüsselbund, der auf der kleinen Kommode neben der Haustür lag, beim Hinausgehen in die Hände flog, war bereits eine Kuriosität, an die ich mich im Laufe der Woche gewöhnt hatte.

Ich radelte über die Oceanview Road, schob mich an den Autos vorbei, die sich gegenseitig ausbremsten, und bog schließlich in die Ma-kora Avenue ab, während mir der kühle Fahrtwind übers Gesicht strich. Es war vielleicht der längere Weg zum College, aber auch der Schönere. Ich musste lediglich etwas schneller fahren ...

Als das Schulgebäude in mein Sichtfeld trat, atmete ich erleichtert auf. Ich würde es noch pünktlich zum Biounterricht schaffen. Verschwitzt und so verwuschelt, als wäre ich gerade eben erst aus dem Bett gefallen, aber pünktlich.

Eilig lief ich durch die Flure. Ich konnte nur beten, dass ich auf meinem Platz saß, bevor Mrs Davies hereinkam. Als ich die Tür zum Klassenzimmer erreichte und nach der Türklinke greifen wollte, schwang sie mit Wucht nach innen auf und knallte gegen die Wand. Der Lärm hallte durch den Gang und ließ einige Schüler herumfahren, die ebenfalls zu spät dran waren. Ich hörte, wie jemand erschrak, und mir wich Stück für Stück die Farbe aus dem Gesicht.

Mist, Mist, Mist! Tausend Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, von denen keiner etwas taugte. Ich schloss die Augen und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

»Puh, heute zieht es aber ganz schön«, sagte Mrs Davies und räusperte sich. »Davon kriege ich irgendwann noch einen Herzinfarkt.«

Ich riss die Augen auf. Mit einer Hand rückte sie ihre Brille zurecht, mit der anderen hielt sie ihren Kalender fest umklammert. Ihre langen blonden Haare hatte sie wie immer in einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Ich öffnete den Mund, um ihr zuzustimmen. Zustimmen wäre gut. Ja, verdammt zugige Gänge! Doch nichts kam heraus.

Meine Lehrerin kniff die blauen Augen zu Schlitzen zusammen und ihre Miene verdüsterte sich. »Sollten Sie nicht längst im Klassenraum sitzen?«

»Tut mir leid«, krächzte ich.

»Dann nehmen Sie Platz.«

Sie streckte einen Arm aus und deutete auf meinen Tisch. »Das gibt einen Eintrag wegen Zuspätkommens. Ihren zweiten diese Woche und Sie wissen, was beim dritten Mal passiert.«

Ich nickte. Wie könnte ich das vergessen? Diese Frau hatte mich öfter nachsitzen lassen, als ich an meinen Händen abzählen konnte.

Während ich an ihr vorbeilief, zermarterte ich mir jedoch das Hirn, wann ich den ersten Eintrag bekommen haben sollte, und versuchte, das Kichern der anderen zu ignorieren.

»Wenn man in den Pausen schon rummacht, sollte man zumindest auf die Zeit achten«, flüsterte jemand und ich sah auf.

»Schlampe.« Lydia lachte hinter vorgehaltener Hand und hinter ihr wurde abermals ein Kichern laut.

Bevor ich darauf reagieren konnte, hatte Maddie sie schon zurechtgestutzt. »Du musst es ja wissen«, sagte sie. »Immerhin steht doch dein Name samt Strichliste an der Wand der Jungentoilette.«

Lydia wurde dunkelrot und das Lächeln erstarb ihr im Gesicht.

»Das reicht!«, rief unsere Lehrerin mahnend. »Und Sie setzen sich, Miss Clasen!«

Nachdem ich Maddie dankbar angelächelt hatte, setzte ich mich neben sie und zog mein Buch hervor, während Mrs Davies unsere Namen aufrief. Meinen ließ sie allerdings aus. Ich war mir sicher, es war Absicht.

»Kann ich nicht einfach wieder gehen?«, fragte ich Maddie nach dem Unterricht. Wir liefen zu unseren Schließfächern, um Bücher auszutauschen.

Maddie lachte. »Hast du einen schlechten Tag?«

»Wie kann der nicht schlecht sein?« Kurz dachte ich darüber nach, weiter auszuholen, aber was konnte ich ihr schon erzählen? Dass alle Türen und Gegenstände in meiner Nähe verrücktspielten und die Gesetze der Physik außer Kraft setzten? Das wäre vermutlich noch schwieriger zu erklären gewesen als meine Begegnung mit Ren, der seither – Gott sei Dank – nicht mehr aufgetaucht war.

»Vor dem gesamten Kurs zusammengestaucht zu werden, reicht, damit der Tag gelaufen ist, oder?«

»Pff. Glaub mir, du kannst von Glück reden, dass du dir den langweiligen Monolog von Mr Duncan nicht antun musstest. Da wäre dein Tag nämlich echt gelaufen!«

Ich musste kichern und schlug die Spindtür zu. »Du findest seinen Englischunterricht nur langweilig, weil du nicht liest.«

»Ich bitte dich! Shakespeare ist langweilig! Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass ich bei Hamlet eingeschlafen bin.«

»Also ich mag seinen Schreibstil«, entgegnete ich. »Außerdem sind seine Stücke zeitlos.«

Sie rollte mit den Augen, dann streckte sie mir die Zunge raus. »Deine Meinung zählt nicht, Streber.«

Auf dem Weg zur Kantine wechselte Maddie das Thema und erzählte mir von den neuen Schuhen, die sie auf der Party am Freitag tragen würde. Ich hatte mir noch nicht viele Gedanken darüber gemacht, weil ich davon ausgegangen war, Rock und T-Shirt zu tragen. Oder vielleicht gar nicht erst zu kommen.

»Na ja, weißt du, ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt kommen soll«, gestand ich. »Partys sind nicht so mein Ding.«

»Wie du hast nicht vor, zu kommen?! Der Schneeflockenball ist quasi unser Homecoming, unser Prom. Jeder geht dahin und alle machen sich schick.« Maddie blieb stehen und sah mich bestürzt an.

»Es ist nicht unser Prom«, erinnerte ich sie. »Und außerdem geht es mir in letzter Zeit nicht so gut. Ich schlafe schlecht und so ein Ball ist definitiv nichts, was ich jetzt gebrauchen kann.« Ich stöhnte und massierte meine Schläfen. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer.

»Selbst wenn, habe ich nichts Schickes anzuziehen. Wenn ich da in Shorts und Crop Top auftauche, starren mich nur wieder alle an. Darauf kann ich wirklich verzichten.«

»Hör auf, mit den Ausreden. Ich kenne die mittlerweile in und auswendig.«

»Das sind keine–«

»Und Lügen rieche ich zehn Kilometer gegen den Wind«, unterbrach Maddie mich, hakte sich bei mir unter und zog mich den Flur entlang. »Ich hab bestimmt etwas Schönes, das dir passt. Komm nach der Schule zu mir und wir wühlen uns durch meinen Schrank, was meinst du?«

Unschlüssig musterte ich sie, dann zeigte ich auf ihre Hüfte. »Als ob mir eines deiner Kleider passen wird.«

Sie winkte ab. »Natürlich finden wir eins, sei nicht so pessimistisch!«

Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu und reihte mich in die Schlange zur Essensausgabe ein. »Mein Po soll aber nicht unter dem Rock rausgucken«, ermahnte ich sie. »Und meine Brüste brauchen auch nicht hallo sagen.«

»Vertrau mir einfach! Ich krieg das schon hin.«

Nachdem wir unser Essen bezahlt hatten, liefen wir nach draußen zu einem der freien Plätze. Mein volles Essenstablett landete laut auf dem Tisch vor mir und ich zuckte zusammen, als der Schmerz in meinem Kopf explodierte. Ich atmete tief durch, bevor ich mich setzte. Gierig drehte ich die Nudeln mit Tomatensoße auf meine Gabel.

Ich hatte am Morgen keine Zeit gehabt, etwas zu frühstücken. Vielleicht hingen meine Kopfschmerzen also mit einem zu niedrigen Blutzuckerspiegel zusammen, aber kaum hatte ich das Essen im Mund, bekam ich keinen Bissen herunter. Mein Magen drehte sich um.

»Schmeckt es nicht?« Rawiri rutschte neben Maddie auf die Bank und klaute eine Kirschtomate von ihrem Salat.

»He, nimm dir gefälligst deinen eigenen«, meckerte sie und schlug ihm verspielt auf den kräftigen Oberarm. »Das nächste Mal haue ich fester zu, versprochen! Wenn es um mein Essen geht, verstehe ich keinen Spaß.«

Rawi prustete los und nahm sich eine zweite Tomate, bevor ihm Maddie auf die Finger hauen konnte. Er war mit einem sonnengeküss-ten Hautton gesegnet und hatte seine langen schwarzen Haare zu einem lockeren Dutt gebunden.

»Das ist es nicht«, beantwortete ich seine Frage. »Ich hab nur keinen Appetit.« Ich schob mein Essen weg.

Sofort schnappte er sich die Gabel und fing an zu kauen. »Mmmh, richtig gut«, nuschelte er mit vollem Mund. »Was ist 'n los mit dir?«

»Ich fühle mich einfach komisch.«

Er hörte auf zu kauen und warf mir einen besorgten Blick zu.

»Ich bin nicht krank«, versicherte ich ihm hastig. »Du kannst ruhig weiteressen.«

Zumindest behauptete das Thermometer, das meine Eltern im Badezimmerschrank bunkerten, dass ich kein Fieber hatte.

»Rawi, kannst du glauben, dass Hannah nicht zum Ball kommen will?«, ging Maddie dazwischen und sah ihn übertrieben schockiert an.

Ich rollte genervt mit den Augen. »Musst du das an die große Glocke hängen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ehrlich gesagt auch nicht so scharf auf die Veranstaltung. Außerdem ist mir nicht so recht ersichtlich, warum man die Party Schneeflockenball getauft hat. Auf Waiheke schneit es nicht, erst recht nicht im Sommer.«

Vor einigen Jahren war es tatsächlich einmal vorgekommen, dass in Auckland etwas Schnee gefallen war, nur hatte es sich dabei um Ende August gehandelt und die weiße, fluffige Masse war schnell zu einer schlammigen, braunen Pampe geworden.

»Ist doch ganz klar: Damit wir die Schule mit glitzernden Papierfetzen in Form von Eiskristallen verunstalten und uns so vorstellen können, es würde zur Weihnachtszeit schneien. Bei dreißig Grad Außentemperatur«, warf ich sarkastisch ein.

Rawi lachte. »Der ist gut! Den merk ich mir.«

Genervt legte Maddie ihr Besteck auf den Teller. »Also jetzt mal im Ernst, ihr könnt mich doch morgen nicht alleine lassen! Wir sind doch ein Team. Das wird bestimmt ein lustiger Abend.« Sie sah in die Runde, aber keiner antwortete ihr. »Ach, kommt schon! Wir können danach auch bei mir übernachten und eine Filmnacht einlegen.«

»Ich glaube nicht, dass du Hannah dazu zwingen–«, setzte Rawi an, doch Maddie ließ ihn nicht ausreden.

»Bitte, lasst mich nicht alleine! Du machst sowieso jeden Mist mit, sobald es kostenloses Bier gibt, und Hannah–« Sie sah zu mir und stockte. Ich hatte die Ellbogen auf den Tisch gelegt und massierte meine Schläfen. Dank der dröhnenden Kopfweh war ich ihrem Monolog nur halbherzig gefolgt.

»Hannah?«, fragte Rawiri und rutschte zu mir. »Ist alles in Ordnung?« Er streckte die Hand aus, um meine Schulter zu berühren, doch da sprang ich schon auf, murmelte eine Entschuldigung und eilte davon.

Als ich die Toiletten erreichte, ging es mir etwas besser, aber ich spritzte mir trotzdem kaltes Wasser ins Gesicht. Danach stützte ich mich an dem weißen Porzellanwaschbecken ab und betrachtete mein Spiegelbild. Meine Wangen waren gerötet und tiefe, blaue Schatten hatten sich unter meine Augen gelegt. Eine Bewegung über meiner Schulter riss meine Aufmerksamkeit an sich und ich hörte auf zu atmen, als ein dunkelgrünes Augenpaar meinen Blick erwiderte.

Panisch fuhr ich herum. Mein Herz raste. Das Badezimmer war jedoch leer. Ich schloss die Augen und fasste mir an die Brust. Was stimmte nicht mit mir? Jetzt sah ich schon Gespenster.

Einige Minuten blieb ich gegen die Wand gelehnt stehen. Schließlich stieß ich die Tür wieder auf und machte mich auf den Weg zurück. Der Flur war wie ausgestorben, meine Schritte hallten laut von den kahlen Wänden wider. Die Luft knisterte. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ein ohrenbetäubender Lärm den Gang erfüllte.

Die Schließfächer sprangen auf und knallten gegeneinander. Ich erschrak und musste mir bei dem lauten Geräusch die Ohren zuhalten. Geschockt stand ich in der Gangmitte und beobachtete die Metalltüren, die quietschend in ihren Angeln hingen. Ich konnte mich nicht rühren. Was war gerade passiert? Flüchtig sah ich mich zu allen Seiten um. Ich war alleine. Mein Blick fiel auf meine Hände. Hatte ich das etwa getan? Aber wie war das nur möglich?

Ich sträubte mich, weiterzugehen, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete in die entgegengesetzte Richtung. Ich würde außen um das Gebäude herumgehen, aber ganz bestimmt nicht weiter diesen Flur entlang.

Als meine Freunde mein blasses Gesicht sahen, eilten sie sofort zu mir. Ich schüttelte ihre löchernden Fragen ab, da ich ohnehin keine plausible Erklärung parat hatte.

Irgendwie überstand ich auch die letzten drei Schulstunden, und als die Glocke läutete, ging ich erleichtert in den Umkleideraum, um mich für den Geländelauf umzuziehen.

»Ist alles okay mit dir?«, fragte Maddie, sobald Coach Petrino uns das Startzeichen gab und der Kurs loslief.

Ich nickte nur.

Nach ein paar Schritten, bei denen sie versuchte, mitzuhalten, fügte sie japsend hinzu: »Können wir ... langsamer laufen? Nicht jeder ist ... vom Planeten Krypton.«

Ich musste schmunzeln und verlangsamte meine Schritte. »Mir geht es gut«, antwortete ich schließlich. »Es sind nur die Nerven. Prüfungsstress und so, du weißt schon. Das Übliche halt.«

Sie hob eine Augenbraue. »Du? Prüfungsstress? Die Person, die es ohne großes Lernen schafft, in beinahe jedem Fach zu bestehen, hat Prüfungsstress?«

»Beinahe jedes Fach trifft es ganz gut«, witzelte ich.

Sie schnaubte. »Ich bitte dich!«

»Maddie ...« Ich hasste es, sie anzulügen.

»Jetzt im Ernst, was ist los mit dir? Ich mache mir Sorgen. Du verhältst dich in letzter Zeit irgendwie seltsam.«

Ich wich ihrem Blick aus. Ja, das konnte sie laut sagen ...

»Ich bin deine beste Freundin. Glaubst du etwa, ich merke nicht, wenn etwas mit dir nicht stimmt?«

»Mit mir ist alles in Ordnung. Und schau mich nicht so an!«

»Hat es etwas mit einem Typen zu tun? Hat er dich bedrängt? Dir etwas angetan?«

»Was? Nein. Du schaust wirklich zu viele Thriller.«

»Und du zu wenige«, erwiderte sie. »Jetzt erzähl! Wenn es um einen heißen, nicht psychopathischen Typen geht, bin ich ganz Ohr.«

Ich seufzte und rollte mit den Augen. Seit einem halben Jahr bemühte sich Maddie darum, mich mit irgendeinem gutaussehenden Kerl zu verkuppeln. Dass ich mich seither strickt weigerte, sie auf eine Party zu begleiten und ›die heißen Jungs abzuchecken‹, wie sie es nannte, spornte ihren Ehrgeiz nur noch weiter an.

»Sei keine Langweilerin«, hatte sie vor drei Wochen gemeckert, als ich einmal nachgegeben und sie auf eine Fete am Fishermans Rock begleitet hatte. Im Dämmerlicht der untergehenden Sonne war ich auf den unebenen Felsformationen ausgerutscht und hatte mir das Schienbein aufgeschürft. Unsere Meinungsverschiedenheit war vergessen, als sie zu mir gestolpert kam, um mir aufzuhelfen und meine Wunde mit hochprozentigem Wodka zu reinigen.

Noch schlimmer als der stechende Schmerz des Alkohols, war das Nachhausekommen wenige Stunden später gewesen. Maddies Gekicher hatte meine Eltern geweckt und ich durfte erklären, warum ich nass war und nach Alkohol roch, während sie glückselig an meinem Arm hing und tatsächlich betrunken war.

»Nein, hat es nicht«, entgegnete ich gereizt. »Können wir endlich das verdammte Thema wechseln? Ich habe nämlich wirklich keine Lust, darüber zu reden, okay?! Es ist nicht gerade entspannend, das NCEA 2 gut abschließen zu wollen, sich Gedanken übers IB Diploma zu machen und sich zu entscheiden, auf welche Universität man nach der Schule gehen soll«, fauchte ich.

Auf einen Schlag kehrten die Kopfschmerzen zurück. »Ganz zu schweigen davon, dass meine beste Freundin seit Tagen über nichts anderes mehr reden kann als diesen bescheuerten Ball und welchen Kerl sie dort um den Finger wickeln und vielleicht sogar abschleppen will. Ich hab's so satt, Maddie!«

Sie zuckte bei meinen Worten zusammen, was mir einen Stich versetzte. Was war nur in mich gefahren?

Maddie blieb stehen. Ihr Blick war leer, ihre rosigen Wangen verdunkelten sich und sie ballte die Hände zu Fäusten. »Tut mir leid, dass ich anscheinend so eine Last für dich bin!«

Oh shit.

»Maddie, ich–« Mir fehlten die Worte. Was hatte ich nur getan? Wie konnte ich meinen Frust nur an ihr auslassen? Sie hatte mit den seltsamen Vorfällen absolut nichts zu tun.

»Wenn ich dich so sehr nerve, warum hast du nie etwas gesagt? Warum bist du dann überhaupt mit mir befreundet?« Ihre Stimme zitterte.

»Maddie ... ach Scheiße! Ich weiß doch auch nicht, was im Moment mit mir los ist. Ich hab's nicht so gemeint, ehrlich nicht! Ich–« Ich musste die Augen zusammenkneifen, um die brennenden Tränen zu-rückzudrängen. »Ich hasse Partys und du weißt das. Ich würde nur gerne mal wieder etwas machen, das keine blöden Kerle oder Feten beinhaltet. Einfach nur du und ich, so wie früher.«

Maddie trat an mich heran und ich biss mir auf die Zunge.

»Arschloch«, sagte sie und kniff mich in die Seite.

Ich zuckte zusammen, entspannte mich aber wieder, als ich bemerkte, dass sie lachte.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Kein Grund, mich als Schlampe zu bezeichnen.«

»Das habe ich doch gar nicht!«, protestierte ich.

»Du hast es aber gedacht. Das zählt genauso, wie wenn du es laut ausgesprochen hättest.« Sie schenkte mir einen wissenden Blick.

»Aber da du meine beste Freundin bist, verzeihe ich dir.«

»Wie großzügig.«

Maddie zwickte mich erneut in die Seite.

»Und wofür war das bitte?«

»Dafür, dass du dachtest, ich sei eine Schlampe. Du hast nicht unrecht, aber wenn ich dich nicht zwicken würde, würde dich das nur ermutigen, mich für eine zu halten.«

Ich lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du bist unmöglich!«

»Und du bist ‘ne Arschgeige!«

»Ich bin lieber ein Streichinstrument, als eine–« Ich stoppte mich rechtzeitig.

»Ja? Sag schon!«

»Vergiss es einfach.«

»Sag jetzt!« Sie wollte mich ein weiteres Mal zwicken, aber ich sprang außer Reichweite.

»Ich bin lieber eine Arschgeige als eine Schlampe«, platzte es lachend aus mir heraus.

»Wie hast du mich gerade genannt?!«

Ich streckte ihr die Zunge raus. »Du hast mich schon verstanden.«

»Na warte, das kriegst du zurück!«

Ich begann, vor ihr wegzulaufen. »Ich will dich ja nicht entmutigen, aber wenn du mich erwischen willst, musst du dich etwas mehr anstrengen.« Ich kicherte.

»Glaubst du etwa, ich könnte dich nicht schlagen?«

Ich schenkte ihr über die Schulter hinweg ein breites Grinsen. »Ich weiß es sogar.«

»Arsch«, erwiderte sie, aber ich konnte sehen, dass sie ebenfalls lächelte.

Auf den letzten hundert Metern sprinteten wir los, doch ich hatte Maddie schnell abgehängt. Coach Petrino sah mich geschockt an, als sie meine Zeit stoppte.

Ich verschob meine Schicht im Café, um nach der Schule zu Maddie zu fahren. Ich hatte meiner Mum erzählt, dass wir auf der Suche nach einem Ballkleid waren. Ohne Umschweife hatte sie jubelnd zugesagt, uns viel Spaß gewünscht und aufgelegt.

In ihrem Kopf würde ich wohl immer das schüchterne Mädchen bleiben, das jeglichen Kontakten und Veranstaltungen aus dem Weg ging. Wahrscheinlich hatte sie mich zum Abschlussball bereits mit einer Tüte Chips auf der Couch sitzen sehen.

Dabei lag es nicht so sehr daran, dass ich zu schüchtern war, um Anschluss zu finden. Ich hatte nur lieber meine Ruhe und konnte mir an einem Freitagabend etwas Schöneres vorstellen, als mich bei dröhnender Musik auf eine enge Tanzfläche zwischen verschwitzte Jugendliche zu quetschen.

»Ich bezweifle, dass mir deine Sachen passen werden«, wiederholte ich meine Bedenken und drehte mich missmutig vor Maddies Spiegel um die eigene Achse.

Ich trug ein dunkelgrünes, rückenfreies Sommerkleid, das mir jedoch gerade so über den Po reichte. Es war viel zu eng und warf unangenehme Falten in der Hüfte. Mit den Händen zog ich am Saum, in der Hoffnung, dass sich der Stoff in die Länge ziehen ließ, aber meine Bemühungen waren umsonst.

»Wir finden schon etwas. Hier, zieh das mal an.« Maddie reichte mir ein rotes Cocktailkleid mit einem Ausschnitt bis zum Bauchnabel.