Spirits of Violence - C.I. Ryze - E-Book

Spirits of Violence E-Book

C.I. Ryze

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Beschreibung

Magie gegen Tech – die Welt am Abgrund Die letzten Magiebegabten des Alten Blutes bekriegen sich mit Techs, alte Traditionen kämpfen gegen den Andrang der Neuzeit. Mittendrin kommen die Techsammlerinnen Kenna und Cecil gerade so über die Runden. Während einer Kneipenschlägerei treffen sie auf die Geistliche Freya, die ihnen ein ungeheuerliches Angebot macht. Sie gehen auf den Handel ein und drängen sich damit unbewusst in den lebensgefährlichen Kampf verfeindeter Fronten. Plötzlich offenbart sich das wahre Ausmaß einer uralten Fehde und bringt das Gefüge der Welt ins Wanken. Die beiden Frauen werden von Cecils wahrer Herkunft eingeholt und immer drastischer zeigt sich, dass sich technischer Fortschritt nicht mit der Magie altvorderer Geister vereinen lässt. Was als einfacher Job beginnt, entwickelt sich zu einer Hetzjagd gegen die Zeit. Auf den Schwingen der Zerstörung – Cyberpunk trifft auf Dark Fantasy

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Nachwort

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

SPIRITS OF VIOLENCE

Text © C.I. Ryze, 2023

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Satz & Layout: Phantasmal Image

Covergrafik © shutterstock

Innengrafiken © shutterstock

E-Book: Grit Bomhauer

ISBN: 978-3-98792-078-3

© GedankenReich Verlag, 2023

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

»Dankeschön.«

Der Mann hinter der Theke und den dicken Metallstangen nickte nur zufrieden. Die Hand mit dem kleinen, glitzernden Ding verschwand in einer Schublade. Stattdessen holte er aus seiner abgetragenen Manteltasche einen Beutel, den er in die Durchreiche warf. Er drehte die Platte und verhinderte damit, dass man die Hand abgehackt bekam, sollte man versuchen, ohne Erlaubnis in das Fach zu greifen.

Die Brünette krallte sich mit flinken Fingern den Beutel und warf einen prüfenden Blick hinein. Eins, zwei, drei … Sie runzelte die Stirn.

»Hey! Das sind Krakenmünzen! Wir haben uns auf zehn Salamandermünzen geeinigt!« Sie knurrte und trat näher an die Theke. »Damit kann ich nichts anfangen!«

»Solange du hier in der Gegend bist, kannst du das. Nimm sie oder gib sie zurück, aber das Tech bleibt bei mir.«

Bei dem Tonfall von diesem Dreckskerl hätte sie ihm am liebsten direkt den Beutel durch die schützenden Stangen geworfen und ihm den Schädel damit eingeschlagen, steckte das Leder dann jedoch trotzig in die Gürteltasche. Brummend schlug sie sich die Faust genau in die Kuhle des Schlüsselbeines und zog ihren alten Freund aus abgegriffenem Stoff in einer schnellen Bewegung bis über ihre Schulter.

Der Pfandleiher lachte nur.

»Deine Beleidigungen funktionieren nur bei jemandem, der aus deiner Fraktion kommt, Süße.« Sie war aber schon auf dem Weg zur Tür und nahm sein Rufen nur durch einen Nebel von Wut wahr. »Bis zum nächsten Mal, Kenna!«

Mit hochrotem Kopf, so rot er bei ihr werden konnte, stürmte sie nach draußen, warf die halb kaputte Metalltür zurück ins Schloss und ging im Stechschritt aus der dunklen Seitengasse hinaus auf die offene Straße. Darauf brauchte sie erst einmal etwas zu trinken. Nur wenige Schritte später lief das junge Mädchen neben ihr, es trug die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und hatte sich den breiten Schal über die schmalen Schultern geworfen.

»Und?«, fragte sie ungeduldig. Ihre Stimme ging im Gerede der Menge fast unter.

»Krakenmünzen hat er uns gegeben, der Bastard. Geben wir sie aus, solange wir noch hier sind.«

Das Mädchen kommentierte es nur mit einem leisen »Oh …«.

Kenna hasste diesen Ort. Die Stadt mitten auf dem Meer war alles andere als das Inselparadies, das einem die Händler immer auftischten. Die auf der ganzen Wasseroberfläche verteilten, riesigen Metallplatten wackelten mit jeder Bewegung der Wellen, wenn sie nicht wie die große Hauptplatte auf dicken Metallstreben über dem Wasserspiegel hingen. Auf das geisterhafte Glitzern der Sonne konnte man sich gar nicht konzentrieren. Noch mal würde sie nicht herkommen.

»Hast du Hunger?«, fragte sie dieses Mal sanfter, das vermummte Mädchen nickte. »Sehen wir mal, ob wir einen Pub finden, in dem ich nicht bei der ersten Welle alles wieder auskotzen muss.«

Auch Kenna zog sich den umfunktionierten Schal über das Gesicht. Besser, keiner erkannte oder erinnerte sich an sie. Zusammen wackelten sie über die schmalen Übergänge, die auf flinken Füßen von den Einheimischen hinter sich gelassen wurden, Kenna und ihre Begleitung aber dazu brachten, sich in das rostige Geländer zu krallen und im Stillen dem Geist des Kraken dafür zu danken, dass er das Meer nicht zu hohe Wellen schlagen ließ.

Sie wählten einen Pub am Rande der Hauptplatte auf einer der unzähligen Streben aus. Erreichen konnte man den nur über eine alte, stellenweise eingebrochene Treppe. Im Pub sah es aus wie überall sonst. Es stank nach Alkohol, Essen, Erbrochenem und dem Restgeruch der täglichen Arbeit, weshalb sie es vorzogen, sich in eine dunkle, ruhigere Ecke mit einem Tisch für zwei Personen nahe einer kaputten Wandplanke zurückzuziehen. Kenna zog sich einen umgefallenen Stuhl unter dem Hintern eines am Boden schlafenden Eingeborenen heraus, um sich zu dem Mädchen zu setzen.

Kurz darauf kam eine schiefgewachsene Barfrau zu ihrem Tisch. Sie war von breiter Statur, was man Blubber nannte. Angelehnt an das dichte Fett von Walen oder anderen Säugetieren des Meeres half es dabei, vor der Kälte der rauen See zu schützen, verlieh den Vertretern ihrer Art allerdings grundsätzlich das übergewichtige und aufgequollene Aussehen eines Kugelfisches. Angeblich schmeckte das braune Fett fantastisch zu frischem Gemüse – wenn man auf so etwas wie Kannibalismus stand.

Ihre Füße knickten vom immer bewegten Boden nach innen und sie keuchte mit jedem Atemzug die salzige Luft gewaltsam aus den Lungen. Ihre aus Algenfasern gewebte Kleidung und die Fischschuppen auf dem kahl rasierten Kopf ließen keinen Zweifel aufkommen, zu welcher Fraktion sie gehörte, den sogenannten Kalmara. An einigen Stellen zwischen den Schuppen fanden sich kleine Explosionen aus ausgebleichtem, braunem Haar.

»Was darfs sein?«, blaffte sie und stellte ihnen zwei Karaffen mit Bier hin. Etwas anderes gab es vermutlich nicht.

Kenna zog den Schal genug hinunter, um verstanden zu werden, hob den Blick aber nicht und legte eine der perlmuttglänzenden Krakenmünzen auf den Tisch. »Etwas zu Essen für uns beide. Und Wasser, falls ihr so etwas habt.«

Die Barfrau brach in Gelächter aus und warf den Kopf zurück, bis der Blubber sowie die Haut in ihrem Gesicht tiefe Falten warfen. Die wuchtigen, mit Schwimmhäuten versehenden Hände stützte sie in die ausladenden Hüften.

»Zeig erst mal dein Gesicht, dann reden wir darüber, was ihr hier bekommt.«

Kenna rümpfte die Nase. Dafür hatte sie wirklich keine Geduld. Nochmals griff sie in den Beutel und knallte drei weitere der Münzen auf den Tisch. Nachdenklich kratzte sich die Barfrau am Hals, sackte schnell alles ein und legte eine Kehrtwende zur Bar hin. Kenna nutzte die Gelegenheit, sich im Pub umzusehen. So sehr es auch stank und sich der Fischgeruch in das Holz gebohrt hatte, es erlaubte ihr, ein wenig zu entspannen. Gardisten, Soldaten und hochrangige Mitglieder der Gesellschaft, die einem das Leben schwer machten, hielten sich vorzugsweise an sauberen Orten auf. In diesen stinkenden Jauchegruben kämpfte sie höchstens gegen den Verlust ihres Geruchssinns.

»Und? Wohin gehen wir nun?«

»Ich weiß noch nicht.«

Kenna verstummte, als die Barfrau mit zwei Tellern Fischeintopf und einem kleinen Becher Wasser zurückkam, beides zu ihnen stellte und dann wieder verschwand. Kenna tauschte den zweiten Krug Bier mit dem neuen Becher aus und schob letzteren näher zu dem Mädchen. Sie würde den zusätzlichen Alkohol brauchen nach dieser Blamage.

»Suchen wir uns später einen Platz zum Bleiben und brechen morgen früh auf.«

»Ein paar Leute haben geredet«, murmelte das Mädchen in den Eintopf, zog einige Gräten heraus und legte diese fein säuberlich neben den Teller auf den Tisch. »Im Norden gab es einen Erdrutsch. Vielleicht sollten wir es dort versuchen.«

Kenna nickte zustimmend. Das oder gar nichts.

Man musste ihr lassen, dass sie für ein so junges Ding viel hörte und ein glücklicheres Händchen hatte, was Ruinen und Tech anging. Vielleicht half es auch, dass sie mit dieser Generation aufwuchs, die nicht um den Kontakt zu Tech herumkam, und so für die eigene Sicherheit immer auf ihre Umgebung zu achten. Diese neue Macht, die vom Mix aus Metall und Elektrizität herrührte, begleitete sie jeden Tag. So oder so erfüllte Cecil sie mit ihren zarten sechzehn Jahren mit Stolz. Sie war mit den weiß-blonden, kurzen Haaren nicht nur hübsch, sondern besaß einen scharfen Verstand, der den von anderen Leuten in ihrem Alter weit übertraf.

»Wenn uns nicht wieder diese miesen Chimära zuvorkommen. Darauf kann ich echt verzichten.« Der schmale Körper ihrer Begleitung vibrierte unter dem dicken Schal und dem Leder. »Lachst du mich aus?«

»Du klingst immer super dramatisch. Das letzte Mal sind wir doch auch entwischt.«

»Irgendwann kommt der Tag, an dem uns das Glück nicht mehr hilft.«

»Du bist ein laufender Glücksbringer.«

In ihr Essen seufzend schluckte Kenna einen weiteren Kommentar hinunter. Sie war vieles, aber nicht das. Die hellweißen Flecken auf ihrer dunklen Haut waren nur ein Zeichen dafür, dass ihr das Glück langsam ausging. Wurde sie gänzlich weiß, sofern sie diesen Tag überhaupt erlebte, so würden sie die Geister holen und für immer in der Zwischenwelt festhalten. Zumindest erzählte man sich das so, und die Gläubigen der Welt sahen in so jemandem wie ihr nur einen Bringer von Unheil und Zerstörung.

Das meiste Glück war vor rund dreizehn Jahren mit Cecil zu ihr gekommen, zumindest nach Kennas Auffassung. All das verbrauchte Glück von diesem Tag zeigte sich im weißen Halbmond um ihr Auge. Cecil behauptete, der Mond und die vielen weißen Punkte auf der schwarzen Haut verwandelten ihr Gesicht in einen Nachthimmel.

»Worauf wartest du noch?«, lallte es auf einmal lautstark durch den Raum. »Sing was für uns, Vögelchen!«

Die beiden Frauen schielten zur Quelle des Tumults. An einem der Tische, die näher bei der Bar standen, hatte sich eine Gruppe Jugendlicher um eine Blondine gesammelt, die angestrengt eine kleine Tasse zwischen den Fingern hielt. In die kinnlangen, gelockten Haare waren weiße, ausgefranste Federn eingeflochten. Eine Anhängerin des Schwanengeistes, eine Cygna.

Gerade setzte sie zu einem weiteren Schluck aus der Tasse an, da wurde sie ihr von dem Jungen neben ihr aus der Hand geschlagen. In seinem unförmigen, vernarbten Gesicht prangten kleine Metallplatten direkt auf der Wange, daneben die Überreste einiger eingewachsener Schuppen. Perplex wirkte die Frau auf den Angriff hin nicht direkt, aber ihre Gesichtszüge spannten sich deutlich an.

»Singen!«, befahl er erneut. »Oder muss ich dich zwingen?«

Er streckte die Hand aus und bekam auf den schlechten Reim ein amüsiertes Grunzen seiner umstehenden Kumpane. Er wollte der Blonden in die Haare greifen, damit er sie vom Stuhl zerren konnte, aber kurz darauf jaulte er vor Schmerz auf, da die Frau seine Hand packte und auf unnatürliche Weise verdrehte. Seine Freunde sprangen ihm direkt zur Seite, ergriffen die Blonde an den Schultern und warfen sie von ihrem Angreifer weg auf den Boden. Mit ihr flogen ein Gehstock und einer der Stühle umher.

Kenna fühlte, wie sich Cecil neben ihr regte, aber sie drückte die Jüngere zurück in den Stuhl, drehte den Kopf weg und blendete das gedrückte Keuchen der Frau sowie die Flüche der Jugendlichen aus.

»Lass es«, murrte sie. »Wir sollten uns nicht einmischen.«

»Aber-«

»Kein Aber. Sonst bist du die Nächste.«

Der Blick ihrer besorgten, grünen Augen huschte unter der Kapuze hin und her, aber sie blieb, zu Kennas Erleichterung, auf ihrem Stuhl. Den Blick konnte sie allerdings nicht abwenden. Kenna starrte stattdessen auf den Boden ihres Bierkrugs, den sie mit einem Zug leerte. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, aber damit kam die Wärme zurück in ihre Gliedmaßen.

»Scheiß Vogel!«, fauchte einer der Jugendlichen, die ohne Schmerzensschreie und dem Flehen um Gnade schnell die Lust an der Prügelei verloren hatten. »Gehen wir.« Er warf der Barfrau eine Krakenmünze entgegen und torkelte mit seinen Kumpanen nach draußen.

Noch bevor Kenna reagieren konnte, stand das Mädchen neben ihr auf und eilte zu der hustenden Frau am Boden. Deren aus bunten Tüchern genähte Kleidung war eng um den ausgehungerten Körper gewickelt. Augenrollend erhob sie sich, schlich zu den beiden und schob sich unter den zweiten Arm der Frau, um sie zurück auf einen Stuhl zu heben.

»Ist alles okay?«, fragte Cecil die deutlich benommene Frau.

Ein paar Tropfen Blut quollen aus einer kleinen Wunde unter den fast weißen Haaren hervor. Die Angesprochene kam jedoch nicht dazu, zu antworten. Die Barfrau kam wieder zu ihnen, diesmal in deutlich ablehnender Haltung und mit verschränkten Armen. Ohne den Anflug eines Lächelns durchdrang der Blick der kleinen Augen Kenna unangenehm.

»Gehört die zu euch? Verschwindet. Alle drei!«

»Nein, wir-«, versuchte Kenna, zu widersprechen.

Das blubberlastige Wesen unterbrach sie jedoch unwirsch, deutete zwischen starrenden Besuchern und betrunkenen Gästen in Richtung Tür. Nur Cecil zuckte bei der abrupten Bewegung zusammen. »Ich sagte: Raus!«

Eher widerwillig schob sich Kenna erneut unter den Arm der fremden Frau, hob sie hoch und half ihr nach draußen, während Cecil die andere Seite stützte. Den Gehstock hielt sie fest umklammert, als könnte dieser jeden Moment verschwinden. Bei dem Gebimmel des Säckchens, das an dessen simpel geschnitzten Knauf hing, war für Kenna die Versuchung, das ganze Teil einfach ins Meer zu werfen, verdammt groß. Mit angesäuerter Laune, trotz des Bieres im Bauch, brachte sie die beiden in eine kleine Seitengasse nahe einer weniger geschäftigen Straße, in der sie sich einen Moment auf ein trockenes Stück Boden setzen konnten.

»Ganz schöne Nummer, die du da abgezogen hast. Ich hoffe sehr, für das alles hier bezahlt zu werden. Bier und Essen sind teuer!«

Die Hälfte davon stand noch immer verlassen im Pub! Irgendein Gierschlund hatte sich bestimmt schon darüber hergemacht.

Die Blonde wirkte etwas neben sich, griff aber plötzlich nach dem Stock und zerrte daran, was das Mädchen dazu brachte, vornüber und fast auf ihren Schoß zu fallen.

Kenna packte die Frau am Handgelenk. »Woah, langsam. Alles ist gut.« Sie versuchte, beruhigender zu klingen, als es ihre Laune hergab. Vermutlich vergebens. »Die bösen Jungs sind weg, okay?«

Da trafen sich zum ersten Mal ihre Blicke, wobei ihr unweigerlich ein Schauder über den Rücken lief. Sie hatte schon von den durchdringenden Augen der Anhänger des Schwanengeistes gehört, aber sie bisher nur bei Cecil aus nächster Nähe betrachten können.

Der Rand der Iris war ungewöhnlich dick und schwarz, er hob die blau-grüne Farbe hervor. Die Pupille hingegen war so klein wie ein Nadelstich auf einer glatten Oberfläche. Zahlreiche Falten im Gesicht der Fremden deuteten auf ein fortgeschrittenes Alter hin und die hellweiße Haut, die ihren Haaren Konkurrenz machte, umrandeten ihre schauerlichen Augen weiter. Es war fast, als würde das Blau ihrer Iriden sie einsaugen.

Der seltsame Moment verflog und Kenna senkte den Blick. Zumindest der keuchende Atem der Frau beruhigte sich allmählich. Den Stock zog sie trotzdem aus den Händen des noch immer vermummten Mädchens.

»Wir sollten uns ein Zimmer suchen und sehen, ob du verletzt bist«, flüsterte Cecil kleinlaut unter dem dicken Schal. »Du könntest dir etwas gebrochen haben.«

Erneut schlich sich Unsicherheit in die schmalen Züge der Blonden, aber Kenna hatte gelernt, darüber hinwegzusehen. Unsicherheit begegnete ihr tagtäglich und man musste lernen, solche Sachen zu ignorieren, den Brocken zu schlucken und weiterzumachen. Die Fremde schien auch so zu denken, denn nach einer Bedenkzeit, in der sie die Umgebung abscannte, stimmte sie mit einem kurzen Nicken zu.

»Dann wäre das ja geklärt.« Kenna sah zu Cecil auf. »Ich glaube, auf dem Weg hierher war ein Gasthaus. Frag nach, ob sie dort noch Zimmer haben.« Aus der Gürteltasche holte sie fünf weitere Krakenmünzen heraus. »Das sollte bis morgen reichen. Kein Wort zu niemandem!«

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete die Jüngere augenrollend, und binnen weniger Sekunden war sie um die Ecke gehüpft.

Kenna wartete eine kurze Weile, starrte die Blondine an, die das Geschehen der Hauptstraße fixierte.

»Du könntest mir wenigstens sagen, wie du heißt.« Selbst warf sie zwar nie mit ihrem Namen um sich, aber man sollte schon wissen, wen man vor sich hatte, wenn man erwartete, bezahlt zu werden. Keine Antwort, nur ein weiterer Blick. »Zu fein, mhm? Bist du noch vom alten Adel?«

Diesmal bekam sie wenigstens ein Kopfschütteln. Kein Adelsstand also. Das hätte sie aber auch schwer gewundert. Der alte Adel der Anhänger des Schwanengeistes war nach dem Einzug der Chimära komplett ausradiert worden. So wie sie aussah, konnte sich Kenna trotzdem vorstellen, dass sie aus der Hauptstadt dieser Anhänger weit im Norden kam, vermutlich sogar eine Geistliche war. Diese Leute hatten alle einen gewaltigen Stock im Arsch.

Kenna schnaubte, setzte sich der Frau gegenüber und zog sich den Schal vom Gesicht. »Ich rate dir, keine Dummheiten zu machen, wenn wir schon nett zu dir sind.«

Sofort musterte die Fremde, jetzt mit klarerem Blick, Kennas Gesicht. Sie nahm es ihr nicht übel. Die meisten wären inzwischen aufgesprungen und weggerannt bei dem Anblick des weißen Flecks in Form eines Halbmonds direkt an ihrem Auge. Er bedeckte nahezu ein Viertel ihres Gesichts.

Unmerklich bliesen sich die Nasenflügel der Fremden auf und Kenna wurde daran erinnert, warum sie Cygna in der Regel nicht leiden konnte. Die schmalen Augen waren fast gänzlich von der Iris eingenommen, man erkannte kaum das Weiß der Sklera, was ihnen das Aussehen von Raubvögeln verlieh. Da mochte sie die Anhänger des Kraken, die Kalmara, doch lieber. Zwar lauerten diese gerne unter Wasser, aber das Messer in den hässlichen Blubber zu rammen, war schlichtweg zufriedenstellend, auch wenn man für ernsthafte Verletzungen deutlich tiefer stechen musste. Kopfschüttelnd stand Kenna auf. Besser, sie blieben nicht zu lange.

»Kannst du gehen?«

Der Fremden beim Aufstehen und Gehen zuzusehen, hellte Kennas Laune doch irgendwie wieder auf. Sie wollte sich nicht helfen lassen, schwankte etwas hin und her, aber sie fing sich und schaffte es trotz der Kopfwunde, einigermaßen gerade zu laufen. Der Gehstock schien für sie nicht überlebensnotwendig, denn sie benutzte ihn nur, wenn die Plattform aufgrund der Wellen auf eine Seite kippte und sie das Gewicht gänzlich auf das verletzte Bein legte. Beim normalen Gang versteifte sie fast unmerklich, aber belastete es weitestgehend normal. Nur bei einer größeren Welle wäre sie fast gefallen, was bei ihr wie ein Vogel aussah, der rückwärts von einer Stange kippte.

Das Gasthaus stellte nicht viel mehr dar als ein Schuppen mit einigen Abstellkammern. Innen kam ihnen Cecil entgegen, die sich inzwischen den Schal vom unteren Teil des Gesichts gezogen hatte und damit den Blick auf zierliche Gesichtszüge und von der salzigen Luft aufgerissene Lippen freigab. Mit stolzgeschwellter Brust hielt sie Kenna den Schlüssel entgegen.

»Gut gemacht«, lobte die Ältere sie. »Gibt es Wasser?«

»Ein Eimer zum Waschen is aufm Zimmer!«, plärrte der aufgequollene Mann hinter dem Empfang, der nur Augen für die Krakenmünzen hatte, die vor ihm auf dem Tisch lagen.

Kenna warf dem Mädchen einen wütenden Blick zu. Das waren eindeutig mehr als fünf Münzen! Statt zu reagieren, flüchtete das Mädchen leichtfüßig die Treppe nach oben und öffnete die erstbeste Tür. Kenna kam mit der Fremden hinterher, jedoch deutlich langsamer. Es war sicherer, einem Unbekannten nicht den Rücken zuzudrehen, auch wenn diese Person in ihrer Bewegung deutlich eingeschränkt war. Sie wand die Augen erst im Zimmer von ihr ab – wenn man es denn als solches bezeichnen konnte.

Es gab gerade genug Platz für drei Leute. Sie fanden hier ein Bett mit dreieinhalb Bettpfosten, eine weitere modrige Matratze, die in der Ecke aufgestellt worden war, daneben einen kleinen Eimer mit kaltem Wasser sowie zerrupften Lappen und einen mies zusammengeschweißten, metallenen Stuhl. Wenigstens das Fenster ließ sich schließen. Die Fremde half sich selbst auf den Stuhl, lehnte ihren Gehstock behutsam gegen die Wand und zog eines der Bänder auf, die ihr Oberteil zusammenhielten.

Irgendwie wunderte Kenna diese Platzwahl nicht. Er befand sich hinter der Tür, sie hatte das ganze Zimmer und das Fenster bestens im Blick.

Cecil lief gleich zu ihr hinüber.

»Warte. Ich helfe«, sagte sie, nachdem die Fremde ein leicht schmerzhaftes Schnauben zwischen den Lippen hervorgepresst hatte.

Kennas Hand wanderte automatisch an den kleinen Dolch, den sie in der Falte ihrer Kleidung aufhob, und zurecht, wie sich herausstellte. Wie schon im Pub packte die Frau das Mädchen am Handgelenk und hinderte es so daran, sie anzufassen.

»Finger weg!« Kenna war mit einem Satz bei den beiden, den Dolch gezückt und auf Augenhöhe vor der Fremden. »Loslassen.«

Der durchdringende Blick der Frau wanderte prüfend hin und her, blieb dann an Cecils Gesicht hängen, die sie schamlos studierte. Am liebsten hätte Kenna sofort die Kapuze der Jüngeren zugezogen, aber jetzt hatte die Fremde es schon gesehen. Zumindest löste sie die Finger um ihr Handgelenk, ohne jedoch den Blick abzuwenden.

Kenna senkte den Dolch. Den fragenden Blick im Augenwinkel wahrnehmend nickte sie leicht. Freudig zog sich das Mädchen die restlichen Schichten Stoff vom Kopf und gab damit ihr flauschig-kurzes, blonde Haar preis und die durchdringenden grünen Augen, die Cygna den Tieren näher brachte als den Menschen.

»Bringt wohl nichts, es zu verheimlichen«, murrte Kenna und zog sich selbst die Kapuze vom Kopf.

Im Laufe der Jahre hatte sie nie gelernt, wie sie mit dem Blondschopf ihrer Gefährtin umgehen musste, da sich das Haar anders anfühlte als ihr eigenes krauses, braunes Haar, also hielt sie es genauso kurz. Wieder wanderte der Blick der Fremden prüfend über die Statur und das Gesicht des Mädchens.

»Eine Berührte und eine Ungetaufte …« Die ersten Worte der Fremden.

Wieder lief ein Schauder über Kennas Rücken. Es war kein … Flüstern im eigentlichen Sinne gewesen. Eher ein tiefes Gurren, fast wie ein Lied, das sie sich selbst sang, mit harten, klaren Worten und einem geschmeidigen Rhythmus. Vielleicht doch eine Geistliche, oder zumindest jemand, der Regeln und Gepflogenheiten in Leib und Blut übergingen.

»Mit diesen Worten solltest du nicht um dich schmeißen.« Kenna warf ihren Überwurf auf das Bett. In den fünfzig Schichten, die sie gegen die Kälte trug, wollte sie nicht den ganzen Abend sitzen.

Die Fremde ignorierte sie und fuhr damit fort, fast schmerzhaft langsam das Oberteil zu öffnen und unter einigen kunstvoll gebundenen und vielschichtigen Stofflagen einen ausgehungerten Körper preiszugeben. Nacktheit zu sehen, hatte Kenna nicht erwartet, besonders nicht bei einer so hochgeschlossenen Cygna, allerdings war das Gerippe aus Haut und Knochen in einige alte, eng anliegende Verbände gehüllt. Sie hatte etwas gänzlich anderes vermutet. Statt heller Haut, die in den Geschichten und Erzählungen verlorener Wanderer voller Farben, Symbolen und Markierungen glitzerte, war hier … nichts. Nur ein schmaler Körper mit einigen blauen Flecken und Narben. Den dicken Bluterguss an der Seite hatte sie einem der Tritte aus dem Pub zu verdanken. Auf den ersten Blick war sie aber nicht ernsthaft verletzt.

»Hier. Iss ein Stück davon.« Cecil war wieder zu der Fremden gekommen, hielt ihr ein Stück grünen Seetang hin, den sie vor ein paar Tagen einem Kalmara aus den Taschen gezogen hatte, der gemein zu ihr gewesen war. »Das nimmt den Schmerz.«

Kenna sah ein, dass sie verloren hatte. Cecil hatte noch nie jemanden aus ihrem Volk kennengelernt, nicht einmal Personen, die an ihre fast absurde Größe heranreichten. Jetzt war sie entsprechend aufgeregt. Resigniert ließ sie die Schultern fallen und verschränkte die Arme, sofort bereit, den Dolch wieder zu ziehen, sollte es notwendig werden.

»Iss nicht alles davon, sonst fällst du ins Koma.« Kenna setzte sich aufs Bett. »Also? Was will jemand wie du in einer Gegend wie dieser?«

Statt ihr zu antworten, überprüfte die Blonde weiter ihre Wunden.

Gut, dachte sich Kenna. Dann werden wir uns eben im Stillen anschweigen.

Ihr Ziehkind schien das aber anders zu sehen. »Wir sind Techsammler. Wir bereisen das ganze Land und finden verborgene Schätze«, erzählte sie freudig. »Ein paar davon reden sogar mit dir! Aber sie erzählen furchtbar verwirrenden Kram …« Sie zog die Beine unter den Körper und ging in den Schneidersitz. »Ich bin übrigens Cecilliana. Oder Cecil.«

»Du sollst doch nicht …!« Na super! So viel dazu. Der Schaden war getan. »Worüber haben wir gerade noch gestern geredet?«

Das Mädchen konnte kaum lesen und warf mit ihrem Namen durch die Gegend, als wäre er eine Handvoll Süßigkeiten! Dabei wusste sie genau, wie gefährlich das war. Anonym reiste man viel sicherer durch heruntergekommene Ortschaften und große Städte. Nicht zu vergessen, dass die gute Vernetzung der Techkäufer eindeutig dokumentierte, wer gut über den Tisch zu ziehen war und von wem man besser nichts kaufte.

Die Fremde runzelte unmerklich die fast makellose Stirn. Etwas quälte sich durch ihre Gedanken, die sie aber erneut unausgesprochen ließ. Kenna für uninteressant befunden, widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Mädchen.

»Habt ihr Interesse an wertvollerem Tech als verrostete Chips und Tastaturen?«

Es herrschte mehrere Sekunden lang erdrückende Stille im Raum, in denen sich Cecils Gesichtszüge von fragend zu verwirrt und zurück wandelten. Der Themenumschwung schien ihr doch ein wenig abrupt.

»Welches Tech?«, fragte Kenna nach, schob sich unauffällig näher an Cecil heran, den Dolch wieder fester umklammernd.

Das erste Mal brach die Miene der Fremden zu einem amüsierten Schmunzeln. »Das kommt darauf an, wie gut ihr euch anstellt. Linsen, rostfreies Metall, funktionierende Hologramme, Kommunikationsgeräte … Ihr könntet aussorgen für den Rest eures Lebens. Es würde bestimmt auch für einen Sitz in den Fuchswäldern reichen, wenn ihr richtig verhandelt.«

Die Fuchswälder?

Fast hätte Kenna laut gelacht. Die Wälder kannte sie sehr gut. Es war der einzige Ort auf diesem ganzen verdammten Kontinent, an dem man nicht um jedes Essen kämpfen musste, der wahrlich den Titel schön verdiente. Sie standen unter dem Schutz des Fuchsgeistes und, obgleich der Geist gerne seine Spielchen mit den Gläubigen dort trieb, zog sie die dicken Bäume, die kleinen Seen und die Hügel dem Geröll der Salamanderstadt vor. Doch hatte die begehrte Lage, umringt von der riesigen Wüste aus feinstem Sand, seinen entsprechenden Preis. Keiner gab seinen Grund und Boden umsonst auf.

»Dann mal raus mit der Sprache. Was ist der Preis für dieses Wissen, mhm? Hast du einen Beweis? Ich glaube kaum-«

Kenna unterbrach sich selbst, als die Fremde ganz selbstverständlich in eine eingenähte Falte der bunten Hose griff, die man leicht mit einer Naht verwechselte, und einen kleinen, glänzenden Pin hervorholte. Selbst über ihren Sicherheitsabstand hinweg erkannte sie genau, worum es sich handelte.

»Woher hast du … Aber wie …?«, stammelte sie.

Cecil weitete erschrocken die Augen, bis man das Weiß darin erahnte. »Ein Transmitter-Pin.« Die junge Blonde schnappte lautstark nach Luft. »Funktioniert der? Wie alt ist er? Was ist drauf? Woher hast du ihn? Hast du noch mehr?«

In einer ruhigen, flüssigen Bewegung reichte die Fremde Cecil den Pin. Diese drehte das Gerät von der Größe ihres kleinen Fingers in den Händen und begutachtete es. Auch Kenna kam zu ihr. Der Pin war in einwandfreiem Zustand. Kein Rost, keine Dellen, keine Kratzer. Als hätte ihn erst jemand zusammengebaut.

»Ich weiß, wo noch mehr davon ist. Ihr müsstet es euch nur nehmen.«

Der selbstzufriedene Blick der Fremden ließ sie sauer aufstoßen. Schnell fischte Kenna nach dem Pin. Um nichts in der Welt würde sie der Frau mit dem kaputten Bein dieses Stück Tech überlassen. Sie hakte es innerlich als Bezahlung ab.

»Okay, Cygna. Was willst du für die Info? Geteilte Beute? Du bekommst einen Anteil-«

Die Fremde unterbrach sie. »Ich will keinen Anteil. Was ihr an Tech findet, könnt ihr behalten. Was ich will, ist weitaus bescheidener.«

»Bescheiden? Kann es sich eine Geistliche heutzutage überhaupt noch erlauben, bescheiden zu sein?«

Über die unübertroffene Eitelkeit und Arroganz der Cygna, den Anhängern des Schwanengeistes, riss man im ganzen Land seine Witze. Sie reckten die Nase so weit gen Himmel, dass sie nicht nur aufgrund der absurden Körpergröße als erste den Wetterumschwung mitbekamen. Die Geistlichen hatten einen speziellen Platz auf Kennas Was-hasse-ich-heute-am-meisten-Liste. Offenbar hatte sie bei der Fremden einen Nerv getroffen. Sie glaubte, kurz die Ader an ihrem Hals pulsieren zu sehen.

»Ich will die heiligsten Stücke unserer Zivilisation retten.«

»Solltest du dann nicht in eure Hauptstadt ziehen?«

»Die GANZE Zivilisation. Die Chimära verteilen Tech, als wäre es Spielzeug. Ich will die alten Geister wahren, bevor sie verdrängt und vergessen werden!«

Das unterschwellige Knurren in der Stimme der Cygna brachte Kenna doch zum Schweigen. Sie war kein Fan der Chimära und deren Anhängern, aber nicht alles Tech, das sie verteilten, war notgedrungen schlecht. Vieles davon erleichterte die Arbeit unheimlich, brachte Licht in die Dunkelheit oder erlaubte ihnen, über lange Distanzen in Echtzeit zu kommunizieren. Durch die neuen Bauten war es leicht, binnen weniger Tage am anderen Ende des Kontinents zu sein, statt sich wochenlang mühsam durch den Dreck und die Gezeiten zu quälen. Diese Züge gehörten zu Kennas liebsten Neuerungen der Gesellschaft.

»Nehmen wir mal an, nur so rein hypothetisch, wir helfen dir: Was für Teile sind das? Und warum holst du sie nicht selbst?«

»Deine zweite Frage kannst du dir selbst beantworten.« Die Fremde schnaubte und tippte mit dem Zeigefinger auf den Oberschenkel ihres kaputten Beins. »Ich bin nicht dazu imstande, in die Kathedralen zu steigen.«

Kenna rollte genervt die Augen. Die Kathedralen der Hauptstädte betrat keiner mehr, es war schlichtweg zu gefährlich und sie galten zusätzlich als verflucht. Allerdings klang es nicht nach dem schwersten Job aller Zeiten. Schlimmer als bei ihrer letzten Suche konnte es nicht werden. Da war Kenna fast ertrunken, weil sie eine Falle ausgelöst hatten, und das alles nur für eine rostige Disc, die ihnen nichts eingebracht hatte.

»Wonach suchen wir dann?«

Die Fremde kräuselte die Mundwinkel zu einem trockenen Lächeln nach oben.

Cecil wurde übel wund verlor die Farbe im Gesicht. Das Rütteln der lieblos zusammengezimmerten Metallkarre, eine traurige, viel kleinere Kopie der großen Züge, war ihr nie bekommen; und sie hasste diesen bedrückenden, sich bewegenden Raum.

Leider war es der einzige Weg, um an ihr Ziel zu gelangen, ohne dafür erst fünfzig Jahre unterwegs zu sein. Mal davon abgesehen, dass sie die Luft nicht so lang anhalten konnten wie die Kalmara oder deren ganze Gattung. Ihres Wissens gab es neues Tech, das einem das Atmen unter Wasser erlaubte, aber es war praktischer, wenn man schon mit dieser Fähigkeit geboren wurde.

Kenna berührte sie liebevoll an der Hand. »Alles okay?«

Cecil nickte leicht. Sie fühlte sich unter dem Meer und den endlosen, halbdunklen Unterwasserwegen alles andere als wohl. Es war zu eng, zu kalt und die Möglichkeit, dass die teilweise verglasten, uralten Röhren brechen und die endlosen Wassermassen sie zerquetschen würden, war durchaus real.

Der Fremden schien es ähnlich zu gehen. Sie verkrampfte die Hände um den oberen Teil ihres Gehstocks, hielt dazwischen den festgemachten Beutel, als hinge ihr Leben davon ab. Zu gerne hätte Cecil sie gefragt, ob das vielleicht ein Problem ihrer Gattung war oder sie nur eine zufällig gemeinsame Abneigung gegen die ewige Dunkelheit des Meeres und wackelnde Untergründe hatten. Die regelmäßigen, dumpf goldgelb glühenden Lampen, die diese Rohre nur erahnen ließen, verschlimmerten die Situation zusätzlich.

»Da vorne ist Endstation.« Der Fahrer deutete auf eine Blase aus Glas, um die sich metallene Arme wanden.

Wer oder was diese hielt, konnte niemand sagen. Das Ende versank in der ewigen Finsternis des Meeres. Nur ab und zu erahnte man in der Dunkelheit einen Fetzen von Zivilisation im Wasser.

Cecil schob sich etwas vor, um einen besseren Blick auf alles zu bekommen, auch Kenna wirkte interessiert. Diese Blase, das Gerüst drumherum und alle davon abgehenden Gebilde, Stützen und dergleichen schienen sämtliche darüber liegenden Bauten zu halten. Dabei war nur die obere Hälfte beleuchtet, was einen vagen Ausblick auf die darin befindlichen Überreste und Ruinen erlaubte.

»Das ist … nicht, was ich erwartet habe. Sieht aus, als hätte man hier schon alles rausgeholt«, sagte Kenna an die Fremde gerichtet.

Die war am Morgen zwar aus heiterem Himmel mit Aufbruchsplänen und Verpflegung aufgetaucht, wollte aber noch immer nicht ihren Namen preisgeben.

Die Schwanenlady war merkwürdig. Kenna und Cecil hatten sich beim Schlafen abgewechselt, weil Kenna ihr nicht vertraute. Aber soweit Cecil das beurteilen konnte, hatte die Namenlose nur wenige Stunden mit hängendem Kopf dösend auf dem Stuhl verbracht. Während ihrer Schicht hatte sie stumm auf der dünnen Matratze auf dem Boden gesessen und die Tür angestarrt, als würde dahinter etwas Schreckliches lauern, um beim ersten Sonnenstrahl geradezu aus dem Zimmer zu flüchten.

»Keine Sorge. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Das meiste ist zwar zerstört, aber hier ist noch etwas zu finden«, murrte die Fremde.

Die Metallkarre kam am Eingang der Blase stockend und Funken schlagend zum Stehen. Cecil stieg zuerst aus, die Fremde hernach und Kenna zum Schluss. Sie sah sich mit großen Augen um. In ihrem Leben hatte sie schon viele Ruinen gesehen und noch mehr durchkramt, aber das hier sah … nicht so alt aus. Einige Strukturen erkannte sie von den Gebäuden weiter oben, der Stein hingegen zeigte Alterserscheinungen und es fehlten die gemeißelten Kanäle voller Drähte.

Abgelenkt von den neuen Eindrücken und dem modrigen Geruch hörte sie die Fremde nur am Rande des Bewusstseins. Sie bedankte sich knapp beim Fahrer, der brummend einige Krakenmünzen von ihr annahm und dann den Rückwärtsgang einlegte, um weiter oben auf ihre Rückkehr zu warten.

»Und? Wohin müssen wir? Je schneller wir drin sind, umso schneller können wir zurück.« Kenna wirkte ungeduldig und Cecil wusste, dass es an der Dunkelheit vor ihnen lag.

Sie hätte es nie offen zugegeben, aber sie vertrug die Finsternis genauso wenig wie ihre Ziehtochter, selbst wenn sie nie erfahren hatte, wieso das so war.

»Wir müssen weiter ins Maul des Kraken«, erzählte die Fremde gelassen. »Wenn wir die Straße entlang gehen-«

»Woah, Moment mal!« Kenna stellte sich vor die Fremde, die Arme verschränkt und die Füße zu einem festen Stand parallel in den staubigen Untergrund gebohrt. Sie kräuselte die Nase. »Hast du gerade MAUL DES KRAKEN gesagt? Das Vieh existiert doch gar nicht!« Sie starrte in das völlig verständnislose Gesicht der Cygna.

Da hätte sie sich gleich leichtgläubig in Großbuchstaben auf die Stirn schreiben können, wenn sie hier vom Maul der großen Geister sprachen! Natürlich handelte es sich hierbei nur um Legenden, aber Kenna hielt die Möglichkeit, dass irgendwo tief im Meer ein riesengroßes Krakenvieh lebte, für verdammt real! Wenn sie schon sah, was für Fische die Kalmara teilweise aus dem Meer zogen, insbesondere aus den tieferen, nur ihnen zugänglichen Gewässern, dann hauste weiter Richtung Boden bestimmt auch ein solches Monster!

Auf ihren kleinen panischen Ausbruch folgte ein amüsantes Lächeln seitens der Fremden. Man sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie am liebsten den Stift für das leichtgläubig in die Hand genommen hätte.

»Nicht das wortwörtliche Maul des Kraken. Das ist der Name des Allerheiligsten.« Sie mit dem Stock auf die Seite schiebend, schritt sie an Kenna vorbei.

Die verrenkte sich fast den Nacken, während sie zu ihr hochblickte. Warum waren diese verdammten Cygna auch so verflixt groß? Sie hatte sich damit abgefunden, dass Cecil sie nach einem Wachstumsschub überragte und sie nur im Sitzen eine ansatzweise gleiche Körpergröße hatten, aber bei dieser Fremden mit den unnötig langen Stelzen kam sie sich vor wie ein Gnom.

»Allerheiligste?«, wiederholte sie verwirrt und hastete hinter ihr her. »Was soll das heißen Allerheiligstes? Das existiert doch gar nicht mehr! Die Chimära haben schon vor Jahren alles eingerissen, was mit den Geistern zu tun hat.«

»Deshalb brauche ich euch. Auf keinen Fall komme ich allein durch das Geröll.«

»Ach, jetzt sind wir Dreckschubser?« Kenna hatte Mühe, Schritt zu halten.

Die Cygna wurde nur langsamer, wenn die Steine zu groß zum Drübersteigen wurden, brachte anderweitig trotz des kaputten Beins schnell eine große Strecke hinter sich.

»Dafür bekommt ihr auch eine angemessene Bezahlung.«

»Was, wenn da unten nichts ist?«

»Das ist meine Sorge, oder? Ihr bekommt, was ich euch versprochen habe.«

Wieder verfielen sie ins Schweigen und kämpften sich durch die zunehmend größer werdenden Schutt- und Gesteinshaufen. Dazwischen thronten noch immer in voller Pracht, wenn auch etwas angeknackst, die hölzernen Bögen, die vor einigen Jahren wie ein Rahmen die Straße und den darüberliegenden Luftraum eingefasst hatten. Der teils weggebrochene Gehweg verlor sich unter dem Schutt, sodass die Fremde hilflos davorstand. Hier schien der leichte Teil ihrer Suche zu enden der eigentliche Part des Auftrags zu beginnen. Die Cygna war nun auf sie angewiesen.

Jetzt schaust du blöd, was?, dachte Kenna zufrieden grinsend.

Für sich summend stieg Kenna auf einen der Geröllhaufen und ließ Cecil, wie es für sie üblich war, ein Stück in die Richtung des größten Schuttbergs vorgehen. Ihre Größe und die Augen der Cygna erlaubten ihr, Bedrohungen schon aus der Ferne viel leichter zu erkennen, im Notfall konnte sie Kenna mit Leichtigkeit einholen. Dort musste einmal das Allerheiligste gestanden haben. Nachdem sie sich einen Überblick über den großen Haufen alten Steins verschafft hatte, drehte sie sich zu der Cygna, die noch den Blick schweifen ließ.

»Was ist, wo genau sollen wir mit der Suche beginnen? Wonach suchen wir eigentlich?« Kenna sah zu ihrer Auftraggeberin.

Keine Antwort zu erhalten, war inzwischen eher die Regel als die Ausnahme, doch konnte sie diesen Blick nicht deuten. Sie wirkte gehalten und kühl, aber in ihren Augen glänzte so etwas wie Trauer, die sich genauso schnell verflüchtigte, wie sie gekommen war.

»Ihr müsst die Basis einer Säule für mich finden. Sie sollte ziemlich weit hinten sein, eventuell unter einem eingestürzten Teil des Daches.«

Kenna wartete einen Moment auf weitere Anweisungen, langsam hob sie ihre Augenbraue. »Und? Das wars? Irgendeine Säule? Du weißt, dass es hier davon vermutlich Hunderte gibt?«

Die Schultern ihrer Auftraggeberin vibrierten unter einem leisen Kichern und sie schmunzelte. Zu gerne hätte sie dieser Cygna einen Stein an die Stirn geworfen, damit wenigstens ein Makel an diesem unnötig perfekten Gesicht war. Eine Delle würde ihr stehen.

»Ihr sucht das Zeichen des Kraken.« Sie hob die Hand, sodass Daumen und Zeigefinger einen Halbbogen ergaben und die übrigen Finger im gleichmäßigen Abstand davon abspreizten. »Es ist ein Halbmond, von dem einige Krakententakel abstehen. Ungefähr auf der Höhe der Knie. Es gibt einige davon, aber das, was ich suche, hat einen metallischen Glanz. Es ist aus Silber.«

»Also suchen wir die Nadel im Heuhaufen. Super. Ganz toll.« Kenna fluchte, ließ die Geistliche zurück und bahnte sich ihren Weg durch Schutt und Asche. Hier gab es kein Tech mehr, nicht einmal Drähte oder Kupfer oder sonst etwas, das sie für ein paar Münzen eintauschen könnten.

Cecil hatte sich derweil den höchsten Haufen gesucht, den sie hatte finden können, und streckte die Nase in die Luft, anstatt zu suchen.

»Cecil!« Besser Kenna behielt sie nahe bei sich. Nichts versicherte ihnen, dass die Cygna sie ziehen lassen würde, sobald sie ihr Ziel erreicht hatte.

Sofort drehte Cecil den Kopf zu ihrer Freundin. Der Ton in ihrer Stimme sagte so vieles. Von Komm wieder her, sonst werfe ich dich mit Steinen ab! bis hin zu Ich mache mir Sorgen um dich! war alles dabei. Schon seit sie noch ganz klein gewesen war, während der Zeit beim Spielen bei den Feuerbergen, hatte sie sich diesen Wortlaut zugelegt. Der damals Mitte zwanzig-jährigen Kenna hatte sie fast den letzten Nerv geraubt.

Aber das hier war glücklicherweise nur ein Berg voll eingefallener Decken und Säulen, nichts, was spontan platzen und sie schmelzen würde.

Auf einigen Bruchstücken der einst stattlichen Kapelle fanden sich bunte Farben: Blau und Türkis mit hellroten Streifen. Auf einem war sogar ein Teil eines Auges abgebildet! Zu gerne hätte Cecil das Gemäuer in seiner vollen Pracht gesehen.

Kenna sah sie auffordernd an. »Irgendetwas Ungewöhnliches?«

»Kommt drauf an, was du damit meinst.« Cecil zog ihre Jacke etwas fester um sich. Trotz der Abwesenheit des Windes war es kalt. »Alles hier ist ungewöhnlich. Fühlt sich nicht real an.«

Kenna brummte zustimmend, bevor ihre Augen suchend über die Einzelteile der glatten Steine wanderten. An einem blieb sie kleben, nahm Cecils Hand und zog sie sanft hinter die kleinen Hügel aus Geröll, die für die Geistliche vermutlich ein unüberwindbares Hindernis darstellten. Nach und nach verstand Cecil, wieso sie auf die Hilfe anderer angewiesen war.

Die Spitze einer Säule ragte in die Höhe, bis sie in einen der hölzernen Bögen überging. Plünderer oder andere Techsammler vor ihnen hatten bereits große Brocken um viele der Säulen beiseitegeschoben und zweifelsohne aus den Kästen, Tischen und den anderen an den Wänden montierten Möbelstücken schon alles Wertvolle herausgeholt. Tiefe Kratzer im einst polierten Boden, herausgehauene Mosaiksteine, zertrümmertes Holz und andere Details der leblosen Umgebung sprachen eine eindeutige Sprache.

Im Stein der Säulen eingelassen entdeckten sie Zeichen verschiedener Größen und Formen, genau wie von der Fremden beschrieben. Ein Halbmond und davon abgehend wabbelige, hässliche Tentakel. Nur waren diese wirklich überall und auf jeder der mehr oder weniger intakten, freigelegten Säulen.

Kenna drehte sich zu der Cygna und rief laut: »Du verarschst mich, oder? Hier sind … fünf tausend von diesen Dingern!

»Ist eines davon metallen?«, tönte es nur zurück.

Kenna nahm sich vor, sich einige Steine zu nehmen und jeden einzelnen nach dieser hochnäsigen Frau zu werfen. Cecil dagegen begutachtete aufgeregt die Zeichen. Soweit sie sehen konnte, waren sie aus Holz, andersfarbigem Stein, Edelsteinen, gekerbtem Leder oder schlichtweg direkt in die Säulen gehauen. Es war unmöglich, zu sagen, ob sich ein Metallenes dazwischen befand, was nicht zuletzt an den schummrigen Lichtverhältnissen lag.

Von oben schimmerte das künstliche Licht der darüber liegenden Kuppen durch das dunkle Wasser, die sporadisch aufgestellten Lampen flackerten unstet und eigentlich war die Gefahr, einen elektrischen Schlag zu bekommen, viel größer als die, von einer wackeligen Konstruktion erschlagen zu werden.

Während sie angestrengt suchten und sich bei Kenna schon Kopfweh einstellen wollte, hallten die Schritte der Fremden überall wider, die sich ihren Weg um die Ruine herum bahnte. Ihr prüfender, kontrollierender Blick blitzte ab und zu zwischen den Haufen hindurch.

»Oh! Oh, hier!«, rief Cecil aufgeregt von der anderen Seite. »Ich glaube, das hier ist aus Silber!«