Stolen Time - Gestohlenes Schicksal - Danielle Rollins - E-Book

Stolen Time - Gestohlenes Schicksal E-Book

Danielle Rollins

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Beschreibung

Eine Vergangenheit, zwei Mädchen, unzählige Zukünfte

New Seattle, 2077: Soweit Ash weiß, ist Dorothy auf der Rückkehr von der letzten Zeitreise verschwunden. Die blinde Passagierin aus dem Jahr 1913, das Mädchen, das Ash vielleicht – wahrscheinlich – hätte lieben können, existiert nicht mehr. Was er nicht weiß: An die Stelle des Mädchens, in das er sich verliebt hat, ist Quinn Fox getreten – die dazu bestimmt ist, ihn zu töten. Nichts ahnend suchen Ash und seine Freunde weiter verzweifelt nach einem Weg, um ihre Stadt vor dem Untergang zu bewahren. Währenddessen kämpft Quinn darum, den Gangsterboss Mac Murphy in Schach zu halten. Denn dieser will das Zeitreisen für seine eigenen Zwecke missbrauchen. Als Ash und Quinn schließlich aufeinandertreffen, steht nichts weniger als die gesamte Zukunft auf dem Spiel.

Der fesselnde zweite Band in der romantisch-fantastischen Zeitreise-Trilogie von Danielle Rollins!

Alle Bände der Stolen-Time-Reihe:
Stolen Time – Zwischen den Welten (Band 1)
Stolen Time – Gestohlenes Schicksal (Band 2)

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Seitenzahl: 393

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DANIELLE ROLLINS

Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Schröer

Die folgenden den Kapiteln vorangestellten Zitate können als Destillat des jeweils nachfolgenden Kapitels gelesen werden.

Quellen:

Seite 139: William Shakespeare, »Romeo und Julia«, 1. Aufzug, 4. Szene. ­Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel.

Seite 305: Dr. Seuss, »How did it get late so soon?«. Übersetzt von Cornelia Boese.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2020 by Danielle Rollins

Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Twisted Fates« bei HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Schröer

Covergestaltung: © Carolin Liepins, München, unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock.com (anna42f, Artlusy, OLaLa Merkel (2x), Miune, diversepixel, LIGHT_ONLY)

sh · Herstellung: UK

Satz & E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29637-7V001

www.cbj-verlag.de

Teil Eins

Früher auf Fantasy und Science-Fiction beschränkt, sind Zeitreisen heute nur noch ein rein technisches Problem.

Michio Kaku

1

Dorothy

18. März 1990, Boston

Dorothy saß auf dem Beifahrersitz eines roten Dodge Daytona und trommelte mit den Fingern auf ihr Bein. Roman war gefahren. Jetzt lehnte er gegen die Fahrertür und starrte durch die Windschutzscheibe auf die dunklen Straßen der Stadt.

Der Innenraum des Autos war nicht besonders einladend. Die Luft fühlte sich abgestanden an und roch nach alten Pommes und Benzin. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Heizung hochzudrehen, und die Kälte kroch durch die Fenster, sodass Dorothy eine Gänsehaut bekam.

Oh, und das Radio funktionierte nicht. Wenn sie Musik ­hören wollten, mussten sie die Kassette abspielen, die im Kassetten­deck feststeckte, eine Single von Paula Abduls »Cold Hearted«. Während der letzten Tage hatten sie sie bereits mindestens fünfzig Mal gehört.

»He’s a coldhearted snake«, dachte Dorothy und spielte das Lied in ihrem Kopf ab. Sie musste es laut vor sich hin gesummt haben, denn Roman sah sie irritiert an.

Sie warf einen Blick auf das Armaturenbrett, als die roten Zahlen von 1:18 Uhr auf 1:19 Uhr sprangen.

Durch den Rückspiegel beobachtete sie die Straße hinter ihnen. In einem Wohnhaus ein paar Blocks weiter hinten hatte eine Party zum St. Patrick’s Day stattgefunden, aber die meisten Gäste waren inzwischen gegangen. In den letzten zwanzig Minuten war die Haustür nicht mehr geöffnet worden. Jetzt war die Straße leer und Regen glänzte auf dem ­Asphalt.

Ihr Puls beschleunigte sich. Sie atmete tief und langsam ein und rümpfte die Nase wegen des Pommesgeruchs.

»Es ist so weit«, sagte sie und packte den Türgriff.

Roman warf ihr einen Seitenblick zu. »Bring zuerst deinen Schnurrbart in Ordnung.«

Dorothy verdrehte den Spiegel, sodass sie ihr Gesicht sehen konnte. Der falsche Schnurrbart prangte auf ihrer Oberlippe und war Teil ihrer Verkleidung, aber dieses verdammte Ding wollte einfach nicht halten.

Sie drückte ihn fest und schnitt ein paar Grimassen, als der Kleber wieder seinen Dienst tat. Die Haut über ihrer Lippe juckte. »Besser?«

»Du bist zu hübsch, um als Mann durchzugehen«, sagte Roman, während er sie betrachtete.

Ihr Mund verzog sich unter dem Schnurrbart und lockerte ihn erneut. Es war ein Scherz, mehr oder weniger. Sie war einmal hübsch gewesen. Aber dann war sie aus einer Zeitmaschine gefallen und in einem Tunnel durch Zeit und Raum gezogen worden. Ihre Haare hatten sich weiß verfärbt, und ein loses Maschinenteil hatte ihr das Gesicht zerschnitten und ihr eine bleibende gezackte Narbe verpasst, die sich von ihrer Schläfe über ein Auge, an ihrer Nase entlang bis zu ihrem Mund zog. Niemand würde mehr das Wort »hübsch« verwenden, um sie zu beschreiben.

Jetzt war sie …

Interessant.

»Dasselbe könnte ich von dir sagen«, bemerkte sie. Das war kein Scherz. Roman war hübscher, als es einem Mann erlaubt sein sollte. Er hatte eiskalte blaue Augen, dunkle Haut und zerzauste schwarze Haare, die immer aussahen, als wären sie absichtlich so gestylt, selbst wenn der Wind durch sie hindurchgefahren war und lauter Knoten hinterlassen hatte.

»Touché«, sagte Roman. Er hatte sich für heute Abend ­extra einen echten Schnurrbart stehen lassen und trug eine unechte Brille mit Goldrand, um älter zu wirken. Jetzt setzte er sie wirkungsvoll ein, ließ sie auf seine Nasenspitze hinab­rutschen, spähte über ihren Rand hinweg und zog seine Augen­brauen verführerisch hoch.

Er sah eher aus wie die Filmversion eines Professors als wie ein Polizist.

Die Zeiten, in denen Dorothy sich von Romans gutem Aussehen hatte um den Finger wickeln lassen, waren lange vorbei. Sie machte ein Würgegeräusch, sodass er besorgt die Augenbrauen hob und sein Blick zu seinem Spiegelbild an der Autoscheibe wanderte.

»Übertrieben?«, fragte er und schnippte sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Um ein Uhr morgens in einem leeren Museum wirst du keine Bewunderer finden«, sagte Dorothy.

»Ah, aber sie haben bestimmt Überwachungskameras. Und hast du nicht etwas von einem polizeilichen Phantombild gesagt?«

»Du willst auf einem Phantombild gut aussehen?«

»In der Filmversion dieses Diebstahls soll mich Clark Gable spielen.«

Gegen ihren Willen musste Dorothy grinsen. Niemand konnte ihrem Partner falsche Bescheidenheit unterstellen.

»Du hast da was mit den Daten durcheinandergebracht«, sagte sie und öffnete ihre Autotür. »Clark Gable ist 1960 gestorben. Wir befinden uns im Jahr 1990.« Sie zögerte und tat so, als würde sie nachdenken. »Vielleicht Ben Affleck?«

Roman warf ihr einen mörderischen Blick zu.

Sie stiegen aus dem Auto, überquerten die Straße und blieben vor einem schmiedeeisernen Tor stehen. Ein Backsteinhaus ragte knapp über die Bäume hinweg, kaum mehr als ein dunkler Schatten im Schein der schummerigen gelben Straßenlaternen.

DasIsabella Stewart Gardner Museum, dachte Dorothy und sah zu dem Gebäude hinauf. Sie runzelte die Stirn. Auf den Fotos hatte es viel größer gewirkt.

Ein schwarzer Kasten hing draußen an der Backsteinmauer neben dem Tor. Noch vor einem Jahr hätte Dorothy nicht gewusst, dass es sich dabei um eine Sprechanlage handelte, aber jetzt beugte sie sich näher zu dem Gerät und drückte mit ihrem Daumen auf den Knopf.

Statische Geräusche und dann die Stimme eines Mannes. »Ja bitte?«

»Wir sind von der Bostoner Polizei«, sagte Roman. »Wir sind hier, weil uns eine Ruhestörung im Innenhof gemeldet wurde.«

Kurz hielt er eine kleine goldene Dienstmarke in die Kamera, die, so wie Dorothy es vorausgesagt hatte, über dem Zaun hing. Der Wachmann auf der anderen Seite würde genau das sehen, was sie ihn sehen lassen wollten: zwei Bostoner Polizisten in steifen blauen Uniformen.

Der Summer gab ein wütendes Knurren von sich, das ihr sagte, dass das Sicherheitstor entriegelt worden war.

Ein vertrautes kribbelndes Gefühl von Déjà-vu zog sich über Dorothys Schultern. Sie hatte das Phantombild der Diebe an ihren Spiegel im Fairmont geklebt. Es war ein grobes Bild, aber sie war davon überzeugt, dass sie der Kleinere der beiden war, als Mann verkleidet.

Sie hatte jeden verfügbaren Zeitungsartikel über diesen Einbruch gelesen und in allen stand dasselbe: Man hatte die zwei Diebe nie erwischt.

Was Sinn machte. Wenn die Diebe Zeitreisende waren, konnten sie nie erwischt werden.

Schweigend liefen sie über den Gehweg zum Eingang des Museums. Dorothy warf einen Blick auf die steinernen Panther, die die Eingangstür bewachten, und spürte eine freudige Erregung. Sie hatte sie bereits zuvor auf Fotos gesehen, aber jetzt waren sie hier, direkt vor ihr. Der Rausch, den sie verspürte, wenn Dinge, die sie in Zeitungsartikeln gesehen hatte, plötzlich reale Form annahmen, wurde nie langweilig.

Ohne anzuklopfen, schoben sie die Eingangstür auf und traten ein. Ihre Schritte hallten auf dem Marmor wider. Ein älterer Schwarzer Wachmann stand hinter seinem Schreibtisch. Er war groß, breitschultrig und hatte einen weiß gesprenkelten Bart. Aus misstrauisch verengten Augen sah er sie an.

Das war also Aaron Roberts.

»Ich, ähm, darf eigentlich niemanden hier reinlassen«, sagte Roberts blinzelnd. »Aber Sie sagten, Sie sind von der Polizei?«

Roman nickte. »Sie haben das Richtige getan, Sohn. Uns wurde eine Ruhestörung in Ihrem Innenhof gemeldet und wir müssen das überprüfen. Könnten Sie …«

Roman zögerte und legte seinen Kopf schief. »Also, das ist merkwürdig.«

Der Wachmann zuckte zusammen und warf dann einen Blick über seine Schulter, als erwartete er, dass etwas aus den Schatten hinter ihm auftauchte. »Verzeihung. Was ist merkwürdig?«

»Sie sehen einem Mann, nach dem wir suchen, verteufelt ähnlich.« Jetzt rieb sich Roman das Kinn. Er sah zu Dorothy und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann. »Sieht er nicht aus wie Dean Morris?«

Der Name war erfunden. Niemand hatte den Namen in einer der Reportagen, einem der Artikel oder Bücher erwähnt, also hatten sie ihn sich ausgedacht. Der Wachmann blinzelte.

»Morris?«, murmelte er.

»Würden Sie bitte hinter dem Schreibtisch hervorkommen und sich ausweisen?«, sagte Roman.

Das war wichtig. Unter dem Tisch befand sich ein Knopf, der den Sicherheitsalarm auslöste. Es war der einzige im ganzen Gebäude. Sobald sie den Wachmann von diesem Knopf weggelotst hatten, waren sie in Sicherheit.

Aaron Roberts trat hinter dem Schreibtisch hervor.

»Ich bin nicht dieser Typ, dieser Dean«, sagte er und holte seine Brieftasche hervor. Er zog seinen Führerschein heraus und hielt ihn Roman entgegen. »Sehen Sie?«

Roman würdigte ihn kaum eines Blickes. »Natürlich nicht.« Er nahm ein paar stabile Handschellen von seinem Gürtel und nickte Richtung Wand. »Nur um sicherzugehen. Stellen Sie sich bitte mit dem Gesicht zur Wand, Mr Roberts. Nur bis wir das alles aufgeklärt haben.«

Der Wachmann drehte sich automatisch um. »Aber ich habe nichts getan.«

»Keine Sorge, Sohn. Solange Sie kooperieren, werden Sie keinen Ärger bekommen.« Roman ließ die Handschellen um Roberts’ Handgelenke zuschnappen.

Dorothy musste ein Grinsen unterdrücken. Es amüsierte sie, dass Roman einen Mann, der älter war als er selbst, »Sohn« nannte.

»Was zur Hölle?«, murmelte eine Stimme hinter ihnen.

Wachmann Nummer zwei, dachte Dorothy. Es lief genauso ab, wie sie es gelesen hatte, genauso wie sie es geplant hatte. Es fühlte sich ein bisschen an, wie Gott zu spielen.

Sie biss sich innen auf die Wange, um nicht zu lächeln. Ihr Schnurrbart schien sich zu lockern, wenn sie ihre Lippen bewegte, und sie konnte es nicht riskieren, ihre Tarnung auffliegen zu lassen, nicht so kurz vor dem Ziel.

Nirgendwo in den Berichten, die sie gelesen hatte, stand etwas über den zweiten Wachmann oder wie er hieß, daher hatte sie bis zu diesem Moment nicht gewusst, womit sie rechnen musste. Sie drehte sich um …

Und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er war kaum älter als sie, mit langen, schlaksigen Gliedern und pickeliger Stirn. Keine Bedrohung.

Er sah Roberts an. »Aaron …?«

»Es gab irgendeine Art von Unruhestörung«, nuschelte ­Roberts. Dann runzelte er die Stirn und wandte sich wieder Roman zu: »Sie haben mich nicht gefilzt. Sollten Sie nicht …«

»Sir, bitte kommen Sie hier rüber und stellen Sie sich neben Ihren Kollegen«, sagte Roman und schnitt Roberts das Wort ab. »Bevor wir fortfahren, müssen wir Ihre Namen überprüfen.«

Wachmann Nummer zwei starrte Dorothy mit schmalen Augen an.

»Sir?«, sagte Roman wieder und ging näher an ihn heran.

Der Wachmann zeigte mit dem Finger auf Dorothy. »Sein Schnurrbart fällt ab.«

Mist.

Es kam Dorothy so vor, als würde Roman erstarren, während ihre Hand hastig zu ihrem Gesicht fuhr. Und tatsächlich war der verdammte Schnurrbart verrutscht. Ihr erster Impuls war es, ihn wieder gerade zu rücken, aber dafür war es zu spät. Der zweite Wachmann schüttelte bereits den Kopf und wich zurück. Seine Augen glitten zum Tisch. Der Alarm.

Sie spürte Romans fragenden Blick auf sich, und sie hörte, was er dachte, so klar und deutlich, als würde er die Worte tatsächlich laut aussprechen. So sollte das nicht laufen.

Die Vergangenheit sollte auf ihrer Seite sein. Dorothy hatte sich so lange darauf vorbereitet. Nacht für Nacht war sie da­rüber eingeschlafen, mit einem muffigen alten Buch als Kopfkissen. Stundenlang hatte sie auf den Computerbildschirm ­gestarrt, bis die Worte verschwammen und ein dumpfer Kopfschmerz in ihrem Schädel pochte. Sie sollten nicht erwischt werden. Das konnte nicht sein.

Reflexartig stellte Dorothy sich zwischen den Wachmann und den Alarm. Er war größer als sie, und sie sah, wie er seine Augen verengte und ihren Körper abschätzend musterte. Er konnte sie zur Seite schieben, dachte er.

Na ja, er konnte es versuchen.

Dorothy hatte im letzten Jahr eine Menge beim Black Cirkus gelernt, aber das wahrscheinlich Nützlichste davon war, wo sich die Luftröhre befand. Es gab eine Stelle am mensch­lichen Körper, wo die Luftröhre hinter dem Brustbein hervorlugte, verletzlich und schwach, und angenommen sie würde ihre Finger in diese Stelle stechen, könnte sie einen Mann, der doppelt so groß war wie sie, dazu bringen, zu weinen und nach seiner Mama zu rufen.

Dieser Mann hier war nicht doppelt so groß wie Dorothy, aber er machte einen Satz auf sie zu, und darum stach sie mit zwei Fingern in diese zarte Stelle, direkt unter seinem Hals, hakte ihre Finger ein und zog sie nach unten.

Nach Luft schnappend fuhr er zurück und griff sich mit beiden Händen an die Kehle. »Was zum …«

Dorothy nutzte diese Schrecksekunde, um ihn herumzuwirbeln und seine Arme hinter seinem Rücken zu verdrehen. Er wand sich, hochrot angelaufen und mit weit aufgerissenen Augen, und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen.

Dann sah er sie an, sah sie richtig an, und sie wusste, dass er die Narbe erfasste. Das weiße Haar.

»Mein Gott«, würgte er hervor. »Sie sind gar kein …«

Bevor er den Satz beenden konnte, riss sie seinen Arm weiter hoch, bis es wehtat.

»Hören Sie auf!«, schrie der Wachmann, aber er wehrte sich nicht, als sie ihm Handschellen anlegte. »Sie sind gar kein Polizist, oder?«

»Nicht im Entferntesten«, sagte Dorothy. Sie schubste den Wachmann an die Wand, neben seinen Kollegen. Jetzt, wo die zwei Handschellen trugen, waren sie keine Bedrohung mehr. »Das ist ein Raubüberfall. Sie wissen es noch nicht, aber er wird in die Geschichtsbücher eingehen als der größte Diebstahl aller Zeiten.«

Dorothy und Roman brachten die Wachmänner in den Keller, fesselten sie mit Handschellen an die Rohre und wickelten Panzerband um ihre Hände, Füße und Köpfe. Dann gingen sie nach oben in das Holländische Zimmer.

Dorothy hatte das Holländische Zimmer praktisch auswendig gelernt. Sie hatte Stunden vor den Fotos verbracht, sich gesorgt, ob sie mit ihren zu großen Stiefeln über die Fliesen stolpern würde, ob ihre Stimmen durch die hohen Bogenfenster nach draußen in den Hof dringen würden, ob sie in der fast vollständigen Dunkelheit etwas sehen konnten.

Der Strahl ihrer Taschenlampen wurde von grünen Brokatwänden zurückgeworfen und von goldenen Bilderrahmen, in denen sich die berühmtesten Gemälde der Weltgeschichte befanden. Stühle und schwere Holzmöbel waren an die Wände gerückt, fast so als hätte jemand die Mitte des Raums für einen Tanz frei machen wollen. Bei dem Gedanken musste Dorothy ein wenig grinsen. Es waren die 90er. Die Art von Tanz, der ihr vorschwebte, war schon seit hundert Jahren außer Mode, und den Blödsinn, den man heute tanzte …

Na ja. Für sie sah es eher nach Krämpfen als nach Tanzen aus.

»Uns bleibt etwas über eine Stunde«, sagte sie, als Roman auf einen gerahmten Vermeer zuging.

»Du bist die Chefin.« Roman zog ein Teppichmesser aus seiner Tasche und begann, das Bild aus dem Rahmen zu ­trennen.

Isabella Stewart Gardner hatte den Vermeer 1892 für 29 000 Franc gekauft, dachte Dorothy, die sich an ihre Re­cherchen erinnerte. Jetzt war er Millionen wert.

Sie legte den Kopf schief und betrachtete das Gemälde. Es war kleiner, als sie erwartet hatte. Warum war im echten Leben alles kleiner?

Sie packten Gemälde von Vermeer, Rembrandt, Degas und Manet ein. Dazu ein antikes chinesisches Trinkgefäß und einen Bronzeadler, der als Schmuckstück auf der Fahnenstange einer gerahmten napoleonischen Flagge saß (die Flagge blieb hartnäckig an der Wand, egal wie angestrengt sie auch versuchten, sie loszumachen).

Schließlich warf Roman einen prüfenden Blick auf seine Uhr. »Neunundsiebzig Minuten.«

»Okay«, sagte Dorothy und verstaute das letzte Gemälde in ihrer Tasche. »Gehen wir.«

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und die Wächter?«

»In sechs Stunden wird die Polizei hier sein. Ich bin mir ­sicher, dass sie sie dann befreien.«

»Du bist schrecklich«, sagte Roman. Aber an der Art, wie er belustigt lächelte, konnte Dorothy ablesen, dass er einverstanden war.

»Komm jetzt«, sagte sie und schob den Rucksack auf ihrer Schulter höher, während sie zur Tür des Museums ging.

Die Black Crow wartete in einem Park in der Nähe auf sie, ihr schnittiger Rumpf und ihre Heckflosse waren zwischen Baumästen, hohem Gras und den nächtlichen Schatten verborgen. Roman verstaute die gestohlenen Kunstwerke im Lade­raum, während Dorothy ins Cockpit kletterte und mit dem Preflight-Check begann. Im Laufe des letzten Jahres hatte ­Roman ihr beigebracht, die Zeitmaschine zu fliegen. Sie beherrschte das Schiff noch nicht so gut wie er, aber sie wurde jeden Tag besser.

»Landeklappen«, murmelte sie vor sich hin, während ihre Finger über das Kontrollfeld flogen. Und der Vergaser musste eingestellt werden, die Drosselklappe geöffnet. Sie prüfte die EM-Anzeige und sah, dass die Nadel auf voll stand. Sie waren wochenlang fast jeden Tag in die Vergangenheit gereist und trotzdem war der Tank nicht leerer geworden. Seltsam.

Sie ließ sich in ihrem Sitz zurücksinken, Augen immer noch auf die Anzeige gerichtet. Die Zeitmaschine war Romans Werk, gebaut nach den Konstruktionsplänen, die er Professor Zacharias Walker gestohlen hatte, dem Vater des Zeitreisens. Aber in dem Augenblick, in dem sie in einen Anil eintrat, würde eine Zeitmaschine auseinandergerissen werden, wenn sie keine Exotische Materie – oder EM – besaß, um die unbeständigen Winde im Tunnel zu stabilisieren. Und Dorothy hatte die EM beschafft.

Sie verspürte einen Hauch von Stolz, als die Erinnerung in ihrem Kopf auftauchte, seltsam wie immer:

Mein Name ist Quinn Fox … Ich hätte da etwas, das du brauchst.

Das waren die Worte, die ihr Schicksal vor einem Jahr und zwei Wochen besiegelt hatten. Nur kurz davor war sie noch an Bord einer anderen Zeitmaschine gewesen und hatte einen Piloten mit goldenen Augen angefleht, sie mit ihm in New Seattle bleiben zu lassen, anstatt sie in ihr altes Leben ins Jahr 1913 zurückzubringen.

Und dann hatte ein Sturm sie mit sich gerissen und sie durch Wände aus Zeit und Rauch getragen. Sie war auf den Docks zu Romans Füßen gelandet, ein Jahr bevor sie Ash, den Piloten mit den Goldaugen, treffen würde, und gut hundert Jahre nach dem Tod ihrer Mutter und allen anderen, die sie gekannt hatte.

Dorothy fühlte immer noch die Kälte des Docks, auf dem sie zu sich gekommen war, und sie erinnerte sich immer noch an die Angst, die in ihrer Brust gepocht hatte, als sie begriff, wie allein sie wirklich war. Ihr blieben nur zwei Möglichkeiten:

Sie konnte Roman das einzig Wertvolle anbieten, was sie bei sich trug, die Exotische Materie, die ihm ermöglichen würde, durch die Zeit zu reisen. Gemeinsame Sache mit ­Roman zu machen, bedeutete, dem Black Cirkus beizutreten, eine für ihre Grausamkeit berüchtigte lokale Gang. Es bedeutete, selbst skrupellos zu werden.

Aber die andere Möglichkeit war, zu versuchen, alleine in den Wirren und Schrecken von New Seattle zu überleben.

Dorothy war noch nicht lange in der Zukunft, doch selbst sie wusste, dass einem Mädchen, das an einem fremden Ort ohne Familie, Freunde oder Verbündete auftauchte, schlimme Dinge zustoßen konnten. Letztendlich war ihr doch keine Wahl geblieben.

Und wenn sie sich manchmal selbst dabei ertappte, wie sie an den Piloten mit den Goldaugen dachte, und sich fragte, was passiert wäre, wenn sie einfach zu ihm gegangen und ihm erklärt hätte, wer sie war und von wann sie gekommen war …

Tja. Dann musste sie sich nur das erste Mal in Erinnerung rufen, als sie Ash getroffen hatte, damals im Hain hinter der Kirche im Jahr 1913. Sofort sah sie wieder den missbilligenden Blick in seinen Augen vor sich und hatte den Klang seiner Stimme im Ohr, als er sagte, nein, er könne ihr nicht helfen.

Es war dieses Nein, das ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte. Sie konnte es nicht ertragen, es noch einmal zu hören, nicht nach allem, was zwischen ihnen geschehen war.

Und so war sie mit der Zeit besser darin geworden, die anderen, schöneren Erinnerungen zu verdrängen.

Sie hatte ihre Wahl getroffen. Es gab kein Zurück mehr.

2

Ash

5. November 2077, New Seattle

Wieder in New Seattle, gegen Abenddämmerung. Der Himmel hatte eine wässrig grüne Farbe und erinnerte Ash an die Erbsensuppe aus seiner Essensration, die er früher im Krieg bekommen hatte. Fast konnte er spüren, wie der Himmel auf ihm lastete und ihn niederdrückte, als wollte er ihn warnen, vor dem, was kommen würde.

Angespannt dachte er nach, sieben Tage.

Professor Walker hatte ihm einmal gesagt, dass man sich bis zu einem Jahr in die Zukunft prärinnern konnte. Seit Neuestem blieb Ash vor allem an dem Teil über »bis zu einem Jahr« hängen. Denn er hatte die Prärinnerung an seinen eigenen Tod das erste Mal vor 358 Tagen gesehen.

Was im besten Fall bedeutete, dass er noch sieben Tage zu leben hatte. Wahrscheinlich weniger.

Hilf mir, Dorothy zu finden, und ich gehe ohne Gegenwehr.

Chandra zappelte unruhig herum, während die Wachmänner Ash abklopften. Es wäre leichter gewesen, den stürmischen Himmel zu ignorieren, wenn sie nicht gerade auf den Docks an der Aurora-Wasserstraße gestanden hätten, dem zwielichtigsten Viertel von New Seattle. In der Stadt hatte es schon immer ein Rotlichtviertel gegeben, aber das Erdbeben hatte es im wahrsten Sinne des Wortes ans Tageslicht gebracht, sodass es fast schon legal erschien. Jetzt machten die Motels entlang des ehemaligen Aurora-Wasserweges stolz Werbung mit dem, was sie verkauften.

Der Nieselregen hatte Chandras Haare an ihren Nacken geklatscht und Regentropfen liefen über ihre dunkle Haut. Sie hielt den Blick fest auf die Wachmänner gerichtet und presste ihre Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Die zwei Männer erinnerten eher an Granitklötze als an Menschen. Ihre Gesichtszüge waren scharf und hart, ihre Augen schienen fast schwarz in dem seltsamen grünen Licht. Regen glänzte auf den Sturmfeuergewehren, die sie sich auf den Rücken geschwungen hatten.

Grobe Finger gruben sich in Ashs Taschen und tasteten auf der Suche nach Waffen das Innenfutter seiner Jacke ab.

Kurz ließ er seine Augen auf ihren Gewehren ruhen und richtete sie dann wieder hoch gen Himmel.

»Tornadohimmel« hätte seine Mutter es genannt.

Er sah sie vor sich, wie sie auf der vorderen Veranda stand und eine Zigarette aus der Packung seines Dads klopfte. Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Zähne und zündete sie in der hohlen Hand an, während sie den Himmel durch schmale Augen betrachtete.

»Der Sturm wird bald hier sein«, warnte sie und schüttelte das Streichholz, um es zu löschen.

Aber sie ging nicht rein. Echte Einwohner Nebraskas liefen nicht vor Tornados davon, nicht bevor sich die Wolken schwarz färbten und eine Wand bildeten, die vom Himmel bis zur Erde reichte. Nicht bevor es seitlich regnete und der Wind so stark geworden war, dass er dich einen Schritt rückwärts blies.

Ash behielt das Bild seiner Mutter jetzt im Kopf: wie sie dem Tornadohimmel unerschrocken entgegenblickte. Es war nicht Mut, der sie auf der Veranda hielt, während der Sturm näher heranrollte. Es war reine, animalische Sturheit. Irgendwo tief in ihrem Blut glaubte sie, den Sturm einschüchtern, ihn davon abhalten zu können, sich zu nehmen, was ihr gehörte. Dasselbe Blut floss wohl oder übel auch durch seine Adern.

Aber Dorothy hat dir nie gehört, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Und du weißt nicht einmal, ob sie überlebt hat.

Ash zuckte zusammen, als wäre die Stimme eine Mücke, die um sein Ohr summte. Einer der Wachmänner sah ihn stirnrunzelnd an. Ash biss die Zähne zusammen und hielt seine Augen stur auf den Horizont gerichtet, bis der Wächter knurrte und ihn weiter durchsuchte.

Es stimmte, Dorothy hatte ihm nicht gehört. Aber sie war auf seiner Mission verloren gegangen. Er hatte zugestimmt, sie mit in die Vergangenheit zu nehmen, ins Jahr 1980, um nach seinem alten Mentor, Professor Zacharias Walker, zu suchen. Er hatte gewusst, wie gefährlich es war, mit einem solch mickerigen Vorrat an Exotischer Materie durch den Anil zu reisen, und er hatte es trotzdem getan. Und dann, als ihnen die EM ausging, hatte Dorothy ihr Leben riskiert, um die Exotische Materie mitten im Flug der Second Star auszutauschen und sie alle zu retten.

Und dann war das Schiff abgestürzt. Und Dorothy war im Anil verschwunden.

Ich glaube nicht, dass sie tot ist, hatte Zora zu Ash in den ­Tagen direkt nach dem Absturz gesagt. Sie hatte dieEMbei sich … Vielleicht hat sie uns nur um ein paar Monate verfehlt.

Das war keine völlig absurde Hoffnung. Der Anil war unbeständig, mit Winden, die eine Geschwindigkeit von 100 Knoten erreichten, und Stürmen, die dauerhaft an den nebelverhangenen Tunnelwänden entlangflackerten, aber die Exotische Materie, die Dorothy in den Händen hielt, hatte vielleicht eine Art Schutzblase um sie herum erschaffen und sie vor dem schlechten Wetter im Anil geschützt. Ash hatte noch nie von einem Menschen gehört, der den Anil ohne Zeitmaschine überlebt hätte, aber er musste daran glauben, dass es möglich war. Die Alternative war einfach unerträglich.

Sie hatten den Kontakt zu Dorothy verloren, kurz bevor sie, zurück im Jahr 2077, abgestürzt waren. Wenn sie überlebt hatte, war sie vielleicht schon hier, irgendwo in dieser gottverlassenen Stadt. Ash musste sie nur finden, bevor es jemand anders tat.

»Er ist sauber«, sagte der Wachmann und ließ seine Hände sinken.

Der andere Wachmann knurrte und drehte sich zu Chandra. »Und die hier?«

Chandra wand sich unter seinem gierigen Blick und zupfte an ihrem T-Shirt. Das Shirt war absichtlich zu klein gewählt, damit es ihre Figur betonte. Das war zentraler Bestandteil ­ihres Plans, aber trotzdem brannten Ashs Wangen, als er aus den Augenwinkeln einen Blick auf ihre nackte Haut erhaschte. Den größten Teil des Nachmittags hatte er damit verbracht, so zu tun, als würde ihr Körper unterhalb ihres Halses auf­hören.

»Du weißt, was Mac zum Begrapschen der Ware sagt.« Der erste Wachmann nickte ruckartig mit seinem quadratischen Kiefer. »Lass sie durch.«

Ware. Ash war nie bewusst gewesen, wie viele Muskeln sein Gesicht hatte, wie schwer es war, sich auf alle gleichzeitig zu konzentrieren und sie zu zwingen, stillzuhalten, wenn sie am liebsten mit einer Grimasse auf die hässlichen Worte, die eben gefallen waren, reagiert hätten.

Kein Mädchen; kein menschliches Wesen.

Ware.

Er glaubte, noch nie jemanden so sehr gehasst zu haben, wie er Mac in diesem Augenblick hasste. Er kannte den Mann nicht persönlich, aber er hatte von ihm gehört. Leider. Jeder in New Seattle hatte von Mac Murphy gehört, Besitzer des anrüchigsten Bordells in der ganzen Stadt. Er war eine schmierige Kröte, nicht nur vom Aussehen her, sondern auch in der Wirkung, die er auf sein Umfeld ausübte. Ash wünschte, es wäre tatsächlich physikalisch möglich gewesen, ihn unter seinem Schuh zu zerquetschen. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn Mac Murphy nichts weiter als grüner Glibber unter seiner Stiefelsohle gewesen wäre.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann trat der zweite Wachmann zur Seite und leckte sich über die Lippen. »Geh schon, Süße«, sagte er und starrte Chandra an.

»Beweg dich«, murmelte Ash mit leiser Stimme und gab Chandra einen Schubs.

Sie stolperte vorwärts, ihre Schultern bis zu den Ohren hochgezogen.

»Oh Gott«, sagte sie und lief jetzt wieder mit festeren Schritten. Sie versuchte noch einmal, ihr T-Shirt nach unten zu ziehen, als könnte sie es durch schiere Willenskraft um mehrere Zentimeter verlängern.

Ash neigte den Kopf, als sie an den grässlichen bewaffneten Männern vorbeimarschierten. Er achtete darauf, nicht zu schnell zu laufen und seine Schultern locker zu lassen, als wäre das alles ganz normal. Etwas, das er jeden Tag machte.

Ein Blitz zuckte über den grünen Himmel. Donner grollte in der Ferne.

Kein Omen, sagte Ash sich.

Geh weiter.

Macs Bordell kauerte am Ende des Docks, wie ein Tier, das darauf wartete, seine Beute anzuspringen. Es war einmal ein Motel gewesen – und zwar eins von denen mit flackernder »Zimmer frei«-Leuchtreklame, in denen man die Zimmer stundenweise mieten konnte. Es war schon schrecklich gewesen, bevor durch die Überschwemmungen alles andere auch schrecklich geworden war; jetzt war es die reinste Hölle. Nur die obersten zwei Stockwerke ragten noch aus dem Wasser heraus, ein dicker schwarzer Schimmelteppich kroch an den schmuddeligen gelben Außenwänden hinauf. Die Fenster hatten keine Scheiben, aber Mac hatte ein paar mit Pappe und ­alten Decken zugehängt, um das restliche bisschen Wärme im Gebäude zu halten. Die übrigen Fenster standen gähnend weit offen und erinnerten Ash an kaputte Zähne.

Mac höchstpersönlich saß auf einem mottenzerfressenen Stuhl im ersten Motelzimmer, das man vom Dock aus betrat, die Füße auf einem behelfsmäßigen Schreibtisch abgelegt, der aus einem modrigen Stück Holz bestand, das auf zwei Betonblöcken balancierte. Ein Ziegelstein diente als Türstopper und aus Macs Mund baumelte eine Zigarette. Er war ein gedrungener Kerl mit einem kastenförmigen Brustkorb, und sein Gesicht hatte tatsächlich etwas Krötenartiges an sich: zu weit auseinanderstehende Augen; große, spröde Lippen. Halb erwartete Ash, dass seine Zunge hervorschnellen und sich eine Fliege in der Nähe schnappen würde.

Mac kaute mit baumelnder Zigarette auf seiner dicken Unterlippe herum. »Bist du geschäftlich hier, Jungchen?«

Seine Augen ruhten auf Chandras T-Shirt und Ash fühlte tief in seinem Inneren Wut aufwallen.

»Hab gehört, Sie zahlen für Mädchen«, sagte Ash und bemühte sich um eine feste Stimme.

Chandra senkte den Blick zu Boden, Schultern bis an die Ohren hochgezogen. Sie schniefte verloren und mitleiderregend, und leichter Stolz überkam ihn. Er wusste, dass sie Angst hatte, aber das gerade eben war reine Schauspielerei. Tatsächlich erinnerte es ihn an eine Fernsehserie über den Wilden Westen, die sie sich letzte Woche angeschaut hatte. Genau deswegen hatte er Chandra gebeten, ihm bei dieser kleinen Mission zu helfen. Zora war eine miserable Schauspielerin.

Mac lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte sie. Nach einer Weile sagte er: »Sie ist nicht besonders hübsch.«

Es kostete Ash jeden Fitzel Willenskraft, den er aufbringen konnte, um Mac nicht hier und jetzt die Zigarette aus dem Mund zu schlagen.

Er sah, wie Chandras Lippen sich grimmig verzogen, und stieß sie mit dem Ellbogen an. Schnell verwandelte sie es in den Anfang eines Schluchzers. Die geballten Fäuste an ihrem Mund, stumme Tränen.

Mac ließ seinen Stuhl auf alle vier Beine fallen. »Aber das ist ja bekanntlich Geschmacksache. Ein paar meiner Kunden mögen sie nicht wie üblich. Sagen wir …« Er machte eine Pause und pulte etwas mit seinem Daumennagel aus seinen Zähnen. Dann zuckte er mit den Schultern und schlug vor: »Fünfzig?«

Ash schluckte, hörte den Preis kaum. Er machte sich bereit, auszusprechen, weswegen er hergekommen war. »Nehmen Sie sie im Tausch?«

Bei den Worten wurde ihm übel. Menschen waren keine Dinge, die man tauschen konnte. Oder zumindest sollten sie das nicht sein. Aber hier stand er nun.

Macs Augen verengten sich zu Schlitzen, und Ash fühlte, wie sich die Muskeln in seinem Nacken anspannten. Erkannte Mac ihn? Vor dem Megabeben war Ashs Gesicht hin und wieder in den Nachrichten zu sehen gewesen. Er sah jetzt anders aus. Sein Haar war länger und zerzauster. Seit Dorothy verschwunden war, hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, sich zu rasieren, und ihm wuchs ein Dreitagebart.

Trotzdem könnte sich immer noch jemand hier aus der ­Gegend an den jungen Piloten erinnern, den ein verrückter Wissenschaftler aus der Vergangenheit mitgebracht hatte. Ash hatte darauf gebaut, dass Mac nicht zu diesen Leuten gehörte. Er sah nicht aus wie jemand, der Nachrichten schaute.

Mac ließ ihn nicht aus den Augen. »Du bist keiner von meinen Stammkunden?«

Es klang wie eine Frage, als würde Mac versuchen herauszufinden, woher er ihn kannte.

»Nein, Sir, das bin ich nicht«, sagte er angespannt. »Aber ich war ab und zu im Rusty Nail.«

Das Rusty Nail war eine Bar am anderen Ende von Aurora, in der Mac bekanntermaßen öfter anzutreffen war. Mac nickte und gab sich mit dieser Erklärung offenbar zufrieden.

Erleichtert atmete Ash auf. »Ich habe gehört, Sie haben ein neues Mädchen. Richtig hübsch. Braunes Haar.« Ich habe gehört, sie hat den letzten Kerl gebissen, der versucht hat, sie anzufassen, dachte Ash, sprach diesen Teil aber nicht laut aus.

Das Detail über das Beißen hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er war in einer Spelunke am Stadtrand gewesen, als der Kerl neben ihm seinen Ärmel zurückgezogen hatte und dabei zwei angeschwollene sichelförmige Abdrücke in seiner Armbeuge zum Vorschein gekommen waren.

»Zähne«, hatte er gesagt, als er Ash dabei ertappt hatte, wie er daraufstarrte. »Murphys neue Hure hat ganz schön Temperament.«

Dorothy, hatte Ash gedacht. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie jeden Mann biss, der sie ohne ihre Erlaubnis anfassen wollte.

Laut dem Kerl mit den Bissspuren war Macs neue Hure vor etwa einem Monat plötzlich im zwielichtigen Teil der Stadt aufgetaucht, verloren und allein, aber bildhübsch. Sie hatte niemandem ihren wirklichen Namen verraten wollen, aber Mac nannte sie Hope, und Hey, war das nicht ironisch? Kapiert? Weil sie keine Hoffnung mehr hatte. Dann ein herzhaftes Lachen.

Ash hatte den Kerl mit den Bissspuren mit Drinks und Schalen voller Erdnüsse versorgt, bis er sich halbwegs sicher war, dass er ihm die ganze Geschichte erzählt hatte.

Und dann war er mit ihm hinter die Bar gegangen und hatte ihm die Fresse poliert.

Denn echt jetzt.

Mac verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen und entblößte dabei eine Reihe fauliger Zähne. »Ja, das stimmt, wir haben ein neues Mädchen. Aber sie ist mehr wert als fünfzig.« Pause, als würde er über etwas nachdenken. »Ich denke, für das Doppelte könnte ich sie abgeben – und da bin ich groß­zügig, nur damit das klar ist, wo du doch ein neuer Kunde bist und so.«

Damit hatte Ash gerechnet. Er kramte in seiner Jacke und hielt inne, als er den dünnen Umschlag fand, den er im Innenfutter versteckt hatte.

Der Umschlag enthielt seine Ersparnisse. Es waren um die fünfundsiebzig Dollar. Nur fünf zerknitterte, speckige Scheine. Es fühlte sich an wie nichts.

Wie konnte es sein, dass er im Gegenzug für diesen Umschlag einen Menschen bekam?

Genau in diesem Augenblick tauchte Dorothys Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Er sah sie vor sich, wie sie in diesem letzten Augenblick ausgesehen hatte, bevor sie aus seinem Schiff geklettert und im Sturm verschwunden war. Ölverschmiertes Gesicht. Zerzauste Haare.

In null Komma nichts war sein Widerwille gebrochen und durch Hoffnung ersetzt. Mach, dass sie es ist, betete er. Mach, dass es so einfach ist.

Er legte den Umschlag auf den wackeligen Tisch, seine Finger kribbelten, als er seine Hand zurückzog.

Mac schnappte sich das Geld und zählte gierig die Scheine. »Scheint alles zu stimmen.« Er steckte sich den Umschlag hinten in seinen Hosenbund und nickte zu Chandra. »Komm mit, Püppchen.«

»Sie bleibt hier«, sagte Ash etwas zu schnell.

Mac zögerte, hob die Augenbrauen. Zum ersten Mal, seit Ash hier hereinmarschiert war, sah Mac argwöhnisch aus.

»Habe ich die Stelle verpasst, an der du es übernommen hast, in meinem Club Befehle zu erteilen?«, fragte er mit lauernder Stimme.

Jetzt nur keinen Fehler machen, dachte Ash, während Angst seine Wirbelsäule hochkroch. Hier hatte er es nicht mit einem leicht zerbrechlichen Ego zu tun, wie bei dem Kerl an der Bar. Macs Hass saß sehr viel tiefer.

Mac war wie ein mit Benzin durchtränkter Lappen – ein einzelnes Streichholz konnte ihn explodieren lassen.

Ash wägte seine Worte ab und antwortete schließlich: »Ich will das Mädchen sehen, bevor ich Ihnen das restliche Geld gebe.«

Lässig zuckte Mac mit den Schultern. Aber der Argwohn in seinen Augen blieb. »Wie du willst.«

Er ging aus dem Zimmer. Pfeifend.

Chandra hielt den Blick gesenkt, bis der widerliche Krötenkerl weg war. Dann richtete sie sich auf und warf ihr dunkles Haar über eine Schulter. Ihre Augen blitzten. »Wann darf ich ihn erschießen?«

Ash warf ihr einen Blick zu. Sie hatte seine Pistole unter ­eines ihrer Hosenbeine gesteckt, wo ihre Socke sie fest an Ort und Stelle hielt. Es war der einzige Ort, von dem er sicher hatte sein können, dass niemand dort suchen würde. Denn die Wachmänner durften neue Mädchen nicht vor Mac inspizieren. Es war ein Fehler im System, den Ash liebend gerne ausgenutzt hatte.

»Wenn er Dorothy hergebracht hat«, sagte Ash. »Dann darfst du ihm von mir aus die Eier abschießen.«

Chandra bedachte ihn mit einem langsamen Blinzeln, womöglich stellte sie sich gerade genau diese Szene vor. »Supi«, sagte sie grinsend.

Eine Viertelstunde verging, bis Ash Schritte hörte, die sich dem Motelzimmer näherten. Die Haut hinter seinen Ohren kribbelte. Er stellte sich zwischen Chandra und die Tür.

»Ach, jetzt erwacht plötzlich dein Beschützerinstinkt«, flüsterte Chandra gereizt.

Ash schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an. »Still.«

»Ich mein ja nur, du hättest auch schon vorher den Helden spielen können, als er mich mit seinen Blicken sexuell belästigt hat.«

Ash warf ihr einen warnenden Blick zu, und Chandra tat so, als würde sie ihren Mund mit einem Reißverschluss verschließen.

Mac lief als Erster am Fenster vorbei. Die Vorhänge waren zugezogen, aber Ash erkannte die Umrisse seines fetten Kopfs durch den vergilbten Stoff hindurch. Ein kleinerer Schatten schlurfte dicht hinter ihm her. Ein Mädchen, ihr Körper schlank und nach vorn gebeugt.

Ash hielt die Luft an.

Mac trat ins Zimmer. »Seht her«, sagte er und verzog seine Lippen zu etwas, das er wohl für ein Lächeln hielt. »Die hübscheste Hure in ganz New Seattle!«

Das Mädchen erschien in der Tür. Sie starrte auf ihre Füße, dunkles Haar verdeckte ihr Gesicht.

»Na?« Mac sah erwartungsvoll von dem Mädchen zu Ash. »Was sagst du?«

Beim Klang seiner Stimme hob das Mädchen den Kopf, und ihr dunkles Haar teilte sich wie ein Vorhang, gab den Blick frei auf Haut, so blass wie Porzellan, volle herzförmige Lippen und Augen wie die von einer Puppe. Sie konnte nicht älter als vierzehn sein, stellte Ash fest, während sich seine Hoffnung in Luft auflöste. Sie war nicht Dorothy.

Ein Veilchen färbte die Haut um ihr linkes Auge herum lila. Er fragte sich, ob das ihre Strafe dafür gewesen war, dass sie den letzten Mann, der an seiner Stelle hier gestanden hatte, gebissen hatte.

Mac sagte etwas, aber Ash hörte nicht, was. Das Blut in seinen Ohren rauschte so laut, dass es alle anderen Geräusche überdeckte.

»Chandra«, sagte er und konnte seine Gefühle nicht länger aus seiner Stimme heraushalten, obwohl er sich Mühe gab. »Jetzt.«

Chandra täuschte einen plötzlichen Hustenanfall vor und beugte sich vornüber. Sie war schneller, als Ash für möglich ­gehalten hätte, so schnell, dass er sich fragte, ob sie heimlich auf ihrem Zimmer im alten Schulhaus geübt hatte. Mac blieb kaum Zeit, ihr einen finsteren Blick zuzuwerfen und etwas von kranken Mädchen, die man ihm anschleppte, zu murmeln, als ihre Hand auch schon an ihrem Knöchel war und ihre Finger sich um die Waffe legten, die in ihrer Socke steckte.

Sie richtete sich auf und kniff ein Auge zu, als sie auf ihn zielte.

»Whoa.« Mac hob seine Hände und wich zurück. Er sah zu Ash. »Was soll das? Ich dachte, wir würden hier nach bestem Wissen und Gewissen Geschäfte abwickeln.«

»Hey, Krötengesicht«, sagte Chandra. »Warum schaust du zu ihm? Ich bin diejenige mit der Waffe.«

Ash zuckte mit den Schultern. »Klingt, als solltest du lieber mit ihr verhandeln.«

Macs Lippen zuckten, als würde ihm allein schon bei dem Gedanken schlecht. »Du lässt ernsthaft ein Mädchen die Ansagen machen, Kumpel?«

»So oft wie möglich«, sagte Ash. »Und jetzt …«

»Moment mal … Ich kenne dich.« Macs Knopfaugen wanderten zu Chandra und verengten sich. »Ja, und dich auch. Ihr gehört zu den Zeitreisenden, stimmt’s? Die Irgendwas-Chronologie?«

Er sprach von der Organisation zum Schutz der Chronologie, einem Team aus Zeitreisenden, die von überallher aus der Vergangenheit geholt und vor zwei Jahren nach New Seattle gebracht worden waren, um mit dem verstorbenen großen Professor Zacharias Walker zusammenzuarbeiten.

Mac lächelte und schüttelte langsam den Kopf. »Seit einem Monat lasse ich nach euch und euren Freunden suchen. Ihr habt euch gut versteckt. Ist das Absicht?«

»Das ist es«, sagte Ash mit leicht scharfem Unterton. »Wir hatten keine Lust mehr auf Leute, die vor unserer Tür stehen, damit wir sie in die Vergangenheit bringen, weil sie sich die ­Dinosaurier ansehen wollen.«

»Tatsächlich?« Mac nagte an seiner spröden Lippe und grinste heimtückisch. »Ihr nehmt also keine Aufträge an? ­Sagen wir, von lokalen Unternehmern. Natürlich gegen Bezahlung.«

Lokale Unternehmer. Bei der Bezeichnung wurde Ash schlecht. »Wir werden dich nicht in die Vergangenheit bringen, wenn es das ist, was du wissen willst.«

»Ich könnte dafür sorgen, dass es sich für euch lohnt.«

»Nein danke«, sagte Ash.

Mac schielte zu dem behelfsmäßigen Schreibtisch unter dem Fenster. Ash folgte seinem Blick und entdeckte eine kleine schwarze Glock.

»Hol sie dir und ich schieße.« Chandra legte einen Daumen auf den Hahn der Waffe. »Wo ist der Rest der Mädchen?«

Mac bewegte sich langsam auf den Schreibtisch zu. »Wenn du glaubst, ich werde …«

Chandra drückte ab und schoss eine Kugel geradewegs durch den Oberschenkel des Zuhälters hindurch. Er brüllte vor Schmerz auf und ging in die Knie. Blut tropfte auf den Fußboden.

»Ich hatte eigentlich etwas höher als auf dein Bein gezielt«, sagte Chandra. »Soll ich es noch mal versuchen?«

»Sie kann nicht besonders gut mit dem Ding umgehen«, sagte Ash.

Mac presste sich eine Faust an den Mund und biss in seine Knöchel. Eine Träne rann aus seinem Auge und kullerte seine Wange hinab. Die andere Hand hatte er auf die Wunde an seinem Bein gepresst, Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch.

»Sie sind … Sie sind unten«, keuchte er und krümmte sich. »Zimmer 3C.«

Ash warf einen Blick zu Chandra und rechnete halb damit, dass sie noch einmal schießen würde, aber sie steckte die Waffe in ihren hinteren Jeansbund und warf Mac einen bösen Blick zu. Dann stürmte sie aus dem Zimmer. Das dunkelhaarige junge Mädchen zögerte kurz und folgte ihr dann.

Ash nickte dem blutenden Zuhälter auf dem Boden mit einer Kinnbewegung zu. »Es war mir eine Freude, Geschäfte mit dir zu machen.«

Macs Stöhnen folgte ihm hinaus in den Flur; es hallte immer noch in seinen Ohren, als er an der Treppe ankam.

Von außen sah Zimmer 3C aus, als wäre es überschwemmt. Wasser umspülte den unteren Teil der Tür und der Holzrahmen war durchgefault. Ash legte eine Hand auf den Türknauf, lehnte sich mit der Schulter fest gegen das Holz und hoffte, die Tür würde unter seinem Gewicht einfach nachgeben. Aber sie hielt.

»Verdammt«, murmelte er und wich zurück. Neben der Tür bewegte sich ein Vorhang, als eines der Mädchen hinausschaute.

»Lass mich mal«, sagte das kleine dunkelhaarige Mädchen. Ihre Stimme war tiefer, als Ash erwartet hatte, wodurch sie viel älter wirkte, als er sie ursprünglich geschätzt hatte.

Das Mädchen schlüpfte an ihm vorbei und klopfte leise an die Tür. »Mira«, sagte sie. »Ich bin’s. Mach auf.«

Es dauerte einen Moment, dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Ein rothaariges Mädchen mit einem Gesicht voller Sommersprossen spähte hinaus. Ihre Augen huschten ängstlich von Ash zu Chandra.

»Wer sind diese Leute, Hope?« Ihre Stimme klang wie ein heiseres Krächzen.

»Keine Ahnung«, sagte Hope. Dann fügte sie mit einem schiefen Grinsen hinzu: »Sie haben Mac angeschossen.«

»Tatsächlich?«, Mira zog die Tür weiter auf. Hinter ihr blickte Ash in ein kleines schummeriges Zimmer mit niedriger Decke, spärlich beleuchtet von flackerndem Kerzenschein. Ein paar Mädchen hockten auf einer nackten Matratze. Sie trugen Jogginghosen, übergroße Flanellshirts und spielten Karten. Ein anderes saß vor einem gesprungenen Spiegel und versuchte, mit den Fingern Locken in ihre Haare zu drehen.

Mira musterte Ash. »Bist du jetzt unser neuer Zuhälter?«

»Was?« Er spürte, wie seine Ohren sich rosa verfärbten. »Nein. Um Himmels willen, nein.«

»Du hast auf Mac geschossen.«

»Genau genommen habe ich auf Mac geschossen«, mischte Chandra sich ein. »Macht mich das zu eurer neuen Zuhälterin?«

»Weder sie noch ich werden euer neuer Zuhälter«, sagte Ash.

Skeptisch sah Mira sie an. »Ihr habt also aus reiner Großherzigkeit auf Mac geschossen?« Abschätzig betrachtete sie Ash von Kopf bis Fuß. »Niemand tut etwas ohne Gegenleistung.«

»Wir suchen nach jemandem. Einem Mädchen. Klein, mit langen dunklen Haaren.« Ash nickte zu Hope. »So wie sie.«

Miras Mundwinkel zuckten. »Es gibt keine anderen Mädchen wie sie, mein Freund.«

Sie wollte die Tür wieder zuschieben.

»Warte.« Ash stellte einen Fuß in die Tür. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Das konnte es nicht gewesen sein. »Bitte.«

Miras Augen wurden sanft. »Wir haben alle jemanden verloren. Es tut mir leid.«

Ashs Atem ging unregelmäßig, stockend. Seine Enttäuschung war körperlich spürbar, als hätte man etwas aus ihm herausgeschnitten.

Er war sich so sicher gewesen, dass sie hier sein würde.

Er erinnerte sich an den Hoffnungsschimmer, der in ihm aufgekeimt war, als er die Geschichte von dem Kerl an der Bar gehört hatte. Es war jetzt fast drei Wochen her, dass Dorothy verschwunden war. Das waren neunzehn Nächte, jede davon angefüllt mit stundenlanger Dunkelheit. Ash hatte jede Minute dieser Dunkelheit damit zugebracht, an die Decke über seinem Bett zu starren und sich vorzustellen, wie er sie hätte retten können.

Die Hoffnung, sie hier zu finden, hatte wie ein schmerz­betäubender Balsam gewirkt und ihn für eine Weile beschäftigt gehalten. Es war sehr viel leichter, mit einer Waffe in ein Bordell zu stürmen, als der Wahrheit ins Auge zu blicken.

Und die Wahrheit war, dass Dorothy fort war. Sie war in der Zeit verloren.

Und Ash wusste nicht, wo er anfangen sollte, nach ihr zu suchen.

Er zog seinen Fuß aus dem Türspalt. »Mac blutet ziemlich heftig. Wenn eine von euch abhauen möchte, dann wäre jetzt eine günstige Gelegenheit dafür.«

Keines der Mädchen rührte sich. Sie sahen einander an und dann wieder zu Ash.

Mira legte den Kopf schief. »Aber wohin sollten wir gehen?«

Als Ash darauf keine Antwort hatte, scheuchte sie Hope wieder ins Zimmer hinein und schloss die Tür.

3

Dorothy

5. November 2077, New Seattle

Vor drei Wochen hatte Dorothy sich selbst entführt.

Na ja. Ihr früheres Ich.

Die Zeit verlief kreisförmig. Das hatte sie vor einem Jahr gelernt, und sie lernte es immer noch, lernte es wieder, sogar jetzt. Als sie in die 1990er zurückreiste, um Kunstwerke aus dem Isabella Stewart Gardner Museum zu stehlen, wusste sie, dass sie erfolgreich sein würde, weil sie bereits erfolgreich gewesen war; der Diebstahl war als der beeindruckendste aller Zeiten in die Geschichte eingegangen. Es konnte einem schwindlig werden, wann man darüber nachdachte, aber manchmal passierten Dinge, die man in der Vergangenheit getan hatte, in Wirklichkeit erst in der Zukunft, und Dinge, von denen man dachte, dass sie überhaupt nicht passiert waren, geschahen bereits in der Vergangenheit eines anderen.

Zum Beispiel hatte Dorothy bei ihrer Ankunft in New ­Seattle von einem geheimnisvollen Mädchen namens Quinn Fox gehört. Aber erst als sie rückwärts durch die Zeit gefallen war, hatte sie begriffen, dass sie Quinn Fox war. Sie war schon immer Quinn Fox gewesen.

Trotzdem lag noch einiges an Arbeit vor ihr. Bestimmte Dinge mussten in die Wege geleitet werden, damit alles so geschehen konnte, wie es sollte. Zum einen musste Roman dafür sorgen, dass Dorothy die Exotische Materie bei sich hatte, ­bevor sie von Ashs Schiff fiel. Und das bedeutete, dass sie und Roman ihr früheres Ich hatten entführen müssen, um sie überhaupt auf die Idee zu bringen, in die Vergangenheit zu reisen.