Tage wie Licht und Schatten - Malina Tegari - E-Book

Tage wie Licht und Schatten E-Book

Malina Tegari

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Beschreibung

Rachels Leben ist ziemlich perfekt, und so soll es auch bleiben. Sie hat eine beste Freundin, die mehr als nur das ist, eine Familie, die für sie da ist und Erfolge, da ihre Tanzgruppe einen Wettbewerb nach dem nächsten gewinnt. Dass sie dafür ein Lügenkonstrukt aufbauen musste, ist für sie zweitrangig. Denn was ist schon verkehrt an einem normalen Leben? Besonders, wenn ihre Blutsverwandten in dunkle Machenschaften verstrickt sind, welche sie unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit tarnen? Doch Rachels tiefgreifendes Bedürfnis, um jeden Preis die zu beschützen, die ihr am Herzen liegen, stellt sie eines Tages vor die Wahl: Entweder ihr Geheimnis bleibt weiterhin unentdeckt oder sie versucht zumindest, ihre Mitschüler vor der zerstörerischen Magie einer Fae zu beschützen. Es beginnt ein Kampf um Rachels Zugehörigkeit und ihr Vertrauen, dem sie sich nicht stellen will. Bis Vollmond muss sie sich entscheiden. Die Zeit dafür ist knapp bemessen, da alle Parteien hinter ihrem Rücken Pläne schmieden, während Rachel nur darum bemüht ist, ihre Beziehung zu einem Menschenmädchen zu retten. Kann ihre Liebe die Ereignisse überwinden, die sie drohen auseinanderzureißen?

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Ich widme dieses Buch euch, meinen Lesern.

Inhaltsverzeichnis

Im Namen des Blutpaktes

PROLOG

PRICKELNDE LUFT

NERVEN WIE DRAHTSEILE

DAS SCHWEIGEN DER OPFER

DIE FÜHRUNG HINTER DEN SCHLEIER

WUNDE PUNKTE

WEIß AUFSTAUBENDER VERRAT

ANPASSUNGSLÜCKEN

WORTREICHE WEHRLOSIGKEIT

DIE MUTIGE UNDERCOVERAGENTIN

GROßE GESCHENKE

DAS KARMA UND DIE SCHULDFRAGE

DAS BLÜTENSCHWARZE BLATT PAPIER

EIN UNMORALISCHES ANGEBOT

ZWEIMAL AN NUR EINEM TAG

DIE FARBEN DES BLUTES

DIE LICHTUNG IM WALD

VOM UMGANG MIT VERSPROCHENEN

DAS BLUT IN DER GOLDENEN SCHREIBFEDER

WAS BEFREIT

ZUGVÖGEL LASSEN SICH NICHT AUFHALTEN

TODESMUTIGE AUSSPRACHEN

DEM FEUER ENTSCHWEBEN

ZU GUT UND ZU SCHNELL

WER WIRKLICH DIE FÄDEN ZIEHT

TRÜGERISCHE STILLE

EIN GEWALTVOLLER TOD

Nachwort

Dankeswort

Im Namen des Blutpaktes

Belassen wir jedes Flüstern der Magie,

im Reich der blauen Schatten.

Denn in eure Welt gehörte sie nie,

nur euer Ermessen kann sie gestatten.

Auf zu Unrecht vergoss’nes blaues Blut,

zahlt ihr mit eurem roten.

Andernfalls siegt Rache, Wut.

Im Schattenland sühnen wir die Toten.

Weh dem listigen blauen Grenzgänger,

der in eurer Welt zu wildern wagt.

Macht den Weg frei für die Traumfänger!

So sei’s in eurem Land eure Jagd.

Doch vergesst nicht,

ihr Whyrda vom Volke der Lichten!

Es ist unsere Pflicht

und gebührt uns allein zu richten.

So bringt uns ins blaue Land,

die Wanderer, die ihr abfangt.

Für jeden Schatten vom Volke der Fae,

erschein’ Abgesandte aus dem Palais.

PROLOG

„Samira?“ Alyssa drückte leicht meine Hand, um zu bewirken, dass ich sie ansah. Ihre langen kohlrabenschwarzen Haare flossen in unbezähmbaren Locken über ihren Rücken, und ihre Wangen waren vor Glück gerötet. „Das ist nicht für immer“, wisperte sie.

„Nein“, erwiderte ich. „Es ist für diesen Augenblick. Für das Jetzt.“ Meine Augen spiegelten all das wider, was zwischen uns war und nicht in Worte gefasst werden konnte.

Das war, was wir uns sagten, seit wir uns nah gekommen waren. Die Worte, mit denen wir die Balance hielten und die Erwartungen auf Abstand. Die Worte, die unser Geheimnis bewahrten.

Ihre Hand, mondblasse Haut, mit langen schönen Fingern, zog mich näher an sie heran. Ich versank in ihren grünen Augen, mein Bauch kribbelte. Wir saßen auf ihrem Bett, und ihre Lippen näherten sich meinen. Sie küsste sanft, als gäbe es kein Ziel, dass sie erreichen wollte. Innig, die Tiefe unserer Gefühle umfassend. Es war schön. Ihr Mund strich sinnlich über meinen, und ihre Lippen waren zart. Sie duftete nach Kirschblüten und Frühling.

Wir suchten uns nicht. Wir fanden zusammen, wie der Wind sich benachbarte Blätter umtanzen lässt. Einfach so. Vor zwei Monaten passierte es das erste Mal, dass wir die ungeschriebene Grenze der Freundschaft überschritten hatten. Vorsichtig, wie auf Zehenspitzen, nur um kurz darauf wieder zurückzuweichen. Erst einmal, und dann ein zweites Mal, schließlich überschritten wir sie wieder und wieder.

Meine Finger glitten an ihrer Taille entlang, ich beobachtete jede ihrer Regungen. Ihre Lippen standen ganz leicht offen, sie drückte ihren Rücken als Reaktion auf meine Berührungen durch. Wir umschlangen einander, und ich ließ mich fallen.

Bis sich das Rauschen von Wellen ausbreitete und uns hochschrecken ließ. Es war Alyssas meerblaues Handy, das klingelte. Ich kannte diese mir verhasste Melodie zur Genüge. Sie nahm bei diesem Handyton nie ab, zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Schließlich verklang das störende Geräusch. Durch sie ging ein Ruck, ihre grünen Augen sahen mich bestimmt an. „Ich muss los“, sagte sie. Es war ein Satz mit einem Punkt am Ende, keinem Fragezeichen. Alyssa bedeutete ihre Unabhängigkeit viel. Mir würde ihre Verlässlichkeit mehr bedeuten.

Ich wandte mich ab, biss mir auf die Lippe, um mein Verlangen zu verbergen. Ihr gelang es, in mir eine Seite zum Schwingen zu bringen, die sonst niemand fand. Doch jetzt zitterte diese Seite in mir und verbreitete einen hässlichen Missklang. Ihre Locken kitzelten über meine Schläfe, während sie aufstand, um Abstand zwischen uns zu bringen.

Meine Enttäuschung konnte ich gerade nicht verbergen, das wusste ich. Doch sie nahm es nicht mal wahr, so sehr war sie bereits in Gedanken woanders. Sie wandte sich ab, griff entschieden nach ihrem Handy sowie einer ihrer Jacken. Sie aufzuhalten, vom Gehen abzuhalten, war in diesen Momenten unmöglich. Ich hatte es mehr als nur einmal probiert. Erfolglos. Und so schwieg ich diesmal und ließ sie gehen. Sie verschwand schnellen Schrittes zur Tür hinaus.

Sie kam und ging, wie es ihr gefiel. Unaufhaltsam. Man hielt auch das Meer nicht davon ab, dem Mond zu folgen. Sicher, es gab Gesetzmäßigkeiten, Gezeiten, die in immer gleicher Reihenfolge auftraten. Wie auch eben. Auf das Klingeln des Handys hin setzte sie stets eine verschlossene Maske auf. Durch diese war ich nicht mehr in der Lage wahrzunehmen, was wirklich in ihr vor sich ging. Egal, wie lange sie fortblieb, oft waren es Stunden, selten auch Tage, sie kam stets damit durch. Brachte sie jemand in die Bedrängnis, sich zu erklären, tat sie das. Im Zweifel hatte ihre Mutter auch eine Entschuldigung für sie parat.

Allein wie ich nun war, ließ ich mich resigniert rücklings aufs Bett fallen und starrte ratlos an die Decke. Eben noch, eben war alles wie immer gewesen. Sie hatte den Raum in meinem Herzen mit einer Flut von Emotionen gefüllt. Enttäuscht ließ ich die letzten Minuten Revue passieren, meine Hand tastete nach der Kuhle in der Decke, auf der sie eben noch gesessen hatte. Der weiche Stoff war dort noch warm. Zusammen sind wir wie der Frühling, dachte ich finster: Eine aufblühende Liebe, die nicht für immer bestimmt ist.

Wir teilten uns seit einigen Jahren ein Zimmer in unserem Schulwohnheim und fuhren beide jedes Wochenende zu unseren Eltern in die Stadt. Freunde zu werden, das war leicht gewesen. Fehlte mir eine passende Jacke, lieh Alyssa mir ihre. Hatte sie Probleme in Mathe, Physik und Chemie, half ich ihr vor den Klausuren. Brauchte ich jemanden zum Reden, war sie da. Alles, was über Freundschaft hinausging, war unser Geheimnis. Ein Geheimnis, das wir vor der Außenwelt bewahrten, schließlich war das Meer von Gefühlen zwischen uns nur uns vorbehalten. Doch auch wir hatten unsere Geheimnisse voreinander. Ich erzählte ihr nicht, warum ich jeden Monat ein, zwei Tage krank zuhause verbrachte und sie erzählte mir nicht, wer sie zu den unmöglichsten Zeiten anrief und warum sie dann plötzlich losmusste. Doch das war uns beiden recht.

Zusammenzubleiben würde schwieriger werden. Nicht unmittelbar morgen, sondern in absehbarer Zeit. Nach dem Schulabschluss würde sich unser Leben ändern. Sie wollte Wale erforschen und in Kanada studieren, oder wohin immer es sie zog. Ich wollte die Polizeischule in der Nachbarstadt besuchen. Sie liebte das Abenteuer, ich hatte Angst vor dem offenen Meer und Schiffen. Sie hatte eine Hundehaarallergie, ich wollte einen Hund oder gleich zwei. Sie wollte auf Reisen gehen und ungebunden sein, ich eine Familie, eigene Kinder.

PRICKELNDELUFT

Die Tage gingen ins Land, und ein frischer Wind kam auf, der die Äste an den Bäumen leer zu schütteln begann. Nur wenige bunte Blätter hielten den Stürmen noch stand, bald raschelten sie bei jeder Böe, als wollten sie dem Wind die Geheimnisse des Sommers anvertrauen.

An diesem verregneten Nachmittag rannte ich unter dem Blätterdach so schnell ich konnte über einen Pfad, den dicke Baumstämme mit rissiger Borke säumten. Selbst für meine Verhältnisse war ich überraschend schnell. Meine rehbraunen Augen wären sicher schön, hätte ich sie nicht widerspenstig zusammengekniffen. Zu meinem Ärger konnte man mich wohl als hübsch bezeichnen, ein Umstand, dem ich mit einem missmutigen Gesichtsausdruck entgegenzuwirken versuchte. Ich trug ein neongrünes T-Shirt mit gelben Sprenkeln und die dazu passende Sportleggings. Klamotten, die ich mir so niemals ausgesucht hätte. Hätte ich mir eigene aussuchen können, wären sie in warnendem Rot gehalten gewesen. Wie ein giftiger Frosch oder eine rote Ampel. Am besten noch mit einem provozierenden Spruch, der andere Leute endgültig auf Abstand gehen ließ.

Mein Atem drang keuchend an meine Ohren, und meine Füße trommelten unablässig weiter, trieben mich voran. Die Haut an meinen Fußgelenken spannte etwas, doch das war ich gewohnt. Es war schon lange nicht mehr so schlimm wie letzte Woche, ich konnte es gut ignorieren. Meine Laufschuhe waren dreckverkrustet, abgelaufen und inzwischen zu klein. Es lohnte nicht, sie nach jedem Laufen sauberzumachen. Energisch drückte ich mich ab, um über eine herabgefallene mächtige Astgabel zu springen. Ich kannte meinen Körper durch das gnadenlose Tanztraining in- und auswendig, war diesen imaginären Parcours schon etliche Male gerannt und doch fehlte mir der Halt, als ich auf den Boden aufkam. Eine dicke Schicht braunes Herbstlaub versteckte den krummen Ast, auf dem ich landete. Mein linker Fuß rutschte unglücklich herunter. Schlagartig breiteten sich Schmerzen in meinem Fußgelenk aus.

„Scheiße!“, fluchte ich laut. Humpelnd bremste ich meine Geschwindigkeit herunter. Wegen eines einzigen falschen Schrittes vom Tanzen abgehalten zu werden, das wäre ein Desaster. Verbissen probierte ich, den Fuß in alle Richtungen zu drehen. Es war unangenehm, aber er ließ sich noch bewegen. Ich ärgerte mich, obwohl ich wohl Glück hatte, dass nichts gebrochen war. Wie sollte ich so bis zu unserem nächsten Wettbewerb im Tanztraining mithalten? Zu allem Überfluss wurden die Regentropfen dicker.

Die letzten Meile schleppte ich mich langsam heim. Den Fuß hielt ich in einer Schonhaltung, um den Knöchel möglichst wenig zu belasten. Vor mir lagen bereits die ersten Schulgebäude aus Backstein, was bedeutete, dass sich unser Wohnheim endlich näherte. Durch die frühe Umkehr würde ich schnell genug zurück sein, um in der Kantine gleich noch die volle Essensauswahl zu haben.

In ärztliche Behandlung würde ich mich auch diesmal nicht begeben müssen, hoffte ich. Mein Geheimnis stand dem in gewisser Weise im Weg. Außerdem konnten wir das Geld gut für anderes gebrauchen.

Mir lagen meine kastanienbraunen Haare inzwischen klamm in Gesicht und Nacken an, und meine nassen Sportklamotten zogen die Wärme aus mir. Ich tröstete mich damit, dass mich auf den letzten Metern nur noch die Treppe von einer warmen Dusche trennte.

Mit einer Hand schob ich die gläserne Tür zum Wohnheim auf und zog mit der anderen mein altes Handy aus der Jackentasche, um meiner Mom und Alyssa von meinem schmerzenden Fußgelenk zu berichten. Es konnte nicht schaden, ein paar aufbauende Worte zu bekommen, obwohl ich damit rechnen musste, von Mom eher mit verqueren Lebensweisheiten überhäuft zu werden. Der Bildschirm flackerte und reagierte nicht auf meine Berührungen. Reglos verharrten meine Finger darüber. Mein Handy stürzte häufiger ab, doch nicht während des Entsperrens. Und dass es flackerte, war auch neu. Ich hielt einen Moment inne. Hatte es jetzt auch noch einen Wackelkontakt? Irgendetwas stimmte nicht. Woher kam dieses diffuse Gefühl in mir?

Stirnrunzelnd blickte ich mich um. Hier unten, zwischen den Tischen, Stühlen und Eukalyptusbäumchen war niemand. Plötzlich prickelte mein Bauch, und ich fühlte mich nervös, was ich bis vor wenigen Sekunden nicht gewesen war.

Klatschnass und auf einem Bein stehend, das schmerzende leicht angewinkelt, unbelastet auf die Treppe gestützt, verweilte ich. Ich ließ das Handy sinken und sah auf. Oben auf dem Treppenabsatz stand meine Mitschülerin Trisha. Einige ihrer schwarzen Haarsträhnen hatten sich aus ihrer asiatisch aussehenden Hochsteckfrisur gelöst. Ihr Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst und ihre Fäuste geballt, was sie beängstigend aussehen ließ. Sie wirkte geladen wie eine dunkle Gewitterwolke.

„Raus!“, schrie sie mich an und klang dabei verzweifelt. In ihren Augen wirbelte ein Sturm, es wirkte, als würden von ihr Vibrationen ausgehen, die die Treppe zum Erzittern brachten.

Bildete ich mir das nur ein? Doch es vibrierte erneut, stärker diesmal.

Oh verdammt. Meine Gedanken begannen zu rasen. Täuschte ich mich, oder war sie eine Fae, die das erste Mal den Zugang zu ihrer Magie fand? Die sonst so unauffällige, zurückhaltende Trisha?

Es gab nur sehr wenige Wechselbälge in unserer Welt, normalerweise wurden sie rechtzeitig gefunden und von ihresgleichen ausgebildet, bevor es zu einem mitunter tödlichen Kontrollverlust kam. Was man über Fae wusste, war nicht viel, schließlich war ihre Welt fein säuberlich von unserer getrennt. Doch es reichte, um gehört zu haben, dass sie sich jetzt wahrscheinlich unabsichtlich töten könnte. Und alle in diesem Wohnheim mit sich nehmen.

„Hast du mich nicht gehört?! Raus hier!“ Trisha sah wie ein wütender Racheengel aus. Ihre Schultern bebten, so schnell atmete sie. Inzwischen hielt sie ihre Hände zu Schalen geformt hoch. Ihr nachtschwarzes Haar löste sich aus ihrer Frisur, umtanzte ihr schmales Gesicht. Sie war klein, zierlich und gerade sehr, sehr furchteinflößend.

Trisha löste ein Gefühl in mir aus, das ich nicht benennen konnte. Zwischen uns baute sich etwas auf, die Luft knisterte förmlich. Wie durch einen Sog wurde all meine Aufmerksamkeit auf sie gezogen. Das Gebäude ächzte und ihre Haltung verströmte pure Macht. Ihr Stand war sicher und ihre Hände zeigten weiterhin zur Decke. Es gab nur noch sie und mich, dieses Gefühl von kribbelnder Energie, als könnte ich meine Sinne ausstrecken und bestünde die Luft aus einem prickelnden Glas Sekt, in das ich meinen Finger getaucht hätte.

Das war nicht gut, denn wäre ich normal, dürfte ich das zwischen uns nicht spüren.

Einen kurzen Augenblick meinte ich Angst in ihren Zügen aufblitzen zu sehen. „RAUS!“, brüllte sie, dann zierte ein beängstigendes Lächeln ihr Gesicht. Sie verstummte.

Die Treppe begann zu beben, ich spürte die Vibrationen am Geländer, wonach ich unwillkürlich meine Hand ausgestreckt hatte. Diesmal zitterte das Gebäude in meinem direkten Umfeld schon stärker. Die Glasfenster des Foyers knirschten.

Meine Schrecksekunde dauerte bereits zu lange an, ich musste irgendetwas tun. Endlich setzte mein Verstand wieder ein. Was sie tat, war lebensgefährlich. Wir mussten hier alle weg. Mindestens zwanzig Zimmer mit meinen Mitschülern lagen hinter der Treppe. Noch erstreckten sich ihre wirbelnden Energieströme nur auf das Foyer. Was, wenn sie mehr Kraft nutzen würde? Niemand war hier, der es außer mir schnell genug bemerken konnte. Die Türen zu den Fluren waren geschlossen, weswegen man Trisha kaum bis in die Zimmer hören konnte.

Ich sah mich – auf einen rettenden Einfall hoffend – um. Zwei Meter hinter mir, an der Wand, befand sich ein roter Kasten mit einem schwarzen Knopf, realisierte ich. Ohne zu zögern, schlug ich das Glas vor dem Knopf mit meinem Ellenbogen kraftvoll ein. Knackend gab es nach. Leichter als erwartet.

Das hohe Geräusch des Klingelns durchbrach das bedrohliche Knirschen des Gebäudes und überdeckte es. Keinen Deut zu früh, denn an ein paar Stellen begannen sich Risse über die Decke zu ziehen.

Während der Flur in Vibrationen, Schritten, Schreien und Panik unterging, fokussierte ich Trisha. Niemand konnte ihr jetzt noch helfen. Es war zu spät für sie.

Doch was wäre, wenn sie ihr helfen könnten, drängelte sich ein verbotener Gedanke in meinen Kopf. Was, wenn sie es verhindern konnten? Bloß waren sie nicht hier und ich kein Ersatz. Ich musste mich zusammenreißen, bevor es zu spät war, schalt ich mich.

An mir rauschten bekannte Gesichter vorbei und ich wusste, dass ich mitgehen sollte. Ich konnte jedoch nicht anders, als mich am Geländer festzuhalten und stehenzubleiben. Meine Wahrnehmung dehnte sich wieder aus, versetzte mich in eine Art Trance, in der einzig und allein die sprudelnde Energie um uns herum und Trisha existierten.

Ich muss zu ihr.

Sie zog mich an, wie eine Motte das Licht. Einem Instinkt folgend, versuchte ich, ihr näherzukommen, mich gegen die Flut von Mitschülern die Treppe hochzukämpfen.

Erst nahm ich den nahenden Befehlston eines Mädchens im Stimmgewirr kaum wahr, bis mir klar wurde, dass ich diese Stimme kannte. Es war Clarisse. „Was tust du da? Bist du lebensmüde?!“, rief sie. Mein Blick ruckte zu ihren regenbogenbunt gefärbten Haaren, die aus der Menge hervorstachen. Sie versuchte, zu mir zu gelangen, doch der Strom riss sie mit, an mir vorbei. Ein wacher Teil meines Verstandes schrie mich an, mit Clarisse zu gehen. Wenn ich mich nicht sofort besann, mich selbst heraus rettete, würde ich mit Trisha sterben.

Ein anderer Teil wollte Trisha mit mir raus retten. Ich wollte ihr die Magie, die die Luft förmlich kochen ließ, entziehen. Diese Kraft, pure Energie, die summend um sie wirbelte, glich inzwischen einem Whirlpool, der auf stärkster Stufe zu blubbern begann. Wenn ich diesem Instinkt nachgebe, verrät mich das. All die Jahre der Geheimhaltung wären vergeudet gewesen.

„Rachel!“, versuchte Clarisse es noch einmal, doch ich hörte nicht auf sie. Etwas an Trisha zog mich unaufhaltsam an. Als die meisten an mir vorbei waren, begann ich mich die Treppe hochzuschieben, an meinen Freunden und unbekannteren Gesichtern vorbei. Auf die sich nicht rührende Trisha zu, die immer mehr Spannung um uns herum aufbaute. Sie durfte das nicht tun. Ich spürte, wie sie um sich herum noch mehr von dieser Energie an sich riss und so die Luft auflud. Der Feueralarm verstummte.

Das Gebäude ächzte bedrohlich, und die Risse vergrößerten sich stetig. Clarisse schrie mich an, doch durch das Knirschen des Gebäudes verstand ich sie über die Distanz nicht mehr. Sobald der Weg zu Trisha endlich frei wurde, gelang es mir, die letzten Stufen zu erklimmen und sie zu packen.

Ich fühlte einen kräftigen elektrischen Schlag auf mich überspringen und keuchte. Ich sog etwas Mächtiges in mich. Wie in Trance bemerkte ich, dass ich etwas tat, wozu ich nicht in der Lage sein sollte. Die Kraft verließ sie, und dieses knisternde Etwas lud mich weiter auf. Sie schaute mich mit einer Panik an, die in meiner Brust echote, doch ich konnte sie nicht loslassen. Nur noch wenige Sekunden, dann bricht ihr Kraftfeld zusammen, dachte ich. Woher kam diese Ahnung?

Sie schwankte. Ich schwankte mit ihr und zwang mein zweites Bein auf den Boden. Alles vibrierte, und ich konnte durch die erneut einsetzenden Schmerzen in meinem Knöchel nicht mehr in mich aufsaugen. Mein Körper, vor allem mein Knöchel, kribbelte, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ein kleines bisschen von der Energie summte weiter um uns. Ich sah mich um. Eben noch war Putz von den Wänden gebröckelt, jetzt schien das Beben um uns nachzulassen.

Sie schloss den Mund, hörte auf zu schreien. Endlich sah sie mich wirklich an, durch die Wand an Emotionen hindurch. Sie begriff, dass das Wohnheim über uns in sich einzustürzen drohte.

Ich hatte sie noch fest an den Oberarmen gepackt. Es gab keinen Grund mehr zu warten, darum zog ich sie mit mir, rannte mit ihr die Treppe herunter. Sie reagierte lethargisch, stolperte und drohte mehrmals zu fallen, doch das ließ ich nicht zu. Wir wichen Betonstücken aus, die auf dem Boden lagen. Vor uns löste sich ein großer Brocken von der Decke, stellte ich beklommen fest. Er würde uns treffen, sie war zu langsam. Unmöglich konnten wir ihm noch schnell genug ausweichen. Er fiel, direkt über uns, auf uns zu. Ich versuchte, Trisha zur Seite zu ziehen.

Es dauert zu lange.

Doch zu unserem unverschämten Glück wurde er seitlich abgelenkt. Mit großen Augen verfolgte ich, dass alles, was von oben herabstürzte, über uns abperlte. Je näher ich mich in den letzten Rest ihres Kraftfeldes begab, umso geringer war die Gefahr, getroffen zu werden. Kurzerhand zog ich sie enger an mich.

Die Tür vor uns stand zum Glück offen. Noch fünf Meter. Plötzlich verebbte das Surren ihrer Magie um uns. Ihr Kraftfeld verschwand. Der Schutz über uns war weg. Kaum zu glauben, aber sie sackte neben mir in sich zusammen. Verdammt!

Ein bedrohliches Krachen und ein monströser Schlag verkündeten, dass etwas einstürzte. Ich riss die Hände über meinen Kopf, versuchte mich schützend über Trisha zu werfen, doch es war zu spät. Schmerzhaft prallte ein Betonstück an meinen Händen ab, schlug auf meinen Nacken und rutschte meinen Rücken herunter. Weitere Aufschläge, verfolgt von beängstigenden Erschütterungen, versetzten mich in die stumme Erwartung unseres Endes. Ich wurde von Betonbrocken getroffen und krümmte mich, aus meinen Lungen wurde die Luft gepresst. Energie summte an den schmerzenden Stellen, prickelte ebenso schmerzhaft. Sollte es das gewesen sein?

Stille breitete sich aus, während die Luft sich mit Staub füllte, der das Atmen erschwerte. Womöglich war diese kurze Atempause meine letzte Gelegenheit, das Gebäude noch lebend verlassen zu können. Lag es an der Magie, dass ich noch in der Lage war, aufzustehen? Ohne Trisha wäre ich schneller, trotzdem konnte ich sie einfach nicht zurücklassen. Mit verzweifelter Dringlichkeit griff sie unter den Achseln. Sie hinter mir herziehend fluchte ich innerlich, dass es trotz ihres geringen Gewichts so schwer war. Angestrengt schleifte ich sie weiter zur Tür. Noch drei Meter, schätzte ich, denn die Sicht war durch weißen Staub erschwert.

Kleinere Steine trafen mich an Schultern und Rücken, sie schlugen dumpf auf dem Boden neben mir auf. Ich blendete jeden Aufprall so gut es ging aus. Durch die Angst merkte ich es sowieso kaum, mein Fokus lag darauf, Trisha mit aller Kraft zum Ausgang zu ziehen. Wir hatten es fast geschafft. Es krachte erneut gewaltig hinter uns. Wir werden sterben, dachte ich verzweifelt. Obwohl wir so nah dran waren.

Wie durch ein Wunder blieb die Stahlkonstruktion der Decke über uns intakt. Meine Augen brannten, Adrenalin pumpte durch meine Adern. Ich konnte die Tür nicht mehr erkennen, der ich mich nähern wollte. In meinem Rücken spürte ich plötzlich Glas, das nicht nachgab. Die Tür hatte ich wohl knapp verfehlt und tastete seitlich von mir auf der mit Staub überzogenen Glasfläche nach der Öffnung. Ich fand sie eine Armlänge seitlich von mir. Mit neuem Mut verlagerte ich mein Gewicht nach hinten und zog Trisha mit mir durch die Öffnung. Wir schafften es. Ich zog sie das letzte Stück über die Schwelle und spürte ihr Gewicht vor Erleichterung kaum mehr.

Unser Klassenkamerad Dustin bemerkte uns und rannte auf uns zu. Er nahm sie mir ab, redete zusammenhangsloses Zeug darüber, dass er sie hatte retten wollen.

Ich stolperte weiter. Ins Freie, in sichere Entfernung von unserem Wohnheim. Dann erst ließ ich mich auf die Knie fallen und fühlte etwas Nasses an meinen Wangen herablaufen. Feine Regentropfen fielen auf mein Gesicht und mischten sich unter die Tränen. Ich stieß einen lauten Atemzug aus. Unglaube erfüllte mich. Wir hatten es geschafft. Trisha und ich. Die anderen.

Um zu sehen, wie schlimm es war, drehte ich mich um. Ein Teil des Gebäudes, das Foyer, stand noch. Einige Glasscheiben waren zerborsten, Staub wurden vom Regen aus der Luft gewaschen. Drei Mitschüler scharten sich um die bewusstlose Trisha. Auch sie war in Sicherheit. Wir hatten wirklich überlebt. Ich wischte mir die Tränen weg. Doch dann trübte sich meine Erleichterung, und ich suchte die Menge ab. Wo war Alyssa?

Clarisse und Mel stürmten auf mich zu. Mühsam stemmte ich mich hoch. Beide zerdrückten mich fast, so froh waren sie, dass es uns allen gut ging. Erleichtert sackte ich gegen sie und suchte in ihren Armen nach dem Trost, den ich jetzt verzweifelt brauchte. Clarisse redete auf mich ein und ich hörte ihr nicht wirklich zu, da ich immer noch neben mir stand. Sie war gerade bei: „… Was sollte das? Du hättest dich umbringen können!“, da unterbrach ich sie und murmelte leise ein einziges Wort. Den Namen, der mir mit am meisten bedeutete. „Alyssa?“

Clarisse verstummte. Sie sah sich suchend um. In die kurze Stille hinein sagte Mel zuversichtlich: „Wir gehen sie suchen, wahrscheinlich ist sie hier irgendwo.“

Ich nickte verzweifelt.

Mel zog Clarisse mit sich, von mir weg. Sie wusste, wie anstrengend Clarisse sein konnte. Clarisses Eltern waren sogar noch reicher als Mels. Im umgekehrten Verhältnis zum Geld schenkten beide Familien ihren Töchtern auch ihre Aufmerksamkeit. Während Mel mit ihren geflochtenen roten Haaren jedoch mittelständisch wirkte, sie andere stets in den Mittelpunkt zu rücken pflegte und sie jedem bereitwillig seine Privatsphäre ließ, mischte Clarisse sich in anderer Leute Angelegenheiten nur zu gern ein. Besonders, wenn sie daraus einen Vorteil zog. Der Reichtum ihrer Eltern hatte auf sie abgefärbt, sie verströmte den Eindruck, Geld im Übermaß zu besitzen. Sie trug am liebsten neonfarbene, nach Aufmerksamkeit schreiende Markenklamotten, färbte ihre Haare alle zwei Wochen beim Frisör für Unsummen nach, damit nichts verblasste und trug Make-up im Übermaß auf. Hauptsache, sie war für niemanden zu übersehen. Nicht im Mittelpunkt zu stehen, ertrug sie nur schwerlich.

Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, verschaffte mir besorgt einen Überblick und hielt nach Alyssa Ausschau. Ein paar meiner Klassenkameraden sahen verstört und geschockt, andere hysterisch oder fassungslos aus. Sie hatten Schürf- oder Platzwunden, aber es schien, als müsse niemand wegen etwas Ernstem ins Krankenhaus. Mehr Sorgen bereitete mir, dass ich nicht wusste, ob noch jemand im Gebäude war. Ob Alyssa noch darin war. Denn nach Trisha und mir hatte niemand mehr das Gebäude verlassen.

Die Feuerwehr kam, sie mussten warten, bis sie das Gebäude durchsuchen durften. Krankenwagen fuhren vor. Aufgeregte Menschen rannten um uns herum. Sie zählten uns und schrieben auf, wer fehlte. Ich hatte Alyssa bis jetzt nicht gefunden. Wo war sie?

Schwankend griff ich nach meinem Handy, um sie anzurufen. Meine Finger zitterten beim Wählen. Die darauffolgende, unerträgliche Stille in der Leitung wurde von einem Tuten durchbrochen.

Einmal … Mein Atem bebte.

Zweimal … Oh, bitte.

Dreimal … Sie musste einfach hier sein.

Viermal … Ich konnte ihr Handy nirgends klingeln hören.

Fünfmal … Bitte, lass sie leben.

„Ja?“

Es war Alyssa. Sie war gut gelaunt und sicher. Nicht hier. Erleichterung brandete durch mich hindurch. „Wo bist du?“, brachte ich hervor und ergänzte, bevor sie antworten konnte: „Kannst du kommen?“

„Du klingst ganz merkwürdig, was ist los? Wo bist du denn?“

Dass sie meiner Frage auswich, war egal. Ihre Stimme war Balsam für mich. Real. So normal. „Vor unserem eingestürzten Wohnheim. Komm bitte einfach.“

Kurz war es still in der Leitung. Dann überhäufte sie mich mit Fragen, doch ich bekam keine davon richtig mit. Als sie merkte, dass ich unter Schock stand, versprach sie, so schnell wie möglich zu kommen.

„Danke“, wisperte ich.

Ich saß inzwischen auf einer der Bänke, die tief stehende Sonne brach durch die Wolkendecke. Wie ich dahin gekommen war, wusste ich nicht mehr. Nur dass ich mit jeder Faser meines Herzens darauf wartete, dass Alyssa herkam. Doch es dauerte. Unerklärlicherweise tat mein Knöchel nicht mehr weh, das musste wohl der Schock sein. Auch meine Hände, mein Kopf und der Nacken hatte durch die Betonstücke nichts Ernstes abbekommen. Schmerzen hatte ich zumindest keine mehr.

Die Sanitäter waren eben auf mich zugekommen, sie hatten mir Fragen gestellt, die ich abwesend beantwortete. Die beiden nahmen mir das Blutdruckmessgerät wieder vom Arm und bedeuteten mir, mich vorzubeugen. Der Ältere tastete meinen Kopf ab, und ich ließ es über mich ergehen. Er fand die Stelle, an der ich getroffen worden war. „Haben Sie hier eine Prellung? Dann sollten Sie sicherheitshalber mitkommen.“

„Ich glaube nicht“, log ich, um dem zu entgehen. Schmerzen nahm ich ja auch keine wahr.

„Sind Sie sich sicher?“, ließ er nicht locker.

Ich nickte voller Gewissensbisse. Klug war das nicht, doch wenn sie im Krankenhaus herausfänden …

Er drückte nochmal fester auf die Stelle, an der das Betonstück mich getroffen haben musste. Es tat nicht weh. Da ich nicht reagierte, schien er mir zu glauben. „Dann wird das Blut dort nicht von Ihnen sein, Miss.“ Er deutete stirnrunzelnd auf meinen Nacken.

Ich fasste zögerlich dorthin. Als ich meine Hand wieder vorzog, waren die Fingerspitzen rot. Verwirrt blickte ich darauf. Das konnte ich mir nicht erklären. Ich hatte gespürt, dass mich Steine getroffen hatten. Warum war da Blut in meinem Nacken, aber keine Wunde ersichtlich? Wie zur Antwort summte es in mir. Schreckliche Angst machte sich in mir breit.

„Seien Sie froh. Andere hat es schlimmer erwischt. Ich gebe Ihnen ein Taschentuch.“ Lächelnd kramte der ältere Rettungssanitäter eine Packung aus seiner Tasche hervor und hielt sie mir hin. Ich zwang mir ein Lächeln aufs Gesicht, während ich eins herauszog. Dann drückte er mir eine kleine Flasche Saft und eine Decke in die Hand. „Etwas Zucker gegen den Schock. Wärmen sie sich etwas auf, ihre Klamotten scheinen ziemlich nass zu sein. Vielleicht können Sie zuhause anrufen und sich etwas mitbringen lassen.“

Ich nickte dankbar. Sie gingen weiter.

Der Schock ließ nach, trotzdem bahnten sich meine Gedanken nur langsam ihren Weg. Ich nippte an dem Saft, wickelte mich in die Decke und schrieb Mom und Carolin, dass alles gut war. Ich wusste nicht, ob wirklich alles gut war, doch derlei Angelegenheiten besprach ich nur mit Mom persönlich. In mir summte ein mächtiges Lied, mit dem ich nichts anzufangen wusste. Mein Körper vibrierte vor Energie. Konnte ich ihre Magie in mich aufgenommen haben? Doch das war unmöglich, aufgelöst verwarf ich diesen Gedankengang wieder, bevor ich ihn mit allen Konsequenzen fertig dachte.

Wenige Minuten später beobachtete ich, wie unser Schulleiter Mr. Gerald und ein Vertrauenslehrer kamen. Sie verschafften sich bestürzt einen Überblick. Mr. Gerald war schlank und stets in kariertem Tweed anzutreffen. Gerade bewegte er sich gemächlich auf jemanden in der Menge zu. Dieser jemand war Trisha, registrierte ich. Sie unterhielt sich mit Dustin und zwei Mädchen aus unserem Jahrgang, woraus ich schloss, dass es ihr wieder besser ging.

Mr. Gerald erreichte Trisha. Sie erzählte ihm etwas, dann lief Trisha vorweg auf mich zu. Ihr folgte die kleine, grauhaarige Gestalt unseres Schulleiters. Beide bahnten sich einen Weg an den anderen vorbei und näherten sich mir die letzten Meter.

Vor Angst rauschten mir die Ohren. Ich hörte nicht, was sie sagten. Was zählte war, dass Alyssa bald käme. Bis dahin war alles andere nebensächlich, oder?

Mr. Gerald blieb mit Trisha vor mir stehen. Er bedeutete mir, mitzukommen. Mein Bauch krampfte sich zusammen. In meinem Kopf war nur Platz für einen Gedanken. Hatte ich mich verraten?

Während wir ihm folgten, bekam ich nur Fetzen von dem, was er sagte, mit. „… großen Mut bewiesen … Ihr versteht sicher … nicht einfach … richtige Entscheidung treffen … kann auch nicht viel daran ändern … bin mir sicher, ihr müsst euch beide keine Sorgen machen. Standardverfahren … Untersuchung … seid einfach ehrlich …“

Wir waren inzwischen in seinem Büro, in dem er eine Menge antiquarischen Tand aufbewahrte, angekommen. Ich sollte warten, meinte Mr. Gerald. Also wartete ich. Ich wollte nicht wissen worauf, auch wenn sich eine meiner größten Ängste zu vielen, bislang nicht gedachten Gedanken zu formieren schien. Trisha und ich wechselten keinen Ton. Sie bedankte sich nicht, und ich fragte sie nichts. Mit Trisha verschwand er wieder, während ich mich entkräftet auf einen Stuhl sinken ließ. Mein Blick fand die farbenfrohe Tischleuchte mit Libellen aus Buntglas, die ich schon immer gemocht hatte. Die Regale ringsum präsentierten seine antiken Lieblingsstücke.

Mir war warm, dabei sollte mir wohl durch den Schock kalt sein. Ich fühlte mich, als säße ich im Zentrum der Macht. Sie sang in mir. Konnte es wahrhaftig dazu gekommen sein …?

Was ich wusste, war, dass ich keine Magie aufgenommen haben durfte. Meine Wahrheit stützte sich auf drei Bausteine, die unumstößlich waren, da sie meine Realität bildeten.

Erstens: Meine Mom war ein Mensch, deswegen war ich es auch. Zweitens: Ich hatte eine ganz normale Migräne, die mich alle paar Wochen einholte. Drittens: Ich musste so fest an die ersten beiden Wahrheiten glauben, dass ich auf jeden anderen Menschen überzeugend wirkte.

Bloß nahm das Summen in mir nicht ab, nur weil ich es nicht wahrhaben wollte. Das andauernde Prickeln war auf Dauer unangenehm. Ich versuchte unwillkürlich, dieses Gefühl loszuwerden. Nur eine kleine Portion wieder wegschicken, ohne dass etwas passieren würde. Doch egal, wie sehr ich mich auf die Energie konzentrierte, an ihr zerrte oder sie zu formen versuchte, es ging nicht.

Meine Situation machte mich nervös. Mein Fuß wippte, und mein Mund wurde trocken. Ich blickte wieder zur Uhr an der Wand. Es war Viertel vor sechs.

In Mr. Geralds Büro hatte ich schonmal gesessen. Zu jener Zeit konnte ich ihm gegenüber jeglichen Verdacht zerstreuen.

„Bist du eine –“, Mr. Gerald räusperte sich unbehaglich, verlegen um Worte.

„Nein, bin ich nicht“, unterbrach ich ihn. Es war ja nicht mit anzusehen, wie er sich wand.

„Das wusste ich doch im Grunde schon.“ Sein ernstes Gesicht wurde weich, und er lächelte. Sie waren niemandem so ganz geheuer. Deswegen war wohl auch er froh, seine Pflicht erledigt zu haben. Er sprach danach über seine Taschenuhrensammlung, bevor er mich erleichtert wegschickte.

Ich hatte es schon oft abgestritten, ohne zu wissen, ob ich log. Mir wurde stets geglaubt. Doch diesmal, diesmal hatte ich womöglich einen Fehler gemacht. Diesmal hatte ich uns womöglich verraten. Wenn sie mich enttarnen würden, müssten wir mit. Und das galt es zu vermeiden. Ich fragte mich, wer das Spiel, die Wahrheit zu verdrehen, besser beherrschte. Meine vermeintlichen Blutsverwandten oder ich? Sie hatten die Beweise auf ihrer Seite, doch für mich stand mehr auf dem Spiel.

Eine Stunde und siebenundvierzig Minuten später hatte ich die Flasche Sprudelwasser ausgetrunken, die verlassen auf dem Schreibtisch stand. Auch drei der Kokoskekse in einer Schale, die wohl Besuchern vorbehalten war, hatte ich gegessen. Ich tigerte im Büro auf und ab und beobachtete dabei die Uhr an der Wand. Die Zeiger waren in Bronze und Kupfer gehalten, sie bewegten sich unaufhaltsam vorwärts.

Von Alyssa hatte ich derweil über unseren Messenger erfahren, dass man bisher, sehr zu meiner Erleichterung, von keinen Toten wusste. Ich sah auf mein Handy.

Alyssa: Kopf hoch, wir sehen uns ja gleich. Ich habe mir das Desaster von außen mal angesehen: Der Teil über unserem Zimmer ist eingestürzt. Unsere ganzen Sachen sind wahrscheinlich kaputt. Versuche gerade, uns beiden eine gemeinsame Notunterkunft zu organisieren.

Dass unsere Sachen zerstört waren, tat weh, war aber gerade nebensächlich. Die Angst vor dem, was auf mich zukommen würde, ballte sich in meinem Bauch zusammen.

Alyssa machte Witze, dass für alle meine Heldenauszeichnungen in unserem Zimmer kein Platz sein würde. Entscheidend war, sie würde später für mich da sein. Ich könnte sie nachher sehen und ihr alles erzählen. Von meinem Verdacht, dass Trisha eine Fae war.

Alyssa versprach mir, dass ich sicher keine Whyrda sei. Da war es wieder, das böse Wort. Ich hatte es bisher gekonnt umschifft. Whyrda verwandelten sich mit elf Jahren, an Vollmond, das erste Mal. Whyrda töteten und verloren die Kontrolle, deswegen lebten sie weit außerhalb. Whyrda beschützten Menschen mit aller Macht vor den niederträchtigen Fae, doch wer ihnen unwissend in die Quere kam, dem konnte es nicht besser als einem Fae ergehen. Sie sahen aus wie Menschen und lebten in unserer Welt. Die Whyrda waren ein Mythos, denn sie blieben unter sich.

Eine Whyrda, das war ich nicht. Ich war schon sechzehn und nicht mehr elf. Whyrda wurden bei Vollmond zum Werwolf, doch ich bekam nur Kopfschmerzen, so schlimm, dass ich zuhause blieb.

Was war ich also? Sollte ich eine Fae sein, müsste ich zart, klein und schmal sein, feingliedrig. Sportlich war ich, ja. Aber nicht zierlich. Halb mochte ich ein Mensch sein, wie meine Mutter, halb … Ich verbat mir diesen Gedanken sofort wieder. Ich war dazu geboren, weder zu den einen noch zu den anderen zu gehören.

Weder eine Fae noch eine Whyrda durfte ich sein. Es würde mein Leben hier an dieser Schule, bei meiner Familie und mit einem normalen Alltag, für immer beenden. Ich wollte nichts davon missen, wie ich jetzt lebte. Was bedeutete, ich würde um jeden Preis verhindern müssen, dass die Whyrda auch nur eine Sekunde glaubten, ich hätte etwas Wölfisches in mir. Denn sie würden kommen. Sollten sie mich mitnehmen … würden sie mich töten, sollte ich mich unverwandelt als leichtes Opfer entpuppen. Jetzt blieb mir nur, abzuwarten und jeglichen Verdacht sofort zu zerstreuen.

Stimmen und Schritte näherten sich den Gang entlang. Über das erneute Rauschen des Blutes in meinen Ohren hinweg verstand ich nichts, bis die Schritte vor meiner Tür innehielten. Bitte keine Whyrda, dachte ich verzweifelt und rang meine Hände. Da ich nicht wusste, wohin mit ihnen, faltete ich sie ineinander.

„… sollten wissen, dass sie noch unter Schock steht. Es gibt keinen Grund –“

Unser Schulleiter, Mr. Gerald, wurde unterbrochen. „Das ist mir klar. Wollen wir es dann hinter uns bringen?“, sprach eine angenehme Männerstimme. Sie klang wie das Flüstern des Waldes, war voller Verheißung.

Die Tür wurde geöffnet. Ein großer, unglaublich schlanker, gut aussehender Mann stand in der Tür. Er war dunkelhäutig, wirkte exotisch und hatte schräg stehende Augen. Er lächelte, was wirklich umwerfend aussah. „Rachel Samira?“

Ich nickte.

Mr. Gerald gestikulierte wild, dass ich ihn jederzeit rufen könne und er draußen warte.

Zumindest so interpretierte ich es. Ich lächelte ihm leicht zu, um ihm zu bedeuten, dass ich zurechtkam. Dann schloss er die Tür hinter sich.

Der Elf, so konnte man den Fae wohl am besten beschreiben, ignorierte es, durchmaß den Raum mit langen, lautlosen Schritten und lehnte sich vor mich an die Tischplatte. Er betrachtete mich ausführlich.

Und ich ihn. Er sah aus wie Mitte dreißig. Seine Haare standen eigenwillig ab, sein Outfit war nicht von dieser Welt. Es war düster und schön. Matt schwarze Lederstiefel, welche in eine moosgrüne Hose übergingen. Seinen Oberkörper bedeckten Federn, schwarz glänzend. Entweder es war eine Weste, oder die Federn entsprangen seiner Haut. Es war faszinierend.

Eine schwer zu greifende Emotion wallte über sein exotisches Gesicht. Dann verwandelte sie sich in Resignation. „Ein klarer Fall von Verwechslung“, seufzte er entgeistert. „Enttäuschend. Und das bei diesem mächtigen Namen. Ich kann es kaum glauben.“

Was für eine Stimme, innerlich seufzte nun auch ich, aber vor Entzücken. Warum er das Summen in mir nicht wahrnahm? Und welche Bedeutung sollte mein Name haben? Ich riss mich zusammen und antwortete. „Dann sind weder Trisha noch ich …“ Ich suchte hektisch nach einem Wort, das nicht nach einer Beleidigung klang. „… begabt?“

„Trisha werde ich mir wohl auch noch ansehen müssen. Verschwendete Zeit, wenn du mich fragst. Da kontrollieren sie eure Gebäude nicht ordentlich auf Mängel und einer unserer Sprösslinge soll es gewesen sein.“

„Also kann ich dann gehen?“, fragte ich unverzagt.

„Nein.“

Tja. So nett war er dann wohl doch nicht.

„Ich werde dich gleich zum Container begleiten …“

Der Container stand seit ein paar Monaten auf dem Schulgelände, seit unsere Schule mehr Räume benötigte, als sie hatte. Wir wurden dort unterrichtet. Es war im Sommer furchtbar heiß darin gewesen.

„… in dem sie zweifelsohne in einem Mordsaufgebot deine Mitschülerin fertig machen werden. Immer dasselbe. Ich möchte dir keine Angst machen, aber dich werden sie auch noch auseinandernehmen.“

Dass er mit sie die Whyrda meinte, gefiel mir nicht. Den Test, ob ich eine Fae war, hatte mein Aussehen scheinbar schon zu meinen Gunsten entschieden. Seine Enttäuschung darüber war mir nicht entgangen. Es bedeutete aber auch, dass die Wahrscheinlichkeit gestiegen war, dass ich eine Fähigkeit der Whyrda besaß. Was wiederum gar nicht gut war.

„Meiner Meinung nach ärgerst du sie am meisten, wenn du betonst, wie nett ich bin.“ Er lächelte versonnen.

„Warum kannst du sie nicht leiden?“, bohrte ich nach.

„Jahrhundertelange Auseinandersetzungen und Ungerechtigkeiten, zu viel des Guten für Wesen, die alt werden und nicht vergessen wollen. Die ihr Wort nicht brechen können. Die Whyrda sind überheblich und interpretieren in ihre Aufgabe zu viel hinein. Sie mögen unsere dunkle Natur nicht und wir an ihnen nicht, dass wir ihretwegen nicht so sein können, wie wir sind.“ Er setzte sich in Bewegung und lotste mich vor sich her zur Tür.

„Wie seid ihr denn?“

Er grinste mich erneut schalkhaft an und es stand ihm gut. „Böse. Mal mehr, mal weniger. Einige Orte erfordern mehr Boshaftigkeit als andere.“

In einiger Entfernung zur Tür saß Mr. Gerald auf einem Stuhl, kaum hatte sich diese geöffnet blickte er besorgt von seinem Buch auf.

„Sie ist nicht, wonach ich suche“, ließ der Fae ihn wissen.

Mr. Gerald nickte erleichtert. „Soll ich euch begleiten?“

Seine Anwesenheit würde es auch nicht besser machen. Ich schüttelte den Kopf, woraufhin er mich zweifelnd ansah, bevor er sich erneut seinem Buch widmete.

Der Fae war schon weiter in Richtung Treppenhaus gegangen, und ich beeilte mich, zu ihm aufzuschließen. „Ist nichts Gutes in euch?“, fragte ich, um seine kryptischen Aussagen etwas beispielhafter werden zu lassen. Meine einmalige Gelegenheit, mit einem echten Fae zu reden, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich fühlte mich aus irgendeinem Grund wohl bei ihm.

„Würdest du mit mir ausgehen?“, fragte er unvermittelt, seine Augen glitzerten dabei jugendlich.

Okay. Das war schräg. Ich lachte, um die Situation nicht unangenehmer werden zu lassen, als sie bereits war. „Erstens bin ich vergeben, und zweitens habe ich gehört, dass man den Worten der Fae Glauben schenken kann, da ihr nicht lügen könnt.“ Ich schielte zu ihm herüber, doch er sagte nichts dazu. „Ich möchte einen Partner von gutem Charakter. Eure Worte lassen mich unbesehen an eurem zweifeln. Also vermutlich nein.“

„Soso, also vergeben mit Freiheiten oder vermutlich bereit zu einem Seitensprung. Was sagt das über deinen Charakter aus?“ Er machte eine kurze Pause, um zu schauen, ob ich anbiss.

Ich ging auf seinen Seitenhieb nicht ein und ärgerte mich über meine Wortwahl. Warum sagte ich auch vermutlich nein, statt nein?

„Lass es mich so sagen, ich hätte Spaß daran, dir Dinge zu versprechen, die ich dir alle nicht geben würde und dir im schlimmsten Moment mein wahres Gesicht zu zeigen.“

„Wie sieht denn dein wahres Gesicht aus?“

Leichtfüßig drehte er sich auf der Treppe herum. Er sah mich an und ließ etwas, das zwischen uns in der Luft hing, sinken. Wie Nebel glitt sein Lächeln, seine Aufrichtigkeit, Jugendlichkeit und Freundlichkeit hinab. Er war alt, klein und hatte einen boshaften Ausdruck im Gesicht, sein Lächeln war fies und hinterhältig. Sein Gesicht hatte etwas Asymmetrisches, das ich nicht sofort einzuordnen wusste. Als wäre seine Stirn zu vorgewölbt oder seine Augen nicht gleich weit auseinander.

Die Magie in mir summte, es fühlte sich an, als wäre sie glücklich. Eigenartig. Ob er dieses Mal die Magie gespürt hatte? Doch er reagierte wieder nicht darauf. Sein Aussehen erschreckte mich nicht. Gleichmütig sah ich ihn an. „Dein wahres Gesicht gefällt mir besser.“ Das war wahr und doch eine Lüge. Ich vermisste das Gefühl, einen Verbündeten neben mir stehen zu haben. Jemanden, der von den Whyrda noch weniger hielt als ich. Denn dass er kein Verbündeter war, machte seine hinterhältige Miene mehr als deutlich. Doch ich bevorzugte es, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Er sah angenehm überrascht aus. „Das würden wohl die Wenigsten sagen.“ Ohne Schleier klang seine Stimme nach der eines Hundertjährigen. Brüchig, über Reibeisen rieben die Worte, bis sie seinen Mund verließen. „Wenn du möchtest, webe ich meinen Zauber so, dass du mich fortan immer erkennen wirst. Es wäre ein Geschenk.“ Er sah mich neugierig an, das Lächeln seines Mundes glich dem eines Schakals auf der Jagd.

„Man nimmt die Geschenke von Fae nicht an, denn sie sind ein Tauschhandel“, flüsterte ich, das Wissen aus vielen Kinderbüchern rezitierend. „Aber du kannst es mir freiwillig geben, ohne eine Bedingung oder Gegenleistung zu verlangen.“ Mein Vorstoß hinterließ ein beschwingtes Gefühl in mir.

„Meine Bedingung wäre gewesen, dass du mir einen Gefallen in der Spanne deines Lebens erbringst. Schlau, kleines Fischlein.“

Was für einen üblen Spitznamen er sich ausgedacht hatte. Es entstand eine Pause, in der wir den Schulhof querten. Herbstlaub säumte den Asphalt.

„Weil du bereit bist, unerschrocken hinter den Schleier der Wahrnehmung zu schauen, darfst du in Nöten in der Welt der Fae nach mir fragen. Frag nach Izmael, Meister der Schatten und Weber von Flüchen, Gründer der Schulhäuser Yochewed und Matana.“ Sein Antlitz verlor das Trügerische, auch wenn es weiterhin Finsternis ausstrahlte. „Weil ich mich bemühe, kulturell über den Tellerrand zu schauen, darfst du dich auch bedanken.“

Ich lachte und es war ein ehrliches Lachen, was sein böses Gesicht aufzusaugen schien. Wir standen inzwischen direkt vor der Tür des Containers. „Darf ich erfahren, wie mir ein böses Wesen in der Not ohne Gegenleistung helfen würde?“ Sicher war sicher. Angeblich konnten sie nicht lügen. Bevor ich sein Angebot annahm, würde ich das natürlich überprüfen.

„Ich wäre, je nachdem, wer dich in Nöte bringt, dazu bereit, meine Boshaftigkeit gegen ihn einzusetzen, anstatt gegen dich.“

„Nicht mehr und nicht weniger?“

„Wer hätte gedacht, dass du wie eine Fae verhandelst.“

Tja, meine Mutter war in gewisser Weise voll militärischer Strenge, wenn ihr meine Wortwahl nicht passte, was oft der Fall war. Wie zum Trotz achtete ich deswegen zumeist besonders wenig darauf, wie ich mich ausdrückte. In diesem Moment war es mir das erste Mal in meinem Leben zugutegekommen, es theoretisch besser zu wissen.

„Ich hätte gern mehr daraus gemacht. Dann hast du mein Versprechen, nicht mehr und nicht weniger“, antwortete er feierlich.

„Dann freue ich mich überaus, dich in meiner Not wiederzusehen …“

Bevor ich fertig gesprochen hatte, riss er die Tür auf.

Tja, wie machen die Fae es nur, aber was zu ihrem Vorteil ist, nehmen sie mit. So sagte man, und so war es.

Sein fieses Gesicht sah mich frohlockend an.

Wenn man es genau nahm, hatte er es angekündigt. Es würde sie am meisten ärgern, wenn ich vor ihnen betonte, wie nett er war. Schlau eingefädelt. Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu. Wenn er bei seinem Versprechen, einen meiner Peiniger loszuwerden, nicht mal teuer draufzahlen würde, dachte ich voller Übermut. Denn man ging unter keinen Umständen in die Welt der Fae. Ganz egal, was sie einem anboten. Mit diesem Gedanken wandte ich mich dem Raum hinter der offenen Tür zu.

NERVEN WIEDRAHTSEILE

Darin standen, es waren viele … ungefähr acht Erwachsene, die uns eine Mischung aus ärgerlich, wütend, ungläubig und hasserfüllt ansahen.

Na ja, genau genommen sahen sie mich so an, denn ihre Blicke ruhten auf mir. Ich bemühte mich, möglichst locker auszusehen. Es gelang mir nicht. Die Strategie, meine eigene Unschuld so meisterhaft zu schauspielern, weil ich selbst daran glaubte, fuhr ich gerade mit Karacho gegen die Wand.

Sie sind alle meinetwegen hier, dachte ich. Mein Herz schlug wie zur Antwort laut und schnell in meiner Brust. Ich spürte vor Nervosität jeden einzelnen Schlag überdeutlich in meinem Brustkorb. Mein Blick huschte über sie hinweg.

Sie lehnten ringsum an den Wänden oder standen abwartend da. Die Mehrheit trug weite, grüne Kapuzenumhänge mit einem kleinen Abzeichen. Die Whyrda wirkten unnachgiebig und diszipliniert. Sofort fiel mir auf, dass sie fast alle Tische an den Rand geschoben hatten. Bis auf Trisha und einen älteren Mann saß niemand. Er saß seitlich am in die Mitte gerückten Tisch vor einem Tablet. Irgendein Dokument war dort aufgerufen.

Meine Arme hielt ich weiterhin verschränkt, sollte ich zittern, wollte ich das verbergen können. Mein Herz galoppierte. Ich war angespannt, meine Haltung war steif und verkrampft. All die Whyrda um mich, die mich beobachten. All das, was für mich auf dem Spiel stand. Ich musste mich beruhigen, so aufgeregt wie ich war, würde ich sonst gleich auffliegen.

„Nehmt den Tauschhandel zurück“, waren die ersten Worte von einer Frau, die mitten im Raum stand. Ihr Blick fixierte Izmael unnachgiebig. Sie war in den mittleren Jahren und sicher hübsch, ihre strengen Gesichtszüge versteckten das aber gut. Ihre dunkelblonden glatten Haare wurden straff von einem Dutt zurückgehalten. Sie hatte braune Augen und trug einen grünen Anzug mit dunkelgrünem T-Shirt, was fast nach einer Uniform aussah. Vor ihr am Tisch saß Trisha.

„Stephanie. Es ist mir immer wieder eine Freude, dich lange nicht zu sehen.“

Stephanie verzog das Gesicht. „Ich werde deinen Verstoß, sie vor uns aufzusuchen, melden.“

Er blickte finster, die Luft vor ihm flimmerte. Vermutlich verdeckte der Schleier diese Art der Emotionen genauso, wie sie sein Äußeres verjüngte. Er zuckte großzügig die Achseln. „Wenn du meinst, das tun zu müssen. Genau genommen handelt es sich um keinen Tauschhandel, sondern hat euer Fischlein mich derart beeindruckt, dass ich bereit war, ihr ein Versprechen ohne Gegenleistung zu machen. Verärgert sie also besser nicht.“ Er zwinkerte mir zu.

„Wir aber“, er deutete auf Trisha und sah Stephanie süffisant an, „tauschen jetzt.“

„Das passt, wir sind hier fertig, Patrisha.“ Sie nickte ihr resolut zum Abschied zu.

Als Trisha, so klein und zierlich wie eine Asiatin, Izmael anblickte, ging ein Ruck durch seinen Körper. Die Luft vor ihm flimmerte. Sein Schleier verdeckte es. „Sieht wohl so aus, als müssten wir deine Fähigkeiten doch messen und wäre das kein dummes Versehen.“ Er klang nachdenklich und musterte mich noch einmal ausführlich. Ich hielt seinem Blick stand. „Man sieht sich, Miss Samira.“

Trisha sprang erleichtert auf, wahrscheinlich beeindruckt von seinem einladenden Antlitz. Sie sah den Schleier und nicht ihn. Wie sie sich doch täuschte, sah ich auf meiner Seite, wie er das Gesicht einer Elster machte, die glaubte, ein besonders dickes Juwel stehlen zu können. Ich sah sie mitleidvoll an. Ich würde an ihrer Stelle nicht tauschen wollen.

Trisha drängte sich an mir vorbei und verharrte dann. Sie blickte ernst aus ihren dunklen Augen hoch. „Ich werde nie vergessen, wie tief ich in deiner Schuld stehe.“

Ich nickte ihr leicht zu und wünschte mir innerlich, die Whyrda hätten es nicht gehört.

Izmael stieß ein würgendes Geräusch aus, was sicherlich von der sich kringelnden Luft des Schleiers vor den anderen abgefangen wurde. Die beiden verließen uns gut gelaunt. Izmael warf die Tür hinter ihnen zu. Mit einem Klicken fiel sie hinter mir ins Schloss.

Gezwungenermaßen wandte ich mich dem Raum voll brüskierter Mienen zu.

Lasset die Spiele beginnen.

„Was passiert mit ihr?“, verlangte ich barsch zu wissen. Ich hatte die Frage an niemand bestimmten gestellt und wich ihren Blicken aus.

Die strenge Frau im mittleren Alter antwortete. „Sie wollte ihre Magie behalten und erhält eine schulische Ausbildung bei den Fae.“

Das beantwortete meine Frage vorerst, und ich nickte leicht. Trisha hatte sich also zwischen Pest und Cholera entscheiden müssen. Ich schätzte, die Magie zu verlieren, war kein angenehmer Prozess.

„Wie du eben mitbekommen hast, bin ich Stephanie. Wie heißt du?“, begann sie. Dabei ging sie auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen.

Ich stand immer noch in der Tür und zwang mich, sie hinter mir zu lassen und den Raum zu betreten. Zumindest drei Schritte weit. Ich ignorierte ihre Hand und hielt meine Arme vor der Brust verschränkt. Ich mochte mein bisheriges Leben. Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, es gegen ein Leben bei dieser Mördersippe zu tauschen.

Stephanies Hand blieb als Einladung bestehen, ihr Blick wurde … herausfordernd?

In diese unangenehme Situation hinein öffnete sich mit einem leisen Klicken die Tür hinter mir erneut. Ich fuhr zusammen und wich in die Mitte des Raumes aus.

Über meine Schulter blickend, sah ich eine junge Frau mit zusammengebundenem braunem Haar zielgerichtet den Raum betreten. Sie sagte keinen Ton und balancierte ungefähr acht Kaffee hinein, die sie kurz angebunden herumreichte. Unter ihren Arm geklemmt war ein Ordner, der dick aussah. Sie überreichte ihn kommentarlos dem älteren, vor dem Tablet sitzenden Mann.

Stephanie überging meine Beleidigung, nahm ein Handy von der Tischmitte hoch und drückte auf Aufnahme. Ich beobachtete, wie auf dem Bildschirm die Zeit zu laufen begann und der Moment, in dem sie das Handy zurück auf den Tisch legte und es ein winziges Geräusch gab, für zwei kleine Ausschläge auf dem laufenden Balken sorgten.

Sie warteten schon zu lang auf meine Antwort. Ich suchte meine Stimme und räusperte mich. „Ich heiße Rachel Samira.“

Weitere Ausschläge auf dem roten Balken. Die Zeit lief in signalrot voran. Dann sperrte sich das Handy, und der Bildschirm wurde schwarz.

Was wird das nur werden?

„Setz dich. Was hat er dir angeboten?“ Sie stützte ihre Hände auf die Stuhllehne vor mir.

„Das geht euch nichts an.“ Huiui, wenn das mal nicht zu unverfroren war, aber zurücknehmen kann ich es jetzt auch nicht mehr.

Aus einer Ecke drang ein leises Lachen. Ich schaute überrascht dorthin, nur um ein junges Gesicht in sich hineingrinsen zu sehen. Scheinbar war er der Einzige hier, der lachen konnte, denn nun warfen ihm die anderen zahllose entgeisterte Blicke zu, die vorher noch mir gegolten hatten. Humor war wohl nicht so ihre Stärke.

„Nichts kommt ohne Preis, Rachel. Du wärst gut beraten, sein Angebot nie anzunehmen, erst recht nicht in der Not. Jetzt setz dich“, forderte sie mit Nachdruck.

Nun ja, ich dachte, den Preis eben bezahlt zu haben. Ein guter Start zwischen den Whyrda und mir war verwirkt. Ich fühlte mich von allen Seiten geprüft und begutachtet und es war mir unangenehm. Widerwillig ließ ich mich auf den Stuhl vor ihr sinken.

Unauffällig musterte ich sie erneut. Echten Whyrda gegenüberzusitzen war weit normaler, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie wirkten geeint, wie eine Gruppe, in der jeder wusste, was er zu tun hatte. Ihre Mienen waren professionell, verrieten nicht viel, ihr Aussehen war bewusst schlicht gewählt. Sie waren eher groß und sportlich von der Statur her, doch sonst unterschied sie nichts von Menschen. Auf eine beunruhigende Art beruhigte mich das. Doch ich durfte mich nicht sicher bei ihnen fühlen, sonst würden mir zu leicht Wahrheiten entschlüpfen, von denen sie nichts wissen durften.

„Wie alt bist du?“, wollte Stephanie mit einem fast schon freundlichen Gesicht von mir wissen. Sie übernahm eindeutig die Gesprächsführung.

„Sechzehn. Wie ihr seht, ist die Zeit sich erstmals zu verwandeln also schon vorbei. Es wurde nie ein Werwolf gesehen.“ Erleichterung durchströmte mich. Ich musste bloß so weiter machen und durfte mich nicht kleinkriegen lassen.

„Wurdest du nur nie gesehen, oder warst du tatsächlich nie eine gewandelte Whyrda?“

„Nie.“ Ich blickte auf meine Lederarmbänder an den Hand- und Fußgelenken. Sie verbargen die Striemen der Fesseln, die sich Monat um Monat in mein Fleisch gruben und Spuren hinterließen.

„Nie was?“, hakte sie unnachgiebig nach.

Ich schnaubte. „Ich verwandle mich nicht.“

Schweigen machte sich im Raum breit.

Ich spürte, wie sich in der Stille die aufgesogene Magie wieder zu melden begann. Sie vibrierte.

Oh Hilfe, wie sollte ich das nur verbergen? Wenn ich sie nur loswerden könnte. Mein Fuß fing an zu wippen. Wie von selbst. Sonst war ich die Ruhe in Person. Ich mochte es nicht, wenn andere sich nicht beherrschen konnten und zappelten, doch ich konnte es nicht verhindern. Die Magie sang, schwoll an, wollte, dass etwas passiert. Mein Fuß wippte schneller. Alle Blicke ruhten auf mir.

Ich hatte mal gehört, dass Schweigen ein mächtiges Gesprächswerkzeug war, um das Gegenüber zum Reden zu bekommen. Wie wahr. Ich fühlte mich unter Zugzwang und wollte die Stille durchbrechen, zwang mich aber abzuwarten.

„Mehr hast du nicht dazu zu sagen?“, fragte Stephanie lauernd.

„Nein.“ Mein Nein klang gepresster, als es sollte. Ich beschloss, sie abzulenken.

„Zu meinem Leben als Mensch“, das letzte Wort betonte ich ganz besonders, „gibt es nicht viel zu sagen. Wölfisches ist nicht vorhanden.“

Der ältere Mann neben mir las währenddessen die Akte quer, die ihm die Kaffee-Frau überreicht hatte. Stephanie ließ sich nach einer kurzen Pause auf ihren Stuhl vor mir sinken. „Wir wollen dir helfen, Rachel. Deine Mitschülerin Patrisha hat uns eben einiges Interessantes über den Einsturz berichtet. Darin hattest du eine besondere Rolle. Möchtest du uns davon erzählen?“ Ihr Blick bohrte sich in mich, als versuchte sie so, alle meine Geheimnisse an die Oberfläche zu zerren.

Es gelang ihr nicht. „Nein.“ Ein paar Sekunden verstrichen.

Stephanie wirkte unzufrieden. Als hätte sie bereits geahnt, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde und eben doch gehofft, dass es anders lief. „Fein. Zäumen wir das Pferd eben von hinten auf.“

Angst machte sich in mir breit.

„Wir machen eine kurze Pause. Arthur, nimm ihre Akte mit. Pavel, bleib doch mit Rachel hier.“ Die anderen standen auf und gingen mit Stephanie hinaus. Der ältere Mann, der bis eben neben mir gesessen hatte, Arthur, nahm die Akte mit. Ich beobachtete, wie ich allein mit Pavel zurückblieb. Pavel blieb neben die einzige Tür gelehnt reglos stehen. Er hatte einen verschlossenen Gesichtsausdruck, einen ebenso grünen Umhang wie die anderen an und schwieg.

Pavel und ich ignorierten einander geflissentlich. Ich konnte durch das Fenster beobachten, wie die anderen aus meinem Blickfeld verschwanden. Unbehaglich wartete ich.

Die Magie in mir störte mich, rebellierte vor Langeweile, prickelte und drückte gegen mich. So gut es ging, versuchte ich, sie zu ignorieren.

Mehr als weiterhin zu leugnen und zu lügen, fiel mir als Strategie für das kommende Gespräch nicht ein. Eine Ewigkeit verging, und ich kämpfte mit meiner Nervosität. Ich stellte mir vor, wie sie sich beruhigen mussten, bevor sie das Gespräch weiterführen konnten. Vielleicht hätten sie sonst ihre Beherrschung verloren und sich verwandelt. Pavel stand allerdings, wie aus Stein gemeißelt, bei der Tür. Aufgebracht sah er nicht aus. Ich wandte meinen Blick wieder ab. Es war zermürbend, und ich versuchte, in meine Gedanken abzutauchen, um nicht zu nervös zu werden.

„Musst du solch ein loses Mundwerk haben?“, hatte meine Mom mit mir geschimpft. Mom sah persisch aus, war immer perfekt gestylt und deutlich kleiner als ich. Ihre goldenen Ohrringe wippten vor und zurück, als sie ärgerlich den Kopf abwandte.

Von ihr hatte ich meine braunen Augen, lange dichte Wimpern, die bronzefarbene Haut und die schöne Figur. Von ihr hatte ich allerdings auch meine Ungeduld, mein aufbrausendes Temperament und meinen Dickkopf. Sie hatte im Gegensatz zu mir schwarze, unfassbar dicke Haare und jede Menge Muttermale. Wir saßen im noch leeren Bus vor dem Supermarkt, der Busfahrer rauchte draußen. Meine Schwester war gerade bei ihrer Freundin.

Wütend deute ich auf die Inschrift eines Werbeplakates am Supermarkt: Die Whyrdahotline: Rund um die Uhr für Sie da, wenn Sie Fragen haben oder Hilfe brauchen. Dabei vergaß ich, die übervolle Einkaufstasche mit Lebensmitteln weiter festzuhalten, woraufhin sie ein Stück nach unten rutschte, bevor ich sie wieder zu packen bekam. „Verfluchter Mist! Warum soll ich sie nicht anrufen dürfen? Vielleicht können sie ja helfen?“

„Weil sie dir nicht helfen können. Es ist nur einziger Tag jeden Monat, du weißt, dass sie ihresgleichen indoktrinieren und zum Töten ausbilden! Aber das bist du nicht! Du bist keine Mörderin und sollst es auch nicht werden.“ Mom hatte sich derweil in Rage geredet.

Ich stieß eine Reihe von üblen Flüchen aus, allein schon, weil ich wusste, dass es meine Mutter ärgerte. „Wenn du das von meinem Vater weißt und er ein Whyrda ist, kannst du es doch zugeben! Vielleicht sind ihre Schulen ja ganz anders als du –“

Sie wurde kalkweiß und umklammerte meine Schultern ganz fest, wie um mich davon abzuhalten, etwas sehr, sehr Dummes zu tun. Dabei sah sie mich so schockiert an, dass es mir augenblicklich leidtat, das gesagt zu haben. „Tu das nicht, Rachel. Es ist ein Privileg, nicht ihr Leben leben zu müssen. Sie haben sich nicht unter Kontrolle. An ihren Händen klebt mehr Blut, als wir uns beide zusammen vorstellen mögen.“

Meine Gedanken wurden von Schatten unterbrochen, die seitlich am Fenster vorbeigingen. Sie kamen wieder. Die Tür ging auf und Stephanie kam zuerst herein. Sie setzte sich vor mich und strahlte Souveränität aus. Arthur setzte sich wieder auf seinen Platz seitlich von mir, und die anderen stellten sich vor die Tür und an die Wände. Ihre Botschaft war angekommen: Hier gab es kein Entkommen.

„Wer sind deine Eltern?“, begann Stephanie ohne weitere Umschweife.

Tja, die Sache mit meinem Vater würde sie misstrauisch machen. „Meine Mutter, Gwenda Samira, betreibt einen Friseursalon in dieser Stadt, Hair by Samira. Ich lebe unter der Woche im Schulwohnheim, am Wochenende bei ihr.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Arthur etwas in der Akte nachschlug, dann Stephanie ansah und fast unmerklich nickte. Er hatte kurz geschnittene braune Haare mit silbergrauen Strähnen. Es half nichts, darum herumzureden, und derart leicht durchschaubare Lügen würden nur Ärger bringen. „Mein Vater ist mir nicht bekannt.“

„Steht sein Name in deiner Geburtsurkunde?“, hakte sie nach.

„Nein.“

Sie wirkte zufrieden. „Nun, sagen wir es so, ich könnte mir unter Umständen vorstellen, dass er ein Whyrda war. Du nicht auch?“

Ich knetete meine Finger unter dem Tisch.

„Und wie wohlbekannt ist, ist Wolfsblut dominant. Du wärst dann eine von uns.“

„Ausgeschlossen!“, zischte ich. „Daraus entstehen Mischbälger, die weder das eine noch das andere sind.“ Hoppla, da hatte sie jetzt sicher einen Ansatzpunkt. Ich bemerkte, wie die Kaffee-Frau, die an der Wand lehnte, ihre perfekt gezupften Augenbrauen nach oben zog und ein paar Männer mich belustigt, andere mitleidig ansahen.

„Woher weißt du das?“, fragte Stephanie in ruhigem Tonfall.

„Gesunder Menschenverstand.“ Weniger ist mehr, ermutigte ich mich.

Stephanie schien meine Antwort nicht zu glauben. „Es gibt keine Halbwhyrda, Rachel. Wolfsblut setzt sich durch. Immer. Vollständig“, belehrte sie mich. „Was glaubst du denn nicht zu können, was wir angeblich können?“ Sie beugte sich leicht vor und ich schob meinen Stuhl als Antwort darauf ein Stück zurück, wohl wissend, dass ich damit den Whyrda in meinem Rücken näherkam.

„Wie ich schon sagte, bin ich keine Whyrda. Ich verwandle mich nicht. Ich bin ein Mensch. Das hier führt zu nichts. Solltet ihr nicht schon längst erkannt haben, dass ich eine von euch bin? Ich meine, ihr seid acht Whyrda …“

„Sieben“, korrigierte sie mich.

Ich überging den Einwand. „Und nicht in der Lage, einen der euren zu erkennen?“ Das war gut. Ich setzte noch einmal nach. „An eurem hervorragenden Geruch oder so?“ Angriff war manchmal eben die beste Verteidigung.