Tage zum Sternepflücken - Kyra Groh - E-Book

Tage zum Sternepflücken E-Book

Kyra Groh

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Beschreibung

Liebe im Dreivierteltakt: Die wunderbar witzige Story von Julius und Layla. Layla studiert Musik und ist absolut keine Rampensau, sondern eher der Typ zweite Geige. Oder besser gesagt: zweites Saxofon. Beziehungsstatus: Nein, danke. Denn Laylas letzte Beziehung ist so grandios den Bach runtergegangen, dass sie eigentlich von Männern imd Allgemeinen und von Musikern im Besonderen erst mal die Schnauze voll hat. Eigentlich ... Julius ist Gitarist und Songwriter mit eigenem YouTube-Kanal, also nicht gerade schüchtern und beliebt bei Frauen noch dazu. Beziehungsstatus: Kompliziert. Eigentlich ...  Alles ändert sich, als Layla nach einem feucht-fröhlichen Abend in Julius' Bett stolpert – und am nächsten Morgen feststellen muss, dass sie wieder mal nur die Zweitbesetzung ist ...

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Seitenzahl: 582

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Tage zum Sternepflücken

Die Autorin

Kyra Groh wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Nach einem kleinen Umweg über die Uni Gießen, verschlug es sie 2012 nach Frankfurt, wo sie Trambahnen, Apfelwein und Supermärkte, die bis Mitternacht geöffnet haben, zu schätzen lernte. Sie behauptet gerne, neben dem Schreiben keine weiteren Talente zu haben – daher veröffentlicht sie nicht nur seit einigen Jahren humorvolle Liebesromane, sondern treibt auch hauptberuflich als Texterin ihr Unwesen. Sie hat eine Schwäche für gutes Essen, Instagram und Bilder von gutem Essen auf Instagram. Außerdem liebt sie Schachtelsätze, Erdnussbutter, Netflix und – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – Sport.

Das Buch

Layla studiert Musik und ist absolut keine Rampensau, sondern eher der Typ zweite Geige. Oder besser gesagt: das zweite Saxofon. Ihr Beziehungsstatus: Nein, danke. Denn Laylas letzte Beziehung ist so grandios den Bach runtergegangen, dass sie eigentlich von Männern im Allgemeinen und von Musikern im Besonderen die Schnauze voll hat. Eigentlich ... Julius ist Gitarrist und Songwriter mit eigenem YouTube-Kanal, also nicht gerade schüchtern und beliebt bei Frauen noch dazu. Sein Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Eigentlich ... Alles ändert sich, als Layla nach einem feucht-fröhlichen Abend in Julius' Bett stolpert – und am nächsten Morgen feststellen muss, dass sie wieder mal nur die Zweitbesetzung ist …

Von Kyra Groh sind bei Forever erschienen:Mitfahrer gesucht - Traummann gefundenGar kein Plan ist auch eine LösungHalb drei bei den ElefantenTage zum SternepflückenPinguine lieben nur einmal

Kyra Groh

Tage zum Sternepflücken

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Neuausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMärz 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-555-5

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Tage zum Sternepflücken

Layla, der dämonische Hiwi mit dem Saxofonkoffer

Erst fünf

Ein Wort zu mir

Alles wie immer

Ein Wort zu Mama

Mimi und Kara

Waswiewowarum?

Erschreckend einfach

Schwimmleergang

Nicht alleine im Bett

Das Beste in der Musik

So konnte das passieren

Ich kriege das eben nicht hin

Die albernen Rocker

Die Ben-Geschichte

Ladytalk

Perfekte Scheiße

Supermarkttanz

Katastrophenmanagement

Freundschaft bestätigen?

Peniskompensationskarre

Realitätsbruch

Wenn ich kennen sage, meine ich kennen

Männer meinen, was sie sagen – Männer sagen, was sie denken

Dreistöckige Marzipanzuckergusstorte

Das System

Ich hasse Kranksein

Ich bin krank

Kalkweiße Scheiße

Golo mag Romantik

Kuchenabend

Wieso verstehst du nicht, dass ich heute Nacht nicht schlafen werde?

Die ganze Nach nicht schlafen

Teamplayer

Uuuuuuu, brrrrrrr

Das einzig Richtige

Es ist ganz leicht

Das Gespräch danach

Last Friday Night

Vorzeige-Terror-Freitag

Anna

Anna die Zweite

Trost

Ich bin episch

Fette Sache, echt nett von ihm

Danke sagen

Als Freunde weitermachen

Supporting Act

Taub

Pawlow

Erst mal noch Wein

Wie eine Königin

Nick

Jaja, die Liebe – Teil eins: Lesebrille

Jaja, die Liebe – Teil zwei: Rebellion

Tonika

Wechsel ist gut

Das Ende der Ben-Geschichte

Plötzlich Mai

Der Preis

Layla

Entscheidung

LESEPROBE aus »Pinguine lieben nur einmal« von Kyra Groh

PROLOG

Akt: Exposition

Cem findet Ramadan doof

Ich bin kompliziert

Beste Freundin

Holterdipolter

Anhang

Leseprobe: Gar kein Plan ist auch eine Lösung

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Tage zum Sternepflücken

Widmung

Diese Geschichte widme ich dem besten Duettpartner, den ich je finden werde: meinem Bruder Gianluca

Tage zum Sternepflücken

Layla, der dämonische Hiwi mit dem Saxofonkoffer

Innerlich grinsend streiche ich über die drei dicken, schweren Notenhefte in meinen Händen. Ich mochte es schon immer, wie sich Notenpapier anfühlt. Klar: Streng genommen ist es auch nur Papier. Aber es hat die bestmögliche Karriere hingelegt, die einem gefällten Baum jenseits des Lebens auf der grünen Wiese widerfahren kann. Es ist zu einem Stück Musik geworden. Und das ist immerhin besser, als ein Dasein als Bild-Zeitungs-Seite zu fristen. Oder als Poster einer Boyband. Oder als Infobroschüre über sexuell übertragbare Krankheiten.

Ich tätschele den Notenstapel, als wollte ich sagen:

»Keine Sorge, lieber Baum. Du hast dein Holz für eine gute Sache gelassen. Bald schon wird ein Student der Stage and Music School die Noten für die Hauptrolle im Musical Sweeney Todd – der dämonische Barbier aus der Fleet Street von dir ablesen.

Sorgfältig reihe ich die Hefte einzeln vor mir auf und stapele je einen CD­ und einen DVD-Mitschnitt des Musicals darauf. Nachdem ich die letzten beiden Tage damit verbracht habe, diese Noten (ebenso wie die dreißig anderen Sätze für die Nebenrollen) zu kopieren und zu binden, warte ich nun gespannt vor den verschlossenen Türen unserer Uni-Aula auf den »Vorentscheid« und all die Sänger und Sängerinnen, die in den »Recall« kommen. Ich setze diese Begriffe bewusst in Anführungszeichen, weil sie nicht zu meinem Vokabular gehören. Sie stammen von Jochen Hecker, seines Zeichens Professor für Saxofon an der Stage and Music School, der die musikalische Leitung der Musicalaufführung übernimmt und gewissermaßen mein Chef ist. Das heißt, er beauftragt mich, wenn es zum Beispiel mal wieder dreiunddreißig Notenhefte zusammenzustellen gilt. Oder wenn er Appetit auf etwas Leckeres vom Bäcker hat.

Professor Hecker war es auch, der mich gebeten hat, vor der Aula zu warten, während er und sein Kollege Jagdmann den »Vorentscheid« durchführen. In den letzten zwei Stunden sind schon eine Menge enttäuschte Studenten durch die großen Schwingtüren getreten und davongezogen, ohne dass sie eines meiner liebevoll erstellten Notenhefte mitnehmen durften.

Gelangweilt male ich Fingerkreise auf den Tisch vor mir und singe dabei gedankenverloren eine zentrale Melodie des Musicals vor mich hin, als sich die Türen endlich öffnen.

Eine kräftige Gestalt stürmt heraus, so schnell, dass ihr blau gestreifter Schal im Gegenwind flattert. Sie bremst vor mir ab, schlingt sich erzürnt den Schal über die Schulter, bedenkt mich mit einem Ausdruck der Niedertracht und raunt mit ausgestreckter Hand: »Gib mir die Noten.«

Mein bester Freund Golo erntet einen verdutzten Blick. Seine Gesichtsfarbe wechselt von Schweinchenrosa zu Ziegelrot, während sich seine Brust vor Anspannung unnatürlich stark hebt und senkt. Ich kann förmlich sehen, wie die Belastung, unter der seine Hemdsknöpfe stehen, ins Unermessliche wächst.

»Sie nehmen dich?«, frage ich erstaunt und reiße die Augenbrauen hoch.

»Ja.«

»Wirklich?«

»Ja, Herrgott!«

»Sie nehmen einen hundert Kilo schweren Bariton für die Rolle des jungen Anthony?«

»Was? Ich … hundert Kilo? Ich … ich … doch keine hundert Kilo!«

Weil ich fürchte, dass sich einer von Golos Knöpfen gleich vom Faden löst und mit mehreren Dutzend km/h durch die Luft gegen meine Stirn donnert, sage ich beschwichtigend: »Ach, Golo, das war doch bloß ganz grob aufgerundet. Es hat mich nur so überrascht, dass sie dir die Rolle eines Tenors geben. Entschuldige.«

Rasch suche ich das Paket für die Anthony-Bewerber heraus und reiche Golo sein Notenheft, die CD und die DVD.

»Ich habe einen Ambitus von fünf Oktaven. Ich könnte fast jede Rolle in diesem Stück singen. Ich habe schon Whitney Houstons I will always love you gesungen, als du noch Blockflöte gespielt hast, meine Liebe.«

Ich verkneife mir die Bemerkung, dass das lange vor seinem Stimmbruch gewesen sein muss und daher nicht ganz so spektakulär wäre, wie er es sich in diesem Moment vielleicht erhofft.

»Na, dann mal herzlichen Glückwunsch, Whitney! Ich wette, du freust dich auf deine Rolle als romantischer Liebhaber.« Ich zwinkere ihm verschwörerisch zu, weil ich weiß, dass Golo den Part des Anthony in erster Linie wegen dessen Bühnenromanze übernehmen wollte.

»Pirelli«, brummt Golo undeutlich durch die Lippen.

»Bitte?«

»Pirelli!«

»Pirelli? Der hat keinen romantischen Part in Sweeney Todd«, erkläre ich ihm mit kritischem Blick. »Er ist mehr so der … du weißt schon … der alberne Hampelmann, der von Sweeney plattgemacht wird.«

»Vielen Dank, Layla, reit ruhig noch drauf rum. Ich darf – nein! MUSS – den Signor Pirelli übernehmen, nicht Anthony. Ja, ausgerechnet Adolfo Pirelli, eine Rolle, die ich in meinem ganzen Leben nie haben wollte. Also gib mir die verdammten Noten, und lass mich mit meinem Kummer alleine.« Damit reißt er mir die Noten aus den Händen und rauscht davon.

»Pirelli ist doch super!«, rufe ich ihm noch hinterher, kann mir ein Kichern aber nicht verkneifen.

In der Filmversion (mit Johnny Depp als Sweeney Todd), die das Musical erst bekannt gemacht hat, wird Signor Pirelli von Sacha Baron Cohen dargestellt, den jeder als Borat kennt. Als Pirelli trägt er seltsame, aufgeblasene Kostüme, Schmalzlocken und Schönheitsfleck. Er ist ein Barbierkollege von Sweeney und (Achtung: Spoiler!) wird von selbigem abgestochen. Ich bin mir sicher, dass Golo einen fantastischen Abgang hinlegen wird, nachdem der Held ihm auf der Bühne die Kehle aufgeschlitzt hat, aber es ist zweifelsohne nicht dasselbe wie die Musical-Schönheit Johanna abzuschleppen.

»Ja, echt super! Für … wie hast du noch gleich gesagt? … einen HAMPELMANN!«, brüllt Golo zurück.

Hinter ihm sind in der Zwischenzeit eine Menge weiterer Akteure aus der Aula getreten, und ein Anwärter auf die Hauptrolle sieht mich etwas verstört an.

»Das Gute ist: Wenn du den Part kriegst«, sage ich und lächle den Sweeney an, »dann darfst du den da abmurksen.« Der irritierte Sweeney guckt noch entgeisterter, als ich eine Handbewegung zu Golo hin mache.

»Du willst doch Sweeney Todd werden? Der dämonische Barbier aus der Fleet Street? Der die Leute …« Vielsagend fahre ich mir mit dem Finger über die Kehle.

Sweeney schüttelt fragend den Kopf, nimmt die Noten und geht.

Der Kopf meines Professors lugt aus der Tür heraus.

»Layla? Alles in Ordnung? Kann es weitergehen? Dann schick doch bitte die Bewerberinnen für die weiblichen Parts rein.«

Mit einem Nicken plappere ich irgendwas vor mich hin, dann weise ich eine Horde Studentinnen an, in die Aula zu gehen. Ein Mädchen fällt mir besonders ins Auge: Alisa Dobnagel. Eine blonde, klapperdürre Ziege, die sich für die Rolle der Johanna bewirbt. Eine blonde, klapperdürre Ziege, in die Golo leider unsterblich verknallt ist. Eine blonde, klapperdürre Ziege, die mal mit einem Mann geschlafen hat, mit dem ich zu diesem Zeit­ punkt sozusagen »in einer Beziehung« war. Kurz: eine blonde, klapperdürre Ziege, die ich aus gutem Grund nicht ausstehen kann.

Bevor mich ihr Anblick in einen Hass stürzen kann, der der Vergangenheit angehören sollte, klingelt mein Handy. Es ist meine beste Freundin Mimi.

»Layla, Licht meines Lebens, können wir bitte, bitte, bitte jetzt sofort telefonieren?«

»Oh, Stern meiner dunkelsten Stunden«, säusele ich. Schmierige Kosenamen haben sich bei uns eingebürgert, wir verschleiern gerne durch übertriebenen Witz, wie sehr wir uns mögen. »Ist gerade echt schlecht.« Ich klemme das Handy zwischen Ohr und Schulter.

»Echt schlecht? Aber es ist wichtig!«

»Na, dann schieß los.«

»Wir bekommen heute Ferien. Das heißt, wir müssen heute Abend irgendwas Gutes unternehmen. Feiern, trinken, Disco, ist mir alles egal. Das Dumme ist nur: Tom ist in der Stadt. Das heißt, ich werde jetzt den ganzen Tag so tun, als würde ich nicht wollen, dass er mitgeht, dabei will ich nur, dass du sagst, du fragst ihn, ob er mitgehen will, aber kennst mich ja, ich kann das nicht zugeben, deshalb dachte ich, wir überspringen alles dazwischen, und du fragst ihn einfach direkt.«

»Aha«, erwidere ich knapp, lächle einem der Sweeney-Bewerber vor mir zu und reiche ihm sein Notenpaket. Als er nicht weitergeht, um den Übrigen Platz zu machen, grinse ich noch mal (dieses Mal deutlich gekünstelter), aber er geht immer noch nicht.

»Wann gebt ihr uns Bescheid, wer die Rolle bekommt?«, löchert er mich.

»Das weiß ich nicht«, sage ich.

»Okay. Und wer wird Mrs Lovett spielen?« Es klingt, als wäre die Besetzung seines weiblichen Counterparts relevant dafür, ob er die Hauptrolle überhaupt antreten wird.

»Das kann ich dir leider auch nicht sagen«, brumme ich – nun schon mit etwas mehr Nachdruck.

»Werden die Kostüme ähnlich aussehen wie in dem Film mit Johnny Depp?«

»Ich bin hier nur der Hiwi«, erinnere ich ihn, »nicht die Kostümbildnerin.«

»Sei nicht so böse zu dem Unwissenden«, mahnt Mimi am Telefon.

»Aber er nervt mich.«

»Dann sollte ich mir wahrscheinlich die Haare wachsen lassen, oder?«, nervt der potenzielle Sweeney Todd weiter.

»Wir sind hier doch nicht am Broadway, kurze Haare sind sicherlich okay.« Ich grinse ihn scheinheilig an und male ihn mir mit schwarzem Wuschelhaar und weiß blondierten Ponysträhnen aus.

»Bist du sicher?«, fragt er.

»Nein. Wie gesagt, ich bin lediglich Herrn Heckers Hiwi. So, bitte weitergehen!« Ich winke ihn weg.

»Was ist, Layla? Rufst du Tom an?«

Hektisch gebe ich dem nächsten Sweeney-Anwärter die Noten und will mich dann hinsetzen, um in Ruhe mit Mimi zu sprechen.

»Ruf ihn gefälligst selbst an. Ich kenn ihn doch kaum!«

»Er war Bens bester Freund. Natürlich kennst du ihn.« Zuerst erinnert mich Alisas Anblick an meine Zeit mit Ben und jetzt auch noch Mimi. So viel Nostalgie an nur einem Tag ist echt schwer zu ertragen. »Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, Du-weißt-schon-wen aus jeglichen Konversationen zu streichen?«

»Lord Voldemort?«

»Lord Ben Riesenarschloch Fassbinder!«

»Stimmt. Entschuldige. Aber Tom ist so süß, und er war nun mal … Lord Riesenarschlochs Freund.«

Fahrig pittele ich an meinen Fingernägeln herum und will dazu ausholen, dass Tom die Pest ist, allein deshalb, weil man sie nicht mehr alle beisammenhaben kann, wenn man mit Lord Riesenarschloch befreundet war, aber dieser erneute Trip in die Vergangenheit wird mir vermasselt.

Ein abgehetzter Jemand stürmt auf mich zu und keucht außer Atem: »Hey … hi.«

»Ja?«, frage ich und sehe hoch.

Vor mir steht ein Typ in Lederjacke, der eine Gitarrentasche auf dem Rücken trägt und sichtlich außer Atem ist. Seine Stirn glänzt von Schweiß, und in seinem Gesicht liegt ein dezenter Ausdruck von Panik.

Er streckt die Hand aus und sagt: »Ich brauch einen Satz Sweeney-Todd-Noten.«

Meine linke Augenbraue nähert sich meinem Haaransatz. »Entschuldigung?«

»Es ist dringend. Kannst du mir die Noten geben?« Fragend sehe ich ihn an.

»Swee-ney-Todd-No-ten!«, blafft er mich Silbe um Silbe an, als wäre ich schwer von Begriff.

»Ich bin nicht blöd«, blaffe ich zurück.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?«, fragt Mimi in der Leitung.

»Sorry, ich ruf zurück«, vertröste ich sie und lege auf.

»Kluges Mädchen«, sagt der Typ plötzlich.

Kluges Mädchen? Hat er das gerade echt gesagt? Das wäre dann die dritte Referenz zu Ben, die mich heute vollkommen unvorbereitet trifft. Ich nehme den Kerl in der Lederjacke genauer unter die Lupe, und mir stockt der Atem.

Ach, herrje.

»Du … äh … ich hab nur Noten für drei. Da … muss …« Was muss da? Keine Ahnung. Wenn ich das nur wüsste. Wenn ich dafür nur klare Gedanken fassen könnte. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich heiße. Layla Woll. Oh, ich weiß es doch noch. Aber: Meine Güte, das ist mal ein Gesicht!

»Dann sing ich ohne.«

»Du singst ohne …«, plappere ich nach.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich an, so als wäre ich grenzenlos unterbelichtet. Richtig verübeln kann ich ihm das derzeit nicht.

Noch mal räuspern, dann fange mich wieder. »Das Vorsingen für Sweeney Todd ist eben zu Ende gegangen.«

Er verschränkt die Arme. »Aber da drin singen sie doch gerade noch.«

Ich lehne mich zurück und muss mich anstrengen, seinen Blick zu erwidern. »Ja, wenn du für eine Frauenrolle vorsingen willst, darfst du gerne reingehen. Wie wäre es mit Johanna? Ich freue mich jetzt schon wahnsinnig darauf, wenn du das hohe Fis singst.« Ironisch klimpere ich mit den Wimpern und setze eine falsche, zuckersüße Miene auf.

»Haha«, macht er sarkastisch und verzieht das Gesicht. Er kneift das linke Auge zusammen und schiebt die Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeans, in der ein großes Loch klafft. Sein schlankes Knie ist zu sehen, darüber der Ansatz eines muskulösen Oberschenkels.

Mein Blick wandert von dem Flecken nackter Haut rauf zu der Gitarre, die er in einer Tasche geschultert hat. Lederjacke, löchrige Jeans und Gitarrenkoffer – all meine Schwächen in Personalunion.

»Okay, hör zu.« Er zieht die Jacke auf und wippt auf den Fußballen. »Ich gehe da jetzt rein und singe für Sweeney Todd vor. Seit ihr vor ein paar Wochen den Zettel fürs Casting ausgehängt habt, freue ich mich da drauf. Echt Bock hab ich da drauf. Ich bin nur zu spät, weil ich einen verdammten Auftritt hatte.« Ein Wink zum Gitarrenkoffer. »Es tut mir leid, okay?«

»Okay«, seufze ich. »Gib mir eine Sekunde.« Dann reiße ich die Tür der Aula auf und bin stolz darauf, dass ich ausgerechnet Alisa Dobnagel während ihres Geträllers unterbreche. »Herr Hecker«, rufe ich.

Er dreht den Kopf und nickt mir zu.

»Hier ist ein …« Ich sehe den Typen fragend an.

»Julius Herzsprung.«

Julius Herzsprung! Das ist doch ein Künstlername.

Das muss ein Künstlername sein.

Wieder räuspere ich mich. »Hier ist ein Julius Herzsprung, der für Sweeney vorsingen will.«

»Da ist Julius Herzsprung wohl zu spät«, donnert Professor Jagdmann durch die Aula.

Professor Jagdmann, der nicht nur viel breiter und größer ist als Hecker, sondern auch eine geballte Portion Autorität und Antipathie ausstrahlt, wirft sich in die Brust. Jede Pore seines Körpers drückt aus, dass es für den Zuspätkommer kein Pardon gibt.

»Das ist doch affig!«, brüllt Julius Herzsprung hinter meinem Rücken direkt in mein Ohr. Sein Atem riecht nach Zigarettenrauch und Pfefferminzkaugummi.

Jagdmann erhebt sich drohend von seinem Stuhl und macht einen symbolischen Schritt auf die Tür zu. Ich sehe bereits den Konflikt aufziehen, den ich gleich beilegen muss. Das übersteigt eindeutig meinen Kompetenzbereich. Denn, wie bereits mehrfach erwähnt, ich bin bloß Layla, der Hiwi. Nicht Layla, die Meistermediatorin, die Streitigkeiten zwischen Professoren und verspäteten Sängern beilegen muss.

»Musik bedeutet: Regeln und Pünktlichkeit, Herr Herzsprung.«

»Ach ja? Für mich hat Musik bisher so was wie Freiheit bedeutet«, knurrt Julius Herzsprung für Jagdmann unhörbar und versetzt mir damit einen gewaltigen (Vorsicht: Wortwitz!) Herzsprung.

Hecker hält sich zurück. Er weiß wohl, dass sein Kollege die Richtlinienkompetenz bei diesem Projekt innehat.

»Lassen Sie ihn doch vorsingen«, sage ich kleinlaut, als sich zwischen den Geruch von Zigaretten und Kaugummi ein weiterer mischt: der holzige, testosteronhaltige Geruch eines leicht schwitzenden Mannes. Ich glaube, oder vielmehr, ich hoffe zwar, dass ich keinen Fetisch habe oder so, aber manche schwitzenden Männer schaffen es einfach, beeindruckend wohl zu riechen. Herb, irgendwie. Diesen Geruch, den Tausende teuer beworbene Parfüms mit aufregenden Namen und Flakons versprechen und trotzdem nicht erreichen.

Oh, mein Gott. Der leicht schwitzende Julius Herzsprung mit seinem Zigaretten-Pfefferminz-Atem riecht besser als alles, was ich zeit meines Lebens in der Nase hatte.

Unwillkürlich drehe ich den Kopf, um zu sehen, wie er darauf reagiert, dass ich ihn zu verteidigen versuche. Mein Gesicht ist dem seinen sehr nahe. Er hat einen dunkelblonden Dreitagebart. Und ein Muttermal am Hals, links neben dem Kehlkopf.

Ich muss ihm schon einmal in der Uni begegnet sein, denn er kommt mir sehr bekannt vor. Gleichzeitig kann es nicht sein, dass ich dieses Gesicht schon mal gesehen und wieder vergessen habe.

»Bei wem studieren Sie, Herr Herzsprung?« Jagdmann beherrscht es perfekt, seine Abneigung subtil auszudrücken.

»Herrn Seidel.«

»Professor Seidel unterrichtet Gitarre.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Wir suchen für die Besetzung unseres Titelhelden einen Sänger, keinen Gitarristen.« Jagdmann verschränkt die Arme vor seinem kräftigen Bauch.

Julius Herzsprung lacht verächtlich. »Warum veranstalten Sie diesen Müll hier überhaupt, wenn für Sie schon vorher feststeht, wem Sie eine Chance geben und wem nicht?«

Ich werfe einen Blick zur Bühne, wo Alisa Dobnagel mit geschwellter Brust steht, als würde sie gerade zu einem Ton ansetzen, den das menschliche Ohr nicht vernehmen kann. Sie schaut Julius beeindruckt an, als er sich umdreht und aus dem Raum rauscht. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er den Stuhl umkickt, auf dem ich eben noch gesessen habe, und sich trotzig auf den Tisch setzt.

Jagdmann räuspert sich, zieht das Hemd über seinem strammen Bauch straff, rafft seine Notenbögen zusammen, wendet sich Alisa zu und sagt bloß: »Hervorragend.« Mit diesem Wort rauscht er aus der Aula, ohne Julius Herzsprung eines Blickes zu würdigen, und zieht entrüstet davon.

Hecker sieht verlegen drein, blinzelt mich an und zuckt mit den Schultern. Schließlich stapelt auch er seine Unterlagen und will aufstehen.

»Jetzt haben Sie sich doch nicht so, Jochen Hecker.« Aus Versehen nenne ich ihn tatsächlich bei seinem vollen Namen.

Er sieht mich verwundert an. Auch Alisa und die anderen Sängerinnen werfen sich verwirrte Blicke zu, entscheiden einvernehmlich, dass es Zeit sei, das Feld zu räumen, und gehen hinaus.

»Sorry«, sage ich zu Hecker, »aber anstatt sich zu freuen, dass die Leute Interesse daran haben, hier mitzumachen, vergrault Professor Jagdmann sie.«

»Wir wollten die Solisten nun mal gerne mit Gesangsstudenten besetzen.«

»Sie müssen ihm die Rolle ja nicht geben. Er will doch bloß vorsingen.« Ich deute auf dem Raum, wo ich vermute, dass Julius Herzsprung noch sitzt. »Stellen Sie sich mal vor, dieser Kandidat wäre der beste Sweeney Todd aller Zeiten und Sie hätten ihn sich nicht angehört. Was dann? Dann vergeben Sie den Part vielleicht an den Vollpfosten, der mich vorhin angeguckt hat wie ein Auto, als ich ihm eröffnet habe, dass die Rolle, für die er gerade vorgesungen hat, die eines Massenmörders ist.« Ich traue mich nicht, mich nach Julius umzusehen, weil mir diese spontane Rede plötzlich echt peinlich ist.

Hecker seufzt, lächelt dann und sagt: »Na gut. Anhören schadet ja nichts. Schicken Sie den vielleicht besten Sweeney Todd aller Zeiten noch mal zu mir.«

Ich mache kehrt, sehe Julius in der Tür stehen, schaue ihm für einen klitzekleinen Moment in die Augen und sage, als ich an ihm vorbeischiebe: »Kannst reingehen.«

Und schon rauscht er an mir vorbei.

Sagt nicht mal Danke, der gut riechende Julius Herzsprung.

Erst fünf

Draußen wird’s mal wieder dunkel. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich im Hellen nach Hause gekommen bin. Ich sitze in meinem Hiwi­Büro und gebe mir größte Mühe, nicht daran zu denken, wie es Julius Herzsprung bei seinem Vorsingen ergangen ist. Ob er so gut singt, wie er riecht, ob er Jochen Hecker überzeugt hat und ob dieser ein gutes Wort bei Jagdmann für ihn einlegt.

Es ist ja erst fünf, rede ich mir gut zu. Mit ein bisschen Glück bin ich um sieben zu Hause. Dieser Gedanke könnte noch ein kleines bisschen Motivation aus mir herauskitzeln. Ich glaube ja nicht so recht daran.

Es ist ja erst fünf. Ich könnte auf den Weihnachtsmarkt gehen, wenn ich heimkomme. Um sieben die Haustür hinter mir schließen, rasch in wärmere Klamotten schlüpfen, ein paar Freunde zusammentrommeln – das sollte drin sein. Da der Weihnachtsmarkt um acht die Pforten schließt, schaffe ich es in der verbleibenden Stunde bestenfalls, einen heißen Glühwein zu trinken. Und ich kann euch sagen: Ein Glühwein reicht heute nicht. Heute brauche ich vier. Mit Schuss, versteht sich. Oder fünf. Oder gleich ein ganzes Fass.

Es ist ja erst fünf! Vielleicht Kino. Hab gehört, der neue Streifen mit Cameron Diaz soll gut sein. Von wem hab ich das noch gleich gehört? Richtig, von Mimi. Wenn Mimi sagt, der Film sei gut, dann ist es sicher eine romantische Komödie. Nee, besser nicht. Ich würde mir jetzt lieber Geballere und Stumpfsinn ansehen. Vielleicht noch ein paar durch die Luft fliegende Körperteile.

Außerdem erstens: Wenn Mimi den Film schon gesehen hat, mit wem sollte ich dann reingehen? Mit Kara eventuell. Doch Kara findet romantische Komödien generell blöd.

Außerdem zweitens: Ich finde Cameron Diaz furchtbar. Die grinst immer, als wäre sie geistesgestört.

ES IST JA ERST FÜNF! Ach, wem mache ich hier eigentlich was vor: Es ist schon fünf. Fünf und stockfinster! Der Dezember macht mich echt fertig. Ich bin seit sechs Uhr früh auf den Beinen, hatte von halb acht bis zwei durchgehend Uni, habe mich dann vor der verschlossenen Aula als Casting-Gehilfin rumgeplagt, dem vielleicht besten Sweeney Todd aller Zeiten zu einem Vorsingen verholfen, und seitdem sitze ich an einem Bigband-Arrangement des Klassikers Birdland.

Das einzige Tageslicht habe ich heute durch muffige Vorhänge und schmierige Fenster gesehen, und bewegt habe ich mich summa summarum nur etwa fünfhundert Meter. Dafür habe ich eine ganze Packung Pepperidge Farm Cookies gegessen. Jap. Eine Packung! Wahrscheinlich übersteigen schon zwei Kekse den empfohlenen Tageskalorienbedarf eines jungen Nilpferdes.

Gleich werde ich zusammenpacken und meine frisch arrangierten Noten ausdrucken, um sie meinem Prof ins Büro zu bringen. Dann werde ich mich beeilen, um die U-Bahn um halb sechs noch zu erwischen, und damit meinen täglichen Heimweg mit dem Nahverkehr antreten. Mit der U-Bahn zur nächsten S-Bahn-Haltestelle, von dort zum Hauptbahnhof und weiter mit dem Zug. Um zwanzig vor sieben bin ich dann in meiner Heimatstadt und muss nur noch zehn Minuten nach Hause laufen.

Dort erwartet mich meist ein Abend vor dem Fernseher. Ich werde mir eine US-Serie ansehen, während mein Bruder direkt über dem Wohnzimmer wie jeden Abend zu laut Musik hören wird. Meine Schwester wird neben mir sitzen und wie jeden Abend so lange an meiner Wahl des TV-Programms rummäkeln, bis unsere Mutter sie um neun ins Bett schickt. Ich höre sie schon meckern:

»Ich will nicht, bin nicht müde, noch ’ne halbe Stunde, noch die Sendung, ich hab noch Hunger, ich will Kakao.« Mama wird sie gewähren lassen, Brote schmieren und Milch aufkochen, damit Lucy ihr Zubettgehen hinauszögern kann. Ich werde den Fernseher ausschalten und mit Lucy und ihr über meinen Tag reden müssen. Nick wird fein raus sein. Nick darf immer in seinem Zimmer bleiben, sein Teenagerdasein zelebrieren und sich die Trommelfelle mit Musik verschleißen, die diese Bezeichnung kaum verdient hat.

Na, wenigstens komme ich heute kurz und bündig aus diesem Gespräch raus: »Wie war dein Tag?« – »Scheiße!«

Mit dieser rosigen Aussicht stopfe ich meine Sachen in den Rucksack, schiebe den Instrumentenkoffer auf meinen Rücken und buckele zu Professor Heckers Büro.

Ich klopfe. Er reagiert nicht. Ich klopfe noch mal. Ich weiß genau, dass er noch hier ist. Er verabschiedet sich immer von mir – weil er mich einerseits gut leiden kann und weil er andererseits immer wissen muss, ob ich noch da bin. Er braucht die Gewissheit, dass immer jemand da ist, der ihm (»Aber nur, wenn’s Ihnen nichts ausmacht«) beim Bäcker über die Straße einen Snack besorgen könnte, falls ihn eine seiner häufigen Hungerattacken heimsucht.

Mir fällt etwas ein: Hecker vergisst gelegentlich, die Ohrstöpsel rauszunehmen, die er im Instrumentalunterricht trägt, und dann ist er temporär taub.

Erst als ich regelrecht gegen die Tür prügele, öffnet er sie endlich.

»Oh. Oh, Layla, Sie sind’s. Ich hatte die Stöpsel drin, die sind so … ja. Damit kann man eigentlich echt gut arbeiten. Man hört die nervigen Streicher von oben nicht.« Er lacht mich an. »Die darf man aber nicht rumliegen lassen. Einmal hatte ich diesen Kollegen …« Jetzt kommt die Gummibärchenstory, ich weiß es ganz genau. »… der hat meine Stöpsel für Gummibärchen gehalten und hatte sie schon fast im Mund, ehe ich ihn aufklären konnte.«

Zum dreißigsten Mal lache ich über die Gummibärchenstory. Warum habe ich nicht den Schneid, ihn zu unterbrechen und die Pointe vorwegzunehmen? Beim nächsten Mal, sage ich mir.

Was seine Anekdoten betrifft, ist Professor Hecker wie ein alter Mann. Dabei ist er erst Anfang vierzig. Er hat ein Repertoire von zehn Geschichten, die er in Endlosschleife wiederholt.

»Bevor ich gehe, wollte ich Ihnen das nur schnell bringen.« Ich reiche ihm den Notenstapel.

Er nimmt ihn nicht. »Haben Sie das alles heute gemacht? Sie sind ja wahnsinnig!«

»Dann habe ich am Montag frei«, sage ich und glaube selbst nicht daran.

»Seien Sie nicht immer so fleißig. Sie ruinieren noch mein Bild von der Jugend von heute.« Er lächelt und sieht plötzlich jünger aus. Jünger als der Hecker, der ständig von seinen Ohrenstöpsel-Gummibärchen redet, und jünger, als er wirklich ist. Fast attraktiv mit seiner zerzausten Frisur und der runden Brille, die ihm einen Hauch von Johnny-Depp-Charme verleihen. Aber wirklich nur einen Hauch. Ich bin immer wieder verdutzt, wie schnell er vom kauzigen Professor zum lässigen Jazz-Saxofonisten umschalten kann.

»Moment, ich habe etwas für Sie.« Er verschwindet kurz in seinem Büro, das ich nicht oft betreten darf, weil er sich – nicht ganz unberechtigt – für seine Unordnung schämt. »Veröffentlichung ist erst übernächste Woche.« Er drückt mir eine CD von seiner Jazz-Combo JochenHeckerundBand in die Hand.

»Danke«, sage ich mit entspannterer Miene, schaue aber demonstrativ auf die Uhr, um das Gespräch abzukürzen. »Ich muss die Bahn erwischen«, rede ich mich heraus. Stimmt ja auch. Bisher hat die Drecksbahn nämlich noch nie auf mich gewartet.

»Ja, natürlich. Klar. Wir sehen uns dann morgen im Unterricht, Coltrane«, sagt er und winkt mir mit dem Zeigefinger zu.

»Jap. Coltrane.«

»Seien sie mehr wie Coltrane«, sagt er beinahe in jeder Stunde. Alle seine Studenten sollen mehr sein wie Coltrane.

Ein zweites Mal will ich ihm den Notenstapel in die Hand drücken.

»Ach, sind Sie doch so gut, und geben das Arrangement unten bei Sabine Kleister ab, die will noch einen Blick drauf werfen.«

Natürlich bin ich so gut.

In Eile stürze ich die Treppe hinunter und weiter zum Büro von Sabine Kleister, einer wissenschaftlichen Angestellten. Sie ist nicht da. Also knicke ich die Notenblätter zu einem Paket zusammen und versuche, sie in den Briefkasten stopfen. Die Dinger wollen aber nicht reingestopft werden. Sie wehren sich vehement.

Dann spielen mir die Physik, der Zufall und ein Volltrottel, der in Lichtgeschwindigkeit um die Ecke geschossen kommt, einen miesen Streich. Der Volltrottel rempelt gegen meinen Koffer, bleibt am Griff hängen, reißt mich herum, und vierzig sortierte Notenblätter, vierzig Seiten Birdland.Noten für klassische Bigband-Besetzung, segeln zu Boden.

Der Volltrottel ruft anständigerweise noch »Sorry!«, während er mit seinem Gitarrenkoffer und wehender grüner Jacke um die Ecke verschwindet und mich in meinem Birdland-Meer stehen lässt.

»Herzlichen Dank!«, schreie ich zurück, sammele motivationslos Seite für Seite auf und merke dabei, dass ich vergessen habe, sie zu nummerieren. Klasse! Via Konfrontationstherapie mal wieder die eigenen Fehler vor Augen geführt bekommen.

Ich will nach Hause. Einfach nur nach Hause.

Als ich an der U-Bahn-Haltestelle ankomme, ist es zwanzig vor sechs, und ich verabschiede mich von meinem Zug und meiner Abendplanung. Ich wollte sowieso nie pünktlich daheim sein.

Ein Wort zu mir

Mein Name ist Layla Woll. So wie die Frau aus dem Song von Eric Clapton. Genauer gesagt, wurde ich sogar nach der Dame aus dem Lied benannt. Meine Mutter ist ein heißblütiger Eric-Clapton-Fan, auch wenn sie kaum geboren war, als der Song herauskam.

Ich bin zweiundzwanzig. Dass Jochen Hecker der Meinung ist, ich sei ein schlechtes Beispiel für meine Generation, liegt vermutlich daran, dass mir manchmal die Zeit fehlt, mich wie zweiundzwanzig zu benehmen. Wenn ich Partyabende, Trinkspiele und bewusstseinserweiternde Kräuter ablehne, weil ich wahlweise »morgen arbeiten«, »noch was lernen« oder »auf meine Schwester aufpassen« muss, dann fühle auch ich mich eher wie Mitte bis Ende fünfzig. Doch dieses Gefühl wird regelmäßig ausgeglichen, indem ich mich unsicher wie eine pubertierende Dreizehnjährige benehme. Mein Alter ist also tagesformabhängig. Da ich Herrn Hecker und ein paar Dutzend Studenten von früh bis spät durch die Gegend gejagt und organisiert habe, ist heute so ein Tag, an dem ich mich wie Mitte bis Ende fünfzig fühle.

Mal Hand aufs Herz: Zweiundzwanzig zu sein, ist längst nicht so toll, wie die meisten denken. Ich weiß, dass meine Mutter mich für diese Aussage verabscheuen würde, weil sie »gerne noch mal Anfang zwanzig« wäre und ich »mich später sicher zurücksehnen« werde. Nur wonach? Nach den Nachmittagen, an denen ich Nachwuchsmusiker unterrichte? Nach den Nächten, in denen ich für die Uni lerne, weil ich tagsüber keine Zeit dafür habe? Nach den Standpauken, die ich meinen Geschwistern halten muss, weil meine Mutter zu nachgiebig mit ihnen ist? Oder nach dem ständigen Gefühl, etwas zu verpassen?

Wir wohnen in einer Stadt vierzig Kilometer vor Frankfurt, wohin ich jeden Tag mit den Öffentlichen pendele, um an einer Privatuni Saxofon zu studieren. Ein Studium, das nicht nur viel Zeit, sondern auch verdammt viel Kohle kostet. Die Reaktionen auf mein Studienfach fallen für gewöhnlich wie folgt aus: »WAAAS, du studierst Saxofon? Dann bist du ja voll gut, oooder?«

Ja. Mit reinem Gewissen kann ich behaupten, dass ich talentiert bin. Ich spiele ordentlich vom Blatt, bin in Musiktheorie astrein und habe eine sehr saubere Fingertechnik (Letzteres darf man so nie sagen, wenn man einen Mann kennenlernt, aber ich lerne sowieso selten Männer kennen). Bei meinen regelmäßigen Gastauftritten in guten Big Bands und Jazz-Combos besetze ich meist das bodenständige zweite Altsaxofon. Grundsätzlich bevorzuge ich aber Orchester und Ensembles, weil mir die Rolle einer strahlenden Solo-Saxofonistin, die an der Spitze einer Funkband vor sich hin dudelt, einfach nicht steht. Besonders gut bin ich wohl darin, JochenHeckerundBand diverse Dinge sowie den für sein Alter zu gut geformten Allerwertesten nachzutragen.

Jeden Mittwochnachmittag unterrichte ich Schüler in unserer örtlichen Musikschule, meist Anfänger zwischen acht und achtzig. Das ist kein Scherz. Einer meiner Schüler ist achtundsiebzig und hat sich den Traum erfüllt, Tenorsaxofon zu lernen. Stunde um Stunde bete ich, dass aus diesem Herzenswunsch kein Lungenproblem erwächst. Wenn es mich nicht gerade in den Wahnsinn treibt, macht mir das Unterrichten sehr viel Spaß, und ich würde gerne mehr Stunden geben, was nicht geht, da ich auch noch Zeit für den Hiwi-Job aufbringen muss. Solange ich besser darin bin, Jochen Hecker seine geliebten Marzipanschnecken zu besorgen, als darin, die Rampensau rauzulassen, bin ich eben nicht Coltrane genug. Und nicht genug Parker. Und nicht genug Kenny G. Manchmal bin ich nicht mal genug Layla. Das sind dann die Tage, an denen ich mich wie dreizehn fühle und Selbstbewusstsein streng rationierte Mangelware ist.

Kommt es mir nur so vor, oder komme ich gerade rüber wie eine unzufriedene Pestbeule? Falls ja, möchte ich das richtigstellen: Ich bin keine Pestbeule. Unzufrieden bin ich bisweilen schon, aber nicht bösartig. Leute, die ich nicht gut kenne, lasse ich vielleicht etwas zu oft abblitzen, das stimmt. Doch ich glaube (und hoffe), dass ich im Allgemeinen eine ganz angenehme Zeitgenossin bin. Ich lache gerne und viel, wenn ich nicht gerade einsam, übermüdet und im Dunkeln aus der Uni komme. Dass es mir auf der Bühne unmöglich ist, mich in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet nicht, dass ich mich in normalen Lebenslagen in ein Schneckenhaus zurückziehe. Im Gegenteil: Ich bin die, über die alle lachen, wenn man abends zusammensitzt, weil ich die Witze mache oder mich mal wieder doof angestellt habe. Ich bin ein humorvoller Mensch, zumindest an jenen Tagen, an denen ich mich so alt fühle und benehme, wie ich tatsächlich bin, und die Menschen in meiner Umgebung mag.

Warum ich das erzähle? Ach, ich hab’s ganz gerne, wenn die Leute mich mögen. Das gebe ich zwar nicht gerne zu, aber es ist mir sehr viel lieber, gemocht zu werden, als mich durchzusetzen. Deswegen schlucke ich auch lieber etwas herunter, statt mal auf den Tisch zu hauen.

Als frustrierte Ziege würde ich mich im Allgemeinen also nicht beschreiben. Ist jemand nett zu mir, dann bin ich auch nett, dann kann ich sogar sehr aufopfernd werden. Für meine Freunde und Familie würde ich fast alles machen. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich für sie durchs Feuer gehen würde, denn ich bin mir sicher, dass das höchst schmerzhaft ist. Aber ich würde schon so … sagen wir mal … hundert Kilometer zu Fuß laufen. Das ist unglaublich großzügig für jemanden, der den Bauch mit sechs handtellergroßen Cookies voll hat, die aus fünfzig Prozent Butter, fünfzig Prozent Zucker und fünfzig Prozent Schokolade bestehen (Kenner der Marke wissen, dass diese zunächst mathematisch widersinnig erscheinende Zutatenliste der Realität entspricht).

Alles wie immer

Endlich zu Hause, lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss und meinen Saxofonkoffer auf den Boden unter der Garderobe fallen. Unsere Garderobe besteht aus einer Ansammlung von bunt bemalten Holzresten unterschiedlichster Form und Größe, die meine Mutter an die Wand genagelt und mit Haken versehen hat. Lucy beansprucht immer die rosa­ oder lilafarbenen Holzstücke, um daran ihre rosa- oder lilafarbene Kleidung und Schultaschen aufzuhängen. Nick knäuelt seine Jacken bevorzugt irgendwohin, wo sie stören.

Es ist halb acht. Meine Mutter sitzt mit Lucy auf der Couch, Mama im Schneidersitz, meine Schwester auf ihren Schenkeln wie in einer Wiege. Mama flicht ihr die blonden Korkenzieherlocken zu zwei dicken Zöpfen. Lucy isst Schokokekse und sieht fern. Es läuft Der König der Löwen, unser liebster Disney-Film. Oft singen wir zusammen den Soundtrack mit verteilten Rollen, was Teil meiner Jobbeschreibung als große Schwester ist.

»Hi«, brumme ich und dehne die Arme hinter dem Rücken.

Lucy winkt, ohne mich anzugucken, Mama dreht mir den Kopf zu, lächelt breit und sagt: »Auf dem Herd stehen Nudeln für dich.«

Ich wärme das Essen auf und setze mich neben die beiden aufs Sofa.

Mama stellt den Ton leiser (Lucy protestiert) und fragt: »Wie war dein Tag? Du bist spät dran, ich wollte dich schon anrufen.«

»Heute war das Casting für unser Musical. Da habe ich ausgeholfen. Danach musste ich für Jochen Hecker noch ein Monster-Arrangement schreiben. Und dafür seine Hieroglyphen dechiffrieren. War ’ne elende Scheißarbeit.«

Sie sieht mich vorwurfsvoll an.

Lucy ergänzt: »Scheiße nimmt man nicht in den Mund.«

»Jetzt hast du’s auch in den Mund genommen«, necke ich sie und verknote ihre Zöpfe.

»Jochen Hecker verlangt ganz schön viel von dir, oder? Vielleicht solltest du dich zwischen dem Hiwi-Job und dem Unterrichten entscheiden. Du bist ja kaum noch zu Hause.«

Der Name Jochen Hecker ist zu einer Institution in unseren Gesprächen geworden, daher nennen wir ihn immer beim Vor- und Nachnamen. Wie einen Bundeskanzler. Oder Popstars. Oder Uni-Professoren.

Ich brumme ausdruckslos. Natürlich könnte ich einen der Jobs aufgeben. Dann müsste ich aber auch jegliche Freizeitaktivitäten, die Geld kosten, aufgeben. Und das will ich nicht. Ab und an unternehme ich nämlich doch ganz gerne mal was mit Freunden. Oder lege mir von Zeit zu Zeit etwas Neues zu. Ich kaufe gerne Musik, Bücher, Klamotten und Nagellack, und zwar nach dem Motto »viel hilft viel«.

»Wie war dein Tag sonst? Hat Jochen Hecker dich gelobt?«

»Er hat mir eine CD geschenkt.«

»Oh, wirklich? Seine letzte CD war einfach fantastisch. Sag ihm das mal von mir, ja? Und vergleiche ihn am besten noch mit irgendjemand Berühmtem. Er soll denken, dass ich Ahnung habe.«

Ich grinse sie an. Für meine Mutter ist Jochen Hecker eine unerreichbare Lichtgestalt. Eben wie ein Bundeskanzler oder ein Popstar.

»Sag ihm, dass ich die Neue auch fantastisch finde.«

»Noch hast du sie nicht gehört.«

»Ach, papperlapapp. Ich höre sie mir gleich morgen früh an, sie ist bestimmt fantastisch. So … gefühlvoll, irgendwie sinnlich.« Sie wedelt mit den Armen und greift ins Leere, als wollte sie das Gefühlvolle und Sinnliche aus der Luft filtern.

Mit Sicherheit werde ich morgen nicht zu Jochen Hecker gehen, ihn mit einer Berühmtheit vergleichen und ihm ausrichten, dass seine fantastische Musik in den Ohren meiner Mutter gefühlvoll und sinnlich ist. Der Ärmste würde glatt rot anlaufen und vor Schreck seine Gummibärchen-Ohrstöpsel aufessen.

Mama guckt Lucy mit dem Es-ist-Zeit-ins-Bett-zu-gehen-Blick an, meine Schwester hält sofort dagegen: »Nur noch den Film, bitte!«

Sie bekommt Nur noch den Film, bitte!, dazu warme Milch und Kleiekekse zum Eintunken. Wie in einer überspitzten Familienkomödie mit Steve Martin erfüllt sich nicht nur dieses von mir vorhergesagte Ereignis, sondern auch das zweite: Fast zeitgleich erklingt ein wummernder Bass im ersten Stock.

»Mamaaaa, wie lange willst du Nick noch seine Freiheit lassen? Es nervt, dass er die Musik immer erst so spät laut stellt. Er will doch nur provozieren!«

»Dein Bruder probiert sich aus, er lernt sich kennen. Natürlich will er uns provozieren, aber je weniger wir darauf eingehen, umso schneller hört es auch wieder auf. Es ist wirklich wichtig, ihm seine Freiheit zu lassen.«

»Ja, aber die Freiheit des einen hört dort auf, wo die Freiheit eines anderen beginnt«, klugscheißere ich.

»Wo du dieses diplomatische Gerede herhast, ist mir ein Rätsel.«

»Von Jean-Jacques Rousseau.«

Mama schenkt mir einen scherzend tadelnden Blick, schiebt Lucy lachend von ihrem Schoß, fasst nach meinem Zopf, löst die Haare und dreht die braunen Locken auf meinem Hinterkopf zusammen. »Du solltest die Haare hochstecken und ein paar Strähnen raushängen lassen. Das sieht so toll aus, Layla, es macht dein Gesicht schlank.« Vorwurfsvoll schiebe ich ihre Hand von mir. Ich mag es nicht, wenn man an mir rummäkelt. Wollte ich mir die Haare hochstecken, würde ich es tun. Und mein Kugelkopf wird auch durch die höchste Turmfrisur nicht schlanker.

»Guck doch nicht so! Du hast eben ein eher herzförmiges Gesicht. Aber mit ein paar tollen Ohrringen … Die Jungs würden gucken.«

»Herzförmig« ist die schönste Umschreibung für Pausbacken, die ich je gehört habe. Aber Mama strahlt mich an, streicht mir eine Locke hinters Ohr und greift sich dann unwillkürlich an den eigenen Kopf, um das geknotete Tuch enger zu ziehen.

»Das sähe wirklich hübsch aus«, wiederholt sie noch mal.

Oben dröhnt der Bass, Lucy stellt den Ton wieder lauter, tunkt Kleiekekse in Milch, und Mama ermahnt mich, nicht zu schmollen, ich wisse doch, wie es gemeint sei.

Jaja. Also alles wie immer.

Ein Wort zu Mama

Wenige Minuten nachdem ich mich innerlich mit Familientrott, Fernsehen und freitäglichen Kleiekeksen abgefunden habe, eröffnet mir eine WhatsApp-Nachricht, dass doch nicht alles so ist wie an einem gewöhnlichen Wochentag. Sie ist von Mimi, die nebst vierhundert Smileys mit Herzchenaugen stolz verkündet, dass sie sich getraut hat, Du-weißt-schon-wessen-Kumpel anzuchatten. Eine Antwort kam zwar noch nicht, doch sie möchte offenbar den ganz normalen Frauenwahnsinn abziehen. Zumindest lässt ihre Nachricht darauf schließen: »Hey, Layla. Ich hab Tom geschrieben!! Warte noch auf Antwort. Aber so oder so heißt das, wir müssen uns jetzt wohl oder übel was vornehmen. Weil sollte er antworten, und ich hab uneingeschränkt Zeit, wirke ich viel zu verfügbar. Lass uns was trinken gehen, dann kann er bestenfalls DAZUSTOSSEN!«

»Teuflischer Plan«, tippe ich ins Nachrichtenfenster und frage mich einmal mehr, ob wir Frauen eigentlich alle geistesgestört sind. Wir brauchen fünf Stunden, um uns zu überwinden, einen Typen zu fragen, was er heute Abend macht, nur um uns dann für genau diesen Abend anderweitig zu verabreden.

»Ich geh wohl noch was trinken«, murmele ich meiner Mutter zu.

»Oh! Ja, schön! Das ist doch schön, Layla.« Man erkennt daran, dass man eindeutig zu selten vor die Tür geht, wenn die eigene Mutter eine Verabredung am Freitagabend gleich zweimal mit »schön!« lobt. »Vielleicht lernst du ja jemanden kennen.«

Man erkennt daran, dass die Anzahl der Schwiegersohnbewerber eindeutig als zu gering eingestuft wird, wenn allein das Verb »trinken« in der Mutter Hoffnung auf ein Date auslöst.

»Was trinken mit Mimi und Kara«, spezifiziere ich.

»Hach, man weiß nie. Ich habe mal einen Mann kennengelernt, als ich eine Packung Tampons gekauft habe. Die für die starken Tage.«

»Toll, Mama, bitte erzähl mir mehr.«

»Damit will ich nur sagen, dass das Schicksal niemals schläft. Vielleicht sollte ich mitgehen und für dich die Augen aufhalten. Dein Geist ist vermutlich zu verschlossen.« Ich werfe ihr einen Blick zu, der diesem Vorschlag gerecht wird. Eine Mischung aus drastisch hochgezogenen Augenbrauen und Verscheißer-mich-nicht-Miene.

Vermutlich sollte ich noch etwas zu meiner Mutter sagen, damit ihr diese Situation richtig einschätzen könnt. Die Kurzfassung geht so: Meine Mama hat einen kleinen Vogel. Das ist nun mal so, und ich meine es auch gar nicht böse. Ganz im Gegenteil. Jeder andere Mensch, der das Leben meiner Mutter gelebt hätte, hätte wohl mehr als einen kleinen Vogel. Eher einen Albatros oder so.

Mama pflegt einen Lebensstil, der auf ihrem Glauben an die verschiedensten Philosophien basiert. Ein Außenstehender würde behaupten, dass sie eine hippiemäßige Esoteriktante ist, die ihren Lebensunterhalt mit brotlosem Firlefanz verdient. Sie gibt Yoga-Kurse und Glücks-Seminare, hält kinesiologische Sitzungen ab und verdient ihr Geld mit allerhand anderen Beschäftigungen, nach denen man im Register der eingetragenen Berufe lange suchen kann. In ihren Yoga-Kursen bringt sie den Leuten bei, ihre Schenkel hinter dem Kopf zu verknoten, ohne dabei komplizierte Knochenbrüche oder schwere innere Verletzungen zu erleiden. Leuten, bei denen derart schwerwiegende Verletzungen schon mal vorlagen, versucht sie dagegen mit diesem Kinesiologie-Zeugs weiterzuhelfen. Da werden Chakren geöffnet, Körperenergien zum Fließen gebracht, da wird in den Tiefen des emotionalen Unterbewusstseins nach tatsächlich physischen, aber auch psychischen Beschwerden geforstet (so oder so ist in den meisten Fällen eine schlimme Kindheit und/oder ein Kiefertrauma schuld). In den Glücks-Seminaren versucht sie, man kann es sich fast denken, andere Menschen glücklich zu machen. Dabei verkauft sie ihnen keine Wundercremes oder Zauberkerzen, sondern spricht einfach mit Personen, die nach eigener Aussage unglücklich sind, um ihnen zu beweisen, dass sie es selbst in der Hand haben, glücklich zu werden.

Unzufriedenheit wird in diesem Haushalt daher wie eine schwerwiegende Krankheit behandelt, die nicht mit Antibiotika, sondern mit ausgiebigen Gesprächen behandelt werden muss.

Zum Beispiel kann Mama es absolut nicht als naturgegeben akzeptieren, dass ich auch mal einen Abend lang auf der Couch rumliegen und eine Fresse ziehen will. Für sie ist das stets ein deutliches Vorzeichen einer Depression (die auf einer schlimmen Kindheit und/oder einem Kiefertrauma beruht. Bei einem Scheidungskind mit Zahnspangen-Vorgeschichte ist das natürlich nicht unwahrscheinlich.). Nie lässt sie mich auch nur ein bisschen unausgeglichen sein. Denn Unausgeglichenheit ist bei uns Nicks Privileg. Der darf das. Der muss das sogar. Der pubertiert.

Meine Mutter sagt immer, unser Körper sei das Wichtigste, was wir haben. Und das sagt sie nicht aus der Perspektive eines Victoria’s-Secret-Supermodels, sondern aus der einer Person, die schon mal ziemlich krank war, gesund wurde und daraufhin beschlossen hat, ihre Gesundheit, wo immer es möglich ist, selbst in die Hand zu nehmen. Fragt man sie danach, verfällt sie in einen endlos langen Sermon, in dem sie erklärt, dass der Körper unseren Geist umhülle und wir deshalb gut auf ihn aufpassen müssten, dass unser Körper ein Tempel sei und wir doch nur diesen hätten, dass ein starker Körper einen starken Geist zeige – und wenn ich noch ein einziges Mal das Wort Körper höre, muss ich brechen und/oder vierzehn Stück Trüffeltorte von Starbucks essen. Ich glaube, diese Einstellung ist von Epikur. Also jetzt nicht das mit der Trüffeltorte. Sondern die Starker-Körper-starker-Geist-Geschichte. Oder auch nicht. Mein Fachwissen in antiker Philosophie ist lückenhaft.

Um ihren Körper als gute Hülle für ihren wertvollen Geist in Schuss zu halten, achtet Mama auf eine ausgewogene Ernährung. Sie hat die halbe Küche und den kompletten Balkon mit allem bepflanzt, was sich irgend möglich ohne Kleingarten kultivieren lässt. So erntet sie in den Sommermonaten regelmäßig Salatköpfe, die im selben Topf wie die Petunien gewachsen sind. Oder Zucchini, die entweder nur unwesentlich größer sind als mein kleiner Finger oder aber Größe und Gewicht eines stattlich entwickelten Neugeborenen haben. Sie verzichtet auf raffinierten Zucker, künstliche Zusätze sowie alles, was den Buchstaben E auf der Verpackung trägt. Fleisch kommt nur dann auf den Tisch, wenn Mama das Tier vor der Schlachtung persönlich kennengelernt und für emotional und physisch stabil befunden hat.

Warum ich nicht von meinen siebzig Kilo herunterkomme, obwohl ich in einer solchen gesundheits- und körperverbiegenden Umgebung lebe, weiß ich nicht genau. Könnte daran liegen, dass Herr Hecker mich so oft zu den Marzipanteilchen schickt und die in der Auslage unglücklicherweise direkt neben den Zimtschnecken liegen. Wenn unser Körper tatsächlich unsere Seele spiegelt, dann wohnt in mir eben eher eine Art undisziplinierte, fünf bis sechs Kilo zu schwere Zimtschneckenseele mit zu Frizz neigendem Haar.

Wenn ich vor meiner Mutter über meine Figur meckere, hat sie dafür einerseits kein Verständnis (»Ich verstehe dein Problem nicht. Du hast einen starken, gesunden Körper« – ja genau, einen starken, gesunden Körper, der Hosen in Größe 40 trägt, über deren Bund gerne mal links und rechts der Lendenspeck quillt. Toll!). Andererseits versucht sie natürlich, mein Unglück nachzuvollziehen, damit sie es schleunigst umwandeln kann (Glücks-Seminare und so). Daher schlägt sie mir regelmäßig vor, mit ihr zusammen Safttage einzulegen, um den Körper zu entschlacken. Mama macht erschreckend oft Safttage. Safttage sind das Furchtbarste, was ich mir vorstellen kann. Denn man nimmt an diesen Tagen nichts zu sich, außer, nun ja, Saft. Allerdings keinen leckeren Multivitamin­ oder Fruchtsaft, sondern Gemüsesaft. Wie es dem Körper guttun soll, wenn man ihn derart foltert, ist mir ein Rätsel. Und an Schlacken glaube ich sowieso nicht. Die sind wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Schlacken sind sozusagen die Einhörner unter den Ernährungsweisheiten.

Nichtsdestotrotz bin ich beeindruckt von der Tatsache, dass meine Mutter noch immer an ihrem Glauben festhält. Denn obwohl Mama seit Jahren ihren eigenen Regeln treu ist, scheint es bei ihr nicht zu fruchten. Meine Mutter hat nämlich Krebs.

Es gab eine Zeit, als sie noch keinen hatte, und es gab eine Zeit, als sie ihn besiegt zu haben schien. Und ich weiß, wie es war, als er zurückkam. Mama war immer unbeirrt. Sie ließ Chemos über sich ergehen, weil die Ärzte ihr dazu rieten. Obwohl sie lieber auf alternative Heilmethoden gesetzt hätte. Sie tat es uns zuliebe. Ich war damals fünfzehn, pubertär und durfte unausgeglichen sein. In einem meiner Unausgeglichenheitsanfälle zwang ich sie schlichtweg dazu, die Chemo zu machen. Ich schrie sie an, dass der »kreuzbeschissene Krebs« sich wohl kaum von selbst aus ihrem Körper verpissen würde, nur weil sie ihm gut zuredete. Als Nächstes hörte ich auf, ihren »kreuzbeschissenen Ökofraß« zu essen. Das tat ich drei Tage. Meine Mama erkannte wohl, dass es mir verdammt ernst war, wenn meine Zimtschneckenseele sogar auf Nahrung verzichtete.

Seit knapp einem Jahr ist Mama in Remission, was in etwa heißt, dass zwar keine Metastasen in ihrem Körper sind, man sich aber noch nicht traut, von Heilung zu sprechen. Das ist zumindest meine nüchterne Definition des Begriffs. Mama in ihrem unbeirrten Glauben an das Gute in der Welt und das Gute und Gesunde in ihr scheint manchmal regelrecht vergessen zu haben, dass sie je krank war. Aber so war es auch in ihrer letzten Remissionsphase.

Ach, eigentlich mag ich gar nicht darüber nachdenken.

Mimi und Kara

Mimi und Kara trudeln um halb neun bei mir ein. Mein Zimmer unter dem Dach ist allerdings nur ein Zwischenstopp an diesem Abend, den wir – das konnte ich klären – ohne meine Mutter verbringen werden, die Augen und Aura nach einem Märchenprinzen für mich aufhält. Ein Zwischenstopp auf dem Weg zu der Location, die Tom davon überzeugen soll, dass Mimi eine sehr gefragte, unerreichbare Frau ist.

Ich liege unladylike mit breiten Beinen in meinem Sitzsack und lackiere meine Fingernägel tannengrün. Mimi guckt mich fast schon angewidert an. Sie würde sich nie die Fingernägel tannengrün lackieren. Wenn schon, dann farblos; pastell wäre das höchste der Gefühle. Alles andere würde sich auch mit ihrem Kleidungsstil beißen. Mimi trägt gerne Tücher mit Blumenmotiven, Jäckchen mit Holzknöpfen und immer Schuhe mit Absatz. Immer. Sie besitzt gar keine Turnschuhe.

»Layla, ich muss dir an dieser Stelle echt mal sagen: Du hast etwa fünfzig Nagellackfarben, und alle fünfzig sind furchtbar.«

»Danke, das Kompliment weiß ich zu schätzen.«

Ich bin froh, dass ich Freunde habe, die mich, ohne nach ihrer Meinung gefragt worden zu sein, beleidigen. Kein Mist. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Genau diese Freunde sagen dir nämlich auch die Wahrheit, wenn man sie dann doch mal um ihre Meinung bittet. Sie gehören zu jenen Freunden, die all die kreuzunmusikalischen Menschen, die sich bei Deutschland sucht den Superstar zum Affen machen, leider nicht haben.

Meine Mutter lugt zur Tür rein, winkt uns zu und fragt, wann wir losziehen.

»Wann immer sich der Typ meldet, auf dessen Nachricht Mimi wartet«, erkläre ich ihr.

Mimi streckt mir die Zunge raus.

»Man muss nicht immer auf die Männer warten, Mimi«, weiß meine Mutter. »Man muss solche Dinge fließen lassen, dann geschehen sie ganz von alleine. Vorausgesetzt, sie sollen geschehen.«

»Amen«, predige ich mit aneinandergelegten Händen. Mama sieht zuerst mich und dann meine Kommode vorwurfsvoll an. »Deine Universumskerze brennt ja gar nicht!«, tadelt sie mich. Dabei deutet sie auf die dicke Blockkerze, die sie in meinem Zimmer aufgestellt hat, weil in unserer Wohnung offenbar noch nicht genug Kerzen rumstanden.

In unserem Zuhause findet sich in jedem Raum eine ihrer Universumskerzen, die sie sofort entzündet, sobald sie sich länger als drei Sekunden darin aufhält. Das Licht soll dafür sorgen, dass das Universum dich sieht und sowohl deine Wünsche in die Tat umsetzt als auch deine Sorgen auflöst. Na ja, damit das Universum quasi deine Vibes bemerkt. Oder so.

Bevor ich lange diskutiere, entzünde ich die Kerze unter Karas kritischem Blick mit einem Streichholz. Mama grinst zufrieden und verlässt mein Zimmer.

»Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich denken, deine Mutter hat einen Dachschaden«, stellt Kara nicht ganz unrichtig fest.

Ich verdrehe die Augen und wende mich Mimi zu. »Du hast fünfzig Schals mit Blumenmotiven, und alle fünfzig lassen dich um dreißig Jahre altern«, kontere ich endlich.

»Oh, ich hatte mich schon gewundert, dass du das auf dir sitzen lässt.« Sie grinst mich an, und ich weiß in diesem Moment wieder einmal, warum sie meine Freundin ist.

»Jetzt hört auf, euch vor lauter Liebe zu beleidigen.

Das ist ja frustrierend.«

Kara steht mit Schwung von meinem Bett auf, dreht sich vor dem Spiegel und zieht ihre engen Jeans hoch.

»Können wir endlich mal los?«, fragt sie. Karas Partyhunger ist unstillbar. Sie kann eine ganze Woche lang jeden Abend feiern gehen, pro Nacht nur drei Stunden schlafen und tagsüber arbeiten. Und dabei immer noch fantastisch ausschauen. Das hat sie bereits mehrfach unter Beweis gestellt.

»Wir müssen noch auf Toms Antwort warten.«

»Ich dachte, wir müssen unerreichbar wirken«, zische ich zynisch und kann ein Gähnen nicht ganz unterdrücken.

»Du bist irgendwie immer müde, oder?«, fragt Kara und sieht mich lachend an.

»War ein anstrengender Tag heute.«

»Du arbeitest zu viel.«

»Man hat sie angepöbelt«, wirft Mimi ein, während sie ihr Handy hypnotisch anstarrt.

»Wer?«, fragt Kara, so als wollte sie sagen: Den mach ich platt!

Das würde sie glatt, da bin ich sicher. Und sie würde es wohl auch schaffen. Für mich ist Kara der athletischste Mensch der Welt, sie nimmt ständig an Triathlons teil und übt jede Sportart aus, die ich kenne. Und das sind mindestens fünf.

Einmal hat sie sich fast eine eingefangen, weil sie sich mit einem Typen angelegt hat, der zu mir gesagt hat, ich hätte einen Arsch wie ein Brauereigaul.

»Angepöbelt?« Ich sehe von Kara fragend zu Mimi.

»Na, als wir telefoniert haben. Da hat dich im Hintergrund einer dumm angemacht. Hab ich doch gehört.«

»Na, was jetzt? Dumm angemacht oder gepöbelt?«

»Ach, das … ähm … Nee, das war … das war gar nichts.«

Kara sieht Mimi an und schmunzelt. »Hab ich da gerade ein Zögern gehört? Was ist passiert?«

»Nichts Besonderes. Heute war das Casting für das neue Musical, und ein Typ, der das Vorsingen verpasst hat, hat ein wenig rumgemeckert. Ein Gitarrenstudent, was Besseres erwarte ich von denen schon gar nicht mehr.«

Um zu überspielen, dass mein Herz gerade Protest anmeldet und meine Zimtschneckenseele sich an dem Gedanken an Julius’ Gesicht labt, fange ich an, das frisch aufgetragene Tannengrün vom kleinen Finger zu nagen.

»Oh Mann, dieser Ben hat dich echt auf ewig gebrandmarkt.« Mimi schaut nicht mal von ihrem Handy auf, von dem sie sich nichts sehnlicher wünscht, als dass es schnellstmöglich eine Nachricht vom ehemals besten Freund des Brandmarkers anzeigt.

»Ich hab nur dazugelernt.«

Endlich rettet mich der Piepton ihres Telefons davor, weiterreden und weiter überspielen zu müssen.

Mimi quietscht und ruft: »Wir gehen ins Bogey’s!«

»Seit wann geht sie gerne ins Bogey’s?«, höre ich Kara fragen, nachdem wir in besagter Bar Platz genommen und Mimi dabei zugesehen haben, wie sie Tom mit ihrem Kindchenschemagesicht begrüßt hat. Es stimmt, dass Mimi für gewöhnlich nicht gerne hierherkommt. Sie bevorzugt schickere Bars und kann dem provisorischen Charme, den ich persönlich am Bogey’s sehr mag, so gar nichts abgewinnen. »Und seit wann zählt es als unerreichbar, einfach in dieselbe Bar zu gehen wie ein Typ, der noch nicht mal richtigen Bartwuchs hat?«

Ich merke, dass ich mit den Schultern zucke, den Blick durch die Bar schweifen lasse und plötzlich so steinhart und unbeweglich werde wie die Wand hinter mir.

Da vorne ist … Oh mein Gott! Allah, rette mich! Buddha, steh mir bei! Beim Teutates! Ich weiß nicht mehr, was ich tun oder sagen oder machen soll. Irgendeine Gottheit muss mir doch helfen können? Wo vor einer Sekunde noch mein Gehirn war, ist jetzt bestenfalls ein nasser Schwamm. Vielleicht auch nur Hohlraum. Ich rutsche auf meinem Barhocker herum und trinke viel zu schnell mein Weinglas leer.

»Layla? Hallo?« Ich wende mich zu Kara um. »Hast du ein Gespenst gesehen oder so? Du guckst wie damals, als wir Ben in Frankfurt bei H&M getroffen haben. Ist er hier irgendwo?«

Quatsch, doch nicht Ben! »Ben? Quatsch, doch nicht Ben!« Könnten wir für heute bitte mit diesem Thema aufhören? Ja? Danke!

Als wir Ben vor gut einem Dreivierteljahr in einem Frankfurter H&M gesehen haben, dachte ich, ich müsste sterben. Ich hätte mich am liebsten mit einem Strickpullover am nächsten Kleiderhaken aufgeknüpft. An diesem Tag (oder überhaupt an irgendeinem Tag) sah ich nämlich nicht gut genug aus, um ihm unter die Augen zu treten. Natürlich wirkte er enorm sexy, ganz ohne sich darum zu scheren – oder vielmehr gerade weil er sich nicht darum scherte.

Da hinten in der Ecke einer meiner Lieblingsbars steht natürlich nicht Ben.

Da steht Julius Herzsprung.

Waswiewowarum?

Also: Das ist jetzt kein dummer Scherz. Er steht da wirklich. Oder, besser gesagt, er hängt. Er lässigt dort vor sich hin. Was macht Julius Herzsprung denn hier? Und warum nenne ich ihn beim Vor­ und Nachnamen? Ist er schon eine Instanz? Nein. Ich will Distanz aufbauen.

Auf einmal meldet sich mein Herz wieder. Es klopft von innen gegen meinen Brustkorb und sagt: »Entschuldige mal bitte, Layla. Jetzt tu doch nicht so, mir kannst du nichts vormachen. Ich muss hier schließlich pochen wie bescheuert, seit du ihn entdeckt hast. Nur damit du’s weißt: Das ist ein Kraftakt.«

»Der Typ da«, zische ich Kara zu und nicke so unauffällig wie möglich in die Ecke, »den kenne ich.« Den kenne ich? Na ja … ich weiß, wie er heißt, was er studiert und für welche Rolle er sich bei unserem Musicalprojekt beworben hat. Er und ich, wir sind also fast so etwas wie langjährige dicke Freunde. Bevor meine Übertreibung auffällt, relativiere ich sie. »Na ja, also nicht kennen. Der ist an meiner Uni.«

Kara will sich zu ihm umdrehen.

»NEIN! Nicht gucken, ich glaube, er hat mich gesehen.« Angestrengt schaue ich in mein Weinglas und richte meinen Schal, damit er so viel von meinem Gesicht bedeckt, dass der Typ mich eventuell nicht erkennt, und gerade noch genug frei bleibt, damit mich keiner für eine Bankräuberin hält.

Kara schaut dennoch kurz in seine Richtung und sagt dann lang gezogen: »Oh, là, làààà.«

Ich werfe ihm einen erneuten Blick zu und kann nur bestätigen: Oh, là, làààà beschreibt Julius Herzsprung ziemlich präzise.

Im nächsten Moment sieht er mir direkt in die Augen, und in seinem Gesicht flammt ein Lächeln auf, das nur eine Deutung zulässt: Er hat mich erkannt.

»Hilfe, Kara, er hat mich gesehen. Oh Gott, er kommt her.« Ich luge über den Rand meines Weinglases und kann’s nicht fassen.

Warum kommt Julius Herzsprung an unseren Tisch?

Kann er das nicht bleiben lassen? Bitte!

Hätte ich doch bloß diese dämliche Universumskerze nicht angezündet. Das hab ich davon. Jetzt hat das vermaledeite Universum meinen Wunsch nach Kontakt mit Julius Herzsprung in die Tat umgesetzt. Ich meine ja nur, liebes Universum, bei allem nötigen Respekt, aber so war das wirklich nicht gemeint. Ich hatte den Wunsch ganz bewusst in meinem Unterbewusstsein gelassen, weil ich mich erstens nicht lächerlich machen und zweitens nicht ins Unglück stürzen will.