The Cage - Gejagt - Megan Shepherd - E-Book

The Cage - Gejagt E-Book

Megan Shepherd

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Beschreibung

Sie sind dem Käfig entkommen - aber lang noch nicht frei

Cora und ihre Gefährten dachten eigentlich, sie hätten das Schlimmste überstanden. Doch sie haben ihren einstigen Käfig nur gegen einen Safaripark eingetauscht. Inmitten von Raubtieren müssen sie sich nun in einer gefährlichen Wildnis behaupten. Immer beobachtet von den geheimnisvollen Kindred. Und auch dem Pärchen Nok und Rolf geht es nicht besser: In einer Art von gigantischem Puppenhaus werden sie Tag und Nacht von ihren Entführern überwacht. Während Leon, der einzige, dem die Flucht gelungen ist, verzweifelt nach Verbündeten sucht, muss Cora sich entscheiden: Kann sie ihrem unwirklich schönen Wächter Cassian, der sie verraten hat, noch einmal trauen?

Die packende Fortsetzung des großen Abenteuers.

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Seitenzahl: 520

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MEGAN SHEPHERD

 

GEJAGT

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Beate Brammertz

 

 

Das Buch

Das Schlimmste ist Cora und ihren Gefährten eigentlich schon passiert: Sie wurden von hochentwickelten Außerirdischen, den Kindred, auf einen fernen Planeten entführt und in einem gigantischen Käfig gefangen gehalten. Doch dann müssen sie ihr Gefängnis gegen die Gefahren eines Safariparks tauschen. Für die Kindred ist der Park ein riesiger Abenteuerspielplatz. Für Cora und die übrigen Jugendlichen lauert hinter jedem Busch neue Gefahr, jeden Tag steht ihr Leben auf dem Spiel. Völlig machtlos sind sie den Launen der unberechenbaren Kindred ausgeliefert. Oder? Die mutige Cora will sich nicht einfach mit ihrem Schicksal abfinden. Sie überlegt, sich einer Herausforderung zu stellen, die der Wächter Cassian ihr als Fluchtmöglichkeit anbietet. Aber kann sie ausgerechnet ihm wirklich trauen? Hat er doch schon früher erst ihr Herz gewonnen, um sie hinterher bitter zu enttäuschen …

Die Autorin

Megan Shepherd ist in den Bergen von North Carolina aufgewachsen. Die meiste Zeit verbrachte sie bereits als Kind in der Buchhandlung ihrer Eltern. Nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften und Sprachen ging sie für zwei Jahre in den Senegal, wo sie Kinder in Dorfschulen unterrichtete. Dabei entdeckte sie ihr großes Talent zum Geschichtenerzählen. Megan Shepherd lebt mit ihrem Mann auf einer Farm in North Carolina. The Cage – Gejagt ist der zweite Band ihrer packenden Abenteuertrilogie.

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

 

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Cage 2: The Hunt bei Balzer + Bray, HarperCollins Publishers, New York

Copyright © 2015 by Megan Shepherd

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstr. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany

Redaktion: Babette Mock

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Depositphotos/tanel;

© Bigstock (pranodhm, WWyloeck, waldru)

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN: 978-3-641-19216-7V001

www.heyne-fliegt.de

 

Für die Highland Books Community,

die mir in der Fremde

viele Jahre eine Heimat war.

 

 

1 – Cora

Sechs Schritte lang, sechs Schritte breit.

Cora musste ihre Zelle schon hundert Mal durchschritten haben. Es gab keine Uhr. Keine Fenster. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, ob sie seit drei oder dreizehn Tagen eingesperrt war – nicht, dass die Zeit auf der Raumstation auf dieselbe Weise wie auf der Erde verstreichen würde. Die einzigen Gegenstände im Raum waren eine steife Plastikdecke, die sich immer kalt anfühlte, eine Toilette, ein Wasserspender zum Trinken und eine grelle Deckenleuchte, die immer brannte.

In der Ecke kauernd, die Beine fest an die Brust gezogen, presste Cora die gespreizte Hand auf das schwarze Fenster in der Wand. Ihre Nägel wirkten auf der glatten Oberfläche sogar noch eingerissener und abgekauter.

Wir haben euch zu eurem eigenen Wohl hergebracht, hatten die Kindred erklärt.

Wir sind eure Retter, hatten sie gesagt.

Sie drückte ihre Finger auf das schwarze Glas, einen nach dem anderen, einen für jeden der fünf Freunde, die sie verloren hatte. Lucky. Leon. Nok. Rolf. Mali. Noch vor wenigen Wochen waren sie Fremde gewesen, alle miteinander gefangen auf einer künstlichen Erde, wo sie wie wilde Tiere hinter Gittern beobachtet wurden. Das Experiment war kläglich gescheitert.

Ebenso wie Coras Fluchtversuch.

Wie dumm, dachte sie, zu glauben, ich könnte ihnen entkommen.

Als sie die Hand vom Fenster nahm, blieb ein feuchter Abdruck ihrer Finger auf dem Glas zurück, bevor auch dieser verschwand.

Fünf graue Flecken gegen die Dunkelheit.

Fünf Sterne gegen einen dunklen Himmel.

Fünf Noten, die der Beginn eines Lieds sein könnten.

Aber nicht so dumm, dachte sie entschlossen, zu glauben, wir wären weniger wert als sie.

Sie schloss die Augen, holte tief Luft und konzentrierte sich auf ihre Sinne. Tief in ihrem Innern konnte sie sich immer noch erinnern, wie es sich angefühlt hatte, ihre telepathische Fähigkeit einzusetzen. Begonnen hatte es mit Schwindelanfällen und einer verschwommenen Sicht, und dann – ja, dort – hatte sie eine Person auf der anderen Seite der Wand gespürt, und schließlich hatte sie sogar Cassians Gedanken lesen können. Allerdings nur ein einziges Mal, obwohl sie es noch des Öfteren vergeblich versucht hatte.

Sie starrte zu dem schwarzen Fenster und versuchte erneut, etwas zu erspüren, obwohl ihr Nacken schmerzte, ihre Augen tränten und sie sich mit Schrecken ins Gedächtnis rief, dass solche Fähigkeiten unnatürlich waren. Wenn nicht sogar verrückt. Auf der Erde würde man sie in eine Anstalt einweisen, sollte sie behaupten, Gedanken lesen zu können. Auf der Erde …

Aber womöglich gab es überhaupt keine Erde mehr.

»Mir etwas von Herzen zu wünschen hat nie geholfen«, sang sie leise vor sich hin. Mit Liedtexten hatte sie sich schon immer Sorgen von der Seele geschrieben. In Liedern war sie kein Freak, nur ein Mädchen, weit weg von zu Hause und ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrem struppigen, alten Hund, den sie am allermeisten vermisste. »Wünsche und Hoffnungen und Abschiedsküsse …« Mit schwungvoller Linie fuhr sie mit ihrem Finger über das dunkle Glas und komponierte ihren Liedtext, der sogleich wieder verblasste, sobald die Buchstaben geschrieben waren. »Ich wollte stärker sein, doch stattdessen kamen …«

Ihre Stimme wurde heiser, da ihr jegliche Übung fehlte, aber ihre Finger schrieben weiter:

M-O-N-S-T-E-R.

Die Buchstaben lösten sich auf, bis nichts weiter als Schwärze zu sehen war.

Für eine, vielleicht zwei Sekunden glaubte sie, der Schwindel würde erneut einsetzen. Ihre Sicht verschwamm am Rand ihres Blickfelds. Sie spürte fast, dass sich etwas oder jemand hinter der Wand bewegte, vielleicht sogar mehrere Personen.

Die Wände und der Fußboden begannen zu beben. Das Grollen kroch an ihren Beinen empor und ließ ihr pochendes Herz rasen. Erschrocken sprang sie auf. Die Vibrationen schwollen zu einem Crescendo an, das die gesamte Zelle erfüllte. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, als würde warmer Atem über ihre Haut streichen, und mit der Hand griff sie sich unwillkürlich an den Hals.

Konzentrier dich, ermahnte sie sich. Du kannst spüren, was dort draußen ist. Es ist dir schon einmal gelungen. Du musst es noch einmal schaffen.

Die Deckenlampe strahlte nun so hell, dass Cora blinzeln musste. Licht drang jetzt auch aus der Wand, die in schartige, puzzleförmige Teile zersplitterte und eine Tür freigab. Mehr Licht quoll durch die Öffnung und umschloss Coras Haut wie eine warme Decke. Sie zuckte zusammen und beschattete die Augen.

Schritte.

Dann Stimmen.

Jemand sagte etwas in monotonem Tonfall, das sie nicht verstand. Die Sprache der Kindred. Cora erstarrte, aus Furcht, was ihr Kommen bedeuten könnte. Schließlich durchbrach eine deutlichere Stimme auf Englisch das Licht.

»Steh auf!«

Ein Schatten traf sie.

Vorsichtig öffnete Cora die Lider. Schwarze Augen sahen sie an – keine Pupillen, keine Iris, nur zwei Ovale öliges Schwarz im Gesicht einer Frau, die Haut wie poliertes Kupfer. Tessela. Eine der Wachen unter Cassians Kommando.

Beim Anblick eines bekannten Gesichts keuchte Cora erleichtert auf. »Tessela! Lass mich bitte raus …«

»Du bist für schuldig befunden worden, Regel zwei und Regel drei unserer Anordnung nicht befolgt zu haben«, sagte Tessela mechanisch, als wäre Cora nur ein lästiger Problemfall. »Für schuldig befunden, einen Fluchtversuch aus deinem Gehege unternommen zu haben. Und den Kommandanten angelogen zu haben.«

Cora blinzelte wieder gegen das Licht an. »Das ist nicht die ganze Wahrheit. Und das weißt du.«

Mit erschreckender Kraft packte Tessela sie am Arm und zerrte sie zu sich, dann ließ sie Cora wieder los und wich einen Schritt zurück. Ein weiterer Kindred stand im Türrahmen, gekleidet in eine Uniform, so dunkelblau, dass sie fast schwarz schien, mit den aufwendigsten Knoten, die Cora jemals gesehen hatte und die in zwei identischen Reihen an seinem Oberteil entlangliefen. Als er ins Licht trat, sog Cora scharf die Luft ein. Fian. Noch jemand aus Cassians Team. Bei ihrem ersten Treffen hatte er sie fast erwürgt, auch wenn es nur ein Trick von Cassian gewesen war, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Bei der unliebsamen Erinnerung rieb sie sich unwillkürlich die Kehle.

»Fragt einfach Cassian …«, setzte sie an, geriet jedoch beim Klang seines Namens ins Stocken. Nein, Cassian würde ihr jetzt nicht mehr helfen. Cassian hatte ihretwegen schon einmal die Regeln gebrochen, als es ihr so schwergefallen war, sich in ihr früheres Gehege einzugewöhnen, doch das war vor ihrem Fluchtversuch gewesen. Bevor sie herausgefunden hatte, dass Cassian der Kommandant war – derjenige, der sie die ganze Zeit über manipuliert hatte.

Licht spiegelte sich auf den scharfen Nadeln und dem glänzenden metallischen Apparat in Fians Hand. Coras Magen zog sich krampfhaft zusammen. Die Kindred behaupteten, nicht mit Menschen zu experimentieren, aber Cora hatte gesehen, wie sie Nadeln in ein totes Mädchen gerammt hatten, um nach Spuren der Evolution zu suchen. Es machte den Anschein, als fürchteten die Kindred nichts mehr, als dass ihre wertvollen Haustiere, die sie ironischerweise zu schützen geschworen hatten, eines Tages klüger als sie selbst werden könnten.

Und das sind wir, dachte Cora laut genug, damit Tessela und Fian es in ihrem Bewusstsein lesen konnten.

Tessela blinzelte nur. »Streck die Arme aus«, befahl sie.

Cora schüttelte den Kopf. »Wo sind Lucky und Mali?«

»Streck die Arme aus.« Tessela machte einen Schritt auf sie zu. »Das ist zu deinem eigenen Wohl.«

Cora duckte sich und rannte hastig zu der Wand, in der sich die Tür geöffnet hatte, doch Fian war schneller. Mit unnachgiebiger Strenge packte er Cora und verdrehte ihr den Arm, bis ihre Hand nach vorne zeigte. Tessela nahm von Fian den Apparat entgegen, der zu summen begann, höchstwahrscheinlich durch Telekinese eingeschaltet.

»Die Flucht war meine Idee, nicht ihre«, beharrte Cora. »Ihr dürft sie nicht bestrafen.«

Tessela kam mit dem Gerät in der Hand auf sie zu. Aus der Nähe glich es den Apparaten, mit denen die Kindred-Frau Serassi, die medizinische Inspektorin, sie damals untersucht hatte, nur dass am Ende dieses Geräts mehrere zentimeterlange Nadeln herausschauten.

»Wir glauben nicht an Bestrafung«, erwiderte Fian mit ausdrucksloser Stimme. »Es ist ein primitives Konzept.«

Wäre ihre Kehle vor Entsetzen nicht wie zugeschnürt, hätte Cora laut aufgelacht. Und als was bezeichneten sie es bitte, jemanden in einer Zelle einzusperren?

Tessela drückte die Nadeln an Coras Haut. Überrascht sog Cora die Luft ein, als sich die Nadeln unvermittelt wie von Geisteshand bewegten und sich nicht fest, sondern in flüssiger Form einen Weg zur Innenseite ihrer Handfläche bahnten. Zu winzig, um schmerzhaft zu sein, fühlte es sich dennoch unangenehm an, als sich die mikroskopischen Würmer in ihre Haut bohrten.

»Bitte«, keuchte sie. »Verratet mir, ob es Lucky und Mali gut geht. Und auch Nok und Rolf. Sind sie immer noch in unserem früheren Gehege? Ist mit Noks Schwangerschaft alles in Ordnung?« Cora biss sich auf die Lippen, als Tessela den Apparat in ihre andere Handfläche presste. »Nun sagt schon!«

Tessela beendete die Untersuchung und steckte das Gerät in ihren Gurt. Cora starrte auf ihre Hände hinab. Ein sonderbares Muster aus Linien und Nadelstichen bedeckte ihre Handflächen und Finger, das an halbmondförmige Ringe erinnerte. Der Halbkreis an ihrem Ringfinger zeichnete sich deutlicher als die anderen ab und strahlte wie ein Stern. Im Käfig hatten die Kindred jeden ihrer Schützlinge mit Sternbildern gebrandmarkt, um sie paarweise anzuordnen, doch diese konzentrischen Kreise und Reihen mit winzigen Malen hatten nichts mit dem Sternenhimmel gemein.

»Ich verstehe das alles nicht.«

»Das sollst du auch nicht«, sagte Tessela. »Der Code ist allein für unsere Aufzeichnungen bestimmt.«

Fian ließ Cora los, die gegen die Wand zurücksank und die Hände zu Fäusten ballte, die Finger um die Linien und Symbole geschlossen, die sie nun als Eigentum der Kindred auswiesen.

Mit einem lauten Summen glitten die Wandfugen wieder auseinander, und die Tür kam zum Vorschein. Cora riss den Kopf hoch.

Eine neue Gestalt füllte den Türrahmen aus.

Schwarze Augen.

Haut, die kupferfarben schimmerte.

Eine Narbe am Hals und ein Hubbel auf dem Nasenrücken – Unvollkommenheiten in einem ansonsten perfekten Gesicht.

Cassian.

Wie sollte sie sich jetzt noch konzentrieren? Sie konnte kaum atmen. Das erste Mal hatte sie Cassian in ihren Träumen gesehen. Mit seiner unvergleichlichen Schönheit hatte sie ihn für einen Engel gehalten. Jetzt wusste sie es besser: Er war ein Monster, wie der Rest von ihnen. Auch dieses eine Mal, als sie in sein Innerstes geblickt und ein fast menschliches Bedauern gesehen hatte, konnte nichts daran ändern.

»Du«, sagte sie. »Ausgerechnet du!« Mit einem verächtlichen Schnauben blickte sie zurück zu Tessela und Fian. »Ihr glaubt, ihr werdet immer die Oberhand haben, aber Menschen sind genauso klug wie ihr. Sobald ich von hier geflohen bin – und das werde ich –, zeige ich allen auf dieser Station, wozu Menschen fähig sind. Gedankenlesen. Dinge erspüren. Niemand wird es mehr leugnen können.« Cora hoffte, sie würden das Zittern in ihrer Stimme nicht heraushören, die ihr tief in ihrem Innersten das Wort Freak zuflüsterte.

Cassian verschränkte ruhig die Hände. »Das wäre höchst unklug.« Er nickte Tessela und Fian zu. »Lasst uns allein.«

Die beiden Kindred gehorchten sofort und bewegten sich im Gleichschritt zur Tür, die sich im nächsten Moment hinter ihnen schloss. Das Sternenlicht der Wand ergoss sich über Cassians Haut und wurde sanft zurückgeworfen, fast wie bei der Gottheit, von der Nok in ihren Kindheitsgeschichten aus Thailand erzählt hatte.

»Fians Uniform, für den Fall, dass es dir entgangen sein sollte«, fuhr Cassian fort, »weist das doppelreihige Knotenmuster eines Ratsdelegierten auf, die höchsten Regierungsabgeordneten auf der Station, der Zusammenschluss aller intelligenten Spezies. Meine Position als Kommandant ist bedeutend, aber die Delegierten stehen in der Rangordnung weit über mir. Jene unter uns, denen das Schicksal der Menschen am Herzen liegt, haben nichts unversucht gelassen, im Laufe vieler Rotationen den Rat zu infiltrieren. Du solltest dankbar sein, dass Fian auf unserer Seite, nicht auf ihrer steht. Würde ein echter Delegierter deine Worte hören, würdest du diese Kammer nie wieder verlassen.«

»Du kannst mir nicht drohen.«

»Ich sage dir nur die Wahrheit.« Sein Blick glitt durch den Raum und blieb auf Coras Fingerabdrücken auf dem schwarzen Fenster haften. »Du bist nicht die Einzige, die in Gefahr schwebt. Würden sie von meiner Mitwisserschaft erfahren, würden sie mich zum niedrigsten Rang degradieren – zu einem Sternenfeger, der allein in einem Raumschiff Weltraumschutt wegräumt. Fünfundneunzig Prozent der Sternenfeger werden bei ihrer ersten Fahrt von einem Asteroiden getroffen.«

Cora ballte die Fäuste fester. Als würde sie es kümmern, was mit ihm geschähe. Sie wollte ihn hassen. Sie hasste ihn. Und dennoch flackerte die Erinnerung in ihr auf an jene Momente, als Hass das Letzte war, was sie für ihn empfunden hatte. Er hatte ihr Sterne geschenkt, als sie nicht einschlafen konnte. Er hatte ihr das Leben gerettet, als Fian sie fast erdrosselt hätte. Er hatte in der künstlichen Meeresbrandung gestanden und die Mauer eingerissen, die seine Gefühle umgab, sie mit echten Augen angesehen, nicht den schwarzen Hüllen, und ihr echte Empfindungen zugeflüstert, keine maskierten.

Und er hatte sie geküsst.

Sie blickte weg. Nichts ist hier echt, ermahnte sie sich. Schon gar nicht Liebe.

Er machte einen Schritt in die Mitte der Zelle. Cora konnte nicht sagen, wohin er mit seinen tiefschwarzen Augen sah, aber sein Kopf neigte sich erst zu ihrer linken geballten Faust, dann zu ihrer rechten.

»Ich will dir helfen.« Seine Stimme war nun weicher. »Unser Ziel ist letztlich dasselbe. Könntest du auch nur einen winzigen Teil meiner Gedanken lesen, dann wüsstest du, dass ich die Wahrheit sage …«

»Falls du dich wieder entschuldigen willst, vergiss es«, unterbrach sie ihn. »Ich habe es satt, mir anhören zu müssen, dass du mich zum Wohle der Menschheit verraten hast. Dass du in meinen Verstand eingedrungen bist, damit ich mich zur nächsten Evolutionsstufe entwickele.« Sie hielt inne. »Dass das, was du für mich empfunden hast, echt war.«

Doch dieses Mal widersprach er ihr nicht, sondern zog nur ein langes Stück Stoff aus einer tiefen Tasche seiner Uniform und hielt es ihr hin.

Unwillkürlich war Coras Neugierde geweckt, und sie nahm es zögerlich entgegen. Der weiche Stoff entrollte sich in ihren Händen. Träger kamen zum Vorschein. Ein Saum.

Ein knöchellanges Kleid.

Es war nicht die einfache Robe, die die männlichen und weiblichen Kindred von niederem Stand trugen. Auch nicht das weiße Sommerkleid, das sie im Käfig getragen hatte. Dieses Kleid war golden und aus Seide, reich verziert, mit einem Hauch von Zigarettenrauch und Parfüm, das an ihm haftete, aber ein Parfüm, das altmodisch roch, nicht wie die Designerdüfte ihrer Mutter. Es war ein echtes Artefakt von der Erde, so anders als all die nachgemachte Kleidung, die nach Ozon stank und nicht das richtige Gewicht hatte.

»Was ist das?«, fragte sie.

Cora hatte erwartet, den Rest ihres Lebens in dieser Zelle zu verbringen. Die Kindred würden sie nicht töten – das verstieß gegen ihren unumstößlichen Moralkodex. Doch es bedeutete nicht, dass sie nicht mit Drogen vollgepumpt werden könnte oder ihr noch Schlimmeres widerführe.

»Das ist eine zweite Chance«, sagte Cassian mit monotoner Stimme. »Für uns beide.«

 

 

2 – Cora

Cora ließ den weichen Stoff durch ihre Hände gleiten, bis er in einem seidenen Durcheinander zu Boden fiel. »Eine zweite Chance?«

Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was das Kleid aus den 1930ern bedeutete. Cora wusste von den Menagerien – privaten Clubs, in denen die verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte nachgestellt wurden –, wo die Kindred ihre emotionalen Masken abnahmen, die sie in der Öffentlichkeit trugen, um ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf zu lassen. Aufmüpfige Menschen wurden dort als Diener oder Kuriositäten zur Unterhaltung der Kindred gehalten. Cassian hatte ihr zur Warnung einmal eine Menagerie gezeigt, um ihr zu verdeutlichen, was mit Menschen passierte, die sich den Regeln der Kindred widersetzten. Er hatte sie den »Tempel« genannt, einen künstlich nachgebauten, griechischen Palast, wo unter Drogen gesetzte Kinder in Togen Kunststücke vollführten.

Warum menschliche Orte, menschliche Zeitalter?, hatte sie ihn gefragt.

Es gibt keine Gesellschaft, keine Lebensräume, die besser geeignet wären als die menschliche Welt, um neue Eindrücke zu erleben, war seine Antwort gewesen.

Sie sah ihn nun aus zusammengekniffenen Augen an. »Mich in eine Menagerie zu stecken, ist wohl kaum eine zweite Chance. Es ist eine weitere Bestrafung.«

»Mir bleibt keine andere Wahl. Der Rat darf nichts von deinem Fluchtversuch erfahren. Fian konnte sie davon überzeugen, dass euer Gehege aufgrund technischer Schwierigkeiten unbenutzbar wurde und die restlichen Mündel auf andere Einrichtungen verteilt werden müssen. Nur Fian, Tessela und Serassi kennen die Wahrheit.« Er hielt inne. »Dafür, dass Serassi schweigt, habe ich eine Abmachung mit ihr getroffen. Fian und Tessela haben glücklicherweise schon immer Verständnis für unsere Sache gezeigt.«

»Unsere Sache?« Cora schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts zu tun mit was auch immer du planst.« Ihr Mund fühlte sich schrecklich trocken an, und sie wollte sich schon zum Wasserspender drehen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

Seine Augen, schwarz wie immer, schienen bis tief in ihr Innerstes zu blicken. »Unser Plan dreht sich allein um dich. Ein Plan, der schon vor fast sechshundert Rotationen geschmiedet wurde – fast zwanzig Menschenjahren. Wir nennen ihn den Fünften der Fünf, denn falls er von Erfolg gekrönt sein sollte, wird die Menschheit zur fünften intelligenten Rasse aufsteigen.« Er wischte mit den Fingern der einen Hand über den Handschuh seiner anderen Hand, woraufhin sich die Oberfläche veränderte und eine Art Tafel erschien, auf die er mit der Fingerspitze Muster zeichnete: Zwei sich kreuzende Linien, einer Doppelhelix gleich, in deren Mitte fünf Punkte aufblitzten. Die Zeichen verblassten schon nach wenigen Sekunden wieder.

»Das ist der geheime Plan. Die ersten vier Punkte stellen die gegenwärtigen intelligenten Spezies dar: Kindred, Mosca, Axion und Gatherer. Der letzte symbolisiert die Menschheit. Ich bin nicht der erste Anführer der Fünften-der-Fünf-Initiative. Ebenso wie du nicht der erste Mensch bist, auf dem unsere Hoffnungen ruhen. Hunderte von Kindred sind seit Generationen an den heimlichen Bemühungen beteiligt, die Intelligenz der Menschheit zu beweisen. Die Ironie an der Sache ist, dass du nicht glauben möchtest, dass wir euch helfen wollen.«

Verwirrt schritt sie in der engen Zelle auf und ab. »Uns helfen? Wenn du uns wirklich helfen willst, warum versuchst du dann nicht herauszufinden, ob die Erde noch existiert?«

»Der Daten-Algorithmus hat eine WDZ von 98,6 vorhergesagt. WDZ steht für Wahrscheinlichkeit der Zerstörung, die bei achtundneunzig Komma sechs Prozent liegt …«

»Ja, ja, ich weiß, aller Voraussicht nach haben die Menschen die Erde zerstört. Aber selbst wenn es eine klitzekleine Chance gibt, dass sie immer noch existiert, würde das einfach alles für uns bedeuten. Unser Zuhause. Unsere Familien. Unsere gesamte Welt.«

Er sah sie aus Augen an, die keinerlei Gefühlsregung offenbarten. »Das ist jetzt eure Welt.« Schweigend hob er das Kleid auf, bevor er fortfuhr: »Nimm es. Du wirst es brauchen.«

Cassian führte sie durch karge Korridore, die den öffentlichen Raum der Welt der Kindred darstellten. Sie kamen an Wänden vorbei, die von Sternenlicht erleuchtet waren, und bogen an mehreren Abzweigungen ab, bis ein Rauschen von Luft und ein lautes Stimmengewirr zu hören war, sich die Decke öffnete und einen dreistöckigen Marktplatz freigab. Coras Schritte wurden zögerlicher. Sie war schon einmal hier gewesen – auf diesem Markt oder einem, der ihm sehr ähnlich sah. Hauptsächlich war er von Kindred bevölkert, die Waren feilboten – menschliche Artefakte und Gegenstände anderer Spezies –, sowie ein paar gebückten moscaischen Händlern mit ihren unheimlichen Atemmasken und roten Overalls. Cora erblickte sogar einen einzelnen Gatherer, eines der schlanken, mönchartigen, fast zwei Meter fünfzig großen Geschöpfe, vor denen Cassian sie gewarnt hatte, ihnen nicht direkt in die Augen zu sehen.

Coras Blick glitt zu einer erhöhten Plattform. Es war eine Art Bühne, vielleicht für eine Auktion, etwa einen Meter über dem Boden. Wenn es ihr gelänge, Cassian abzulenken, könnte sie dort hinaufklettern und einen Beweis ihrer telepathischen Fähigkeiten erbringen. Bücher und Gegenstände von den Marktständen würden auf ihren Befehl hin in der Luft schweben. Die Kindred würden vor Staunen verstummen. Finger würden auf sie zeigen. Und dann müssten sie sich schweren Herzens eingestehen, dass sie und alle Menschen ebenso fähig waren und nie wieder eingesperrt werden durften …

Cassian blieb jäh stehen. »Du vergisst, dass ich deine Gedanken lesen kann«, sagte er. »Eine öffentliche Demonstration deiner telepathischen Fähigkeiten ist nicht der richtige Weg, um dein Ziel zu erreichen.« Mit einem Kopfnicken zeigte er auf die Kindred-Wachen, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. »Solltest du lautstark behaupten, dass sich die Menschen weiterentwickelt haben, würde dir niemand Glauben schenken. Sie würden einen Beweis einfordern, den du nicht verlässlich erbringen kannst. In dir steckt das Potenzial, das stimmt, aber dir fehlt die Übung. Und wenn du deine Behauptung nicht beweisen kannst, werden dich die Wachen als psychisch labil einstufen und wegsperren. Hast du schon vergessen, was mit Anya geschehen ist?«

Anya. Das isländische Mädchen, das Cora im Tempel gesehen hatte, mit Drogen betäubt und im Delirium.

»Auf einer Bühne, ähnlich wie dieser«, fuhr Cassian fort, »führte Anya einmal ein Märchen auf, das ihr privater Besitzer selbst geschrieben hatte. Sie entschied im Geheimen, den Text umzuschreiben. Anstatt künstliche Blumen aus einer Vase zu holen, ließ Anya sie kraft ihrer Gedanken schweben. Ich konnte den Rat nicht aufhalten, als sie Anya abholten.« Er senkte die Stimme. »Sturheit kann ein liebenswerter Charakterzug sein und gleichzeitig dein Untergang. Es gibt einen Weg, unser Ziel zu erreichen. Lass nicht zu, dass deine Wut auf mich deinen Verstand benebelt.«

Seine Worte fachten ihren Zorn nur weiter an. Sie spürte, wie er in ihr wuchs, doch zugleich drängte sich ihr eine Erinnerung auf. Ihr älterer Bruder Charlie, der seufzend die Arme in die Hüften gestemmt hatte, als sie zum zehnten Mal hintereinander von der Eiche gefallen war, die am Rand ihres Grundstücks stand. Er hatte ihr den Staub von der Hose geklopft und gesagt: Du weißt schon, was stur bedeutet? Cora, damals acht, hatte den Kopf geschüttelt, woraufhin er ihr erklärte: Die Definition von stur ist zu wissen, was das Richtige ist, es aber trotzdem nicht zu tun, nur um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Und im Moment solltest du einfach aufhören.

Cora biss Ober- und Unterkiefer fest aufeinander und wandte den Blick von der Plattform ab. »Okay. Aber das heißt nicht, dass ich bei irgendetwas zustimme.«

Cassian erwiderte nichts. Schweigend führte er sie durch den Markt, dann zu Korridoren, die grob in den Stein gehauen waren und durch den Kern des Asteroiden führten. Dieses nasskalte Labyrinth aus Gängen stellte die private Welt der Kindred dar: Menagerien, Bordelle, Spielhallen – Orte, wo sich die Kindred gefahrlos demaskieren konnten und den emotionalen Nervenkitzel fanden, den sie insgeheim suchten. Eine Reihe von Torbögen kam in Sicht, vor denen sich jeweils ein Podium befand, auf dem ein junger Kindred stand – Männer und Frauen.

»Animateure«, erklärte Cassian. »Sie begrüßen die Gäste. Jedes Tor führt zu einer anderen Menagerie. Du wirst bei der Jagd mitmachen.«

Cora hielt das altmodische goldene Kleid hoch. »Und was ist das, eine Art verbotener Nachtclub aus der Prohibitionszeit?«

»Nicht ganz.«

Er schwieg, während sie an den ersten paar Türen vorbeigingen. Ein Animateur trug das Gewand eines Höhlenmenschen mit Leopardenmuster. Eine der Animateurinnen erinnerte an eine Wikingerfrau. Eine andere trug eine Baseballuniform.

»Die Menagerien haben in dieser Rotation erst kürzlich geöffnet, weshalb es relativ ruhig zugeht. Der Besucherstrom hält sich noch in Grenzen. Die Menagerien haben Öffnungszeiten, die sich stark am terrestrischen Tag- und Nachtrhythmus orientieren, um es den Menschen, die dort leben, so angenehm wie möglich zu gestalten.«

Cora schnaubte verächtlich. Angenehm? »Wie viele Tage auf Erden ergeben eine Rotation?«

»Die exakte Umrechnungsformel erfordert komplexe Algorithmen, da sie auf einer Vielzahl astrophysikalischer Faktoren basiert. Menschen sind zu dieser abstrakten Mathematik nicht fähig, aber wahrscheinlich genügt es dir, wenn ich sage, dass eine Rotation eine Zeitspanne zwischen einer und zwei Wochen entspricht.« Er blieb vor der sechsten Tür stehen. Die Animateurin hier trug etwas, das einer Safariuniform gleichkam: eine kakifarbene Bluse mit ausgesparten Schultern, ein dicker Ledergürtel, ein jagdgrüner Rock und ein Tropenhelm auf ihren perfekt frisierten Haaren. Wie alle anderen Animateure trug sie eine Brille, auf die Augen aufgemalt waren, obwohl Cora wusste, dass sich die Kindred demaskiert hatte und ihre Augen fast so hell wie die von Menschen waren.

Die Animateurin lächelte Cassian steif an. »Willkommen zurück, Kommandant.«

Willkommen zurück? Cora hätte niemals angenommen, dass er in einem der Clubs verkehrte.

Zum Gruß neigte er den Kopf. »Issander.«

Die Animateurin öffnete ihnen die Tür. Hitze umschloss Coras Haut wie eine dicke Lotion. Die Luft war schwül und so warm wie das Licht, das lange Schatten durch den Raum der Lodge warf. Das Zwitschern tropischer Vögel war das Erste, was Cora hörte, bevor andere Geräusche ihr Ohr trafen: das Dröhnen eines weit entfernten Geländewagens, das leise Klirren von Gläsern, sanfte Instrumentalmusik.

»Sei auf der Hut!« Cassian nickte zurück zur Tür. »Der Rat hat überall auf der Raumstation Spione postiert, deren Aufgabe es ist, jegliche ungewöhnliche Aktivität zu melden. Ungebührliche Beziehungen zwischen Kindred und Menschen, Menschen, die sich Regeln widersetzen, diese Art von Dingen. Ihre Identität wird nicht verraten. Ich weiß nicht, ob Issander eine Spionin ist, aber sie ist unserer Sache nicht wohlwollend gestimmt.«

»Wird das kein Problem sein?«

»Ich habe einen Plan.«

»Natürlich hast du einen Plan. Du hast für alles einen Plan.« Über ihren Köpfen ragten Holzbalken mehrere Meter in die Höhe und trugen ein Strohdach, von dem Laternen herabhingen. Der Raum wirkte luftig, mit zahllosen Teakholzmöbeln, exotischen Stoffen und außergewöhnlich realistischen Statuen von Giraffen und Zebras. Hinter einer Theke mixten zwei Menschenjungen Cocktails. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bar blähten sich bodenlange Vorhänge vor Flügeltüren, die auf eine große Veranda führten. Dahinter glühte eine Savanne unter einer tief stehenden Sonne. Erstaunt blieb Cora stehen. Einen Moment lang fühlte sich alles unglaublich real an. Als kleines Mädchen hatte sie Sonnenuntergänge wie diesen geliebt. Charlie und sie hatten sich lachend über den Hof gejagt und versucht, die große Eiche am Rand ihres Grundstücks zu erreichen, bevor die letzten Strahlen am Horizont untergingen.

Da gab ihr Cassian einen sanften Schubs und holte sie aus ihren Erinnerungen.

Cora blinzelte kurz und rief sich mahnend ins Gedächtnis, dass alles hier künstlich war, selbst die Sonne. »Eine Safari-Lodge?«

»Ja. Sie ist im Kolonial-Stil erbaut. Gäste kommen hierher, um den Reiz einer Safari zu erleben. Wie mir gesagt wurde, verschafft sie einen köstlichen Rausch an Emotionen.« Er machte eine ausladende Handbewegung zur Bar und dem Loungebereich. »Die Lodge ist der Ort, an dem Gäste auf ihre Expedition warten oder sich nach ihrer Rückkehr entspannen. Deine Aufgabe wird sein, sie in der Zwischenzeit zu unterhalten.« Er zeigte auf eine kleine Bühne neben der Bar, auf der ein Mikrofon stand. »Mit Gesang. Kartenspiel. Tanz. Was auch immer sie wünschen.«

Das Vogelgezwitscher setzte wieder ein, und Cora suchte die Dachsparren mit den Augen ab. »Es ist alles künstlich, nicht wahr?«

Einer der Barkeeper, ein ernst dreinblickender Junge mit blondem Bürstenhaarschnitt, bedachte Cora mit einem langen, undurchdringlichen Blick, der Cassian nicht aufzufallen schien, während er sie auf die Terrasse führte.

»Nicht alles. Die Technologie, die wir hier einsetzen, unterscheidet sich stark von der in deinem früheren Gehege. Dort benötigten wir eine immense Menge an Kohlenstoff, um naturgetreue Nachbildungen zu gestalten, die jederzeit verändert werden können. Wir setzen unsere Kohlenstoffvorräte allerdings maßgeblich für wissenschaftliche Zwecke ein, zum Erforschen und Beobachten niederer Spezies. Einen solchen Aufwand würden wir niemals für unsere eigene Unterhaltung betreiben. Das ist der Grund, warum hier vieles echt ist. Bis zu einem gewissen Grad.« Er schob einen Vorhang beiseite, um Cora die Weite der Savanne zu zeigen, die sich meilenweit zu erstrecken schien, über grasbedeckte Ebenen bis zu einem weit entfernten Wasserloch. »Die Entfernungen sind natürlich eine Illusion. Die gesamte Menagerie ist im Grunde nicht viel größer als ein einzelnes Habitat in deinem früheren Gehege.«

Mit einem Mal fiel Cora auf, dass die Vorhänge vor der Flügeltür am Saum ausgefranst waren. Bei genauerer Betrachtung waren alle Gegenstände der Lodge, die auf den ersten Blick luxuriös ausgesehen hatten, abgenutzt und zerschlissen. Die Hälfte der Stühle war notdürftig repariert worden. Der Fußboden hatte Risse. Als sie einen Blick über die Schulter zum Barkeeper mit dem Bürstenhaarschnitt warf, sah sie, dass er dem einzigen Gast in der Lodge einen Drink einschenkte, einem Kindred, der steifbeinig und mit gebeugtem Kopf auf seinem Barhocker saß. Der Barkeeper wirkte sehr kultiviert, doch das war vielleicht nur seiner steifen Jacke mit der goldenen Bordüre geschuldet, denn als sie ihn sich genauer ansah, waren seine Haare nicht sauber geschnitten, und sein Nacken starrte vor Schmutz. Cora schätzte ihn auf achtzehn oder neunzehn Jahre. Genau wie sie hatte er eine Codierung auf den Handflächen.

Nachdenklich drehte Cora das Kleid in den Händen. Die Farbe des Goldes stimmte mit der Bordüre der Jacke überein, die der Junge trug. Ein Bild blitzte in ihrem Kopf auf, wie sie auf der Bühne stand und einem abgerichteten Papagei ein Lied sang.

Am Ende der Bar hustete eine der Giraffenstatuen, und Cora zuckte erschrocken zusammen.

»Augenblick mal, lebt diese Giraffe etwa?«

»Ja. Die Tiere sind real. Wir sind nicht nur von der Menschheit fasziniert, jegliches Leben auf der Erde übt einen gewissen Reiz auf uns aus. Wie dir zweifellos bereits aufgefallen sein mag, gibt es keine im Weltraum heimischen Tiere.«

Die Giraffe war klein, höchstwahrscheinlich ein Jungtier, und wirkte kränklich. Sie krümmte sich, röchelte erneut, und ein dicker Speichelfaden tropfte aus ihrem Maul auf den Stiefel des Kindred, der ein tiefes, kehliges Knurren ausstieß. Im nächsten Moment schoss der zweite Barkeeper, ein Junge mit wunderschönen dunklen Wimpern, die seine wässrigen Augen umrahmten, hinter der Theke hervor und wischte hastig die Lache auf. Langsam, als spürte der Kindred, dass er beobachtet wurde, drehte er sich zu Cora um.

Er hatte ein wunderschönes Gesicht, wie sie alle, aber irgendwie schien es leicht verzerrt, als wären die Knochen darunter mehrmals gebrochen und schief zusammengesetzt worden. Aufgrund der mürrischen Miene wusste Cora, dass er demaskiert war, auch wenn seine Augen so eingesunken waren, dass sie dennoch tiefschwarz wirkten.

Ein Gong ertönte auf der Veranda, und Cora drehte sich um. Das Aufheulen eines Motors war zu hören.

»Eine Expedition kehrt zurück«, erklärte Cassian. »Sieh nur!«

Autotüren wurden zugeschlagen, ein aufgeregtes Stimmengewirr erscholl. Ein dünner Junge und ein Mädchen erschienen auf der Veranda. Sie trugen robuste, staubige Kleidung, die zu einer Safari passte, und Cora erhaschte einen Blick auf dieselben Tätowierungen auf ihren Handflächen, die auch sie hatte. Der Junge gab dem blonden Barkeeper ein Zeichen, der daraufhin auf die Bühne stieg.

»Ladys und Gentlemen«, sagte der Barkeeper, obwohl es nur einen einzigen Gast gab, »es ist mir eine Freude, Ihnen eine rekordverdächtige Jagd vermelden zu dürfen!«

Obwohl sein Vortrag leicht gestelzt klang, waren seine Worte nicht ganz so monoton wie Malis Sprechweise, was darauf hindeutete, dass er später als sie von der Erde entführt worden war. Bei seiner Ankündigung trat ein weiterer Kindred durch die Verandatüren, gekleidet in ein Safarioutfit, das nicht recht zu seiner metallenen Haut passte. Er trug ein Gewehr über der Schulter.

»Das erste erlegte Wild des Tages!«, sagte der blonde Junge. »Dieser Rotluchs, Ladys und Gentlemen, wiegt gut neunzehn Kilo, und seien Sie versichert, diese Tiere sind schnell, mit einer Höchstgeschwindigkeit von …«

Cora schwirrte der Kopf, während der Junge unverdrossen weiterdozierte. Das Blut des Rotluchses tropfte zwischen ihr und dem Podest auf den Boden, wurde jedoch sogleich von dem dunkelhaarigen Barkeeper aufgewischt. Cora rieb sich die Schläfen, als eine Woge der Übelkeit sie ergriff. »Das ist echtes Blut«, flüsterte sie Cassian zu. »Echte Gewehre. Und du glaubst, hier wäre ich in Sicherheit?«

Cassian führte sie zu einer Reihe von Alkoven, die vom Hauptraum mit Schiebetüren aus Holz abgetrennt waren. »Ich hatte keine andere Wahl«, wisperte er. »Im Harem würdest du nicht lang durchhalten, das schafft kein Mädchen. Im Tempel würden sie dir Drogen verabreichen, aber ich brauche dich bei klarem Verstand. Hier gibt es weniger Vorschriften. Und so haben wir die Möglichkeit, im Geheimen miteinander zu trainieren.« Er zeigte auf den nächsten Alkoven, in dem ein Tisch samt Würfeln und einem Kartenspiel stand. »Kindred kommen hierher, um unter sich dem Glücksspiel zu frönen. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn sie nach der Gesellschaft von Menschen verlangen, die ihnen Getränke servieren oder mit ihnen Karten spielen. Sobald ich Issander versetzt habe, wird es niemanden auch nur im Geringsten interessieren, was wir hier tun, allein.«

Cora spähte in den Alkoven mit seinem trüben Licht und den weichen Kissen. »Allein?«

Trotz des Umstands, dass er maskiert war, schien sein Atem unvermittelt flacher zu werden. Sie fragte sich, ob er an das letzte Mal dachte, als sie allein gewesen waren, mitten in der Brandung, und er seine Lippen auf ihre gepresst hatte.

»Zum Training«, entgegnete er barsch. »Du wirst deine telepathischen Fähigkeiten schulen müssen, wenn du bestehen willst.«

Ein ungutes Gefühl überkam sie. »Was bestehen?«

Er beugte sich zu ihr. »Die Prüfung.«

 

 

3 – Lucky

»Muss ich das wirklich tragen?« Lucky hielt ein ausgeblichenes Kakihemd, passende Shorts und einen verbeulten Tropenhelm hoch, die ihm ein Mädchen gerade in die Hand gedrückt hatte.

Das Mädchen kicherte. Sie musste mindestens vierzehn sein, aber die Art, wie sie an den Spitzen ihres mausgrauen Zopfs kaute, ließ sie viel jünger wirken. Hinter ihr an den Wänden reihten sich auf zwei Ebenen mehrere Zellen aneinander, die an ein Gefängnis erinnerten. Etwa die Hälfte war von wilden Tieren belegt: ein Känguru, eine Hyäne, eine schlafende Löwin in der Ecke.

Lucky rieb sich den Nasenrücken. Tagelang war er allein in einer winzigen Beobachtungskammer eingesperrt gewesen, in der es kaum Platz zum Gehen gab und er sich den Kopf zermartert hatte, was bei ihrem Plan schiefgelaufen und mit den anderen geschehen war. Endlich hatte er nun jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte, und sein Gegenüber kicherte nur.

»Also schön … wie heißt du gleich noch mal?«, fragte er.

»Alle hier nennen mich Pika.« Ihre Fingernägel sahen aus, als hätten sie seit Jahren weder Seife noch Wasser gesehen. »Das ist der Name eines Nagetiers. Aber keine Sorge, ein süßes Nagetier.« Sie grinste und offenbarte mehrere Zahnlücken. »Ich mag Tiere. Das ist auch der Grund, warum sie mich hierhergebracht haben. Zu Hause haben meine Eltern … äh … ich vergesse immer, wie die heißen. Oh! Frettchen. Sie haben Frettchen gezüchtet. Die Kindred haben gesagt, ich könnte meine eigenen züchten, sobald ich zwölf bin.« Ihre Gesichtszüge entglitten ihr einen Moment, als sie sich erinnerte, dass ihr zwölfter Geburtstag längst verstrichen war. Sie schluckte nervös. »Wie dem auch sei, ich mag Tiere.«

Lucky rieb sich fester die Nase. »Wann wurdest du geholt?«

»Vor drei Jahren«, sagte sie, dann runzelte sie die Stirn. »Augenblick mal.« Sie zählte mit vor Dreck starrenden Fingern, die genau wie Luckys mit Linien und Kreisen übersät waren. »Vier. Vielleicht fünf. Vampires of the Hamptons war gerade angelaufen. Gibt es die Serie noch? Ist Tara jemals mit Jackson zusammengekommen?«

Sein Kopf pochte nun schmerzhaft. »Die habe ich nie gesehen.«

Pikas Miene verdüsterte sich.

»Hör mal«, versuchte er es erneut. »Hast du etwas von einem Mädchen namens Cora gehört? Sie hat lange blonde Haare und …«

»Sie sagten, du könntest auch gut mit Tieren umgehen«, unterbrach Pika ihn. Unverfroren packte sie seine Hand und führte ihn an der Wand mit den Käfigen zu einem Korridor mit mehreren Türen, hinter denen es nach ungewaschenen Füßen roch. Es gab ein Untersuchungszimmer, eine Vorratskammer für Tierfutter und einen Waschraum samt Dusche und Abfluss im Boden – die angesichts von Pikas Ausdünstungen anscheinend nicht sonderlich häufig benutzt wurde. Lucky hätte nie geglaubt, dass ihm jemals dieser Gedanke kommen konnte, aber er vermisste fast ihren Käfig. Zumindest hatte es dort nicht gestunken.

Pika ging zum Ende des Korridors und schob vorsichtig eine knallrote Tür auf. »Guck mal«, flüsterte sie. »Aber pass auf, dass sie dich nicht sehen.«

Leise Musik drang durch den Spalt. Jazz? Nun ja, nach dem Anblick der vielen wilden Tiere konnte ihn nichts mehr überraschen. Er warf einen Blick durch die Tür und erspähte eine Safari-Lodge, die direkt aus dem Britischen Empire hätte stammen können, mit einer Teakholzbar und Loungemöbeln und – war das dort drüben etwa eine Giraffe? Noch bevor er all die Eindrücke in sich aufnehmen konnte, schloss Pika bereits wieder leise die Tür.

»Das ist die Lodge«, sagte sie. »Dort arbeiten Dane und Makayla und die anderen, die wichtigen Leute. Du und ich, wir bleiben hier bei den Tieren. Geh niemals durch diese Tür. Verstanden?«

»Äh, ja …«

»Komm schon.« Sie zerrte ihn den Gang zurück in den Zellentrakt. Die Löwin war erwacht und ließ den Schwanz träge hin und her peitschen. »Mit welchen Tieren hast du früher gearbeitet?«

»Ich habe auf einer Ranch gewohnt«, erwiderte er blinzelnd. Die Farm seines Großvaters wirkte so unendlich weit weg. Er konnte sich kaum mehr die Scheune ins Gedächtnis rufen, in der sein Motorrad im ersten Stall auf der rechten Seite gestanden hatte. »Hühner, Pferde, Hunde. Eine streunende Katze.«

»Die haben wir hier nicht«, sagte Pika und stieg eine kurze Metalltreppe zur oberen Reihe der Käfige hoch, wo sie vor den Gittern der Löwin in die Knie ging und ihr etwas Trockenfutter zuwarf, das nach verschimmeltem Brot roch. »Ich habe gehört, dass es irgendwo eine Farm-Menagerie geben soll oder vielleicht war es ein Rodeo. Wie dem auch sei, hier geht es ums Jagen.« Sie schwang sich von der oberen Etage herab und landete mit einem dumpfen Platschen auf den Füßen.

»Du meinst, die Kindred jagen diese Tiere?«

Pika kicherte. »Nun ja, das ist doch Sinn und Zweck des Ganzen, oder? Immerhin finden hier Safaris statt. Jede dieser Menagerien hat sich auf einen Bereich spezialisiert, der den Kindred hilft, ihre Emotionen auszuleben. Kämpfen oder trinken oder Autorennen fahren … Hier ist es das Jagen.«

Lucky umklammerte die Gitter des nächsten Käfigs, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Ich dachte, sie wollten niedere Spezies beschützen. Das verstößt doch gegen ihren Moralkodex.«

»Sie töten die Tiere nicht wirklich«, erklärte Pika, als wäre er etwas schwer von Begriff. »Die Gewehre sehen wie die auf der Erde aus, aber sie sind anders. Die Kindred benutzen die hier anstelle von Kugeln.« Mit einem Seufzen kramte Pika in ihrer schmutzigen Safarikleidung und holte etwas aus einer der vielen Taschen, das an eine benutzte Feuerwerkshülse erinnerte. »Das setzt die Tiere außer Gefecht. Lässt sie bewusstlos werden. An der Einschussstelle bluten sie ein bisschen, aber das ist alles. Sie bringen sie zurück zur Lodge, machen auf der Bühne ein großes Tamtam wegen der erlegten Beute, alle müssen tosend applaudieren, und dann laden sie die Tiere hier hinten für dich und mich ab, damit wir sie für die nächste Jagd wieder aufpäppeln.« Sie blinzelte ihn aus großen Augen an, als würden ihre Worte Sinn ergeben. »Verstehst du? Das ist human. Sie töten sie nicht. Falls sie ihnen wehtun, pflegen wir sie einfach wieder gesund.«

Luckys Hand krallte sich fester um die Gitterstäbe, bis seine Fingerknöchel weiß waren. Seine Gedanken glitten wiederum zur Farm seines Großvaters, und diesmal waren seine Erinnerungen klarer. Er sah seinen Großvater über den Hof humpeln, wo er den Hühnern Küchenabfälle hinwarf und Eier einsammelte. Wenn die Hennen zu alt zum Eierlegen wurden, schlachtete sein Großvater sie und fror das Fleisch für den Winter ein. Jeder einzelne Tod hatte Lucky getroffen, aber aus irgendeinem Grund kam ihm das Schlachten humaner vor als das hier.

Ein Poltern drang aus dem langen Korridor. Leise Jazzmusik wehte den Gang hinab.

Pika grinste. »Komm mit!«, rief sie und hastete den Korridor hinunter, wo die rote Tür aufgehalten wurde. Zwei Menschen, ein Junge und ein Mädchen in Safariuniform, zerrten einen schweren Jutesack hinter sich her. Interessiert beäugten sie Lucky.

»Sie haben wirklich jemanden gefunden, der dir hier hinten hilft?«, zog der Junge Pika auf. Er hatte einen australischen Akzent und eingefallene Wangen, die auf Unterernährung hindeuteten.

»Und er ist hübsch«, sagte das Mädchen in demselben Akzent, während sie Lucky überrascht von oben bis unten musterte und sich an einer Wunde am Hals kratzte. »Hat immer noch alle Finger und Zehen. Erste Wahl, nicht wie wir, Ausschussware. Was, bist du etwa aus einem Gehege geflogen?«

Lucky ließ seine Knöchel knacken. »So etwas in der Art.«

»Ich bin Jenny. Das ist mein Bruder Christopher. Und das hier …« Mit dem Zeh stupste sie den Jutesack an. »Ist Roger.«

Beim Anblick des Bluts, das durch den Sack sickerte, wäre Lucky fast das Herz stehen geblieben.

»Dann mal los! Dane bekommt einen Anfall, wenn wir nicht gleich zurück sind.« Jenny packte ihren Bruder an der Jacke, und die beiden drehten sich zur Lodge um. Lucky reckte den Hals, um einen Blick auf die anderen Menschenkinder zu erhaschen, in der Hoffnung, Cora unter ihnen zu finden, doch die Tür zum öffentlichen Bereich der Menagerie schloss sich im nächsten Moment mit einem dumpfen Knall. Pika streckte den Arm aus und drückte Luckys Bizeps, was ihn erschrocken auffahren ließ. Sie kicherte. »Du bist stark. Du trägst Roger.«

Wie benommen kniete sich Lucky neben den Leinensack, dann begann er, ein Ende hochzuheben, musste bei dem stechenden Geruch von Blut jedoch würgen. Er folgte Pika den Korridor hinab zu einem kleinen Zimmer mit einem verstopften Abfluss im Boden, an dessen Wänden medizinische Instrumente hingen. Pika zeigte auf die Mitte des Raums, wo er den Sack ablegen sollte. Mit geschickten Händen öffnete sie ihn, und Fell kam zum Vorschein, das Lucky sogleich erkannte.

»Ein Rotluchs?«, fragte er erleichtert. »Herrgott, ich dachte, es wäre ein Mensch!«

»Jenny hat ihn Roger getauft.« Pika begann, leise vor sich hin zu murmeln, während sie in einem Wandschrank nach medizinischen Geräten wühlte.

Blut ergoss sich aus einer tiefen Wunde an der linken Schulter des Rotluchses. Seine Augen waren offen und glasig, seine Brust bewegte sich nicht. Lucky hätte darauf gewettet, dass das Tier tot war.

»Jetzt schau zu!« Pika zog ein Gerät heraus, das wie ein Plastikfeuerzeug mit einem langen Griff aussah. Dann zog sie ein zerlumptes Stück Stoff aus einem Mülleimer und wischte dem Rotluchs das Blut von der Schulter, bevor sie das Feuerzeug über die Wunde hielt und einen Knopf drückte. Das Gerät begann zu surren. Lucky kam es vor, als wäre Pika diese Kindredtechnologie beigebracht worden, wie man einem Kleinkind zeigte, eine Mikrowelle zu bedienen: Präg dir ein, welche Knöpfe du drücken musst, ohne dass du auch nur das geringste Verständnis hast, wie die Maschine tatsächlich funktioniert.

Das Gerät brummte lauter und verstummte dann mit einem Mal. Pika zog im nächsten Moment eine der benutzten Feuerwerkshülsen aus der Schulter des Luchses. Als sie erneut mit den Fingern über die Wunde strich, war diese rot, hatte sich aber bereits geschlossen.

»Jetzt kommt der wichtigste Teil«, sagte sie und streichelte dem Rotluchs über den Stummelschwanz. »Du musst unbedingt darauf achten, dass sie in ihrem Käfig sind, bevor du sie aufweckst. Andernfalls steckst du in echten Schwierigkeiten. Zumindest bei den großen Tieren. Roger ist allerdings zahm.«

Pika schnappte sich die Vorderbeine des Luchses und zerrte ihn zurück in den Hauptraum zu seinem Käfig, der gerade einmal hoch genug war, dass das Tier darin aufrecht stehen konnte, mit einem Wassertrog und Trockenfutter in der Ecke. Sie verschloss die Tür, dann griff sie durch die Gitterstäbe und hielt dem Luchs eine kleine Kompresse an die Nase.

Grinsend tippte sie sich an die eigene. »Das hier verströmt einen Geruch, der sie aufweckt. Es dauert nur ein paar Minuten. Es gibt auch Kapseln, die das Gegenteil bewirken, wenn man eines der Tiere beruhigen muss.«

Pika murmelte wieder leise vor sich hin, während sie den Rest des Bluts vom Boden aufwischte. Das Resultat ließ zu wünschen übrig, überall waren noch rote Flecken zu sehen. Lucky spähte in den Mülleimer, in den Pika den dreckigen Lappen geworfen hatte, und entdeckte Hunderte weiterer Lumpen, allesamt mit Blut getränkt.

Entgeistert starrte Lucky zum Rotluchs. Die Verletzung mochte zwar innerlich geheilt sein, aber die Stelle sah immer noch wund und schmerzhaft aus.

Der Rotluchs öffnete benommen ein Auge, langsam und blinzelnd. Pein lag in seinem getrübten Blick, und mit einem Mal war Lucky zurück auf der Farm seines Großvaters. Genau denselben Ausdruck hatte er bei den Pferden seines Großvaters gesehen, die krank oder schwer verletzt gewesen waren. Aber das war etwas anderes gewesen. Krankheiten waren unausweichlich, manchmal lahmte eines der Tiere, aber hier … das war purer Sadismus.

Er umfasste mit seinen Fingern die Gitterstäbe des Käfigs, der ihm am nächsten war, und drückte so fest zu, dass seine Gelenke schmerzten. Die Kindred hatten ihm nach seiner Entführung die zerschmetterte Hand geheilt, und nun stand er kurz davor, sie aus Zorn mutwillig erneut zu zertrümmern.

Da erregte etwas am Boden der leeren Nachbarzelle seine Aufmerksamkeit. Ein Buch. Ruf der Wildnis. Und aus einer Box in der Ecke ragten ein Stück Decke und eines dieser altmodischen Fangbecherspiele heraus. Sein Kopf wirbelte zu Pika zurück. »Sie halten auch Menschen in diesen Käfigen?«

Das Mädchen kaute auf der Spitze ihres Zopfs herum. »Natürlich. Wir schlafen alle hier.«

Ihre Worte drangen nur schleppend in sein Bewusstsein. Sie alle – Menschen und Tiere, als gäbe es keinen Unterschied. Und vielleicht gab es für die Kindred auch keinen.

Die Augen des Rotluchses waren nun beide geöffnet, und er atmete gleichmäßig, machte sich jedoch nicht die Mühe aufzustehen. Warum sollte er auch? Wahrscheinlich hatte er diese Prozedur schon Dutzende Male erlebt. Ein endloser Kreislauf, der immer in Schmerz endete.

War dies nun sein Leben? Im Dreck schlafen? Die Schweinerei der Kindred wegputzen? Luckys Atem kam rasch und unstet, als er seine Fingernägel musterte und sich fragte, wie lang es dauern würde, bis sie so eingerissen und ungepflegt wie die der restlichen Jugendlichen hier aussahen.

Der Rotluchs blinzelte.

»Du sagtest, die Kindred jagen mit Gewehren?«, fragte Lucky.

Pikas Gemurmel verstummte. Sie kaute fester auf ihrem Zopf herum, während ihr Blick ängstlich zur roten Tür huschte, die zur Lodge führte. »Komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Im Gegensatz zu den Kindred können wir die Gewehre nicht bedienen. Wenn du versuchst, den Abzug zu drücken, passiert rein gar nichts. Glaub mir, wir haben es alle schon versucht.« Sie kicherte wieder, diesmal vor Nervosität. »Die Kindred sind nicht dumm.«

Lucky beobachtete, wie der Rotluchs langsam die Augen schloss. Erschüttert sank er neben dem Tier zu Boden und wollte das Gesicht vor Pika verbergen, während sein Atem immer schneller ging und er vergebens versuchte, seine Panik hinunterzuschlucken. Es gab keinen Weg zurück nach Hause – das hatte ihn der misslungene Fluchtversuch gelehrt. Weder für ihn. Noch für Pika. Noch für eines dieser Tiere.

Lucky streichelte sanft das räudige Fell des Rotfuchses und wünschte, er könnte mehr für ihn tun. Er wünschte, er könnte irgendetwas tun. Denn wenn die Kindred Tiere zum Vergnügen jagten, was würden sie dann mit Menschen anstellen?

Die Tür zur Lodge öffnete sich, und zwei Kindred trugen versiegelte Kisten herein. Pika sprang auf und zerrte an Luckys Jacke. »Frische Vorräte!«, rief sie, das Gespräch über die Gewehre hatte sie offenbar längst vergessen. »O Mann! Manchmal gibt es Salzblöcke für die Tiere, aber wir dürfen auch mal schlecken. Die sind so gut. Wie Kartoffelchips. Nur ohne Kartoffeln. Im Grunde also einfach Salz, denke ich.« Ihre Worte wurden immer leiser, während sie aufgeregt in sich hineinmurmelte und Lucky zum Fütterungsraum zog.

Die Kindred stellten die Kisten ab. »Seid ihr zwei die Einzigen hier hinten?«, fragte einer.

»Ja!«, erwiderte Pika und riss bereits die erste Kiste auf.

»Ihr verlasst den Raum erst, wenn sämtliche Vorräte weggeräumt sind.« Die Kindred tauschten einen langen Blick aus, bevor sie die Tür fest hinter sich schlossen.

 

 

4 – Cora

Die Prüfung.

Beim Klang des Wortes, das Cassian eben ausgesprochen hatte, hob Cora eine Augenbraue. »Warum hört sich das verdächtig nach etwas an, das mich umbringen wird?«

Cassian bedeutete ihr, ihm in den Alkoven zu folgen, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Durch die Schiebetür konnte sie immer noch die Musik hören und die Brise auf ihrer Haut spüren, aber sie waren allein.

»Die Prüfung«, erklärte er, »ist eine Abfolge an Tests, um Spezies in vier Kategorien von Intelligenz zu bewerten. Sie wird vom Daten-Algorithmus erstellt, der als unparteiischer Dritter fungiert. Da es ein Computerprogramm ist, kann er nicht von äußeren Faktoren beeinflusst werden.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

Der Ausdruck auf Cassians Gesicht wurde sanfter. »Alles. Es ermöglicht der Menschheit, ihr Können unter Beweis zu stellen und ihre Freiheit zurückzugewinnen.« Er zögerte kurz. »Allerdings sind die Rätsel in der Prüfung sehr anspruchsvoll, wenn nicht gar gefährlich. Wären die Tests leicht, würden sie keinerlei Sinn machen. Ursprünglich wurde die Prüfung vor anderthalb Millionen Rotationen ins Leben gerufen, als es erst zwei intelligente Spezies gab: die Gatherer und die Axion. Die Gatherer hatten mein Volk schon lange zuvor unter ihre Fittiche genommen und uns gelehrt, unseren Geist und Körper im Laufe vieler Generationen weiterzuentwickeln, bis wir die ersten paranormalen Grundfertigkeiten erlernt hatten. Sie wollten uns in die Gemeinschaft der intelligenten Spezies aufnehmen, doch die Axion zweifelten an unseren Fähigkeiten. Sie sind ein uraltes Volk, verschlossen und misstrauisch. Und so wurde die Prüfung erfunden, um herauszufinden, ob wir ihrer würdig sind. Und schließlich wurden die Kindred als die dritte intelligente Spezies eingestuft.«

»Dann gehe ich wohl recht in der Annahme, dass die Mosca die vierte waren. Sie haben die Prüfung ebenfalls bestanden?«

Bei der Erwähnung der Mosca schauderte Cassian leicht, als hätte er etwas Verdorbenes gerochen. »Letzten Endes ja. Trotz all ihrer Fehler verfügen die Mosca über einen sechsten Sinn. Die Tests in Bezug auf Moral hingegen fielen ihnen sehr schwer. Sie benötigten neun Anläufe, bis einer von ihnen seinen angeborenen Hang zum Stehlen lang genug zügeln konnte. Andere Spezies waren nicht so erfolgreich. Die Conmarines. Die Scoates. Und ein halbes Dutzend weitere, in Sektoren, die sehr weit entfernt liegen. Selbst ein Schimpanse hat es einmal versucht – die Axion hatten Experimente an ihm durchgeführt, um seine Intelligenz zu erhöhen. Doch sie alle fielen durch den Telepathie-Test.«

Er holte ein Gerät aus der Tasche und drehte es an einem Ende. »Es funktioniert so.« Lichtlinien schossen heraus, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf der Oberfläche des Tischs ineinander verwoben und verschlungene Muster formten. »Die Prüfung findet in einem Kontroll-Modul statt, einem riesigen Raumschiff, genau wie unsere Märkte und wissenschaftlichen Bereiche und privaten Gemächer eigenständige, miteinander verzahnte Raumschiffe sind. Es reist von Raumstation zu Raumstation, von Planet zu Planet, um sicherzustellen, dass jede niedere Spezies der bekannten Galaxien dieselbe Chance hat, die Prüfung abzulegen. Das ist der Grund, warum es nur jede sechshundertste Rotation an unserer Raumstation andockt – es gibt viele, sehr weit entfernte Galaxien, die es anfliegen muss. Die Prüfung besteht aus vier Kategorien mit jeweils drei Tests, insgesamt also zwölf.« Die Lichtlinien verflochten sich ineinander und formten Gebilde, die sich schließlich zu Räumen und Zimmern materialisierten. Cora erkannte, dass sie einen dreidimensionalen Bauplan vor sich hatte. Sie streckte den Arm aus, um das Bild zu berühren, und erwartete, nur die Wärme einer holografischen Projektion zu spüren, doch ihre Finger stießen auf echte Oberflächen. Überrascht zog sie die Hand weg.

»Das ist eine Nachbildung des Prüfungs-Moduls. Siehst du die zwölf Räume? Der Kandidat muss jedes Zimmer der Reihe nach betreten. Sobald ein Rätsel gelöst ist, wird der Raum den Zugang zum nächsten freigeben. Es versteht sich von selbst, dass der Schwierigkeitsgrad kontinuierlich zunimmt.«

Cora beugte sich vor, fasziniert von dem Muster aus pulsierendem Licht und von dem, was es bedeutete – eine Chance, ein Ziel. Während sie die Konstruktion wie gebannt beäugte, tauchte eine kleine, holografische Gestalt, nicht größer als ihr Daumennagel, im ersten Zimmer auf, das mit einem Mal in einem weichen Rotton leuchtete. Die Figur glitt ins nächste Zimmer, das Grün flimmerte.

»Die Farben symbolisieren die unterschiedlichen Arten von Rätseln in jedem Raum«, fuhr Cassian fort. »Rot steht für paranormale Rätsel. Grün für intellektuelle. Gelb für körperliche Tests. Und Blau für moralische.« Sie beobachteten, wie die Figur durch alle zwölf Räume schritt, die jeweils in einer der vier Farben aufleuchteten. »Was du hier siehst, ist die schematische Zeichnung der letzten Prüfung, die vor sechshundert Rotationen auf unserer Raumstation stattfand – vor etwa zwanzig Jahren. Vier Menschen und zwei Scoates nahmen daran teil, alle ohne Erfolg. Nach jedem Versuch verändern sich die Rätsel innerhalb der Prüfung. Im Voraus kennen wir weder die Reihenfolge der Tests noch die spezifischen Fähigkeiten, die dem Prüfling abverlangt werden.«

Auf der anderen Seite der Schiebetür erscholl die Ankündigung einer weiteren Safari. Cora warf einen Blick durch den Spalt in Richtung Lounge, wo sie gerade noch die Worte des blonden Barkeepers vernehmen konnte. »Das hört sich ziemlich gefährlich an«, seufzte sie.

»Das ist der Grund, weshalb ich eine Vielzahl an Rätseln in euer früheres Gehege eingebaut habe. Damals konntest du es nicht wissen, aber ich wollte jeden von euch vorbereiten. Die Tests, mit denen euer Intellekt bestimmt wird, könnten in Form eines Anagramms gestellt werden wie im Süßwarenladen oder wie beim Zahlenrätsel im Spielwarengeschäft. Bei den sportlichen Tests musst du vielleicht klettern, wie im Wald. Oder wie beim Rodeln Gleichgewichtsübungen bestehen.« Er hielt inne. »Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied. In deinem früheren Gehege war alles sicher. Wenn ihr beim Baumwipfelspiel heruntergefallen seid, hat euch ein Bett aus weichen Kiefernnadeln aufgefangen. Wenn ihr euch im Wüstenlabyrinth verirrt habt, gab es ausreichend Wasser und Schatten. Doch das waren lediglich Trainingsprogramme. Bei der richtigen Prüfung gibt es kein Sicherheitsnetz. Wenn du fällst, fällst du.«

Coras Magen verkrampfte sich. »Und du glaubst wirklich, diese Rätsel haben mich ausreichend vorbereitet?«

»Das wollen wir hoffen.« Angesichts der Besorgnis, die sich in Coras Miene abzeichnete, fügte er rasch hinzu: »Ich hätte weder dich noch einen der anderen möglichen Kandidaten ausgewählt, wenn nicht außergewöhnliche Fähigkeiten in euch steckten. Menschen zeigen bereits großes Potenzial, was ihre physische, intellektuelle und moralische Entwicklung anbelangt. Es sind vor allem ihre übersinnlichen Fähigkeiten, die weiter geschult werden müssen. Uns bleiben nur etwas über zwei Rotationen, bevor das Prüfungs-Modul die Raumstation erreicht. Der Vorgang des Andockens dauert etwa ein Drittel einer Rotation, ungefähr drei Tage. Alles in allem bleiben uns zur Vorbereitung ungefähr dreißig Tage.« Als Cassian erneut auf das Gerät drückte, fiel der Bauplan in sich zusammen und erlosch.

Blinzelnd starrte Cora auf den leeren Bildschirm. Cassians Worte jagten ihr ein Kribbeln den Rücken hinab. In ihr keimte Hoffnung auf, und sie war wild entschlossen, diese Chance mit beiden Händen zu packen – doch dann sah sie dasselbe Aufflackern von Aufregung in Cassians Gesicht, und ihre Begeisterung erstarb.

»Vergiss es«, sagte sie. »Ich muss das alles nicht wissen, weil ich bei der Prüfung nicht antreten werde. Für dich ist das nur ein Spiel, bei dem du uns wie Schachfiguren hin und her schiebst.«

»Du verstehst nicht, welche Bedeutung ihr habt. Bis zur nächsten Prüfung wird so viel Zeit verstrichen sein, dass die Entwicklung der Menschheit längst kein aktuelles Thema mehr ist. Doch anstatt sie zu unterstützen, wird der Rat sie in Ketten legen. Es muss uns gelingen, bevor sie euer Potenzial erkennen und solange sie noch glauben, eure Teilnahme stelle keinerlei Risiko dar. Es muss jetzt sein. Es muss bei dieser Prüfung geschehen. Du brauchst einen Bürgen, der bin natürlich ich. Nur so wird all das hier überhaupt möglich.«

Cora verschränkte die Arme fest vor der Brust und versuchte möglichst gleichgültig zu wirken, obwohl die Prüfung immer noch einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübte. »Dann such dir ein anderes Mädchen, das daran teilnimmt.«

»Es gab andere Kandidaten – Anya, um nur eine zu nennen –, aber bei keinem von ihnen hat es geklappt. Selbst wenn ein anderer Mensch im Moment das Potenzial hätte, bliebe ihm nicht genügend Zeit, um seine Fähigkeiten ausreichend weiterzuentwickeln. Du bist unsere einzige Chance.« Er zögerte. »Ich möchte, dass du es bist, Cora.«

Beim Klang ihres Namens, nicht in seiner monotonen Stimme, sondern so gefühlvoll wie damals am Strand in der Brandung, begann ihre Haut gefährlich zu kribbeln.

Sie wandte sich abrupt ab. »Ich brauche keine Tests oder Bürokraten oder ein Punktesystem, das mir beweist, dass Menschen intelligent sind.« Sie schleuderte die Schiebetür vor dem Alkoven auf. In der Lounge neigten sich die Feierlichkeiten der Jagd ihrem Ende zu. Ein Mädchen mit dunkelbrauner Haut stand auf der Bühne und steppte zur Musik, einen Verband ums Knie und wie Cora gekleidet, nur dass ihr Kleid kürzer war. Jedes Mal, wenn sie das Knie anwinkeln musste, zuckte sie vor Schmerz zusammen. Cora wollte schon zur Lodge eilen, da schob Cassian entschlossen die Tür wieder zu.

Er beugte sich zu ihr, nicht mehr so steif wie vorhin, doch der geduldige Blick in seinen Augen war verschwunden. »Ich kann dich nicht zwingen, an der Prüfung teilzunehmen, aber lass dir die Sache gut durch den Kopf gehen, bevor du eine Entscheidung triffst.« Dann entspannten sich seine Gesichtszüge, und er nahm ihre Hand, verschränkte seine Finger mit ihren und drehte ihre Handfläche nach oben. »Das ist kein Spiel«, sagte er nachdrücklich. »Das war es noch nie.«

Die Tätowierungen auf ihrem Handgelenk schienen plötzlich noch nachdrücklicher darauf hinzuweisen, dass sie eine Gefangene war und es ewig sein würde.

Cora zog hastig die Hand zurück, auch wenn es ihr nicht gelang, das Kribbeln vollkommen auszublenden. »Da versuche ich mein Glück doch lieber bei den wilden Tieren.«

Noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass es nicht ganz die Wahrheit war.

Die Definition von stur, hallte Charlies Stimme in ihrem Kopf wider, ist zu wissen, was das Richtige ist, es aber trotzdem nicht zu tun, nur um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Wutentbrannt riss sie das Kleid an sich.

Sei still, Charlie, dachte sie im Stillen, heilfroh, dass eine Erinnerung nicht antworten konnte.

 

 

5 – Cora

Cora ging in einen anderen Alkoven, um sich das goldene Kleid anzuziehen, und als sie herauskam, hatte die Tänzerin auf der Bühne ihre Nummer beendet und ließ sich auf einen Hocker am Ende der Bar plumpsen. Gierig trank sie Wasser aus einem trüben Glas und schüttelte den Kopf über etwas, das der Kindred auf dem Barhocker neben ihr gesagt hatte. Cora erkannte in ihm denjenigen mit den unheimlichen, eingesunkenen Augen wieder. Der Gast holte einen goldenen Chip aus der Tasche, der im Laternenlicht aufblitzte. Die Tänzerin ließ den Kopf noch weiter sinken, während sie ihr verletztes Knie massierte, doch dann steckte sie den Chip laut seufzend ein. Der Kindred tätschelte ihr den Kopf, als wäre sie ein Hund.