Ti-Puss - Ella Maillart - E-Book

Ti-Puss E-Book

Ella Maillart

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Beschreibung

Die Genfer Abenteurerin Ella Maillart verbrachte in den 1940er Jahren eine längere Zeit auf dem indischen Subkontinent, um Menschen, deren Kultur und Spiritualität zu entdecken - und auch sich selbst. Vom Kap Comorin, dem südlichsten Zipfel, durch den grünen Urwald bis in die Schneestürme des tibetischen Hochlands führte sie ihre Wanderschaft. Stets an ihrer Seite: Ti-Puss, ein halbwildes, ungestümes und sehr selbständiges Kätzchen, das in ihrer Pflege heranwächst und der Autorin zur Freundin und Gefährtin wird. Diese Wahlverwandtschaft zwischen Mensch und Tier lässt Ella Maillart Einsichten über das Wesen der Liebe, über Besitzansprüche und Verlustängste gewinnen, aber auch tiefe Erfüllung und Glück erfahren. Reisebericht und Tagebuch einer besonderen Beziehung: Ella Maillarts persönlichstes Buch.

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Seitenzahl: 279

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www.lenos.ch

Ella Maillart

Ti-Puss

Drei Jahre in Indien mit meiner Katze

Aus dem Englischenvon Ursula von Wiese

Lenos Verlag

Die Autorin

Ella Maillart (1903–1997) wuchs in Genf auf und war in vielerlei Hinsicht eine Wegbereiterin. Die hervorragende Sportlerin vertrat 1924 die Schweiz an den Olympischen Spielen in Paris im Einhandsegeln. Von 1930 bis ins hohe Alter unternahm sie zahlreiche Reisen, u. a. in die Sowjetunion, nach Afghanistan, China, Tibet, Indien und Nepal.

Sie schrieb, fotografierte und hielt Vorträge über ihre Expeditionen. Mit ihren Werken Verbotene Reise und Turkestan Solo erlangte sie internationale Anerkennung als Asienkennerin, Reiseschriftstellerin und Fotografin.

Titel der englischen Originalausgabe:

’Ti-Puss

Copyright © Anneliese Hollmann, 1951

Published by arrangement with Agence littéraire Astier-Pécher

All rights reserved

Die deutsche Erstausgabe erschien 1954 im Albert Müller Verlag, Rüschlikon/Zürich.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die Übersetzung durchgesehen und vervollständigt.

Der Verlag erklärt sich nach den üblichen Regularien zur Abgeltung der Rechte an der deutschen Übersetzung bereit, falls diese nachgewiesen werden können.

E-Book-Ausgabe 2023

Copyright © 2023 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978 3 03925 709 6

Inhalt

1 Tiruvannamalai

2 Erster Spaziergang

3 Erste Reise

4 Kodaikanal

5 »Blackburn«

6 Courtallam

7 Raipur – der erste Verlust

8 Benares

9 Zwischenspiel in Vellore

10 Die Pfauenhütte

11 Trivandrum

12 Kodai Road Junction – der zweite Verlust

13 »Illum«

14 Beisammen

15 Kap Comorin

16 Der Grosse Teich

17 »Homewood«

18 »Skebawn«

19 Gen Norden

20 Kalimpong

21 Tibet – der dritte Verlust

Für Lewis Thompson,der mich ermutigte, diese Geschichte aufzuschreiben, weil Ti-Puss es verstand, die Fülle des gegenwärtigen Augenblicks zu leben.

In memoriam

»Man kennt nur die Dinge, die man zähmt«, sagte der Fuchs. »Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!«

*

»Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig. Die Menschen haben diese Weisheit vergessen«, sagte der Fuchs. »Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich …«

Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz(Deutsch von Grete und Josef Leitgeb)

1

Tiruvannamalai

Sie hiess mit vollem Namen Mrs. Minou Wildhusband, geborene Ti-Puss Push-i-kin.

Elegante Damen fanden sie zu mager und hässlich.

Intelligente Menschen bemerkten nachdenklich, ihre feurigen Augen seien bezaubernd.

Tierliebhaber riefen sogleich: »Was für ein wundervolles Geschöpf!«

Eine Freundin von mir ging so weit, zu einem gemeinsamen Bekannten zu sagen: »Ellas Katze? Das ist gar keine Katze, sie ist ja erzogen wie ein Hund!«

Wenn die Höflichkeit mich zwang, über sie zu sprechen, murmelte ich nur bescheiden, der Charakter sei ausschlaggebend. Nie versuchte ich jemand zu überzeugen, dass Ti-Puss das Urbild des Katzenwesens sei – Leidenschaft, Geschmeidigkeit und Schönheit in allen Stimmungen.

Sie badete im Ganges und reiste durch ganz Indien. Sie kam zum Maharischi, dem grossen Seher und Weisen von Tiruvannamalai: Er streichelte ihren Kopf, als sie neugierig das Lager beschnupperte, auf dem er den ganzen Tag nackt sass. Sie war auch beim Meister von Trivandrum zu Besuch, der mit ihr Ball spielte. Welch seltenes Schicksal für eine Katze!

Aber ich will mit dem Anfang beginnen: In einem Schrank säugte eine getigerte Katzenmutter drei Junge. Zwei waren teilweise weiss; das dritte Kätzchen, das lebhafteste, hatte Pantherabzeichen in einem dünnen grauen Fell. Es erinnerte mich an unsere Katze daheim bei Genf, ein reizendes Tier, das uns immer am Bahnhof abholte, wenn wir nach Hause kamen, und an stürmischen Nachmittagen auf dem glatten Kies am Seeufer kauerte, um flammenschnell die kleinen Sardinen zu erhaschen, die leichtsinnig aus dem klaren Wasser aufschossen. Wenn wir sie im Ruderboot mitnahmen und das Ufer allzuweit entschwand, wurde ihr ein wenig unbehaglich zumute, und sie sprang über Bord; dann paddelte das kleine Geschöpf mit allen vieren über die Bucht, Schnurrhaare, Nase und Ohren aus dem Wasser streckend, den Schwanz aufgerichtet wie ein Periskop, so setzte das mutige Tier seinen Willen durch.

Aber in der trockenen Hitze Südindiens, wo ich ein Kätzchen auswählte, war ich weit fort von der Kühle dieses blauen Sees.

Sujata brachte uns zusammen, Sujata, die stille Französin, die mit einem Inder verheiratet war.

Ich fühlte mich einsam und hätte deshalb gern ein Tier um mich gehabt. Ich war nach Tiruvannamalai gekommen, um in der Nähe eines Lehrers zu sein, der das Wesen der Hinduweisheit verkörperte; ein Kurs für Anfänger wäre am besten für mich gewesen, statt dessen schlug ich mich mit dem Vedanta, dem »Ende des Vedas«, herum und lauschte sogleich den höchsten metaphysischen Lehren. Ausserdem hatte ich gerade unter viel Plackerei ein weiteres Buch über meine Reisen in Innerasien beendet; und mein Gemüt verlangte als Belohnung ein lebendiges Spielzeug, das ich liebkosen könnte, wenn ich die Wirklichkeit aus meinen Sorgen und vorgefassten Ansichten verbannen wollte. Ich wollte wieder lächeln!

Mein Wunsch muss tatsächlich stark gewesen sein: Binnen einer Woche wurde er erfüllt! So erkläre ich es mir, dass Sujata ihre Meditation unterbrach und mich leise fragte: »Möchtest du ein Kätzchen haben?«

Schnell antwortete ich: »Ja.«

Unter vielen Hindus sassen wir mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fliesenboden und blickten stumm auf den Weisen, die Frauen an der Wand beim Eingang, die Männer in der Mitte des langen Raumes. Ich sollte wieder eine Katze haben! Ich musste für das kleine Ding eine Schachtel beschaffen, auch eine Sandpfanne. O weh! Mein Versuch, über ein bestimmtes Thema nachzusinnen, war gescheitert. Ein kleines Tier trat in mein Leben ein!

Damals ahnte ich nicht, welch starkes Gefühl uns verbinden sollte, was für Sorgen wir einander bereiten würden und was für tiefe Gedanken dieses Tier in mir auslösen sollte.

Narayan, Sujatas dunkelhäutiger Koch, klopfte an meine Türe, die aus zwei Brettern mit einem Vorhängeschloss bestand und zu der man in dem kleinen indischen Hause über zwölf Stufen gelangte. »Die Mutterkatze hat keine Milch mehr bei diesem heissen Wetter, deshalb bringe ich Ihnen das Kätzchen, obwohl es noch kaum laufen kann.«

»Gut, halte es fest, bis ich mit Sand zurückkomme!«

Als das dunkelgefleckte grauseidene Würstchen behutsam auf den Fliesenboden gesetzt wurde, versuchte es umherzulaufen. Es vermochte sein Gleichgewicht nicht zu halten, da die zitternden Beine es nicht trugen; nicht etwa aus Angst, sondern weil es noch so klein war, seine Reise zu mir war ja kurz und leicht gewesen! Narayan hatte nur die breite Strasse an der westlichen Mauer des wuchtigen Tempels benutzt, der sich am Fusse des Arunachala erhebt, des pyramidenförmigen heiligen Berges, der aus Felsgestein und zerzaustem Gebüsch besteht. (Sujata wohnte in der Strasse der Brahmanen an der Nordseite des Tempels, ich selbst in der bescheideneren Strasse der Tanzmädchen an der Südseite desselben grossen Tempels.)

Das Kätzchen zitterte: Dies waren wohl seine ersten Entdeckungsschritte auf indischem Boden. Es war ein hässliches Geschöpf: Die Ohren, über denen ein Büschel dunkler Haare stand, waren viel zu gross, das Fell zu armselig, und die schlaffe rosa Hauttasche, die das Bäuchlein vorstellte, schleifte beinahe über die roten Fliesen.

Narayan war gegangen. Ich eilte hinunter und erklärte meiner Wirtin, die nur Tamil sprach, mit Gesten, warum ein Mann mein Zimmer betreten hatte. Ich wollte ihr Anstandsgefühl nicht verletzen, zumal meine westliche Lebensweise in ihren Augen ohnehin reichlich anstössig war.

Wieder in meinem Zimmer, stellte ich eine Untertasse voll Milch vor das Kätzchen, das alsogleich den Fuss hineinsetzte; dann steckte es die Nase in die weisse Flüssigkeit und nieste; es erneuerte den Angriff, jedesmal die Entfernung besser berechnend. Das Schwänzchen war steil aufgerichtet, während das kleine Tier in ungeschickten Schlucken trank.

Geistesabwesend beobachtete ich diesen Vorgang, der bei allen Kätzchen gleich ist. Ob das Tier wohl meinen Mangel an Begeisterung spürte? Es unternahm schnell drei Dinge, wodurch es sich mein Herz eroberte.

Es schnüffelte an der sauberen Sandpfanne, betrat die Arena, hockte sich nieder und verrichtete bedächtig sein Geschäftchen. Darüber freute ich mich besonders, denn ich hatte keine Dienerin, die mir im Falle schlechten Betragens den Boden gesäubert hätte; ich war meine eigene Putzfrau, da mir mein kastenloser Stand diese Geldersparnis erlaubte. Ich besass einen Handbesen aus grobem Heu und sammelte den zusammengekehrten Staub zwischen zwei Postkarten – die Schweizer Ansichtskarten sind steif und eignen sich für diesen Zweck am besten.

Das zweite Unternehmen: Sein Lager bestand aus einer Schachtel, die mit einem alten Seidenhemd gepolstert war; das Kätzchen kletterte über den nachgebenden Rand, fiel hinein, setzte sich auf, blickte sich verständnisvoll um – und sprang plötzlich heraus! Entzückt über die Entdeckung, dass es die Kletterei über die schwankende Wand vermeiden konnte, wiederholte es die Heldentat, bezwang das Hindernis nochmals durch einen Sprung und kehrte so in sein Nest zurück.

Doch wieder kam es heraus, diesmal, um mich, diese stille Erscheinung, zu ergründen. Ich sass in dem Liegestuhl, den Sujata mir gegeben hatte, als sie erfuhr, dass ich mir ein solches Möbelstück aus dem weitentfernten Madras kommen lassen wollte. Sonst verfügte ich nur über zwei Seifenkisten, die als Tische dienten. Nach fruchtlosen Versuchen, an meinem Kattunhosenbein emporzuklettern, entschied das Kätzchen, dass das Hinterbein des Liegestuhls mehr Erfolg verhiess. Ein paarmal misslang das dritte Unternehmen, dann gelangte es hoch genug, um sich am Stoff des Sitzes anzukrallen, und es landete in meinem Schoss. Ein tiefes Schnurren war sein Triumphgesang.

Rani, die dreijährige Enkelin meiner stillen Wirtin, hatte ein kränkliches Kätzchen besessen, das durch allzuviel liebevolles Drücken zugrunde gegangen war. Dieses Kätzchen hatte die Gewohnheit gehabt, sich zu mir zu flüchten, und drei lange Besuche waren notwendig gewesen, um es den gleichen Weg zu mir finden zu lassen, obwohl es mehr als doppelt so alt gewesen war wie meine neue Gefährtin. Auf französisch sprach ich nun zum erstenmal zärtlich zu meinem Kätzchen: »Brave petit pussy!« Das war der Ursprung seines Namens »Ti-Puss«. Und von da an war Ti-Puss eine Sie für mich.

Ihre breiten Ohren bewegten sich unablässig, wie auf Drehscheiben montiert; wenn die Spitzen sich zu meinem Gesicht richteten, schien es, als könnte sie nichts sehen, ohne die Ohren zu benutzen. Sie wollte meine redenden Lippen berühren, streckte ihr allzu kurzes Pfötchen aus und erwiderte mein Lächeln, den in ihren Augen lauernden Übermut halb verschleiernd. Welch rascher Fortschritt, dachte ich erfreut; wir lächeln uns schon an … Aber nein, das Kätzchen schlief ein!

Ich verbrachte meine Tage im Aschram des Weisen (etwa anderthalb Kilometer ausserhalb der Stadt) und ass in seiner Nähe in einem grossen Speisesaal zu Mittag. Dort badete ich auch täglich. Wenn ich abends heimkehrte, freute ich mich immer über den Willkomm der ungeduldigen Ti-Puss, die hinter der Türe miaute und dann schnurrte, sowie ich sie berührte.

Wie spielten wir zusammen, welch hohe Sprünge vollführte sie und was für kühne Purzelbäume erfand sie, wenn sie einer Schnur nachjagte, die über den Boden zuckte oder an der Rückenlehne des Stuhles baumelte! Welche Versteckspiele, bei denen wir einander erschreckten und das Kätzchen den kurzen flaumigen Schwanz gerade aufgerichtet wie einen Weihnachtsbaum hielt! Was für heldenhafte Sprünge nach einem tanzenden Pingpongball! Aber ich konnte die Hände nicht lange von ihr lassen. Es tat gut, den geschmeidigen Rücken zu fühlen, die weisse Kehle zu küssen, wo das warme Schnurren vibrierte, und den sauberen, milchgenährten Körper dieses kleinen Lebewesens zu riechen.

Sie beklagte sich, sobald wir getrennt waren. Wenn sie auf meiner Schulter sass, schnupperte sie oft an meinem kurzen Haar, suchte etwas und war enttäuscht, nachdem sie einen Versuch gemacht hatte, hinter meinem Ohr zu saugen. Während ich mir auf der Terrasse, wo ich auf die Strasse spucken konnte, die Zähne putzte, kauerte sie auf meinem Fuss und knabberte an den Zehen, die die Sandale frei liess.

Beim Schlafengehen spielte sich Tag für Tag folgendes ab: Ich brachte meine Sachen auf die kleine Terrasse hinaus, wo es kühler war als in dem unter dem Dach liegenden Zimmer, das die Hitze des Tages aufspeicherte. Dann bettete ich mich auf meinen Schlafsack, nachdem ich eine Decke in erreichbare Nähe gelegt hatte, um mich vor der Zugluft zu schützen, die in der falschen Dämmerung entsteht, vor der Zugluft der bleifarbenen Stunde, in der Scharen von Krähen angstvoll krächzend vor dem kommenden Tage fliehen. Diese weiche Decke bestand aus brauner Vikunjawolle, einer weichen Wolle, die Ti-Puss in wildes Entzücken versetzte. Sie bepfotete sie und knetete sie mit rhythmischer Tatkraft, wobei sie beseligt die Augen schloss und sabberte. Diese Decke war das Geschenk eines mitleidigen Zuhörers, der mich bei einem vor langer Zeit in London gehaltenen Vortrag frieren gesehen hatte; jeden Tag wollte ich sie retten, aber jeden Tag fehlte mir der Mut, meine mutterlose Puss einer solchen Freude zu berauben.

Schliesslich fiel sie erschöpft neben mir nieder, ihr Schnurren erstarb allmählich, während ich dem unablässigen Rauschen des nahen Pipalbaumes lauschte, der mich ein wenig an unsere grosse Pappel daheim erinnerte. Aber das ferne Schlagen der Tamtams gemahnte daran, dass dies ein tropisches Land war, wo Beschwörungen die Götter am Leben erhalten.

Die Bettler wimmerten schon ihr »Lalà batschàri!« auf ihrem Abendgang, als ich eines Tages später als gewöhnlich zurückkehrte. Ich nahm den Krug mit der von meinem Kätzchen ungeduldig erwarteten Milch von der Treppe und öffnete das Türschloss so schnell wie möglich. Ich hörte nicht das übliche »Mi-mi!«, das mir sonst immer sagte, wie sehnsüchtig ich begehrt wurde. Das kleine Geschöpf war nicht in seiner Schachtel, auch nicht hinter den Büchern … Ich zündete meine Petroleumlampe an, suchte überall und schaute sogar in meinem Reisesack nach.

Die dunkle Terrasse war ebenfalls leer – das Kätzchen konnte nämlich unter den Rolläden durchschlüpfen. »Ti-Puss? Meine Ti-Puss, wo bist du? Komm zu mir! Bist du hinuntergefallen?« Ich erhielt keine Antwort.

Hatte ein umherstreifender Affe sie entführt, vielleicht der Frechdachs, der mit meiner Seife entronnen war? Hatte meine Wirtin auf der Terrasse Hirse getrocknet, und war Ti-Puss bei dieser Gelegenheit entwischt?

Die gute Frau wusste von nichts. Die kleine Rani, die neben ihrer Mutter auf einem zusammengelegten Sari schlief, stand sehr besorgt auf. Sie trug einen langen, weiten Rock, aber ihr Oberkörper war nackt. Ihre Haut, die nie schweissfeucht war, schimmerte purpurn in ihren braunen Schattierungen. Sie kam mit mir, um Ti-Puss zu suchen.

Von Natur pessimistisch, war ich auf das Schlimmste gefasst. Wir gingen sofort zu der kleinen Gasse hinter unserem Hause, in der Hoffnung, dass ein Loch der geduldigen grauen Pelzkugel Schutz gewähren würde. Nichts war zu sehen ausser der viereckigen Spalte in der Mauer, durch die der Strassenkehrer die Latrinen reinigte. Ich nahm Rani bei der Hand, als wir an einem grunzenden Schwein vorbeimussten; wir kehrten zu der sehr breiten westseitigen Strasse am Fuss meiner Terrasse zurück – unser Haus hatte drei Seiten, da es das letzte in der Strasse war. Und dort, o Freude, versteckte sich das Kätzchen, fast unsichtbar, an der Türe unseres kleinen Stalles.

Ti-Puss wurde erst ruhig, als sie sich auf der weichen Vikunjadecke befand. Sie war vermutlich von der Regenrinne gefallen, als sie den Kopf geschüttelt hatte: Sogar auf dem Fussboden verlor sie immer das Gleichgewicht, wenn sie diese Bewegung machte. Nach dem Tauchen schüttelt sich ein Schwimmer auf die gleiche Weise, um das Wasser aus den Ohren zu bekommen. Vielleicht stimmte etwas mit ihren Ohren nicht?

Ich freute mich, das kleine Herz wieder neben mir klopfen zu fühlen; aber während der Suche war mir in meiner Angst, ein streunender Hund hätte ihr den Garaus gemacht, der Gedanke durch den Kopf gezuckt: »Früher oder später muss ich Puss verlieren. Die Lehre sagt: ›Man wird dort getroffen, wo man am stärksten gebunden ist. Beschränkte oder blinde Liebe verhindert unser Wachsen ins Grenzenlose.‹«

Dieses ungewöhnliche Kätzchen erweckte von neuem meine Zärtlichkeit, und während ich mit ihm spielte oder es tröstete, vernahm ich belustigt die vollen, warmen Töne, die meine Stimme ganz veränderten. Aus früheren Erfahrungen wusste ich, was das bedeutete: Bald würde ich wegen der kleinen Charmeurin alle Vernunft verlieren und ihr damit lästig werden. Konnte ich denn nicht einmal klüger sein?

Voraussichtlich würden wir jahrelang zusammenleben. War es nicht vielleicht möglich, diesmal ausgeglichener zu sein, wenn ich mich bemühte, sie zu verstehen, sie zu achten und sie auf die richtige Weise zu lieben, indem ich sie sie selbst bleiben liess? Wäre das zuviel verlangt nur um eines Tieres willen? Ganz und gar nicht, der Versuch lohnte sich, wenn wir als Ergebnis allmählich eine vollkommene Beziehung erreichten! Ach, eine traurige Zeit sollte kommen, in der ich diesen weisen Vorsatz vergass.

2

Erster Spaziergang

Fünf Wochen war sie alt. Ihr Körper hatte sich gestreckt, sie konnte sich schon in neuen Stellungen zusammenrollen und sich die Schenkel lecken. Doch es gab noch etwas Lustigeres, das uralte Spiel des Schwanzjagens! Jedes andere Spielzeug hatte seinen Reiz verloren, seit sie die verlockende flaumige Quaste entdeckt hatte, die so schwer mit den zarten, elastischen Ballen ihrer Pfötchen zu beherrschen war. Was den Spieltrieb betrifft, so ist die Katze ja daraus gemacht!

Täglich veränderte sich das Kätzchen. Das Gesicht, nun nicht mehr viereckig, wurde dreieckig, bestimmt von den zwei Spitzen der Ohren und der zugespitzten Schnauze; die runden Augen mit dem äusserst erstaunten Ausdruck eines Clowns wurden gross und oval und verengten sich in dunklen Winkeln; auch die Krallen wuchsen zu scharfen Dornen, die sich manchmal schwer abschütteln liessen.

Ihr erster Sprung durch die Luft war falsch berechnet: Sie landete ungeschickt vor der Schachtel und schaute mich an, ohne den Kopf zu heben, die halbe Pupille wurde vom oberen Lid verborgen. Es war ein trauriger Blick gekränkter Unschuld … ich lachte laut! Sie kehrte mir den Rücken und sass tiefverletzt da … Ich musste sie auf den Arm nehmen und sie liebkosen, bis sie, mir verzeihend, schnurrte und sich den hellen Bauch streicheln liess, der sich bezaubernd anfühlte – so rosa, zart, babyhaft, warm von Leben und so dünn bedeckt mit glänzendem Flaum, dass er eher wie ein Blütenblatt als ein Tierfell war.

Als ich sie eines Morgens verlassen wollte, klang ihr Miauen so rührend, dass ich beschloss, sie auf dem Arm mitzunehmen. An diesem Tage war der Weg, den ich so gut kannte, ganz anders; ich betrachtete ihn durch Ti-Puss’ staunende Augen, und mit ihrer Hilfe sollte ich allmählich die Wohltat eines anderen Weltbildes erleben. Da war das rätselhafte schwarze Gewölbe des steten, jedoch sich bewegenden Schirmes, der mich vor der sengenden Sonne schützte … das Rumpeln der Ochsenkarren, die zu Markte fuhren … das Geschrei der Strassenjungen, die sich täglich einen Sport daraus machten, mir »Ellakaka! Ellakaka!« zuzurufen. Der Schirm verbarg meine Verlegenheit, während ich mich fragte, woher sie wohl meinen Namen wussten. Die Furcht war stärker als die Neugier, und Ti-Puss verkroch sich in meine Bluse. Bisweilen wies ein Vorübergehender – wie beneidete ich sie um ihren nackten Oberkörper, dessen Schweiss vom sanften Wind weggefächelt wurde – die Kinder zur Ruhe, aber erfolglos. (Später erfuhr ich, dass ihr Singsang »Vellakaran« hiess, was auf Tamil »weisser Mensch« bedeutet.)

Hinter der letzten strohgedeckten Hütte beäugte Ti-Puss die gerippeartigen Hunde, die in der öden Gegend nach Abfällen suchten. Ein Geräusch erschreckte sie, und sie konnte nicht sehen, dass es meine Sandalen waren, die gegen die nackten Fersen schlugen, wenn ich sie vom Staub der Strasse hob.

Wieder mutig geworden, schnüffelte das Kätzchen zu der Zisterne hinüber, wo Ochsen gewaschen wurden. Aber es wurde von neuem unruhig, als wir in die Landstrasse einbogen, die raunende Tamarinden säumten. Schwitzende Kulis trugen Lasten auf dem Kopf, ihr Gang war ein federnder Trab; Bäuerinnen, die in Rot gehüllt waren, plapperten wie tolle Papageien, während sie im Schatten einer alten Mandapa ausruhten, einer dreiseitigen, aus festem Stein erbauten Halle, worin die Sänfte der Tempelgottheit abgestellt werden kann, wenn Prozessionen rings um den Berg ziehen.

Dann vernahmen wir rhythmisches Platschen: Auf den dunklen Stufen eines steinernen Beckens klopften Männer die nassen weissen Tücher aus, in denen sie gebadet hatten. Einer von ihnen richtete sich auf, und die braune Haut auf den beiden parallelen Muskeln seines dünnen Rückens schimmerte samten, indes er sein langes Haar zu einem festen Nackenknoten schlang.

Wie gewöhnlich begleiteten mich einige Bettler mit ihrem gedehnten Singsang; aber sie blieben stehen, als sie mich ganz mit etwas beschäftigt sahen, das einem grauen Eichhörnchen glich. Ich sprach mit dem Tier: »Meine Ti-Puss! Hab keine Angst, du bist ja bei mir! Sie können dich nicht fortnehmen!«

Die ganze Zeit waren wir am Fusse des Berges gegangen, der rechts von uns lag; und als wir uns nun dem Aschram näherten, überholte uns ein Staubwirbel, der so heftig vorbeifuhr, dass ich den Kopf des Kätzchens mit der Hand schirmte. Ich rannte zu der Hütte des Gärtners Kuppuswami und rettete mich hinein. Sein englischer Herr hatte die beiden Schwestern meiner Ti-Puss übernommen, und ich bat Kuppu, mein Kätzchen in den Stunden zu hüten, die ich bei dem Weisen auf der andern Strassenseite verbringen würde. Als ich Ti-Puss verliess, war sie ins Spiel mit einer Erdnuss versunken.

Diesem ersten Ausflug folgten viele andere als Übung für unsere zukünftige Reise. Ich hatte beschlossen, sie in den zwei Monaten, die ich in den Palani-Bergen verleben wollte, nicht bei Fremden zu lassen. In der vorigen heissen Jahreszeit hatte ich mich elend durch Tiruvannamalai geschleppt, nicht vorhandene Kühlung gesucht und mich wie ein Hund auf geflieste Durchgänge gelegt: Ich hatte keine Lust, das noch einmal zu erleben.

Ihre Angst, eine bekannte Umgebung zu verlassen, verminderte sich von Mal zu Mal; doch die Heimkehr bedeutete für sie immer eine freudige Überraschung. Wie drückte sie die Wonne aus, wieder zu Hause zu sein! Zuallererst beschnüffelte sie, allem Hunger zum Trotz, ihr Spielzeug, erfand einen neuen Sprung nach der baumelnden Schnur und kam zu mir auf den Schoss, um hier ihre Vorderpfoten, halb Samt, halb Nadeln, zu dehnen; dann stimmte sie ihre Lieblingsmelodie an, klopfte die Akkorde und blieb dabei vollkommen im Takt. Aber die einzige »Musik« war mein Schmerzensgeschrei! Schnell setzte ich ihr Milchreis vor.

Am meisten liebte ich unsere Kletterei zum Swami in der Felsenhöhle, will sagen, zu einem Manne, der der Welt entsagt hatte, um sich der Religion zu widmen. Ich trug Ti-Puss dann nur über die Strasse, worauf sie ihren üblichen Freudengalopp machte, unterbrochen von Zitteranfällen oder irrsinnigen Versuchen, mit angelegten Ohren, aufgerissenen Augen und steilem Eichhörnchenschwanz den nächsten Baum zu erklimmen. Nach der zwanzigminütigen Wanderung bot der Swami, ein lächelnder Eremit, dem keuchenden Kätzchen immer Wasser an, das es zuerst verschmähte, doch dann sehr anmutig mit der Zunge aufschleckte.

In der kleinen Höhle beschnüffelte mein neugieriges Kätzchen sein Lager, eine natürliche Pritsche aus blankem Granit. Damit ist nicht gemeint, dass der Swami ein Asket war: Im heissen Klima schlafen die meisten Leute auf Steinboden, sie legen nur eine Strohmatte oder ein zusammengefaltetes Tuch darauf.

Sie kam hernach zu dem knorrigen, zwischen zwei Felsen emporwachsenden Baum, in dessen Schatten wir mit übergeschlagenen Beinen sassen. Wir blickten nach dem fernen östlichen Horizont hinter dem rechteckigen Tempel zu unseren Füssen, von dem wir drei grosse ineinandergeschachtelte Mauereinfriedungen sahen; und in der Mitte von jeder der zwölf Mauern erhob sich ein stolzer Gopuram, eine hohe Pyramide, die mit Skulpturen aus der Hindu-Götterwelt bedeckt war. Beim Bahnhof hinter den letzten Häusern erstreckte sich öde und müde die indische Ebene, ausgedehnte graue und braune Flekken deuteten taube Erde und verbranntes Buschwerk an. Da und dort glitzerte ein seichter Tümpel inmitten einer grünen Aureole von Feldern, die das schlammige Wasser am Leben erhielt. Ganz fern am Rande des Horizonts hoben sich scharf einige Berge ab, kegelförmig wie derjenige, auf dem wir sassen. Aber unser Berg, eine prächtige Masse brauner Felsen, der höchste und heiligste der drawidischen Ebene, stand allein, angebetet als Schiwa, die unveränderliche Achse der Welt. Von diesem Berg hiess es, er sei in einem früheren Zeitalter eine feurige Lichtpyramide gewesen, das Licht jenes unsterblichen Feuers, das entweder verzehrt oder durch Erleuchtung belebt. Lag es daran, dass dieser Ort von jeher als ein Bindeglied zwischen der geheimnisvollen Macht und uns verehrt worden war, dass er in seiner schlichten Majestät so eindrücklich wirkte? Hier war Land seit dem Beginn des Landes, als die Gipfel des Himalaja noch flach unter einem vorgeschichtlichen Ozean lagen.

Wir schwiegen, sowohl aus freier Wahl als auch gezwungenermassen, da wir keine gemeinsame Sprache hatten. Der grosse Mann sah intelligent aus, doch seine frohe Heiterkeit war sogar noch anziehender. Es ist eine Freude, bei einem solchen Menschen zu sein und zu wissen, dass kein Wort gesprochen werden wird.

Er erhob sich, stieg ein paar Stufen hinunter, öffnete ein eisernes Gittertor und betrat den zweiten Felsen, ohne mich anzusehen. Ich folgte ihm, ebenfalls barfuss. Diese kühle, dunkle Höhle war ein Schrein, dessen zwei Seiten zu Altären ausgehauen waren. Ich bemerkte unbestimmte Götter- oder Heiligengestalten, fettig von zahllosen Opfergaben geklärter Butter.

Auf dem bergseitigen Altar stand allein ein einfacher kegelförmiger Stein, ein Sinnbild Schiwas, des höchsten Prinzips. Drei parallele Streifen aus Messing schimmerten auf dem Stein als Symbol der Trimurti, der Einheit des dreiseitigen kosmischen Prinzips.

So versuchte ich meine Umgebung zu begreifen und erinnerte mich des Gehörten. Der Swami zelebrierte nun mit harmonischen Bewegungen, er schwenkte das Licht vor dem Altar, während er den Namen der höchsten Macht, Maheshvara, wiederholte. Die drei glänzenden Messingstreifen, die überwältigende Gegenwart des Berges hinter dem Altar und meine eigene Vorstellung von der Wirklichkeit verschmolzen im Leuchten des Verstehens, indes eine grosse Freude meine Demut überflutete. Nun wusste ich, dass Gegenstände weniger wirklich sein können als das, was sie bedeuten. Ach, das Denken drängte sich wieder vor und versuchte zu erklären, was ausserhalb seines Fassungsvermögens liegt: Ich war wiederum in meiner alten Haut. Obwohl nur kurz, es war ein bereicherndes und beruhigendes Gefühl, ein grosses Erlebnis, für das ich keine Worte habe und worauf ich nicht vorbereitet war: Ich hatte die Stadt ja lediglich verlassen, um mit meiner Katze spazierenzugehen. Die Katze! Wo war sie?

Ich stürzte hinaus. »Titi Pussy! Komm zu mir!«

Da lag sie, neben der Wasserschale. Das Licht war endlich milder, da der Sonnenuntergang nahte; eine Staub- und Rauchdecke dämpfte die Umrisse der Stadt.

Von Absatz zu Absatz stieg ich den Pfad hinab, glücklich, weil mir ein kleines Tier eifrig folgte und mit erhobenem Schwanz stumm abwärts sprang. Ti-Puss war ja noch so klein: Wenn sie mich aus den Augen verlor, blieb sie stehen und rief um Hilfe. Ich antwortete ihr geduldig mit harmlosen Worten; und wenn sie mich nicht sah, liess ich mein Halstuch wie ein Stierkämpfer seine rote Muleta flattern, bis sie darauf zueilte.

Aber einmal wurde der Abstand zwischen uns allzugross. Als ich zu ihr zurückkehrte, tauchte ein grosses Schaf auf, das den Weg zwischen uns kreuzen wollte. Um Gottes willen, das Kätzchen wird um sein Leben rennen!

Durchaus nicht. Von Neugier getrieben, näherte sich das Kätzchen vorsichtig, Hals und Nase dem Schaf entgegenstreckend – und das Schaf war sehr verwirrt und fragte sich langsam, ob es einem solchen Tier wohl schon einmal begegnet war!

Am Hang dieses grossen Berges war ein derartiger Unterschied zwischen der festen Masse schmutziger Wolle und meiner schmucken grauen Ti-Puss, dass ich gelacht hätte, wenn mich ihre Unerschrockenheit nicht so sehr gerührt hätte! Noch war kein Misstrauen in sie gesät; sie liebte ihre Umgebung ganz einfach oder nicht, sie ahnte noch nicht, dass es Gefahr gibt oder dass Menschen böse sein können. Ob sie Rauch, Wasser oder Feuer sah, sie näherte sich in der Überzeugung, ein neues Spielzeug vor sich zu haben. Kinder sind von demselben Vertrauen erfüllt, das ihnen aller Herzen gewinnt. Ach, könnte ein Wesen mit solch schlichter Anmut weiterleben, könnte ihm der Rückschlag seiner ersten Enttäuschung und das dadurch entstehende Gift des Argwohns erspart bleiben! Wie wäre es möglich, bei Katze oder Kind diese machtvolle Unschuld zu verlängern, diesen spontanen Zauber, diese Schönheit, die uns mit Staunen erfüllt? Wie kann man so tief sinken, in vertrauensvollen jungen Geschöpfen die erste Angst zu erregen? Die Welt gehört ihnen, da sie sich noch nicht abgesondert oder ihr entfremdet gefühlt haben … Ihrer ist das Himmelreich!

Die Hitze nahm zu. Man fühlte sich halb erstickt, weil man es unwillkürlich vermied, diese Luft, die in der Sonne die doppelte Temperatur des eigenen Körpers hatte, tief einzuatmen. Der Staub war eine Plage, zumal bei Sonnenuntergang, wenn eine bleifarbene Sonne in einem Wirbel toten Laubes verschwand.

Ti-Puss lag keuchend am Boden und verschmähte ihren Reis. Ihr Fell wurde so dünn, dass die Halssehnen wie bei einem gerupften Vogel sichtbar waren. Der Flaum an ihrem Bäuchlein war fort, und die weiche Haut war ganz nackt. Doch sie schnurrte immer noch, sooft ich sie berührte, hingegen spielte sie nicht mehr.

Ich ging zum Fleischmarkt, der von derben Muslimen betrieben wurde. Kräftig und untersetzt sahen sie aus in diesem Lande der schlanken und geschmeidigen Hindus … Dort häufte sich dunkelrotes Fleisch auf den Gestellen, umsummt von Fliegenschwärmen. Wie kann man in den Tropen Fleisch essen? Mit etwas Leber, die in ein grünes, gummiartiges Blatt gewickelt war, eilte ich fort und hoffte, von keinem Aschrambewohner derartig befleckt gesehen worden zu sein! Das Kätzchen stürzte sich bereitwillig auf sein erstes Fleisch, frass aber nur wenig davon.

Ich sagte mir, dass ich um der Katze willen in die Berge hinaufmüsste, und ich lag Visvanatha, meinem Freund unter den im Aschram lebenden Sadhus – ein Sadhu ist ein Wahrheitssucher, welcher der Welt entsagt hat –, in den Ohren, mir eine Wohnung in Kodaikanal zu verschaffen. Ich konnte mir nur einen Aufenthalt in dem indischen Dorf leisten, ausserdem erst nach der ärgsten Hitze, wenn die Leute ins Tiefland zurückkehrten. Dann kostete ein Haus mit Wasserleitung im Monat fünfzehn Rupien statt fünfundzwanzig. Ein Brahmane, ein Freund von Visvanatha, der dort lebte, wollte uns benachrichtigen, wenn ein Haus frei wurde.

Abends träumte ich von Kodai, während ich mir auf dem Petroleumkocher, der mich auf meiner letzten Reise von Genf nach Kabul begleitet hatte, eine Suppe kochte.

»Ti-Puss, ist es zu glauben? Visvanatha sagt, dass es dort oben einen richtigen Tannenwald gibt … und dass die würzige Luft beim Meditieren hilft, uns Geduld und Kraft für unsere tiefe Suche verleiht! Ti-Puss, du wirst Regen sehen, du kennst ihn ja noch nicht: Du kennst bloss das Wasser aus meinem irdenen braunen Krug. Aber im Juni erreicht der Westmonsun aus Afrika die Kodai Hills. Dort soll es auch Rahm geben und Himbeeren, sagt er. Armes, schwaches Kätzchen! Ich verspreche dir einen Holzklotz statt einer Seifenkiste, an dem du deine Krallen schärfen kannst!«

Die Affen wurden bösartig und stritten sich in den grossen Pipalbäumen auf der andern Strassenseite. Sie kletterten auf meine Terrasse, wenn sie ihre Runde über die Dächer der Stadt antraten. Mit vorwurfsvollen Augen, die unter runden, haarlosen Lidern sassen, schauten sie immer wütend in mein Zimmer, stahlen einmal eine Banane, ein andermal eine Tube Zahnpasta (die ich dann halb ausgequetscht auf dem Balkon meines Nachbarn wiederfand). Die Ankunft dieser Akrobaten liess Ti-Puss bei mir Schutz suchen.

Unter meiner Terrasse gab es eine städtische Wasserleitung; aber je unergiebiger sie mit jedem Tage wurde, um so mehr verlängerte sich die Schlange der wartenden Frauen. Ich wartete ungern, bis ich an die Reihe kam. Die jungen Mädchen, die in einen langen, weiten Rock gehüllt waren, trugen ihren grossen Messingbehälter auf der vorgeschobenen Hüfte, die viel zu zart erschien für ein solches Gewicht. Ich setzte mir den runden Krug immer auf die Schulter, das hatte ich mir vor langer Zeit an Bächen im Mittelmeerraum angewöhnt.

Abends kauerte ich mich, erschöpft von der Hitze, hinter die schützende Brüstung der Terrasse und spülte mich reichlich ab, während Ti-Puss verwundert die Bäche rinnenden Wassers betrachtete. Ich lächelte über das Köpfchen, das sich so sehr bemühte, zu begreifen, was Wasser ist – im einen Augenblick eine regungslose Masse, im nächsten eine bewegte, sprühende Flüssigkeit …

3

Erste Reise

Wir stiegen in ein Frauenabteil dritter Klasse, das durch ein kleines, grob auf die Scheibe gemaltes Bild einer Inderin gekennzeichnet war.

Seit zwei Jahren reiste ich billig, nicht nur aus Sparsamkeit, sondern weil ich auch die rings um mich wimmelnden Menschen beobachten wollte, zumal sich mir sonst wenig Gelegenheit bot, mit dem Volk in Berührung zu kommen. Obwohl wir nicht miteinander sprechen konnten, waren die Mitreisenden freundlich. In den höheren Wagenklassen wurde ich von weissen Frauen, die mich nicht einordnen konnten, argwöhnisch gemustert – von den Gattinnen der Missionare, der angloindischen Bahnbeamten, der Baumwollfabrikdirektoren, der Staatsbediensteten.

Schlank und leicht sass Ti-Puss in einem verknoteten Tuch, ohne sich zu rühren, da ihr Bäuchlein durch eine Abendmahlzeit aus rohem Fleisch voll und prall wie ein Gummiball war. Es herrschte schon Dunkelheit. Ich streckte mich auf der harten Bank aus und blieb regungslos liegen, damit die Katze sich sicher fühlte und bald einschlief, was sie auch prompt tat, nachdem sie sich an meiner Hüfte zusammengekuschelt und ein Weilchen höflich geschnurrt hatte.

Zwei dicke Frauen in weissem Baumwollsari verstauten mir gegenüber ihre Bündel, Körbe und verschraubbaren Wasserkrüge aus massivem Messing. Bald zogen sie die blossen Füsse unter ihre Schenkel und begannen in schnellstem Tempo zu reden. Die Tamilsprache setzt sich aus harten Konsonanten, gehobenen Endvokalen und stark gerollten R zusammen; sie hört sich an wie »kataraki, raketir, tirtakri …«.

Eine der Frauen war bestimmt Witwe. Unter den Falten ihres Saris war das graue Haar geschoren. Beide schienen es mir übelzunehmen, dass ich Hosen trug; ich fand Hosen anständiger als ein europäisches Kleid, das mit seiner Kürze Anstoss erregte in einem Lande, wo die Frauen bis zu den Fesseln eingehüllt waren. Ich hatte es nämlich aufgegeben, einen Sari zu tragen, nicht nur weil mir darin zu heiss war, sondern es dünkte mich in der heissen Jahreszeit auch viel zu mühsam und beschwerlich, ohne fliessendes Wasser jeden Tag acht Meter Stoff zu waschen und zu spülen.

Wir fuhren langsam durch die dunkle, unbewohnte Landschaft, bis wir nach Viluppuram an der Hauptstrecke Madras–Madura gelangten.