Tod im Nebelwald - Lutz G. Wetzel - E-Book

Tod im Nebelwald E-Book

Lutz G. Wetzel

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Beschreibung

In einer Kleinstadt werden Menschen ermordet und auch Jäger sterben. Alles ist in heller Aufregung und die Gerüchteküche brodelt. Überraschend bekennt sich der verschrobene Bürgermeister zu den Taten und flieht. Doch während der Suche in den nebligen Novemberwäldern kommen Zweifel auf. Ist der Geflüchtete tatsächlich der Täter und Hass gegen die Jagd und Jäger sein Motiv? Und welche Rolle spielt der schwerreiche und skrupellose Schrotthändler, der mit dem Bürgermeister noch eine Rechnung offen hat? Das bewährte Duo Kommissar Rottek und Hauptwachtmeister Kesselring, bekannt aus "Tod im Waldwinkel", ermittelt ...

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LUTZ G. WETZEL

TOD IM NEBELWALD

Krieg im Revier − das Dorf schläft nie

KOSMOS

IMPRESSUM

Umschlaggestaltung von init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung von Farbfotografien von Shutterstock/rodimov und Shutterstock/Stone36.

Distanzierungserklärung

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© 2021, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart,

Pfizerstraße 5-7, 70184 Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50439-0

Redaktion: Miriam Lanzinger

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ich würde mich schwertun, diese Geschichte zu erzählen, wenn es nicht noch Menschen gäbe, die sie miterlebt hätten. Viele Jahre lang war sie verborgen in der Erinnerung einer kleinen Stadt. Und sie wäre für immer versunken in der Tiefe der Zeit, wenn nicht drei Personen an einem Winterabend darüber gesprochen hätten, welche rätselhaften Wege uns das Schicksal führt, wie das Unheil sich seine Handlanger sucht und wie unsere Seele sich verirren kann zwischen Wahrheit und Wirklichkeit.

Kapitel 1

Es fehlte ein Huhn. Als Hauptwachtmeister Kesselring am Morgen vor dem Gang zum Dienst noch eben seine aufgeregt gackernden Kleinen Niederrheiner fütterte, fiel es ihm sofort auf: Es waren nur sechs Hühner, die um ihn herum gierig pickten. Mit der Gründlichkeit eines deutschen Beamten suchte er im Stall, im Strohboden und zwischen den Holunderbüschen. Nichts. Das siebte Huhn war verschwunden. Kesselring zitterte vor Aufregung. Da fiel sein forschender Blick auf ein paar hellbraune, sperberartige Federn zwischen den soeben ausgestreuten Weizenkörnern, Kopfsalatblättern und Kartoffelresten. Die Spur der Federn führte zu einem spannhohen Loch unterm Zaun. Es musste in der Nacht dort entstanden sein. Ein Fuchs? Ein Marder? Oder war gar ein zweibeiniger Hühnerdieb in den Stall eingedrungen und hatte heimtückisch diese Spuren gelegt, um ihn zu täuschen? Ihn, Hauptwachtmeister Kesselring, pflichtbewusster Vertreter der Staatsgewalt?

Der vom Landleben und seinen besonderen Genüssen beleibt gewordene Polizeibeamte stürmte mit hochrotem Kopf ins Haus, schob schnaufend seine entgeistert blickende Ehefrau Corinna zur Seite und wählte die Nummer der Wache: 215. Sein Kollege, Kommissar Rottek, saß, wie so oft, besonders früh bei der ersten Zigarette am Schreibtisch. Er war Jäger. „Rottek, schnallen Sie den Colt um, ich brauche Sie hier“, rief Kesselring in den Hörer. „Eine blutige Straftat. Kommen Sie als gewissenhafter Fahnder und als waidmännische Spürnase. Alles Weitere am Tatort.“

Wenig später erstarb das hohle Zweitakter-Kollern des grauen DKW Junior von Kommissar Rottek vor der Haustür der Kesselrings. Der Hauptwachtmeister führte ihn bedeutsam schweigend zum Stall. Wortlos zeigte er auf die Federn. „Ein Hühnerdieb“, knurrte er. Rottek drängte ihn zurück. „Keine Spuren vernichten! Haben Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht?“

„Ich habe beobachtet, dass ein Huhn fehlt“, brummte Kesselring. „Graubraune Federn, eher kleine Statur, grauer Schnabel, zwei Flügel, gackernde Lautäußerungen.“ Kommissar Rottek schaute sich das Loch im Zaun von außen an. Die Spur der Federn zog sich bis zur Weißdornhecke hinter Kesselrings Gartenschuppen, der gleich an die im Nebel versinkende Feldmark angrenzte. Im Dickicht der Hecke fand der Ermittler einen Berg Federn und die Reste des Huhns: Ein paar blutige Fetzen. Die gelben Füße. Den Schnabel, noch wie in der Todesklage geöffnet. Kesselring stapfte herbei. Betroffen senkte er den Kopf. „Rache“, fauchte er. „Bittere Rache.“

Kommissar Rottek untersuchte den Fundort und schnupperte. „Fuchs“, stellte er fest. „Das war ein Fuchs.“ Kesselring schaute ihn ungläubig an. „Woher wollen Sie das wissen? Oder spricht jetzt wieder der jagdliche Klugscheißer?“

„Das Loch im Zaun ist zu groß für einen Marder. Und die Federn sind abgebissen. Das macht nur ein Raubtier. Außerdem riecht man es. Fuchs riecht wie ungewaschene Socken. Sage ich Ihnen als Jäger. Und wenn dem Fuchs das Huhn geschmeckt hat, dann kommt er jetzt öfter.“

Kesselring schnupperte oberflächlich in Richtung der Federn und blickte dann empört. „Geschmeckt? Natürlich hat ihm das Huhn geschmeckt. Sonst hätte er es ja nicht verspeist. Ihre Theorien sind ja wirklich hochgradig verblüffend. Meine Hühner schmecken jedem, Herr Kommissar. Das wollen wir hier mal festhalten. Und wenn der Fuchs unbedingt wiederkommen möchte, dann fliegen ihm bleierne Bohnen um die Ohren. Ich schlafe die nächsten Nächte im Hühnerstall mit meiner Knarre in der Hand. Und wenn es knallt, dann bin ich das.“ Entrüstet schwang er seine Dienstpistole Walther P5.

„Solange es hier nachts nach Hauptwachtmeister riecht, kommt der Fuchs wohl nicht“, meinte Rottek. „Der wartet, bis Sie weg sind. Dann erst holt er sich wieder eins. Bauen Sie doch einfach eine solide Tür ein und schließen Sie den Stall ab. Das hilft schon.“

„Ich will keine Tür abschließen, ich will Rache“, knurrte Kesselring und zielte mit der Dienstpistole grimmig in den Weißdorn hinter dem Gartenhaus. „Wer meine Hühner beißt, der beißt mich, einen deutschen Beamten. Da fällt mir ein: Sie können ja auch mal Ihren großartigen Jagdhund auf die Spur des Mörders ansetzen.“

Den Kommissar schmerzte diese ironische Bemerkung. Er besaß als Jagdhund einen Foxterrier. „Toni“ war sein Name. Toni war im Ort allerdings weniger für Verdienste als tüchtiger Helfer im Waidwerk bekannt, als für seine Fähigkeit, jede läufige Hündin im weitem Umkreis persönlich zu kennen und zwecks Anknüpfung näherer Bekanntschaft aufzusuchen. Außerdem jagte er mit großer Leidenschaft Katzen auf die Bäume, raufte frech mit anderen Hunden und beschaffte sich Nahrung, indem er so lange leidend vor Läden wie dem von Schlachter Karasek fiepte, bis man ihm eine Schale mit Wurst und Bratenresten herausstellte und ihn so vor dem vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Hungertod rettete.

Jagd indessen verstand Toni eher als sein ganz privates Vergnügen denn als Dienstleistung für seinen Besitzer, den Kriminalbeamten Rottek. Deshalb sah man ihn öfters allein in der Feldmark, wenn er fröhlich kläffend Hasen und Rehen Bewegung verschaffte. Schmackhafte Lebensmittel aller Art betrachtete er grundsätzlich als sein persönliches Eigentum. Er schnappte deshalb ohne große Umschweife arglosen Schulkindern Schinkenbrote aus der Hand oder durchsuchte unbeaufsichtigte Frühstücksbeutel von Bauarbeitern nach verwertbaren Bestandteilen. All diese sinnvollen Beschäftigungen füllten seinen Alltag aus, und deshalb bettete er sich am Abend zufrieden, müde und behaglich auf sein Lager im alten Forsthaus. Rottek, seinen Herrn, liebte er abgöttisch und stand ihm wachsam und treu zur Seite. Aber jagdliche Hilfeleistungen für ihn betrachtete er eben nur als gelegentliche Gefälligkeit und nicht als Lebensaufgabe. Wenn es allerdings einmal mit seinem Zeitplan und seinen anderweitigen Verpflichtungen vereinbar war, dann stellte er bei der Jagd beherzt jede Sau, suchte zuverlässig den beschossenen Rehbock nach und packte den Fuchs, der sich in seinem Bau in Sicherheit wähnte.

Die Ermittlungen in Sachen des verschwundenen Huhns nahm Kommissar Rottek persönlich in die Hand. Er hielt ein paar blutige Hühnerfedern hoch. „Diese Beweismittel werden wir sicherstellen“, erklärte er. „In den nächsten Tagen ziehen wir alle verfügbaren Kräfte zusammen, um diesen Fall aufzuklären.“

„Klären Sie nicht auf, schießen Sie den Fuchs tot. Sie sind Jäger, gehen Sie auf die Pirsch“, rief Kesselring. „Ihr Jäger könnt ja auch mal was Sinnvolles für die Bevölkerung tun. Denn das war Mord. Kaltblütiger Mord an einem Huhn. Keine Gnade für den Täter!“

Der Kommissar schaute ihm frech in die Augen. „Andererseits, Herr Hauptwachtmeister.“

„Was heißt hier ‚andererseits‘? Kommt jetzt wieder so eine krachende Jägerweisheit vom Humpenstammtisch?“

„Andererseits haben Sie in gewisser Weise Ihre Aufsichtspflicht gegenüber den Hühnern vernachlässigt.“

„Aufsichtspflicht? Wenn sich hier heimlich ein Mörder durch den Zaun bohrt, kann ich ihn nicht dabei beaufsichtigen. Soll ich etwa Tag und Nacht als Wachkommando neben den Hühnerstall stehen?“

„Haben Sie nicht versprochen, den Nutzen des Hühnervolks zu mehren und Schaden von ihm zu wenden? Die Hühner haben Ihnen vertraut, Herr Hauptwachtmeister. Die haben sich sicher gefühlt und Ihnen zum Dank Eier gelegt. Viele, schmackhafte Eier. Für die Hühner waren Sie der große Freund und Beschützer. Und dann lassen Sie zu, dass ein Fuchs solch eine Bluttat im Stall anrichtet? Ich könnte verstehen, wenn sich die Hühner nun enttäuscht von Ihnen abwenden und keine Eier mehr legen würden, Hauptwachtmeister Kesselring. Ich könnte es verstehen.“

„Sie, Herr Oberschlaukommissar, als Sie vierzehn waren und besoffen Moped gefahren sind, da hab’ ich Ihnen mal eine wunderbar wirksame, erzieherische Ohrfeige verpasst. Ich gelange zu der Auffassung, dass jetzt wieder ein solch wichtiger Moment gekommen sein könnte.“

Rottek holte die orangefarbene Schachtel Ernte23 aus seiner speckigen Lederjacke und hielt sie Kesselring hin. „Hier“, sagte er. „Eine Beruhigungszigarette.“ Sie rauchten schweigend und schauten in den Garten, in dem noch Porree und Grünkohl in den Beeten standen. Zwei Gießkannen hingen an Haken neben dem großen Regenfass. Eine letzte, rotgelbe Tomate leuchtete im Gewächshaus.

„Der Tag fängt ja wirklich gut an“, brummte Kesselring. „Wenn das heute mal nicht so weitergeht.“

Rottek trat die Zigarettenkippe geschickt in ein Wühlmausloch. „Warum sollte das so weitergehen?“

„Weil Scheißtage so anfangen“, meinte Kesselring. „Genau so.“

Kapitel 2

„Ich habe unseren Theo nicht gestillt. Mein Mann wollte es nicht. Er hat gesagt, davon bekomme ich einen Hängebusen. Was sagen Sie dazu? Sie kennen doch so viele Damen.“ Die Frau des Apothekers schaute Friseur Rimini im Spiegel fragend in die Augen, während er an ihrem Hinterkopf geschäftig Locken eindrehte. Lächelnd hielt er inne. „Gnädige Frau Siebenstern, früher oder später hat jeder einen Hängebusen. Auch Männer.“ Die Apothekersgattin lachte kreischend auf und versuchte, ihn dabei schwärmerisch anzuschauen. „Sie sind einer, Herr Rimini, Sie sind aber auch einer!“, kicherte sie.

Das Telefon läutete. Der kleine Friseur verschwand in seinem winzigen Büro und besprach mit der Anruferin umständlich einen Termin: „Donnerstag, 11 Uhr ist für Sie reserviert, Frau Klötzer. Sie hatten ja gestern schon deswegen angerufen. Ich freue mich auf Sie. Ja, gerne. Habe ich notiert. Selbstverständlich. Nein, das ist sicher. Kundendienst, Frau Klötzer. Bis Donnerstag. Ja, wir haben geöffnet. Nein, Sie müssen nicht warten. Wiederschauen, Frau Klötzer. Ja, für Sie auch.“

Hatte er die Türklingel gehört, während er telefonierte? Rimini schaute in den Laden. Aber niemand war hereingekommen. Er trat wieder an den Friseurstuhl und griff sich einen Lockenwickler. Als er die Strähne eingedreht hatte und losließ, sank der Kopf der Frau langsam nach vorne. „Den Kopf bitte wieder hochnehmen, so kann ich nicht arbeiten!“, sagte Rimini in strengem Ton.

Aber die Kundin reagierte nicht. „Gnädige Frau? Frau Siebenstern?“ Rimini ging um den Stuhl herum und stellte sich vor sie. „Hallo? Frau Siebenstern? Ist Ihnen nicht gut?“ Dann sah er ein kräftiges Blutrinnsal, das unter dem weißen Friseurumhang auf das graugrüne Linoleum tropfte. „Ist Ihnen möglicherweise nicht gut?“, fragte er noch einmal unsicher. Als er den Umhang von ihrem Hals löste und ihre Hand griff, sank sie vornüber und plumpste klatschend mit dem Gesicht auf den Boden.

„Frau Siebenstern, um Himmels willen, was ist denn los mit Ihnen? Sagen Sie doch was!“ Aus dem Oberkörper der Apothekersfrau sprudelte dunkles Blut. Sie drehte sich leicht und bewegte den Kopf. Wie abwehrend spreizte sie krampfig die Hände. Ihr rechtes Auge schloss und öffnete sich langsam. Zweimal. Dreimal. Die rechte Schulter hob sich. Sie atmete noch zweimal rasselnd. Dann entspannte sich der Körper.

Friseur Rimini stürzte zum Telefon, wählte fahrig die Nummer von Doktor Rotgold, dem Universalmediziner der kleinen Stadt. „Hier Friseur Rimini! Einen Arzt! Starkes Unwohlsein einer Dame!“, kreischte er in den Hörer. Dann wandte er sich wieder der Apothekersfrau zu, die regungslos in einer größer werdenden Blutpfütze auf dem Boden lag. „Machen Sie sich keine Sorgen, der Doktor kommt!“, rief er ihr zu. „Ein Glas Wasser vielleicht? Oder einen Weinbrand?“

Wenige Minuten später hörte man auf der Wilhelmstraße lautes Fahrradklingeln. „Alarm, Alarm“, brüllte Doktor Rotgold. Das war eine Marotte von ihm für Noteinsätze. Er war ein Arzt, der keine Krankheit und selbst den Tod nicht ernst nahm. Ernst wurde er nur bei der Diskussion um Rieslingjahrgänge. Aber seine Patienten mochten ihn, denn er stellte präzise Diagnosen, hielt lange Krankschreibungen für besonders gesundheitsfördernd und setzte sich leidenschaftlich für Mutter-und-Kind-Kuren im Allgäu oder an der Nordsee ein.

„Oh, meine alte Freundin“, rief Doktor Rotgold und band sich seine alte Metzgerschürze aus fleckigem weißem Gummi um, „ich tippe mal auf akute Kreislaufbeschwerden.“ Er öffnete den Arztkoffer und kniete sich neben die Frau des Apothekers. Seine nach Brisk duftenden dunkelbraunen Strähnen hatte er streng nach hinten gekämmt. Am Hinterkopf liefen sie in einem fetten Entenschwanz spitz zusammen. Rimini sah es mit einem Ausdruck großen Missfallens. Frisiercreme empfand er als eine Beleidigung seines Berufsstandes. Außerdem stank Brisk, so pflegte er festzustellen, „wie ein Matrose aus dem Hosenlatz.“ Dem Doktor war das egal. Ihm war völlig gleichgültig, was man über ihn dachte. Er war stets mit sich und den Patienten seiner kleinen Stadt sehr zufrieden.

Die Frau des Apothekers war seit langem wegen einer Herzgeschichte bei ihm in Behandlung gewesen. Sie wusste nicht viel von der Welt. Der Arzt, soviel war im Ort bekannt, vergnügte sich oft mit jungen Männern, die ihn in seinem Haus neben dem Heldengedenkstein besuchten. Vor wenigen Tagen erst hatte sie sich während des Blutdruckmessens schüchtern getraut ihn zu fragen, wie es sei, wenn Männer sich lieben. Und Doktor Rotgold hatte ihr bereitwillig und detailliert Auskunft erteilt. „Dann ist das ja gar nicht so schlimm“, hatte sie gesagt und ihn angelächelt. Jetzt schwammen ihre grauen Haare mit den Lockenwicklern in dem Blutsee, der sich um ihren Oberkörper gebildet hatte.

„Ist Ihnen die Schere aus der Hand gerutscht?“ fragte Rotgold feixend den Friseur. Der schaute nur entsetzt kopfschüttelnd auf die Frau. Doktor Rotgold schnitt ihr die Kleider vom Oberkörper. Dicht nebeneinander waren in der Brust nahe des Herzens zwei große Einstiche zu sehen, aus denen das Blut inzwischen dünner rann. „Hatte Sie das schon, als sie reinkam?“, fragte der Arzt mit gespieltem Ernst. „Nein. Nein“, stammelte Friseur Rimini und wand sich, „sie war ganz normal, wir haben uns unterhalten. Ich hätte es doch gemerkt, wenn sie verletzt gewesen wäre. Und man redet doch darüber, wenn man Messerstiche in der Brust hat. Nein, sie war ganz normal.“

„Rufen Sie Kommissar Rottek. Die Frau ist tot“, sagte Doktor Rotgold, „das muss sich die Polizei ansehen.“ Der Friseur zuckte zusammen. „Die Polizei? Glauben Sie wirklich? Aber ich habe hier doch Publikumsverkehr! Vielleicht war es nur ein Unfall. Das interessiert die Polizei doch nicht, wenn es nur ein Unfall war.“

„Dann legen Sie die Dame erst mal hinten in den Flur. Vielleicht kommt sie ja sogar wieder zu sich.“

Friseur Rimini wirkte sehr erleichtert. „Ja? Glauben Sie? Vielleicht bis heute Abend. Dann kann ich ja immer noch was unternehmen.“ Er raffte einen Arm voller Handtücher zusammen und versuchte ungeschickt, den Blutsee rund um die Leiche aufzuwischen. „Erst mal das hier“, keuchte er. Dabei rutschte er auf der roten Nässe aus und fiel quer über die tote Frau Siebenstern. Als er sich wieder aufrichtete, tropfte von seinem blauen Friseurkittel und von seiner weißen Leinenhose das Blut. Wie betäubt versuchte er, sich mit den verschmierten Handtüchern zu säubern.

Doktor Rotgold ging ins kleine Büro und wählte 215, die Nummer der Polizeiwache. Hauptwachtmeister Kesselring nahm den Anruf entgegen.

„Hier ist Doktor Rotgold. Eine Leichensache. Haben Sie Interesse?“

„Leichensache? Hat Ihre Heilkunst wieder versagt?“

„Möglicherweise, Herr Hauptwachtmeister. Ein Blutbad bei Friseur Rimini. Bringen Sie auch Ihren Kriminalkollegen Rottek mit. Falls er Zeit hat.“

„Friseur Rimini? Hat er jemandem die Nasenspitze abgeschnitten? Ich habe schon immer gesagt, der Mann redet zu viel bei der Arbeit. Dann passieren solche Sachen.“

„Diesmal muss es eine sehr intensive Unterhaltung gewesen sein. Aber schauen Sie selbst. Ich warte hier auf Sie.“

„Ist das wieder so ein Ulk von Ihnen? Doktor, wenn Sie uns veräppeln, dann zeige ich Sie an wegen mangelndem Respekt vor der uniformierten Staatsgewalt. Das kann teuer werden.“

Doktor Rotgold legte kommentarlos auf und probierte die Duftwässer, die auf dem schmalen Marmorbord unter den großen Spiegeln standen. Mit einem davon sprühte er sich grunzend ein. Er liebte den verfeinerten Lebensstil und beeindruckte damit die jungen Männer, die am Wochenende zu ihm in das elegante Haus neben dem Denkmal für die Gefallenen kamen, bis in die Nacht lachten und laute Schallplattenmusik spielten. Einmal, im Sommer, war Pastor Löselein an dem Haus vorbeigegangen und hatte gesehen, wie Doktor Rotgold in seinem Garten unter dem Rosenbogen einen Jüngling auf den Mund geküsst hatte. Abends war sogar amerikanische Musik aus dem Haus geklungen von diesem Sänger, der gerade die Jugendlichen verrückt machte. Aber nicht nur die: Sogar die Frau von Pastor Löselein sang beim Abwaschen „Love me tender“, und fast hätte er ihr deshalb im Jähzorn auf den Mund geschlagen. Wütend predigte der Pastor am nächsten Sonntag von Sodom und Gomorrha und der Sündenlast gewisser Personen, die sich sittlichen Ausschweifungen hingaben. Aber seine Empörung verpuffte, denn der Doktor und seine Knaben waren nicht in der Kirche und die anderen Gottesdienstbesucher dachten, es ginge mal wieder um die Halbstarken von der Oberschule.

Friseur Rimini hatte sich inzwischen einen frischen Kittel angezogen. Die blutigen Hosenbeine schauten unten heraus. „Was für eine Situation!“, flüsterte er kopfschüttelnd. „Was für eine Situation!“ In dem Moment öffnete sich die Ladentür. Witwe Süsselbeck vom Pilsbüdchen in der Frankfurter Straße tat vier Schritte in das Friseurgeschäft und blieb wie angewurzelt stehen. Sie war eine große, herbe Frau und ihre Vorliebe für Speckpfannkuchen und Schmalzgebackenes zeigte sich in sehr deutlichen Rundungen. „Was ist denn hier los?“ knarrte sie vorwurfsvoll mit ihrer Feldwebelstimme.

Rimini stellte sich freundlich lächelnd vor sie hin. „Nichts weiter, eine kleine Unpässlichkeit, der Doktor ist schon da“, flötete er. „Wenn Sie dort schon mal Platz nehmen möchten, ich bin gleich bei Ihnen.“ Witwe Süsselbeck schob den kleinen Friseur mit ihren kräftigen Armen grob zur Seite. „Was ist denn hier los?“, schnarrte sie noch einmal. „Ist die Frau gefallen oder was?“

„Ja, sozusagen. Umgeknickt. Platzwunde“, erklärte Friseur Rimini mit zitternder Stimme. „Aber der Arzt ist ja schon da. Kein Grund zur Aufregung. Wird schon wieder.“ „Machen Sie der Frau erst mal kalte Umschläge, Herr Doktor“, kommandierte Witwe Süsselbeck streng, „und die Beine hoch, damit das Blut ins Gehirn läuft.“ „Da läuft nichts mehr ins Gehirn“, schnarrte der Arzt, „die Frau ist tot. Aus medizinischer Sicht jedenfalls. Oder sind Sie anderer Meinung?“

Die Kioskbesitzerin schaute den Friseur böse an und stemmte die Hände in die ausladende Hüfte. „Wieso liegt die Apothekersfrau tot in Ihrem Laden? Letzte Woche habe ich noch beim Bäcker mit ihr gesprochen. Da hat man ihr nichts angemerkt. Manchmal sind Sie aber auch ein Hallodri, Herr Rimini. Sie haben doch sonst ein Händchen für Damen. Was ist denn hier schiefgelaufen?“

Rimini ließ sich in einen Friseurstuhl fallen und bedeckte sein Gesicht mit einem Handtuch. „Ich weiß nichts. Ich weiß gar nichts“, schluchzte er, „wahrscheinlich ist es eine ganz dumme Geschichte.“

Witwe Süsselbeck stemmte die Hände noch einmal energisch auf die wuchtigen Beckenknochen. „Das kann man wohl sagen“, knurrte sie. „Und die Haare machen Sie mir heute erst mal nicht. Jedenfalls nicht, solange hier Leichen bei Ihnen herumliegen.“

Friseur Rimini sprang auf und verbeugte sich vor ihr. „Zu Diensten, Frau Süsselbeck, immer zu Diensten. Aber bisher sind doch alle Damen lebend bei mir herausgekommen. Lebend herein und lebend heraus. Ich versichere es Ihnen. Dieser Fall ist eine Ausnahme. Wirklich eine Ausnahme.“

„Ich hoffe es für Sie, Herr Rimini. Ich hoffe es für Sie.“ Witwe Süsselbeck drohte ihm streng mit dem Zeigefinger.

Kapitel 3

In der Gaststube vom „Grünen Baum“ war es still. Nur die Kiefernscheite im Kachelofen knackten. Wirt Äffchen Fettweiß schaute beim Gläserpolieren hinaus auf die Straße, wo seine drei Enkelkinder eine Trauerzeremonie für die überfahrene Katze „Mohrle“ abhielten. Auf der Bank am Ecktisch unter dem großen Ölbild mit dem pflügenden Bauern saß wie ein Fleischberg der massige, kahlköpfige Schrotthändler Popel Troost in einem dicken, braunen Ledermantel. Bei jeder Kopfbewegung schwappte die fast handtellergroße Fleischfalte unter seinem Kinn über die lodengrüne Krawatte. Und die gewaltigen, blauroten Speckwangen zitterten dabei nach, wie von einem inneren Erdbeben geschüttelt.

„Hast du alles geregelt, Männel?“, fragte Troost seinen Tischnachbarn, einen großen, hageren Rothaarigen, der soeben hereingekommen war.

„Nein. Ich glaube, hier regeln wir nichts“, knurrte der Rothaarige. „Die Leute hier sind Dickschädel. Westerwälder Basaltköppe. Das ist nicht unsere Gegend, glaube ich. Kuhschweinhuhn.“

Popel Troost schaute ihn mit triefenden Augen verärgert an. „Glaube ich, glaube ich“, ahmte er ihn böse nach. „Ich will es, Männel. Ich will es, verstehst du? Hier geht es nicht um glaubst du, sondern will ich. Ob du das versteht?“

„Verstehe, Popel. Verstehe. Natürlich. Wenn du etwas willst, dann willst du es. Du bist der Chef, Popel. Aber diesmal ist es nicht einfach. Wirklich nicht einfach. Kuhschweinhuhn.“

Männel verstand nicht viel von der Welt. Dafür hatte er zu lange auf einem zerfallenden Bauernhof in einem verlorenen Eifeldorf gelebt. Da hatte ihn Troost Mitte der fünfziger Jahre zerlumpt und halb verhungert gefunden. Männel lebte dort allein und ernährte sich von gefangenen Eichelhähern, gewilderten Kaninchen, Schweinebirnen, Hagebutten und Holunderbeeren. Er hatte viele Jahre lang auf ein Leben als Postobersekretär gehofft und darauf gewartet, dass ihn irgendwann ein gelbes Auto abholen und an einen Schreibtisch in einer warmen Amtsstube bringen würde, an dem er den ganzen Tag in einer taubenblauen Uniform nur noch Schriftstücke zu unterzeichnen hatte und dafür viel Geld bekam. Und später sogar Pension. Es war damals der Traum vieler junger Männer in den zugigen Eifeldörfern gewesen: Postobersekretär. Ein Zauberwort, und es bedeutete die Erlösung von Nächten in nasskalten Schlafkammern, Erlösung von der quälenden Sehnsucht nach der längst begrabenen Mutter und Erlösung von verlassenen steinigen Äckern, die überwuchert waren von Quecke, Ampfer und Disteln.

Männel war nicht faul und nicht dumm. Aber die Hoffnung auf das Leben als Postobersekretär lähmte ihn, und das Anwesen verkam immer mehr. Doch eines Tages rollte statt des gelben Autos Schrotthändler Troost mit seinem uralten grauen Magirus auf den Hof. Männel hatte bald verstanden, dass dies die erwartete Erlösung war, und dass er es auf dem rostigen Schrotthof in Düsseldorf sogar besser hatte als bei der Post. Wenn er nur das tat, was Troost ihm befahl. Viele Jahre waren sie dann gemeinsam mit dem uralten Magirus M40 durch das Land gekreuzt auf der Suche nach Eisenschrott, Kupfer, Bleirohren und Messing. Männel trug stets eine graue Latzhose, hatte bald Kräfte wie ein Bagger und wuchtete sehnig Teile auf die Ladefläche, für die es normalerweise zwei Mann gebraucht hätte: „Wird gewuppt. Kuhschweinhuhn.“

„Kuhschweinhuhn“, das war sein Spruch. Damit erklärte er gegenüber sich und anderen, dass er mal wieder recht hatte oder dass ein besonderer Sachverhalt vorlag. Dann zog er seine braune Bauernmütze etwas tiefer ins Gesicht, nickte bestätigend und wandte sich der nächsten Aufgabe zu. „Kuhschweinhuhn“: Mit dem Ruf hatte er schon als kleiner Junge sein Schaukelpferd zu schnellerem Galopp angetrieben, damit er rechtzeitig zu Hause war, wenn der Dippedotz mit Apfelmus auf den Tisch kam.

Es gab viel zu tun für Männel. Denn Popel Troost verteilte ständig wichtige Aufträge. Der Schrotthändler war inzwischen so reich, dass seine Hauptbeschäftigung nur noch darin bestand, sich Wünsche zu erfüllen. Und er war so dick, dass er wegen schmerzender Knie nur wenige Gänge selber erledigte und dann watschelnd und mit den kurzen Armen rudernd zur nächsten Sitzgelegenheit strebte. Männel wurde zu seinem wichtigsten Gehilfen.

Einmal hatte Troost den Wunsch, eine Knappenkapelle zu dirigieren. Die Musiker mussten in seinem Düsseldorfer Villengarten Aufstellung nehmen und mehrfach hintereinander „Glück auf, der Steiger kommt“ spielen. Troost gab mit den Zeigefingern den Takt an. Er weinte vor Rührung, denn sein Vater war Bergmann gewesen und jenes Lied wurde auf dessen Beerdigung gespielt. „Popel“ hieß er, weil seine Mutter in „Puppel“ genannt hatte. Troost war als Kind zierlich und hübsch wie ein Püppchen gewesen. Wie ein Puppel eben. Und daraus war inzwischen Popel geworden. Das passte jetzt auch besser zu ihm.

Nicht alle Wünsche Troosts waren leicht zu erfüllen. Manches schien ihm selbst als eine schwer lösbare Aufgabe. Aber der Schrotthändler wusste, warum er Männel aus dem verfallenen Bauernhof geholt hatte. Er sagte sich: Einer, dessen Familie zehn Generationen in einem armen, kalten Eifeldorf überlebt hatte, der würde immer einen Weg finden. „Männel, erledige das“, sagte er streng, wenn es schwierig wurde. Oft genügte dafür etwas Geld. Gelegentlich viel Geld. Aber manchmal reichte Geld nicht aus.

Für Männel war das, was er dann erledigen musste, ein schönes, aufregendes Spiel, bei dem er immer gewann. Mit der Zeit fand er Spaß daran. Auch an Gewalt. Er liebte das klatschende Geräusch, wenn seine Faust in dem Gesicht eines anderen landete. Wenn das Blut aus der Nase des Getroffenen schoss, erheiterte ihn das. Oder den dumpfen Klang seines Knüppels beim Schlag auf den Körper eines widerspenstigen Gegenübers, den fand er richtig schön. Schöner als das, was seiner rauen, hungrigen Seele am Schreibtisch des Postobersekretärs hätte widerfahren können. Und er verstand genau so viel von der Welt, um zu wissen, dass es nichts Wichtigeres gab, als Popel Troost für eine kurze Zeit glücklich und weich zu stimmen und anderen zu verstehen zu geben, dass man sich diesem Gebieter nicht zu widersetzen hatte.

Jetzt war Troost sogar Jäger geworden. Für Männel öffnete sich deshalb ein neues, unübersehbares Feld von Aufgaben. Es gab viel zu erledigen. „Wer kein Jäger ist, ist kein Mann“, sagte Popel Troost laut und wichtig mit seiner fetten Quetschstimme. Er wollte ein Jagdrevier. Und zwar sofort. Denn alle seine Freunde aus dem Düsseldorfer Industrie-Club waren schon Jagdpächter geworden oder in guten Revieren untergekommen. Aber für Troost war das nicht so einfach. Denn für die Jäger auf dem Land war er ein feister Widerling mit viel Geld, und dort, wo man in ihren Reihen feiste Widerlinge mit viel Geld akzeptierte, da waren ihm schon andere feiste Widerlinge zuvorgekommen.

Deshalb begnügte sich Popel Troost erst einmal mit einer illegalen, aber für ihn reizvollen Zwischenlösung. Er ließ sich von Männel im Mercedes durch den Westerwald fahren, und wenn irgendwo am Waldrand ein Rehbock stand, dann hielt Männel die Limousine an. Popel Troost kurbelte das Fenster herunter, nahm den Drilling vom Rücksitz und schoss. Wenn der Rehbock tot umfiel, schnitt ihm Männel schnell das Haupt mit der Trophäe ab und warf es in einen Eimer im Kofferraum. Dann brausten sie lachend davon. Wenn der Rehbock gefehlt oder nur angeschossen war, fuhren sie weiter. „Eins, zwei, drei, lustig ist die Jägerei“, brüllte Popel Troost dann, und prustend vor Lachen kurvten sie weiter über Land.

Jetzt saßen die beiden im „Grünen Baum“, weil es in der Stadt Wichtiges zu erledigen gab. Troost wollte hier einem Jagdpächter um jeden Preis sein Revier abspenstig machen. Außerdem begeisterte er sich für die schmackhaften und reichlich bemessenen Essensportionen in dem alten Gasthaus. Wirt Äffchen Fettweiß schlurfte heran und stellte drei Portionen Bockwurst mit Kartoffelsalat auf den Ecktisch. Zwei für Troost, eine für Männel. „Schönes Auto“, murmelte Äffchen Fettweiß und zeigte durch das Fenster auf den schwarzen Mercedes 220S, der vor dem Haus parkte. „Ich hab’ die Heckflosse als 190er Diesel, in Beige.“

Troost im braunen Ledermantel hatte bereits eine halbe Wurst in seine geräumige Mundhöhle geschoben, schaufelte eine Gabel voll Kartoffelsalat hinterher, nahm einen Schluck Bier und kaute schnell. „Ich kann mir alles kaufen“, sagte er hastig ohne vom Teller aufzublicken, „und ich kaufe mir alles.“

„Düsseldorf“, sagte Fettweiß beiläufig mit einem Blick auf das Nummernschild. „Ja und?“, zischte Troost aus dem vollem Mund. Äffchen Fettweiß wackelte zurück zum Tresen. Die linke Hüfte wollte nicht mehr. „Verschleiß“, sagte der Arzt und gab ihm teure Spritzen. Als Junge war Fettweiß der beste Kletterer im Ort gewesen, der die Elsternnester aus dem höchsten Ahornbaum aushob und der sich an senkrechten Kiefernstämmen hochstemmte. „Äffchen“ nannte man ihn deshalb. Und so nannten ihn die Einheimischen immer noch, wenn sie in der verrauchten Wirtsstube saßen, von der erlegten Wildsau oder ein Abenteuer aus der Gefangenschaft erzählten, Skat kloppten, furzten und über Witze lachten, in denen es um Büstenhalter ging oder um das Bett.

Troost hatte blitzschnell beide Teller geplündert. „He“, rief er Äffchen Fettweiß vom Ecktisch aus frech zu. „He, Herr Wirt, kennen Sie außer mir noch einen, der sich alles kaufen kann?“ „Ja, der Kaiser war mal hier“, berichtete Äffchen leise, „hat meine Mutter oft erzählt. Der Kaiser war hier, damals, vor dem ersten Krieg, als die großen Manöver im Westerwald waren. Wir hatten am Tag vorher geschlachtet. Der Kaiser kam herein, und meine Mutter bot ihm Schlachtplatte mit Kraut und Bratkartoffeln an. Das war gerade fertig. Aber er wollte nur ein Schinkenbrot. Wie es so war.“

„Na, der ist ja dann auch ordentlich pleitegegangen“, brüllte Troost, „der ist ja wohl richtig pleitegegangen mit seinem Schinkenbrot, euer Kaiser.“ Er lachte ein quäkiges, fleischiges Lachen. Aber das Lachen erstarb schnell, denn mit der linken Hand griff er sich schnell die halbe Wurst, die Männel ihm anbot und stopfte sie ernst und gierig zwischen seine schlauchartigen Lippen. „Kuhschweinhuhn!“, sagte Männel in Richtung Tresen und hob mahnend den Zeigefinger. „Kuhschweinhuhn!“

Kapitel 4

Friseur Rimini nahm das Kehrblech und den Handfeger von der Wand und stellte sich vor die Leiche, die in der verschmierten Blutpfütze lag. Dann zuckte er ratlos mit den Schultern und hängte die Gerätschaften wieder an den Haken. „Hat ja alles keinen Zweck“, flüsterte er. Draußen näherte sich klingelnd ein VW-Motor. Kommissar Rottek und Hauptwachtmeister Kesselring stiegen aus ihrem dunkelgrünen Polizei-Käfer und betraten den Friseurladen. „Oha“, knurrte Kesselring.

„Tot?“, fragte Rottek in Richtung des Doktors.

Der nickte. „Nach allem Wissen der ärztlichen Kunst ist die Dame tot.“

Hauptwachtmeister Kesselring schnaufte: „Der Begriff ‚ärztliche Kunst‘ in Zusammenhang mit Ihnen ist wohl etwas übertrieben“, knurrte er. „Was war denn hier überhaupt los?“

„Ich nehme an, zwei Stiche in Herz und Lunge“, sagte der Arzt leise und deutete mit dem Kinn vielsagend auf den Friseur.

Hauptwachtweister Kesselring hielt inne, hob den Kopf und schaute Rottek eindringlich und vielsagend an. „Hab ich’s nicht gesagt?“, meinte er. „Als ob ich’s heute früh beim Hühnerstall nicht gewusst hätte: So fangen Scheißtage an.“

Witwe Süsselbeck stand immer noch daneben und wirkte verstört. „Ich geh dann mal“, murmelte sie und bewegte sich Richtung Tür.

„Sind Sie eine Tatzeugin?“, fragte Rottek. „Haben Sie irgendetwas beobachtet?“

Sie winkte ab und schüttelte energisch den Kopf: „Er sollte mir die Haare machen. Mit der ganzen Sache habe ich überhaupt nichts zu tun. Frau Siebenstern lag schon hier, als ich hereinkam. Ich wollte helfen, weil die beiden Männer so komisch herumstanden. Aber es hieß, die Frau ist tot. Und wissen Sie, wenn irgendwo eine Leiche liegt, dann hält man sich besser aus allem raus. Soweit möglich jedenfalls. Wissen Sie noch, als ich neben Brockmanns Kälberweide den Mann gefunden hatte, der an einem Stück Sülze erstickt war? Zwei Tage lang hatte ich nur Scherereien und musste Protokolle unterschreiben. Deshalb gehe ich jetzt lieber.“

Rottek nickte. „Verstehe. Aber hier müssen Sie wohl auch wieder was unterschreiben.“ Witwe Süsselbeck zog eine Grimasse und eilte aus dem Friseurladen.

„Herr Rimini, erzählen Sie mal.“ Rottek schaute dem Friseur fordernd in die Augen. Hauptwachtmeister Kesselring streifte mit suchendem Blick durch den Raum. Doktor Rotgold beschäftigte sich immer noch interessiert mit den Duftwässern auf dem schwarzen Marmorbord. Rimini starrte den Kommissar mit weit aufgerissenen Augen an.

„Erzählen Sie mal?“, wiederholte er flüsternd. „Erzählen Sie mal?“ Der Friseur fuchtelte fahrig mit den Händen vor Rotteks Gesicht. Er schaute wirr auf die Leiche, zum Fenster und zur Tür. Kesselring versperrte wie eine Wand den Ausgang und fingerte schon einmal klappernd die Handschellen aus der Tasche. „Haben Sie die Frau erstochen?“ Rottek legte dem Friseur den Arm um die Schulter. „Herr Rimini. Machen Sie es uns nicht so schwer. Was war los?“

Der Friseur schaute wirr von einem Polizisten zum anderen. Dann sah er flehend zu dem Arzt: „Herr Doktor, Sie haben doch alles gesehen… Herr Doktor… Das Blut… Aus heiterem Himmel…“ Alle drei schauten ihn schweigend an. Rimini senkte den Blick, rang atemlos nach Worten. „Als ich… vorhin…“ Rottek nahm seine Hand. „Herr Rimini, wir beide kennen uns doch schon so lange. Was ist passiert? Setzen Sie sich doch erst mal.“

Rottek kannte ihn. Friseur Rimini wäre gerne ein Jäger geworden, aber er traute sich nicht zu schießen. Deshalb wirkte er als malerisch aufgeputzter Jagdhelfer im Revier mit. Erst in der letzten Woche bei der Hasenjagd hatte man den kleinen Mann zum Edeltreiber ernannt, weil er ein Getöse wie ein Mähdrescher entwickelte und das Wild vor ihm in panischem Schrecken flüchtete.

Seit vielen Jahren war Rimini von der Jagd hellauf begeistert. Zwar konnte sich niemand, am wenigsten er selbst, ihn mit einer Jagdwaffe auf dem Hochsitz vorstellen. Aber die Männer in Grün, die in wuchtigen Stiefeln, ausgebeulten alten Jacken und verwitterten Hüten hinauszogen um dem Wild nachzustellen, die waren für ihn kühne, bewundernswerte Gestalten. Sie schienen ihm eine Art verwegene Abenteurer zu sein und im Leben der Kleinstadt eine Kaste von Menschen, die über das normale Alltagsleben hinaus besondere Privilegien genossen: Sie durften Waffen tragen, sie durften auf Lebewesen schießen und ihre Hände waren sogar manchmal blutig, wenn sie aus dem Revier kamen. Da draußen im Wald, da ging es um Leben und Tod.

Das alles erregte ihn und schien ihm höchst erstrebenswert, aber als er selbst einmal einen Probeschuss mit einer Büchse 8x68S machen durfte, erlitt er von dem Knall einen Schock und vom Rückstoß eine Schulterprellung. Er warf die Waffe vor Schmerz weit von sich ins Gras. Seitdem hatte er noch mehr Respekt vor den Jägern, aber es erschien ihm auch noch erstrebenswerter, einer von ihnen zu sein, obwohl er wusste, dass er es nie sein würde. Welche Wahrheiten sich wirklich hinter den Fassaden seiner lodengrünen Idole verbargen, das wollte er gar nicht wissen. „Jäger sind Spinner wie alle anderen“, hatte Rottek ihm einmal am Feuer nach einem Fasanentreiben gesagt, „aber das Gute ist: Bei der Jagd kann man seinen wahren Charakter am wenigsten verbergen. Da zeigt sich oft ganz deutlich, wer wirklich ein Vollidiot oder ein gerader Kerl ist.“

Rimini hatte es nicht geglaubt und nur gelacht. Letztlich war es ihm auch egal, denn als Friseur kam er am einfachsten durchs Leben, wenn er nur an das Gute im Menschen glaubte und nicht an denen zweifelte, die im Stuhl vor ihm saßen. Wenn er sich ernsthaft mit dem befasste, was vielleicht in den Köpfen vorging, die er gerade verschönerte, dann lähmte es seine Hände, die Finger wurden klamm und er vermochte Schere oder Kamm nicht mehr schwungvoll zu führen. Deswegen hatte er sich das Nachdenken schon früh abgewöhnt. Es genügte ihm, zu den Jägern zu gehören, wenn auch nur als Helfer oder als Treiber. Das wertete ihn vor sich selbst auf und wenn es auf Sauen ging und er mit den anderen durch die Dickungen lärmte, dann wünschte er sehnlichst, seine tote Mutter könnte vom Himmel aus zusehen, wie er furchtlos und schneidig die wehrhaften Schwarzkittel in die Flucht schlug.

„Erst einmal tief durchatmen.“ Rottek führte Rimini zu dem nächstgelegenen schwarzen Friseurstuhl. Der kleine Mann ließ sich in das Lederpolster fallen und sank in sich zusammen. Der Kommissar lehnte sich ihm gegenüber an das Waschbecken. „Sie waren mit Frau Siebenstern allein. Und dann? Irgendwas ist doch dann passiert, Herr Rimini?“

„Sonst wäre die Frau ja nicht tot“, knurrte Hauptwachtmeister Kesselring von der Tür her. „Davon gehen wir jetzt mal aus. Wenn nichts passiert, fällt keiner tot um. Das lernt man als Polizist als erstes.“

Wieder schwiegen alle. In die Stille brach das klirrige Rasseln der Türklingel. Kesselring trat zur Seite. Witwe Süsselbeck trat mit vorsichtigem Schritt herein. Sie hielt ein großes, blutverschmiertes Jagdmesser in der Hand. „Hier… Es lag drüben am Brunnen. Vielleicht ist das für Sie wichtig?“

Kapitel 5

Bürgermeister Ingo Dingens blickte von seinem Schreibtisch sehnsüchtig quer über die Straße zum „Grünen Baum“. Wirt Äffchen Fettweiß stand dort in der Herbstsonne entspannt vor der Tür und schaute seinen Enkeln zu, die im Garten hinter dem Parkplatz letzte Äpfel aus einem Baum schüttelten. Landsberger Renette, eine späte Sorte. Ingo Dingens hatte auch als kleiner Junge diese köstlichen Winteräpfel aus jenem Baum gerüttelt und dann als Mitglied der Apachenbande in Brockmanns Scheune verzehrt. Vor dem „Grünen Baum“ stand eine schön schwarz glänzende Mercedes S-Klasse. Sah man im Ort nicht oft. Das waren wohl Gäste von Äffchen Fettweiß.

Ingo Dingens hatte heute keine Lust auf Amtsgeschäfte. Er hatte eigentlich nie Lust auf seine Amtsgeschäfte. Ein beschriebenes Blatt Papier schien ihm manchmal kiloschwer und er verstand nur wenig von dem, was in den Akten und in den wichtigen Briefen stand. Als Autoverkäufer bei Ford-Windisch hatte er gelernt, dass das Leben leicht und geschmeidig lief, wenn man nur gut reden konnte. Mehr brauchte er nicht zu beherrschen, als so lange auf die Kunden einzureden, bis sich ihre stumpfen Gesichter aufhellten und in ihnen der Hunger auf das Auto zu lesen war, das vor ihnen stand und das sie kaufen sollten.

Bürgermeister zu sein war ähnlich, aber etwas schwieriger. Vor allem gab es bei Ingo neuerdings manchmal solche merkwürdigen Augenblicke, wo alles wattig und luftig wurde in seinem Kopf und er nicht mehr wusste, was er Sekunden vorher gedacht hatte. Oder was gerade wichtig war. Oder was er jetzt am Telefon sagen sollte. Behördenschreiben widerten ihn an, und wenn er der Vorzimmerdame Rita Oberklein Schriftsätze diktierte, dann fielen ihm die richtigen Worte nicht ein und er stammelte irgendetwas daher, bis sie ihn vorwurfsvoll anschaute. Dann dauerte es Minuten, bis er einen Gedanken aufgreifen und fortsetzen konnte. Manchmal vergaß er den Zusammenhang ganz und schickte die entnervt die Augen rollende Schreibkraft mit dem unvollendeten Diktat wieder ins Vorzimmer.