Tod in den Bergen - Andrea Fazioli - E-Book

Tod in den Bergen E-Book

Andrea Fazioli

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Privatdetektiv Elia Contini.
Ein Krimi aus dem Tessin – für alle LeserInnen von Håkan Nesser


Vor über 20 Jahren verschwand Eugenio Torres, ein bekannter Arzt, Bergsteiger und Gründer einer Schule in Niger, Westafrika. Jetzt, nach dem Tod seiner Frau, bitten die Kinder Privatdetektiv Elia Contini um Hilfe. Er soll herausfinden, was mit ihrem Vater damals passiert ist. Gerüchten zufolge wurde er zuletzt in der nigerianischen Wüste gesehen. Von dort kommt eines Tages ein junger Migrant in die Schweiz. Moussa ag Ibrahim gehört dem Volk der Tuareg an und behauptet, Beweise dafür zu haben, dass Torres lebt und Hilfe braucht. Der Detektiv und der junge Mann wollen Torres' gefährliches Geheimnis aufdecken. Zwei radikal gegensätzliche Kulturen treffen im beschaulichen Tessin aufeinander. Oder gibt es vielleicht doch Gemeinsamkeiten zwischen den schneebedeckten Gipfeln der Alpen und den unendlichen Weiten der Sahara?

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Zum Buch

Vor über 20 Jahren verschwand Eugenio Torres, ein bekannter Arzt, Bergsteiger und Gründer einer Schule in Niger, Westafrika. Jetzt, nach dem Tod seiner Frau, bitten die Kinder Privatdetektiv Elia Contini um Hilfe. Er soll herausfinden, was mit ihrem Vater damals passiert ist. Gerüchten zufolge wurde er zuletzt in der nigerianischen Wüste gesehen. Von dort kommt eines Tages ein junger Migrant in die Schweiz. Moussa ag Ibrahim gehört dem Volk der Tuareg an und behauptet, Beweise dafür zu haben, dass Torres lebt und Hilfe braucht. Der Detektiv und der junge Mann wollen Torres’ gefährliches Geheimnis aufdecken. Zwei radikal gegensätzliche Kulturen treffen im beschaulichen Tessin aufeinander. Oder gibt es vielleicht doch Gemeinsamkeiten zwischen den schneebedeckten Gipfeln der Alpen und den unendlichen Weiten der Sahara?

Zur Autorin

ANDREA FAZIOLI, geboren 1978, lebt in Bellinzona im Schweizer Kanton Tessin. Er studierte in Mailand und Zürich Romanistik und arbeitet als Journalist bei Radio und Fernsehen. Er ist leidenschaftlicher Saxofonspieler und Pfeifenraucher. Seine Kriminalromane um den eigenbrötlerischen Privatdetektiv Elia Contini wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen und mehrfach ausgezeichnet.

ANDREA FAZIOLI BEI BTBPrivatdetektiv Elia Contini ermittelt:Fall 1: Am Grund des Sees Fall 2: Die letzte Nacht Fall 3: Das VerschwindenFall 4: Solo für ContiniFall 5: Tod in den Bergen

ANDREA FAZIOLI

TOD IN DEN BERGEN

KRIMINALROMAN

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen

Die italienische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Gli svizzeri muoiono felici« bei Ugo Guanda Editore. Sollte diese Publikation LinksDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2023,

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2018 by Ugo Guanda Editore S.r.l., Via Gherardini 10, Milano

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/Tomasz Koryl; Madredus

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-25905-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

»Die Schweiz gleicht der Sahara.«

Ibrahim al-Koni

Metenkal (Substantiv, männlich): Ort, an dem sich etwas befindet, das nicht gesehen werden kann (ein geeigneter Ort, um Menschen, Tiere oder Dinge den Blicken zu entziehen; ein Ort, durch den die dort befindlichen Menschen, Tiere oder Dinge den Blicken verborgen bleiben). // Die metenkal sind unterschiedlichster Art, je nachdem, was verborgen und wessen Blicken das Verborgene entzogen werden soll. Eine weite Talebene oder ein ausgedehntes Bergmassiv können als metenkal dienen, um große Völker und ihr Vieh vor den Blicken von Feinden oder Reisenden zu schützen; eine Tasche kann ein metenkal sein, um einen Brief oder anderen kleinen Gegenstand vor dem Anblick zu verbergen.

Aus dem Dictionnaire tuareg-françaisvon Charles de Foucauld

ERSTER TEIL Abwesenheit

1. Tropenmeer

Nebel verhüllte die Berge und ein feiner, tückischer Regen ließ die Sturzbäche anschwellen. Zwei Männer liefen schweigend, stapften mit den Füßen über den aufgeweichten Boden. Sie stiegen das enge Tal hinauf, hielten inne, um den Pfad zu suchen. Einer sagte: »Wir haben es fast geschafft.« Dann schlugen sie den Weg über die Hochebene ein.

Es gibt Orte, an denen die Reinheit und Erhabenheit der Natur die Welt zum Verschwinden bringt. Die Laufbewegung hebt alles auf, was nicht zum Laufen selbst gehört: gestern erst wagten wir die ersten Schritte an den Händen der Eltern und heute sind wir hier, auf dieser verlassenen Ebene. Der Rest hat keine Bedeutung. Beim Laufen verliert sich jegliches Bedauern, jeglicher Zwist, jeglicher Kummer.

Carlo Farinelli war ein aufrichtiger Mann, aber in einer anderen Situation hätte er vielleicht gezögert, ehe er mit der Sprache herausgerückt wäre. An diesem Septembertag 1998, während sie über das abschüssige Geröll des Piz Coroi voranschritten, war er jedoch entschlossen, der Freundschaft treu zu bleiben.

Er kannte Eugenio seit vielen Jahren. Gemeinsam hatten sie Wanderungen, Klettersteige, Trekking- und Radtouren in die entlegensten Winkel des Erdballs unternommen. Sie hatten über Arbeit, Familie und Zukunftspläne gesprochen, hatten Seite an Seite die Siege von Juventus bejubelt. Zwar waren sie nie auf solche Themen gekommen, aber wäre es so gewesen, dann hätten sie festgestellt, dass sie mehr oder weniger dieselben Vorstellungen über den Sinn des Daseins hatten oder zumindest dieselbe Art unausgesprochener Fragen teilten. Carlo kannte Sara, Eugenios Frau, ebenso wie deren Kinder Enea und Annika.

Mit der Zeit und nach langem Ringen hatte Carlo sich in Sara verliebt. Und sie sich in ihn. Sie hatten diese Liebe geduldig ertragen, obwohl ihnen Eugenio mit seiner Unbekümmertheit und seinen Seitensprüngen keine Hilfe dabei war. Schließlich hatten sie das begonnen, was man gemeinhin als »Beziehung« bezeichnen musste.

»Mensch, wir sind da«, sagte Eugenio.

Carlo zog die Feldflasche mit dem heißen Tee aus dem Rucksack und reichte sie dem Freund.

»Danke. Dieser Regen dringt einfach überall durch …«

Der 2362 Meter hohe Greina-Pass markiert die Grenze zwischen zwei Schweizer Kantonen: dem Tessin und Graubünden. Eugenio und Carlo überschritten ihn jedes Mal mit Ehrerbietung und in Gedanken an die Reisenden, die in früheren Zeiten genau denselben Pfaden gefolgt waren, um die Alpen zu überqueren. In der Gegend um die Greina entspringen zahlreiche Quellen, die auf der einen Seite in den Rhein und die Nordsee fließen, und auf der anderen Seite den Po und das Mittelmeer erreichen.

Für eine Bergtour war der Tag nicht ideal. Doch die beiden Freunde liebten die Greina, sie kannten die Gegend wie ihre Westentasche und beide – vor allem Eugenio – hatten eine Vorliebe für ungewöhnliche Unternehmungen. Nachdem sie den Piz Coroi bestiegen hatten, wanderten sie über die Ebene. Bald würden sie Crap la Crusch erreichen, einen gewaltigen Felsblock mit einem eingelassenen Metallkreuz. Nach jeder Wanderung hielten sie dort, um ihre Namen in das Buch in der Metallkassette einzutragen. An diesem Morgen fühlten sich beide beschwingt: im Vollbesitz ihrer Kräfte, mit elastischen Muskeln nach einer gesunden Anstrengung, die ihre wohltuende Wirkung in den kommenden Tagen entfalten würde. Wenn Carlo nur nicht dieser Gedanke umgetrieben hätte …

»Ich bin froh, dass wir hier sind«, sagte Eugenio. »Es hat mir so gefehlt.«

Carlo nickte.

»Bei einem solchen Wetter bin ich noch nie auf den Piz Coroi gestiegen«, begann Eugenio erneut.

»Das hat vermutlich auch noch kein anderer getan«, murmelte Carlo.

»Tja«, lachte Eugenio, »keiner ist so verrückt wie wir!«

Eugenio ließ sich darüber aus, wie lebhaft die Farben zutage träten, sobald der Nebel sich lichtete, als seien die Berge eben erst entstanden.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Carlo das poetische Gespür des Freundes bewundert, aber der Drang nach Wahrheit machte sich bemerkbar wie ein körperlicher Zwang, wie eine Schlinge, die ihm die Kehle zuschnürte. Obwohl er die »Beziehung« zu Sara irgendwie aufrechtzuerhalten versuchte, da sie einem wahren Gefühl entsprang, verachtete er sich doch für sein Schweigen.

»Sieh nur, dort oben, der Gaglianera und der Piz Medel … als würde man in der Zeit zurückversetzt … dreihundert Millionen Jahre, unglaublich, oder?«

Eugenio begann sich darüber auszulassen, dass der Augengneis ein metamorphes Gestein sei und so genannt werde, weil er aussah, als habe er lauter kleine Augen. Es war ein Spiel zwischen ihnen: meist protestierte Carlo gegen die geologischen Vorträge. Eugenio streckte den Arm aus, um auf den Punkt zu deuten, an dem das Grau des Gneises dem Gelb des Dolomits mit seinen rötlichen Manganeinlagerungen wich.

»Dort hinten, das ist Sedimentgestein aus der Trias … zweihundert Millionen Jahre alt, unglaublich, oder?«

Carlo versuchte zu lächeln. »Unglaublich, Herr Professor …«

Weiter südlich gab es Kalkschiefer- und Tonschieferberge, gewaltige schwarze Felsbrocken, die sich vom Piz Coroi bis zum Piz Terri übereinandertürmten. Eugenio erging sich in einer Tirade über den Ursprung der Berge, die aus Ablagerungen von Sand in den Meerestiefen entstanden waren, dort wo sich die Sedimente aus den Flüssen absetzten.

»Jedes Mal, wenn ich daran denke, wird mir ganz schwindelig!«, rief er. »Vor vielen Millionen Jahren war hier das Meer, stell dir das mal vor, ein ruhiges Tropenmeer …«

All das Gerede über Jahrmillionen machte Carlo nervös. In diesem Szenario kam ihm die »Beziehung« nur umso schäbiger vor. Er dachte an die weißen Strände, an das Blau des Meeres und des weiten Himmels am Horizont. Warum war alles im Wandel? Unaufhörlich brachten Strömungstransporte selbst die beschaulichsten Meere durcheinander, ballten das eine zusammen, brachen das andere auseinander, rissen Wunden und zerklüfteten.

Eugenio dozierte weiter über prähistorische Epochen, während sie die grasbewachsenen Dolinen hinter sich ließen und auf Crap la Crusch in der Mitte der sumpfigen Ebene zusteuerten. Zwischen den Mäandern des Flusses, reglos inmitten der wogenden Regenschwaden, wirkte er wie ein Wrack, wie etwas, an das man sich klammern musste, um nicht unterzugehen. Die beiden Männer näherten sich und legten ihre Rucksäcke ab, schüttelten das Wasser aus den Mützen. Carlo zog die Handschuhe aus, um den Verschluss der Thermosflasche abzuschrauben. Er goss ein wenig Tee in den Deckel und reichte ihn Eugenio. Dann bewegte er die Finger, betrachtete sie: sie waren gerötet und schrumpelig. Er stellte sich seine Hände als alter Mann vor, zitternd, frierend, ohne Gefühl in den Fingerkuppen.

»Gibt’s ein Problem?«, fragte Eugenio.

»Ja.«

»Mit deinen Händen? Zeig mal!«

»Nein, es sind nicht die Hände. Es geht um …«

Er legte eine Pause ein. Das Rauschen des Regens verstärkte die Stille ringsum. Carlo hörte seinen eigenen Atem, Eugenios Atem, das Geräusch eines Steines unter seinem Fuß. Jeden noch so leisen Laut auf der Hochebene nahm er wahr. Gab es wirklich einen geeigneten Ort und Zeitpunkt, um es ihm zu sagen? Sie waren allein auf diesem kargen Flecken Land, durchnässt, erschöpft, aber sie fühlten sich lebendig, lebendiger denn je. Nur hier, nur an diesem Morgen würde Eugenio es verstehen und vielleicht gar verzeihen können.

»Ich muss mit dir über etwas reden.«

Eugenio schaute ihn an.

»Es geht um Sara«, sagte Carlo. »Und um mich. Besser gesagt, um uns.«

2. Crap la Crusch

Eugenio brach in Gelächter aus.

Es war ein schallendes Lachen, das ansteckend wirkte. Carlo konnte sich dem Charme des Freundes mit seinem blonden Bart, den grünen Augen und der sonnengebräunten Haut kaum entziehen. Wie stets wirkte er entspannt und ausgeglichen. Kaum hatte er begriffen, worum es ging, hatte er angefangen zu frotzeln, als habe Carlo ihm irgendwelchen Klatsch erzählt.

»Ich fasse es nicht! Und seit wann läuft das Ding zwischen euch schon?«

»Das Ding?«

»Ich meine, trefft ihr euch in Motels und so weiter?«

»Wir sind nicht …«

»Da ist meine Frau ja ganz schön eingespannt, neben den Kindern und dem Haushalt … na ja, aber allemal besser als ein Aerobic-Kurs, was?«

»Hör zu, Eugenio, ich kann verstehen, dass du …«

»Mensch, altes Haus!« Eugenio schlug ihm mit der Hand auf die Schulter. »Endlich hast du es geschafft, auch eine Frau zu finden … dumm nur, dass sie bereits meine ist!«

Vielleicht war es am Ende doch nicht der ideale Zeitpunkt. Oder vielleicht hatte Eugenio den Schock nicht verkraftet. Sie waren erschöpft und durchgefroren, mitten auf der Hochebene im Regen. Seit sie die Scalettahütte hinter sich gelassen hatten, waren sie auf keine menschlichen Spuren mehr gestoßen: keine Strommasten, keine Wasserrohre, keine Hochspannungsleitungen. Carlo versuchte mit aller Kraft, den Bann zu durchbrechen. Immer wieder sagte er sich im Stillen, dass es ein paar Kilometer weiter unten Häuser und Autos gab. Aber vergeblich, die Worte verloren sich in der Unerschütterlichkeit der Erde, der Felsen, des Wassers.

»Hör zu, das ist kein Scherz. Sara und ich sind ineinander verliebt.«

Der Wind strich über das dichte Gras. Über das zu jeder Jahreszeit stets gleiche Gelb, Schwarz, Grau der Felsen. Die Worte prallten gegen die Schroffheit der Landschaft, wurden ihres Sinnes entleert. Sara und ich sind ineinander verliebt. Sara. Und ich. Verliebt. Was sollte das heißen?

»Verliebt!« Eugenio zog eine komische Grimasse. »Regnet es nicht zu stark, um verliebt zu sein?«

»Ich weiß, es war falsch von mir, es dir nicht eher zu sagen …«

»Es war falsch von dir, es mir zu sagen, so wird ein Schuh draus!«

Eugenio hatte eine ernste Miene aufgesetzt.

»Was?«, stammelte Carlo.

»Du bist ein Dummkopf.« Eugenio zog die Mütze ab und hob den Kopf, ließ sein Gesicht vom Regen benetzen. »Ich kann es nicht fassen … Du bist so ein Dummkopf, dass ich es einfach nicht fassen kann!«

Carlo trat auf ihn zu. »Du hast allen Grund, wütend zu sein.«

»Von wegen wütend, enttäuscht bin ich. Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Wollt ihr um Verzeihung bitten? Oder eine Dreierbeziehung auf die Beine stellen?«

Eugenio senkte den Kopf und sah ihm in die Augen.

»Oder glaubst du gar, Sara würde mich verlassen?«

»Ich glaube, dass wir alle drei erwachsen sind und …«

»Denn das würde sie niemals tun. Den Kindern zuliebe. Ich bin sehr tolerant, weißt du, ich habe meine Reisen, meine Arbeit. Es ist mir völlig egal, ob Sara einen Liebhaber hat. Schließlich habe ich selbst …« Eugenio fuhr sich mit der Hand durch das feuchte, zerzauste Haar. »Aber was diskutieren wir überhaupt? Du hättest dir eine andere Frau aussuchen oder dich zumindest mit Sara zusammentun sollen, ohne etwas zu sagen. Doch jetzt ist das Chaos vorprogrammiert. Ich werde rumerzählen, dass mein bester Freund ein Schwein ist, Sara wird Enea und Annika alles erklären müssen. Und du weißt, wie Kinder in diesem Alter sind, sie werden dich hassen … alle werden dich hassen!«

Carlo erstarrte. »Ich habe gedacht, wenn ich die Wahrheit sage …«

»Halt den Mund. Und mim hier nicht den anständigen Kerl. Zwei Freunde in den Bergen, ein Handschlag unter Männern … ist es das, was du willst?« Eugenio schien amüsiert und aufgebracht zugleich. »Willst du einen Handschlag? Oder wollen wir uns lieber prügeln, wie im Western?«

Carlo wich einen Schritt zurück. Er konnte es kaum glauben. Eugenio war Arzt, ein rationaler Mensch, an den Umgang mit Krisen gewöhnt. Auch wenn er andere Frauen hatte, blieb Sara doch immerhin seine Ehefrau. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder aufgezogen, hatten Wohltätigkeitsveranstaltungen, Hilfsprogramme organisiert. Doch nun lachte er ununterbrochen wie ein Irrer, während der Regen ihm aus Kopf- und Barthaar triefte.

»Weiß Sara überhaupt, dass du mir alles erzählen wolltest?«

»Nein, sie … Das heißt, wir sind zusammen hier oben gewesen und bei dem Gedanken daran, unaufrichtig zu sein, habe ich mich schlecht gefühlt. Aber wir hatten darüber gesprochen und sie …«

»Ihr habt darüber gesprochen!« Wieder brach er in Gelächter aus. »Sehe ich das richtig, ihr habt darüber gesprochen, aber dann hast du sie in die Pfanne gehauen, ohne ihr ein Wort zu sagen! Ich denke, du bist Anwalt? Bist du wirklich so dumm? Jetzt, wo du alles an die große Glocke hängst, wirst du schon sehen, was die Leute sagen …«

Carlo unterbrach ihn. »Ganz ehrlich, ich habe es bisher nur dir erzählt. Keiner weiß es. Ich dachte, dass wir als erwachsene Menschen …«

»Hör mir auf mit erwachsenen Menschen. Herr Farinelli, ich fordere Sie zum Duell heraus!« Er schleuderte ihm die nasse Mütze ins Gesicht. »So macht man das doch, stimmt’s? Oder soll ich dich lieber ohrfeigen?«

Er hob den Arm, als wolle er ihn schlagen. Carlo stieß ihn zurück. Was er in den Augen des Freundes sah, erschreckte ihn: Obwohl er ununterbrochen lachte, waren seine Pupillen geweitet. Etwas lauerte darauf, hervorzubrechen, etwas Böses, das gleich zum Vorschein kommen würde.

»Lass uns jetzt mal runterkommen. Du hast recht, ich hätte dir nichts davon erzählen sollen. Verzeih mir, und ich werde alles tun, was du willst, aber …«

Eugenio packte ihn an den Schultern.

»Glaub ja nicht, dass du so davonkommst! Ich habe dich zum Duell herausgefordert!« Er versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. »Sie dürfen die Waffe wählen, mein Herr!«

Er hatte sich auf ihn gestürzt, hielt ihn gepackt.

»Hör zu, Eugenio …«

Um sich zu befreien, versetzte Carlo ihm einen weiteren Stoß. Eugenio reagierte blitzartig und traf ihn am Kinn. Carlo geriet auf dem Gestein ins Stolpern, konnte sich aber auf den Beinen halten. Er verlor die Mütze und während er sich umdrehte, um sie zu suchen, bemerkte er, dass Eugenio erneut zum Schlag ausholte. Er hob den Arm zum Zeichen der Ergebung. Eugenio ahmte ihn nach, hob ebenfalls den Arm. Sein Lachen wurde immer lauter.

»Wenn du schon den Mut zur Wahrheit aufgebracht hast, wieso traust du dich dann nicht, mich zu schlagen?«

Er traf ihn erneut, an der Hüfte und dann am Kiefer. Carlo erkannte, dass es unmöglich war, ihn zur Vernunft zu bringen. Die Anstrengung, der Schock, der verletzte Stolz … was auch immer es war, Eugenio hatte die Kontrolle verloren. Carlo war sicher, dass keine wirkliche Gefahr von ihm ausging – der Freund wollte ihn lediglich demütigen –, aber er musste ihn in die Schranken weisen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass sie ein paar Stunden Fußmarsch zurück zum Auto vor sich hatten.

»Jetzt reicht’s, hör mir endlich mal zu!«

Eugenio lachte und ahmte die Gebärden eines Boxers nach.

»Komm, komm schon, zeig, was du draufhast …«

Carlo seufzte. Eine tiefe Erschöpfung, ein Gefühl der Sinnlosigkeit lähmten seinen Geist und seine Muskeln. Alles erschien ihm vergeblich, die Liebe, die Freundschaft, dieser Versuch, aufrichtig und treu zu bleiben. Aber treu gegenüber was? Er und Eugenio hatten zusammen studiert und gearbeitet, hatten ihr Leben ganz und gar ausgekostet. Sie hatten sich auf sportliche Unternehmungen eingelassen und in der Anstrengung die Grenzen körperlicher Belastbarkeit ausgetestet. Sie hatten buddhistische Tempel und indische Dörfer besucht, hatten unterm Sternenhimmel der Wüste biwakiert.

Carlo war schuld, dass es damit vorbei war. Er war schuld, gewiss, und er war bereit, das zuzugeben. Aber ausgerechnet in dem Augenblick, als er um Verzeihung zu bitten versuchte, zog Eugenio ihn ins Lächerliche. Auf seine indirekte Art gab er ihm zu verstehen, dass er alles dransetzen würde, ihn zu vernichten. Er stellte ihn auf die Probe, er durfte sich nicht weiter …

Ein Faustschlag auf die Lippe unterbrach seine Gedanken. Er schmeckte Blut. Ein stechender Schmerz bohrte sich ins Gehirn, wie ein Nagel, und einen Augenblick lang verschwamm alles vor seinen Augen. Er drehte sich zur Seite. Eugenio streifte ihn an der Schulter.

»Es reicht!«, schrie Carlo.

Der Regen drang durch die Kleidung, verfing sich in den Augenlidern, erschwerte den Rückzug, zumal Eugenio ihn bedrängte. Und was hätte er auch tun sollen, über die Hochebene davonrennen? Er musste standhalten, ihn zur Vernunft bringen, selbst um den Preis, ein paar Schläge zu kassieren. Abgesehen davon, dass er sie verdient hatte.

»Schlag mich ruhig, wenn du willst.«

»Verlass dich drauf!«

Eine Faust traf ihn am Wangenknochen, die andere, mitten in die Magengrube, raubte ihm den Atem. Carlo sah den erhobenen, erneut zum Schlag bereiten Arm. Er warf sich Eugenio entgegen, drängte ihn zurück und klammerte sich mit dem gesamten Gewicht seines Körpers an ihn. Eugenio schwankte, machte einen Schritt zurück. Carlo versuchte sich zu lösen, aber durch den Schwung hatte er sein Gleichgewicht verloren.

Eugenio prallte mit dem Rücken gegen den Felsen, taumelte und stürzte zu Boden. Carlo kam ebenfalls zu Fall, rollte über die Steine. Er fand sich ausgestreckt auf dem Boden wieder, unter sich Eugenios Beine. Er spürte ein Brennen im Nacken und bemerkte, dass ein Stein ihn verletzt hatte. Mit einer Hand tastete er nach der blutenden Wunde.

»Ein Schnitt.« Hastig erhob er sich. »Was, verdammt noch mal …«

Sein Atem ging keuchend, der Rücken schmerzte.

Er wandte sich zu seinem Freund um. »Können wir jetzt endlich reden?«

Eugenio antwortete nicht.

Später fragte sich Carlo, wie er es sofort hatte wissen können. Sein Unterbewusstsein hatte die weniger dramatischen Möglichkeiten von vornherein verworfen. Bevor er darüber nachgedacht, sich irgendeine sinnvolle Frage gestellt hatte, wusste Carlo bereits, dass Eugenio tot war.

Natürlich versuchte er, ihn anzusprechen. Er beugte sich über ihn, wollte ihn schütteln, unterließ es aber sofort, um ihm keinen Schaden zuzufügen …

Schaden? Er ist tot, dachte er, während er ihn vorsichtig auf den Rücken drehte, den Nacken nach Verletzungen absuchte. Er ist tot. Ihm wurde bewusst, dass er irrational handelte, er fühlte ihm tatsächlich den Puls, beugte sich hinab, um einen auch noch so leisen Atemhauch zu erhaschen. Eugenio ist tot. Carlo wollte es nicht wahrhaben, aber sein eigener Körper verriet ihn: die Hände zitterten, die Kehle war ausgedorrt, die Augenlider zuckten, als habe er einen Tick.

Er ist tot … und ich habe ihn umgebracht.

Reflexartig sah er sich um. Die steppenartige Landschaft lag da wie immer, grün und grau. Über dem flachen Boden schwebten Nebelbänke, Gespenstern gleich. Die Berge waren von Regenschwaden und Wolken verhüllt. Carlo ließ den Blick wandern, so weit das Auge reichte. Gras, Felsen, Wasser. Ohne es zu merken, gab er die ganze Zeit ein Geräusch von sich, eine Art Wimmern. Was mache ich nur, dachte er, was mache ich jetzt nur, was soll ich bloß machen …

Eugenio lag reglos da. Carlo hatte nie zuvor etwas Regloseres gesehen. Aber wenn er am Ende … er war tot, aber wenn er am Ende doch noch lebte? Was wusste Carlo schon vom Leben und vom Tod? Das Wimmern kam ihm zu Bewusstsein, er versuchte sich zu beherrschen, nachzudenken. Vielleicht war es das Herz, vielleicht ein Herzstillstand oder eine Art Koma, eine Ohnmacht.

»Eugenio …«, probierte er es.

Dann lauter: »Eugenio, he!«

Seine Stimme klang heiser, krächzend, als habe er seit Stunden nicht mehr gesprochen. Er sah sich abermals um.

»He!«, rief er. »Ist da jemand? He, wir brauchen Hilfe!«

Wieder fing er leise an zu wimmern. Er beugte sich zu Eugenio hinab, horchte erneut auf den Atem, den Herzschlag. Er konnte nirgendwo Wunden entdecken, wahrscheinlich hatte er innere Verletzungen erlitten, vielleicht beim Aufschlagen auf den Felsen oder beim Sturz. Vielleicht hatte er sich einen Halswirbel gebrochen, ein unglücklicher Zufall, eine dumme Art …

Carlo weinte.

Das Wimmern hatte sich in ein animalisches Heulen verwandelt, der Rotz lief ihm aus der Nase und Tränen verschleierten seinen Blick. Er hob die Hände vor die Augen, wie um sich zu verstecken. An den Felsblock mit dem Kreuz gelehnt, sackte er in sich zusammen. In den Stein war die Jahreszahl 1870 geritzt. Gleich daneben, mit einer Kette befestigt, befand sich die Metallkassette mit dem Tourenbuch.

3. Wer weiß

Ins Tal zurückkehren. Um Hilfe bitten. Warten, bis es aufklart, damit man einen Rettungshubschrauber raufschicken kann. Mit Sara reden, mit den Kindern. Sich erklären. Die Liebe … von der Liebe reden: von der zu Sara, der zu Eugenio und auch der zu den Kindern. Hoffen, dass sie an die Liebe glauben.

Sich der Polizei stellen. Sich erneut erklären. Sagen: ein Unfall. Sagen: Er ist ausgerutscht. Und die Prellungen? Er hat sich beim Sturz verletzt. Und Ihre Prellungen? Wir sind beide gestürzt. Mitten auf der Hochebene? Und außerdem, Herr Farinelli, scheinen diese Prellungen nicht durch einen Sturz, sondern vielmehr durch eine Auseinandersetzung verursacht worden zu sein. Dieses Wort hören: Auseinandersetzung. Denken, dass es das Ende ist. Sagen: Schon möglich, dass wir gestritten haben. Schon möglich? Ja, aber nichts Ernstes. Darauf warten, dass die Ermittler die Lücken schließen, auf eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung hoffen.

Kopfzeile: Bleniotal, 40-jähriger Anwalt aus Lugano. Warum wurde bei Verbrechensmeldungen eigentlich immer der Beruf erwähnt? Dann gleich mit dem Finger in die Wunde. Schlagzeile: TÖTETDENEHEMANNDERGELIEBTEN. Und der Untertitel: Sie waren allein in den Bergen. Der Anwalt: »Es war ein Unfall.«

Dicht neben Eugenios Körper an den Felsen gekauert, schaffte Carlo es nicht, seinen Geist im Zaum zu halten. Wie im Fieberwahn malte er sich jede Szene der nahen und ferneren Zukunft aus, er vernahm jedes Wort, dachte an all die Fragen, die Antworten. Gleichzeitig mischten sich Bilder der Vergangenheit darunter. Eugenio, der einen Zipfel des Zeltes gepackt hielt, damit der Sturm es nicht wegfegt, auf achttausend Metern Höhe, mit eisverkrustetem Bart. Sara, die ihm die Tür öffnet, ehe er anklopfen kann, mit ernstem Gesicht und lächelnden Augen. Das Gefühl der Sehnsucht, am Abend, nach einem Arbeitstag, ausgestreckt auf dem Sofa. Das Wählen von Eugenios Nummer, das Klingeln und die Frage: Wird sie sich melden, können wir uns ein paar Minuten sprechen? Oder meldet er sich und ich werde ihn fragen, ob er die Daten für die Wandertour durch die Toskana im Kopf hat?

Vielleicht war eine Minute verstrichen, vielleicht waren es zwei Tage. Oder ein geologisches Zeitalter. Die Greina-Hochebene ringsum blieb sich immer gleich: Geröll, Sumpfland, Felsmonolithen. Der Horizont unsichtbar, die Berge im Nebel verloren. Und kilometerweit keine Menschenseele. Der letzte Mensch, die letzte menschliche Stimme war Jahrhunderte, Jahrtausende zuvor verklungen …

Genug: Carlo kam auf die Füße, rieb sich die steifen Finger. Er griff nach dem Rucksack und nahm einen großen Schluck warmen Tee. Er musste aus diesem Trancezustand herausfinden, andernfalls wäre es tatsächlich das Ende. Er würde nicht einmal nach Hause finden und wahrscheinlich während der Nacht erfrieren. Bei schwierigeren Touren nahm Carlo sein Handy mit, für den Notfall, aber auf der Greina war das nicht nötig. Er und Eugenio waren schon Dutzende Male hier oben gewesen und ebenso Sara und Eugenios Kinder. Enea kam sogar auf eigene Faust herauf, gemeinsam mit Freunden. Die Greina war eine vertraute Gegend, ein Stück Wildnis in greifbarer Nähe, um sich zu erholen, um der Wahrheit näher zu sein.

Der Wahrheit. Carlo würde diesen Augenblick für den Rest seines Lebens bereuen. Er würde tagtäglich leiden, würde weinen und sich wünschen, tot zu sein wie sein Freund. Im Grunde war Eugenio einfach so gegangen, unbeschwert. In einem Ausbruch von Wut, das ja, aber auf der Höhe des Lebens, nicht zu jung, nicht zu alt, stark, selbstsicher, voller Pläne. Carlo hingegen würde alt werden mit seinem Schmerz, der ihm Tag und Nacht im Kopf brannte. Und wenn er nicht an irgendeiner entwürdigenden Krankheit starb, würde er als Wrack in einem Altenheim enden, zusammen mit seinem Geheimnis.

Denn Carlo hatte nicht die Absicht, sich zu stellen.

Er kannte die Mühlen des Gesetzes nur zu gut, um zu wissen, dass es keine Hoffnung für ihn gab. Auch wenn keine eindeutigen Beweise vorlagen, sprachen die Indizien doch gegen ihn. Und selbst wenn man ihn freisprechen, also lediglich der fahrlässigen Tötung bezichtigen würde, wäre sein Leben zerstört. In einem kleinen Land entkommt niemand der öffentlichen Schande, der üblen Nachrede, der Missgunst der Geier, die sich am Unglück anderer erfreuen. Seine Eltern hätte der Schlag getroffen, er hätte die Kanzlei schließen, fortgehen müssen. Abgesehen davon war er nicht sicher, ob er Bewährung bekommen würde. Im schlimmsten Fall …

Carlo wollte nicht einmal ans Gefängnis denken.

Rechtsanwalt Farinelli in eine Zelle gesperrt. Und die Mitgefangenen, die ihn um Rat fragten. Oder, wer weiß, am Ende würde irgendein unzufriedener ehemaliger Klient die Gelegenheit ergreifen, ihm eins auszuwischen …

Noch immer im Delirium. In solchen Augenblicken spürte Carlo weder die Kälte noch den Regen. Es war ein gefährlicher Zustand, eine Form der Realitätsverweigerung. Dabei hätte er sich besser fragen sollen, ob es eine Möglichkeit gab, dieser Realität zu entrinnen.

Eigentlich hatten sie an diesem Tag gar nicht vorgehabt, auf die Greina zu steigen. Sie hatten nicht einmal die Absicht, sich zu treffen. Eugenio hatte ihn im letzten Moment, kurz vor dem Verlassen des Hauses, angerufen. Und Carlo hatte mit niemandem gesprochen. Beim Aufstieg hatten sie ein paar Wanderer getroffen, aber lediglich einen kurzen Gruß getauscht, praktisch ohne sich anzuschauen, mit tief ins Gesicht gezogenen Mützen. Auf der Hütte hatten sie keine Pause eingelegt, weil sie auf den Piz Coroi wollten, bevor es richtig anfing zu regnen.

Keiner weiß, wo wir sind, dachte Carlo.

Eugenio konnte wer weiß wo hingegangen sein, um an einer Felswand zu trainieren oder um allein durchs Gebirge zu joggen. Das tat er praktisch täglich, bei Regen wie bei Sonnenschein. Und oft suchte er sich abgelegene Orte, in den Bergen rings um Lugano oder Como, manchmal auch im Bavonatal oder weiter nördlich im Leventinatal. Die Greina war ein Ziel unter vielen, niemand würde auf die Idee kommen, ihn ausgerechnet hier zu suchen.

Und wenn er verschwunden wäre?

Erneut geriet Carlo in einen fast halluzinativen Zustand. Doch diesmal entwarf sein Geist Pläne, Szenarien, sah Schwierigkeiten voraus und suchte nach Lösungen. Ein Teil von ihm stand unter Schock, war von Reue geplagt, verwirrt. Ein anderer Teil reagierte dagegen wie ein gehetztes Tier: Sie dürfen mich nicht schnappen, wiederholte er, niemand darf sich in meinen Schmerz einmischen.

Wäre das Unglück daheim oder an einem näher an der Zivilisation gelegenen Ort geschehen, hätte Carlo sich vielleicht damit abgefunden. Aber in dieser urweltlichen Szenerie trieb ihn der Überlebensinstinkt nach und nach dazu an, sich zu bewegen, bestimmte Gesten zu verrichten, als habe er sie schon Tausende von Malen wiederholt. Er war ein urzeitlicher Jäger, ein Homo abilis oder erectus, der versuchte, die Naturgewalten zu bezwingen.

Er ließ sich neben Eugenios Körper in die Hocke nieder, schleifte ihn ein paar Meter weiter. Es gelang ihm, ihn bis zu einem nicht allzu hohen Felsabsatz zu bugsieren und so zu platzieren, dass eine Hälfte darüber hinausragte. Dann kauerte er auf der anderen Seite nieder und lud sich den Körper auf die Schultern. Er drückte den Rücken durch, spannte die Beinmuskeln an und kam zum Stehen. Der Leichnam lastete ihm schwer im Nacken. Mit beiden Händen hielt er ihn rechts und links gepackt, so wie Schäfer ihre Schafe tragen. Der Vergleich entlockte ihm ein hysterisches Auflachen, aber gleich darauf hatte er sich wieder im Griff und blieb ruhig. Unaufmerksamkeit durfte er sich nicht erlauben. Er schlug den Weg über die Ebene ein, mit dem Piz Ner zur Rechten und Crap la Crusch im Rücken. Jeder Schritt war eine Qual. Bein-, Arm- und Schultermuskeln schmerzten und er verspürte zunehmende Übelkeit.

Wenn ihn jemand entdecken würde, wäre er erledigt. An diesem Punkt gab es keine Ausrede mehr. Er wusste, dass er sich nicht in Sicherheit wiegen durfte, so gut sichtbar inmitten der Ebene. Trotz des Regens konnten durchaus Wanderer in der Nähe sein; ja, manche mochten die Greina gerade bei solcher Witterung, bei Regen und Nebel, die der Landschaft etwas Wildes, Existenzielles verliehen, wie Eugenio gesagt hätte.

Er durfte nicht an ihn denken. Bloß wie? Meter um Meter kämpfte er sich voran, während die Zähne vor Kälte klapperten und die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Am liebsten hätte er geweint, sich auf die Erde geworfen und den Dingen ihren Lauf gelassen. Aber jedes Mal, wenn er kurz davor war nachzugeben, begehrte etwas in ihm auf und er bewegte sich einen Schritt vorwärts. Eugenio war tot, er hingegen lebte. Und Eugenio wäre der Erste gewesen, der sich gewünscht hätte, dass er am Leben blieb. Die Toten mit den Toten, die Lebenden mit den Lebenden. Eugenio würde verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen, und Carlo musste seinen Schmerz in die Welt tragen. Nichts würde mehr sein wie zuvor. Aber er würde am Leben bleiben, und in Freiheit. Wenn du nicht frei bist, wozu dann überhaupt leben?

Er steuerte auf den Canyon zu, den der Rein da Sumvitg gegraben hatte. Mit seinen feuchtglatten Felsen und dem schäumenden Wasser war er gefährlich. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Der Gedanke an Eugenio beherrschte alles. Carlo zwang sich zum Weiterlaufen, als trage er irgendeine beliebige Last auf den Schultern, doch sobald er sich auch nur im Geringsten gehen ließ, sah er Eugenios Gesicht vor sich, hörte ihn mit seiner tiefen Stimme sprechen und lachen.

Ein altes Lied kam ihm in den Sinn. Chissà che fine ha fatto Eugenio … Das war absurd. »Wer weiß, was aus Eugenio geworden ist …« Er versuchte, die Worte und die Melodie aus seinem Kopf zu verdrängen, aber sie passten sich dem Takt seiner Schritte, dem abgehackten Rhythmus seines Atems an. Es war von Guccini, oder vielleicht von De Gregori. Jedenfalls von einem Liedermacher. Chissà che fine ha fatto Eugenio, barba da mascalzone, sotto che stelle si fa la notte, sotto che sole fa colazione … – »Wer weiß, was aus Eugenio geworden ist, mit seinem wilden Bart, unter welchen Sternen er die Nacht verbringt, unter welcher Sonne er sein Frühstück nimmt …«

Er trat an den Rand des Canyons, wo das Gelände abschüssig wurde. Er bückte sich und ließ den Körper vorsichtig zu Boden gleiten. Den Abhang hinunter hätte er ihn nicht im Gleichgewicht halten können, aber irgendwie musste er ihn bis zum Wasser schaffen. Deshalb versuchte er, soweit möglich, ihn zu rollen. Wo es nicht ging, schleifte er ihn an den Armen. Endlich erreichte er die ersten Gumpen des Sturzbaches. Er hielt inne, um ein paar Sekunden auszuruhen. Er war erschöpft. Aber das Wasser war nicht tief genug.

Lui che c’ha gli occhi così tranquilli, chissà che mare avrà incontrato … – »Er mit seinem so ruhigen Blick, wer weiß, welchem Meer er begegnet ist …« Gegen Regen, Übelkeit und Müdigkeit ankämpfend, schleppte Carlo sich am Ufer entlang. Er konzentrierte sich auf die Bewegungen, suchte nach der besten Strecke, um seine Last zu schleppen – er wollte nicht länger daran denken, dass es Eugenio war, obwohl dieses verdammte Lied ihn verfolgte. Er spürte einen metallischen, beißenden Geschmack im Mund. Seine Stiefel traten ins Wasser, balancierten über das Gestein. Mit etwas Ziehen und Zerren gelang es ihm, den Körper bis an den Rand einer zwischen den Felswänden des Canyons eingezwängten Gumpe zu schaffen.

Er blickte auf. Stieß einen Schrei aus.

Warum? Warum war ihm das passiert? Als er sich in Sara verliebte, hatte er versucht, sich von ihr fernzuhalten. Die Liebe war stärker gewesen, aber letztlich hatte Carlo sich wie ein Mann verhalten, hatte versucht, bei der Wahrheit zu bleiben. Und jetzt war er am Ende.

Keinen Meter mehr weiter.

Eher würde er sich ertränken, auf dem Grund dieser dunklen Gumpe. Vielleicht wäre es das Beste. Das Ehrlichste. Warum nur dieser erbitterte Wunsch, am Leben zu bleiben? Weinend kauerte er sich neben die Leiche. Er war zerlumpt, verdreckt, durchnässt. Die Schnittwunde am Hals blutete und allmählich verlor er das Gefühl in den Fingern. Gab es einen Sinn, diese Hölle zu verlängern? Ein Augenblick würde genügen. Ein letzter Widerstand der Lungen, die um Luft rangen. Ein letztes Zucken. Dann Bewusstlosigkeit, die Befreiung von der Zeit, von den Mühen, von jeder Form des Denkens.

Im Nichts verschwinden. Jegliche Angst hinter sich lassen.

Warum nicht?

Darum nicht. Sein Körper bewegte sich für ihn, sein Gehirn wog Gewichte und Entfernungen ab. Er sammelte die größten Steine, die er finden konnte, und benutzte sie, um den Körper zu beschweren: Er schob sie unter die Kleidung, fixierte sie mithilfe der Unterwäsche. Ständig ging ihm das Lied durch den Kopf, und der Name Eugenio, Eugenio, Eugenio, che fine ha fatto Eugenio, anima da pirata, »Eugenio, die Piratenseele«, wie ein Albtraum, eine böse Obsession …

Die Übelkeit gewann die Oberhand. Auf einen Felsblock gestützt, erbrach sich Carlo in den Bach. Die Armmuskeln zitterten vor Anstrengung. Am Ende stieß er ein Stöhnen aus, ein Röcheln, das in einen Hustenanfall überging. Er tauchte das Gesicht ins Wasser. Die Kälte wirkte wie ein Peitschenhieb, verlieh ihm die nötige Energie, um die Leiche in die Gumpe zu stoßen. Er suchte weitere Steine, breit und flach, und ließ sie auf den Körper hinabsinken. Das wiederholte er mehrere Male: Er wollte nicht riskieren, dass beim ersten Hochwasser alles an die Oberfläche käme. Über eine Stunde brachte er damit zu, schichtete Stein auf Stein, bis ihn die Kräfte endgültig verließen.

Es hatte aufgehört zu regnen. Ein Sonnenstrahl drang durch das Grau, tauchte den Canyon in ein seltsames, unwirkliches Licht. Carlo ließ sich zwischen den Felsen zu Boden und auf den Rücken sinken. Lange Zeit blieb er reglos liegen, mit geschlossenen Augen und kurzem Atem, seine Brust hob und senkte sich.

Aber noch war er nicht fertig. Jener unbeherrschbare Instinkt, der sich seines Körpers bemächtigt hatte, ließ ihn aufstehen und mitten über die Ebene zurück zum Crap la Crusch wandern. Er aß einen Energieriegel und stillte den Durst, legte aber keine Pause ein. Stattdessen trug er Eugenios Rucksack bis zum Bachlauf. Er war schon im Begriff, ihn in einer der ersten Gumpen zu versenken, doch dann zwang er sich, bis zu der Stelle hinaufzusteigen, an der er den Körper hineingestoßen hatte, und noch ein Stück weiter, auf der Suche nach einer anderen ausreichend tiefen Gumpe. Schließlich füllte er den Rucksack mit Steinen, ließ ihn auf den Grund sinken und bedeckte ihn mit weiteren Gesteinsbrocken.

Auf dem Rückweg überkam ihn einen Moment lang der Gedanke, dass alles zwecklos gewesen war. Er lief zügig voran, spürte nicht länger die Schmerzen und die Anstrengung. Zwischen Geröllblöcken stieg er hinab und passierte die Scalettahütte, ohne einzukehren. Er warf dem Holzgebäude lediglich einen Blick zu: über dem spitzen Dach stieg dünner Rauch auf, aber die Fensterläden waren geschlossen. Besser so.

Wenig später jedoch, kurz vor dem Erreichen der Talsohle, begegnete er zwei Wanderern. Vor Schreck stockte ihm der Atem. Er hatte keine Spuren auf seinem Weg hinterlassen, aber wenn die beiden sich an ihn erinnerten? Eines Tages könnten sie ihn vielleicht wiedererkennen.

Es war ein Pärchen, Mann und Frau. Er bückte sich, um seinen Schuh zuzubinden, während sie hinaufsah, dorthin, wo die Berge aus dem Nebel hervorlugten. Carlo beschleunigte den Schritt, murmelte einen Gruß. Sie erwiderte ihn in schwyzerdütschem Tonfall, während er nicht einmal den Kopf hob. Carlo blickte sich nicht um, sagte sich im Stillen immer wieder, dass alles gut gehen werde, dass er sich wie ein ganz gewöhnlicher Wanderer verhalten müsse.

Er lief weiter bis zu der Stelle, wo der Wagen parkte. Zum Glück waren sie mit seinem und nicht mit Eugenios gekommen. Carlo hielt sich nicht auf, gönnte sich keine Pause. Er warf den Rucksack in den Kofferraum, nahm hinterm Steuer Platz und fuhr los, zwang sich beim Fahren zu höchster Konzentration.

Er hatte um sein Leben, um seine Freiheit gekämpft. Aber er wusste, dass er nie wieder frei sein würde, nicht wirklich. Auf dem Weg hinab nach Olivone, auf der Autobahn nach Biasca, bei der Rückkehr nach Lugano spürte er Eugenios Abwesenheit wie einen körperlichen Schmerz, als hätte man ihm einen Arm ausgerenkt. Eugenio mit halb geöffnetem Mund, aufgerissenen Augen. Eugenio am Grund des Wassers, vom Gewicht der Steine zerquetscht, verlassen in der Zeitlosigkeit der Greina. Eugenio, für immer verschwunden. E lontano lontano, in qualche altro paese, certamente avrà comprato un diamante ed un turchese da portare a chi è rimasto qua. – »Und in weiter Ferne, in einem anderen Land, hat er bestimmt einen Diamanten und einen Türkis erstanden, um ihn dem zu bringen, der hier zurückgeblieben ist.«

4. Die Schweizer sterben glücklich

Während des Studiums hatten Carlo und Eugenio einige Semester zusammengewohnt. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren, bis sie, Jahre später, bei einem Survivalcamp in der Natur wieder zueinandergefunden hatten. Carlo musste daran denken, dass Eugenio als junger Mann Klavier gespielt hatte. Ziemlich gut sogar, wie alles, was er tat.

Weshalb diese Erinnerungen? Im Frisörsalon Gaetano, Hairstyling Männer/Frauen, gab es kein Klavier. Und nichts, was an die Universität denken ließ oder an Eugenio erinnerte. Im Hintergrund das Geplärre eines Radio-Werbesenders, dazu die Kundengespräche über Bill Clinton, den Absturz der Swissair-Maschine in Kanada und die fünf Tore, die Lugano beim Spiel gegen Basel geschossen hatte.

»Wie geht es Ihnen, Herr Farinelli?«

Carlo brummte irgendeine Antwort.

»Was für ein Tag heute, nicht wahr?«

Die Hände des Frisörs machten sich wieder an seinem Nacken zu schaffen. In der Tat war an diesem Samstagvormittag alles perfekt: Sonnenschein, klarer Himmel, schimmernde Gläser auf den Bartischen, und selbst die Schlagzeilen der Zeitungen, die auf den karierten Tischdecken lagen, wirkten geradezu harmlos. Carlo war am gewohnten Ort auf das gewohnte Glas Frascati eingekehrt. Er hatte ein paar Worte mit einem Kollegen und einigen Bekannten gewechselt. Dann war er zum Haareschneiden gegangen.

Jetzt, vor dem Spiegel, dachte er an Eugenios Klavier.

Noch hatte niemand Alarm geschlagen: Es kam vor, dass Eugenio ohne Vorankündigung aufbrach und längere Zeit in einer abgelegenen Gegend kampierte. Er nannte das »Härtetest«, als Vorbereitung für seine Reisen in die Wüste oder in große Höhen. Nur, dass Eugenio diesmal dort oben auf der Greina geblieben war. Sara konnte das nicht wissen, aber sie wirkte beunruhigt. Obwohl Carlo versuchte, sich natürlich zu geben, war er ungewollt kühler und zurückhaltender. Er wusste, dass er auf sie verzichten musste. Er würde auf alles verzichten müssen.

Im Wartebereich für die Kundschaft saßen zwei Frauen und ein Mann mittleren Alters. Nachdem der Mann die