Wachtmeister Studers Ferien - Andrea Fazioli - E-Book

Wachtmeister Studers Ferien E-Book

Andrea Fazioli

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Beschreibung

Ascona 1921, einer der heißesten Sommer seit Menschengedenken. Studer, Polizeikommissar aus Bern, macht mit seiner Frau Urlaub am Lago Maggiore. Die Ruhe ist himmlisch - bis Studer von einem Mann angesprochen wird. Er ist Schriftsteller, kommt auch aus der Deutschschweiz und bittet den Kommissar um Hilfe: Am Waldrand, nicht weit von seiner bescheidenen Behausung, wurde eine Leiche gefunden, und die örtliche Polizei ist überzeugt, dass er die junge Frau getötet hat. Studer beginnt halbherzig, Erkundigungen über das Opfer einzuholen: eine ausländische Tänzerin, die mit einem abgehalfterten alten Baron befreundet war und in der Nachbarschaft der exzentrischen Künstler des Monte Verità lebte …Bereits in den zwanziger Jahren begann Friedrich Glauser mit einem Roman über Studers Ferien in Ascona, der aber bis zu seinem Tod 1938 unvollendet blieb. Das Fragment umfasst vierzig Seiten, drei verschiedene Anfänge und gleich vier Schauplätze. Hundert Jahre später übernimmt der Tessiner Schriftsteller Andrea Fazioli, spinnt eine Erzählung um diese Fragmente herum - und klärt den Fall auf.

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Andrea Fazioli | Friedrich Glauser

Wachtmeister Studers Ferien

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen

atlantis

Mit mir steht’s bös. Hierüber ist kein Zweifel möglich. Früher war’s einfach, da annoncierte ich jeweilen: »Junger Mann sucht Beschäftigung.« Heute muss ich annoncieren: »Leider nicht mehr junger, sondern bereits etwas ältlicher, abgenutzter Mann fleht um Erbarmen und Unterschlupf.«

 

Robert Walser

Das letzte Prosastück

1Tod

Man muss abwarten

Ich hatte mich zum Lesen auf den Balkon im ersten Stock gesetzt, als auf der Straße unter mir ein Mann stehen blieb und mich fragte, ob ich ihm bitte das Leben retten könnte. Es war ein stämmiger Mann, mit grauem Haar und breitem, von Falten zerfurchtem Gesicht.

Zuerst dachte ich, ich hätte ihn falsch verstanden.

»Verzeihung«, fragte ich, »kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Sie können mir behilflich sein zu leben.«

Ich legte mein Buch beiseite (es war ein Roman von Simenon, wenn ich mich recht erinnere) und sah auf die Straße, den Parkplatz, das Rondell mit dem Brunnen in der Mitte. Niemand sonst war zu sehen. Es war ein strahlender Märztag. Der Mann, um die siebzig, trug einen für die Jahreszeit unpassenden dunkelgrauen Dufflecoat. Er reckte den Kopf zu mir hinauf und schirmte mit einer Hand die Augen gegen die Sonne ab.

»Ich versichere Ihnen, dass es sich um ein seriöses Anliegen handelt. Möchten Sie meine Visitenkarte sehen?«

Mit diesen Worten zog er ein Kärtchen aus der Tasche und streckte es mir entgegen. Ich merkte, dass es zu spät war, um abzulehnen, also beugte ich mich vor und zeigte dem Mann die Eingangstür. Dann ging ich nach unten, um zu öffnen. Wortlos reichte er mir das Kärtchen.

Aurelio Cattaneo

Anarchistischer Dichter,

Legionär, Gastwirt

Mehr nicht. Auf der Rückseite eine Adresse: »Ronco Pizzotti, 6721 Ludiano, Schweiz«. Cattaneo sah mich unverwandt an, als warte er auf einen Kommentar meinerseits. Ich sagte, ich sei erfreut, ihn kennenzulernen, und mein Name sei …

»Ja«, unterbrach er mich. »Sie heißen Fazioli. Schriftsteller. Ich kenne Sie.«

Da ich nach wie vor das Kärtchen in den Händen hielt, begann ich mit dem Nächstliegenden.

»Sie sind Gastwirt?«

»Ja, ich war zu alt geworden, um in der Welt herumzureisen. Inzwischen bin ich auch zu alt für die Gastwirtschaft. Ich kann von einem Tag auf den anderen sterben, wissen Sie?«

Und nach einer kurzen Pause: »Wie übrigens wir alle.«

Daraufhin bot ich ihm einen Kaffee an. Er willigte ein, vorausgesetzt, ich hätte einen Schuss Grappa für einen Caffè Corretto. Wir nahmen am Küchentisch Platz.

»Ich habe einige Manuskripte für Sie.«

»Manuskripte? Aber wollten Sie nicht, dass ich Ihnen das Leben rette?«

War er am Ende ein Schriftstellerneuling? Vielleicht hatte er den Roman seines Lebens verfasst und wollte eine Meinung einholen. Oder aber, was öfter der Fall ist, ihn interessierten gar keine Meinungen, sondern es ging ihm nur ums Veröffentlichen.

»Wie Sie sicherlich wissen«, sagte er, wobei er mich nicht aus den Augen ließ, »können Worte Leben retten.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

Er überging meinen Einwand: »Ich habe keine Wurzeln. Meine Großmutter ist jung gestorben, und meine Mutter wuchs in einer Pflegefamilie auf. Sie behielt jedoch den Namen ihres Vaters, also meines Großvaters: Cattaneo. Auch ich heiße Cattaneo, da mein Vater unbekannt blieb.« Er goss noch ein wenig Grappa in seinen Kaffee. »Und mein Großvater … war in der Fremdenlegion. Wie ich.«

Er deutete auf das Abzeichen an seinem Jackenkragen: eine flammende Granate auf rot-grüner Flagge.

»Meine arme Mutter ist vor einem Jahr gestorben, mit neunundneunzig Jahren. Damals, als ich mir endgültig keine Hoffnungen mehr darauf machte, bin ich wieder auf meinen Großvater gestoßen.«

Unter den Dingen, die seine Mutter hinterlassen hatte, befand sich auch ein Koffer oder Karton (das habe ich nicht richtig verstanden), der von seinem Großvater stammte. Offenbar hatte dieser ihn kurz vor seinem Tod aus Marokko geschickt. Er war voller Papiere und Krimskrams. Cattaneos Mutter, die damals mit dem neugeborenen Sohn völlig in Anspruch genommen war, hatte ihn nie geöffnet, sondern lediglich das zusammen mit dem Koffer angekommene Geld verwendet.

»In eines der Hefte hatte mein Großvater geschrieben: Il faut attendre il faut attendre / Il faut attendre d’autres jours. Man muss abwarten. Aber es sind über siebzig Jahre vergangen, und bevor ich sterbe, möchte ich die Wahrheit erfahren.«

»Haben Sie die Manuskripte denn nicht gelesen?«

»Es ist ein riesiger Berg, auf Deutsch, Italienisch, Französisch. Ich bin alt und sehe schlecht. Sie dagegen sind jung, Sie könnten alles schriftlich in Reinform bringen. Natürlich gegen Bezahlung.«

»Nun ja, ich weiß nicht, ob …«

»Ich habe bereits Kontakt mit einem Verleger aufgenommen.«

»Was?«

»Bitte, Sie können mir das Leben retten … Sie müssen nur schreiben! Sie können doch schreiben, oder?«

Ascona-Roman

Ich habe beschlossen, diese Geschichte nicht selbst zu erzählen.

Zwar bin ich es gewohnt, Romane zu schreiben, aber hier geht es um historische Recherchen. Die Manuskripte beziehen sich auf dokumentierte Ereignisse, auf Orte und Personen, die real existieren (oder vor hundert Jahren existiert haben). Ich habe daher beschlossen, sie so zu lassen, wie sie sind, damit sich beim Lesen jeder ein eigenes Bild von der Angelegenheit machen kann.

Zu Beginn werde ich einen E-Mail-Verkehr wiedergeben, zu dem es einige Tage nach Cattaneos Besuch kam. Ich hatte immer wieder die Visitenkarte zur Hand genommen, aber etwas machte mich stutzig. Dass er eine Gastwirtschaft hatte, traf sicher zu, aber war er wirklich in der Fremdenlegion gewesen? Und was bedeutete »anarchistischer Dichter«? Dann bekam ich eine E-Mail, die mir einige Antworten lieferte. Zusammen mit vielen neuen Fragen.

Von: Magda ([email protected])

An: Andrea ([email protected])

Gesendet: 11. März, 10:02

Betreff: Ascona-Roman

Lieber Andrea, wie geht es dir? Wir sind hier sehr mit der Book Pride beschäftigt. Wirst du auch vorbeischauen? Ich schreibe, um dir eine etwas verrückte Idee zu unterbreiten … Wir haben kürzlich ein unveröffentlichtes Manuskript von Friedrich Glauser erhalten: wenige Seiten, eigenhändig von ihm unterzeichnet und auf seiner Schreibmaschine getippt. Es sind Fragmente eines Kriminalromans, der bei Ascona spielt, mit Wachtmeister Studer als Hauptfigur. Wir dachten uns (und jetzt kommt die verrückte Idee): Und wenn wir sie übersetzen lassen und dann Fazioli fragen, ob er sie zu einem Roman vervollständigt? Denk drüber nach, dann sprechen wir uns. Magda

Von: Andrea ([email protected])

An: Magda ([email protected])

Gesendet: 11. März, 12:34

Betreff: Re: Ascona-Roman

Hallo Magda! Alles gut bei mir, danke! Danke auch für deinen Vorschlag, aber es ist nicht so einfach, Glausers Worten etwas hinzuzufügen. Wie seid ihr an das Manuskript gekommen?

Bis bald, Andrea

Von: Magda ([email protected])

An: Andrea ([email protected])

Gesendet: 11. März, 13:15

Betreff: Re: Re: Ascona-Roman

Anhang: Glauser_Ascona-Roman.doc

Das Manuskript war hier, im Tessin … seit siebzig Jahren! Ein gewisser Cattaneo hat es gefunden: Es befand sich unter verschiedenen Dokumenten seines Großvaters, der Glauser in der Fremdenlegion kennengelernt hatte. Wie im Film, oder? Ich habe Gabriella de’Grandi gebeten, die Texte ins Italienische zu übersetzen, aber fürs Erste schicke ich dir eine Kopie der deutschen Originale, damit du dir einen Eindruck verschaffen kannst.

Von: Andrea ([email protected])

An: Magda ([email protected])

Gesendet: 11. März, 13:18

Betreff: Re: Re: Re: Ascona-Roman

Soviel ich weiß, war auch Aurelio Cattaneo in der Legion. Hat er euch nur den unveröffentlichten Glauser oder auch die Manuskripte seines Großvaters gegeben?

Von: Magda ([email protected])

An: Andrea ([email protected])

Gesendet: 11. März, 13:18

Betreff: Re: Re: Re: Re: Ascona-Roman

Ich glaub, er hat uns nur den Glauser-Text gegeben. Dann kennst du ihn also?

Von: Andrea ([email protected])

An: Magda ([email protected])

Gesendet: 11. März, 13:21

Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Ascona-Roman

Vor ein paar Tagen ist er bei mir zu Hause aufgetaucht und hat mir erzählt, er habe einen Koffer voller Manuskripte. Er ist davon überzeugt, dass ich seiner Existenz einen Sinn verleihe, wenn ich die Geschichte seines Großvaters aufschreibe.

Von: Magda ([email protected])

An: Andrea ([email protected])

Gesendet: 11. März, 13:22

 

Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Ascona-Roman

Merkwürdig. Bevor Cattaneo gestern gegangen ist, hat er noch bei Fabio im Büro vorbeigeschaut. Ich versuche mal herauszufinden, ob der mehr weiß.

Von: Magda ([email protected])

An: Andrea ([email protected])

Gesendet: 12. März, 09:18

Betreff: Mysteriöse Manuskripte

Hallo Andrea, tut mir leid, aber Fabio war in einer Besprechung. Heute Morgen hat er mir erklärt, dass Cattaneo im Tessin geboren wurde und später viel in der Welt herumgekommen ist, wobei man nicht genau weiß, wovon er eigentlich seinen Lebensunterhalt bestritten hat (vielleicht als Legionär). Nach seiner Rückkehr hat er einige »anarchistische Gedichte« verfasst. Jetzt ist er Betreiber eines Grottos. Er hat Fabio erzählt, er habe eine Kiste mit sämtlichen Manuskripten seines Großvaters geerbt, zusammen mit den Texten von Glauser. Fabio findet es ganz normal, dass er ein bisschen durcheinander ist, angesichts der bewegten Familiengeschichte. Sie haben auch über dich gesprochen. Cattaneo fände es gut, wenn du Glausers Manuskript fortsetzen und gleichzeitig die Geschichte seines Großvaters schreiben würdest … Aber als Verlag beschränken wir uns auf Glauser!

Von: Andrea ([email protected])

An: Magda ([email protected])

Gesendet: 12. März, 10:00

Betreff: Re: Mysteriöse Manuskripte

Hat er etwas über die bewegte Familiengeschichte gesagt? (Tut mir leid, wenn ich dir die Zeit stehle, aber ich bin neugierig …)

Von: Magda ([email protected])

An: Andrea ([email protected])

Gesendet: 12. März, 11:30

Betreff: Re: Re: Mysteriöse Manuskripte

Anhang: Glauser_AsconaRoman_GdG.doc

Aber ich bitte dich, das bin ich doch selbst. Ich habe Fabio nach Details gefragt. Aurelios Großeltern hießen Fredo und Anja (wie Anja mit Nachnamen hieß, weiß Fabio nicht). Die beiden haben Ada Cattaneo in die Welt gesetzt. Aber Fredo hat sich kurz nach der Geburt des Mädchens aus dem Staub gemacht, und Anja ist ums Leben gekommen, als Ada noch klein war. So ist Ada bei einer Familie in Ascona aufgewachsen. Sie selbst hat wiederum Aurelio geboren, mit unbekanntem Vater. Vor einem Jahr ist Ada in hohem Alter gestorben, und Aurelio hat stapelweise Papiere geerbt. Stell dir vor, was für ein Zufall: Das unveröffentlichte Manuskript eines der größten Autoren der Schweiz kommt auf einem staubigen Dachboden zum Vorschein. Gabriella war begeistert von der Idee, den Text zu übersetzen. Sie hat sich bereits an die Arbeit gemacht, ich schicke dir die ersten Seiten im Anhang mit. Wollen wir uns nach der Book Pride treffen, um alles zu besprechen?

Von: Andrea ([email protected])

An: Magda ([email protected])

Gesendet: 12. März, 12:25

Betreff: Re: Re: Re: Mysteriöse Manuskripte

Einverstanden. Ich fang dann schon mal an zu lesen.

Bis bald!

Erste Begegnung

Eine Villa in unmöglichem Stil, Flachdach, rechts und links vom Eingang zwei Türme, mit roten Ziegeln bedeckt. Auf einem schwarzen Marmorschild in Goldbuchstaben: »Pension Mimosa«. Ein offenes Fenster im ersten Stock umrahmt den massigen Oberkörper eines Mannes; das Gesicht des Mannes ist merkwürdig schmal und mager, ein brauner Schnurrbart bedeckt den Mund. Der Mann raucht eine Brissago und schaut auf den See, der weit unten sich ausbreitet, blau, wie eine angelaufene Stahlplatte.

Ich möchte das Gästebuch sehen. Es stimmt, der Graf hat mich nicht angelogen.

»Im ersten Stock«, sagt der Portier, »Zimmer zwölf …« Er spricht Deutsch, was für eine Fremdenpension in Locarno eigentlich selbstverständlich ist.

»Studer, Jakob, Kommissär an der Stadtpolizei Bern.«

Etwas möchte ich gerne wissen, aber ich habe vergessen, gestern Abend danach zu fragen: Wieso hat der Graf, der während des Krieges Militärattaché an der deutschen Gesandtschaft in Bern war, die Bekanntschaft des Polizeikommissärs gemacht? Und hätte ich die Frage auch gestellt, der Graf hätte mir wohl die Antwort verweigert … Der Graf kann sehr diskret sein … Ich bin neugierig, ob der Berner Polizeikommissär mir helfen kann, ich bezweifle es sehr, denn er ist ja in den Ferien, und schließlich geht ihn ja der Fall nichts an … Aufzuklären hat ihn die Tessiner Polizei, aber die ist erstens ungeschickt, und zweitens spricht sie schlecht Deutsch – mein Italienisch aber ist so mangelhaft, dass es immer wieder Missverständnisse gibt – der Graf hat mir gesagt, dass der Berner Polizeikommissär mit den Tessinern gut stehe …

Warum hat die Frau auch gerade fünfzig Meter von meiner Mühle den Tod finden müssen? Die unbekannte Frau? …

»Numme iche …«, sagt eine tiefe Stimme. Und dann bleibe ich im Türrahmen stehen. Der Zugwind reißt an den Gardinen, durchs Fenster sieht man die Berge ob Magadino, sehr dunkel, sehr grün …

Das Fenster hat ein eisernes Gitter, das dem Mann mit der Brissago etwa bis zur Brust reicht, er hat mir zuerst nur den Kopf zugewandt, jetzt dreht er sich ganz um, lehnt sich gegen das Eisengitter, nimmt die Brissago aus dem Munde … In einer Ecke des Zimmers ist eine Frau damit beschäftigt, einen Koffer auszupacken und Wäsche in einem Schrank zu verstauen …

»Was weit-r?«

Ich stelle mich vor, ein wenig stotternd, nenne den Grafen, der mich hierherverwiesen hat, und frage schüchtern, ob ich den Herrn Kommissär nicht allein sprechen könne … Blick auf die Frau … Der Mann nickt, zieht an seiner Brissago, sie ist ausgegangen, er zündet sie an, sagt dann ruhig: »Emmy, los«, und sie solle nur go z’Morge näh, er werde nachkommen … Die Frau nickt, drückt sich an mir vorbei zur Tür hinaus und schließt dann die Tür hinter meinem Rücken …

»Und?«, fragt der Mann. Er ist stehen geblieben, hat seine Ellenbogen auf das eiserne Gitter gestützt und betrachtet mich blinzelnd. Ich kann sein Gesicht schlecht sehen, der Morgen hinter ihm ist sehr hell, darum wirkt der längliche Kopf wie ein Schattenriss.

»Hocked ab …«, sagt der Mann.

»Ja, Herr Kommissär …«

Es kommt mir vor, als verziehe sich sein Gesicht, dann sagt er, er halte nichts von Titeln, ich solle nur ruhig »Studer« zu ihm sagen, in Bern (»Bäärn«, sagt er) seien nur die »Bundeshüüsler« auf Titel erpicht, aber er sei ein einfacher Mann, außerdem in den Ferien … Ob ich auch Berner sei?

Ich nicke. – Und wie ich denn die Bekanntschaft des Grafen gemacht habe?

Wie man eben so Bekanntschaften mache, erwidere ich. Der Graf habe sich in Ascona niedergelassen, er habe ein kleines Haus gemietet, in dem er mit seiner Frau wohne, er verkehre viel mit uns …

»Uns?«

Ja, wir seien eine kleine Gesellschaft von Künstlern, zwei Maler, eine Graphikerin, eine Tänzerin, zwei Schriftsteller, und dann sei ich noch da, ich schriebe auch … Der Graf interessiere sich sehr für Kunst, und als ich ihn gestern Abend wegen des Mordes, der in der Nähe der Mühle passiert sei, in der ich wohne, um Rat gefragt habe, weil ich mich mit der Tessiner Polizei so schlecht verständigen könne, habe mir der Graf gesagt: »In Locarno ist augenblicklich einer meiner guten Freunde in den Ferien, ein Berner Polizeikommissär namens Studer, der mir seinerzeit viel geholfen hat, gehen Sie zu dem Manne, der wird auch Ihnen helfen.« So habe der Graf gesprochen, und darum hätte ich mir erlaubt, den Herrn Kommissär – eh, den Herrn Studer aufzusuchen …

»Mord?«, fragt der Mann, ohne die Grüße, die ich vom Grafen bestelle, zur Kenntnis zu nehmen. – Wer denn ermordet worden sei? …

Gerade das wisse ich nicht. Eine Frauenperson, fremder Herkunft scheinbar, denn niemand aus unserem Kreise habe sie identifizieren können, sie sei etwa fünfzig Meter von dem Hause, das ich an der Straße bewohne, die von Arcegno nach Ronco führe, aufgefunden worden …

»Wann?« Der Kommissär Studer stellt die Frage, ohne mich anzublicken, er sucht nach einem Stuhl, findet einen neben dem Bett, setzt sich, die Beine gespreizt, und stützt die Unterarme auf die Schenkel. Ich kann nun sein Gesicht besser sehen: Die Lider sind halb geschlossen, er blickt zu Boden. Die erloschene Brissago hält er zwischen Zeige- und Mittelfinger …

»Gestern Morgen um fünf Uhr …«

»Von wem?«

»Von einem gewissen Heinrich Gösch, einem sonderbaren Mann, eigentlich meinem unmittelbaren Nachbarn, er bewohnt am Anfange des Dorfes Ronco, etwa achtzig Meter von der Straße entfernt, ein altes Bauernhaus mit seiner Frau und zwei kleinen Mädchen … Das eine Mädchen ist stumm …«

»Stumm? Kann nicht reden?«

Wie dumm dieser Mann daherredet, denke ich. Ob ihn der Graf nicht doch überschätzt hat. Ich antworte ironisch:

»Stumme können gewöhnlich nicht reden, Herr Kommissär!«

Der Mann blickt gar nicht auf. Er drückt auf den Knopf eines Benzinanzünders, zieht umständlich an seinem stinkenden Kraut, nickt abwesend, wie irgendeine Porzellanfigur, deren Kopf beweglich wäre, abwesend und unbeteiligt … Sagt nach einer Weile:

»Gösch? Der Theosoph?«

Ich bin ein wenig erstaunt, denn Heinrich Gösch ist nur in den sogenannten Okkultistenkreisen bekannt … Er hat sich übrigens von den Theosophen getrennt, ist in Unfrieden von ihnen geschieden, er behauptet sogar, die Stummheit seines Töchterchens sei auf die Feindschaft eines der Führer dieser Bewegung zurückzuführen, der »Meister« habe das Kind verhext … Nun, jeder Mann hat seinen Vogel, mich stört das nicht weiter, ich mag Gösch gerne, er kommt oft am Abend zu mir, und wir plaudern sehr lange … Er weiß sehr viel, der Heinrich Gösch … Aber woher weiß dieser Polizeikommissär etwas von meinem Freund …

»Zufall!«, sagt der Mann mit der qualmenden Brissago, so als müsse er meine unausgesprochene Frage beantworten. »Ich habe einmal einen Artikel von diesem Herrn gelesen. In einer Zeitschrift … Ja, also der Heinrich Gösch hat die Leiche entdeckt … Wo lag sie?«

»Wie gesagt, fünfzig Meter von meinem Haus entfernt. Von der Straße, die Ronco mit Arcegno verbindet, zweigt ein Fußweg ab, der nach Ascona führt. Gerade bei dieser Abzweigung ist die Leiche der Frau gelegen …«

»Jung?«

»Achtundzwanzig bis dreißig …«

»Hm … Und was soll ich tun?«

»Die Polizei hat mich im Verdacht, gestern haben zwei Fahnder ihr Generalquartier bei mir aufgeschlagen, am Abend ist noch der Polizeikommissär von Locarno gekommen …«

»Pedrello …«, sagt Studer gedankenvoll. »Ein guter Kerl, aber … äbe … jaaa …«

»Äbe … jaaa …«, wiederhole ich und versuche zu lachen. Aber das ist schwer. Mein Gegenüber lacht auch nicht. Darum fahre ich ernster fort: »Er kann nicht gut Deutsch und ich nicht gut Italienisch, und da gibt es die ganze Zeit Missverständnisse. Der Herr Kommissär Pedrello behauptet, ich kenne das Meitschi … pardon, die Frau … Aber ich habe sie bei Gott nie gesehen … Und es ist ein Zufall gewesen, dass man sie in der Nähe meiner Mühle gefunden hat …«

»Mühle?«

»Ja, ich wohne mit einer Freundin in einer alten Mühle, die schon lange außer Gebrauch ist. Die Miete ist billig, zehn Franken im Monat, denken Sie sich, Herr Kommissär, äh … Herr Studer. Es stehen nur wenige Möbel darin, aber genug für uns, und ich kann in Ruhe schreiben. Manchmal kommen die Freunde uns besuchen, und wir können Lärm machen, so viel wir wollen, wir stören niemanden. Wie gesagt, das nächste Haus gehört Gösch und ist etwa dreihundert Meter von unserer Mühle entfernt …«

»Und die Leiche? …«

»Eben … die Leiche … Sie lag etwa zwei Schritte von der Straße entfernt auf einem kleinen Nebenweg, der nach Ascona führt … Gösch hat sie durch Zufall gefunden, wie er mir sagte, gestern Morgen um acht, als er von Ascona kam, wo er Kommissionen gemacht hatte …«

»Auf dem Rückweg hat er sie gefunden? … Ja? … Warum nicht schon auf dem Hinweg?«

»Weil er von seinem Hause aus einen direkten Weg durch die Wiesen hat, der auf die Hauptstraße Locarno—Brissago führt. Den hat er für den Hinweg genommen. Zurück hat er dann den Fußweg genommen, der am Monte Verità vorbeiführt und bei unserem Sträßli fürechunnt … Um neun Uhr hat Gösch die Leiche gefunden, er ist dann gleich zu mir gekommen, wir sind zusammen an den Fundort gegangen, die Frau hatte einen tiefen Messerstich im Rücken … das Messer hat wohl das Herz getroffen, wenigstens hat der Dottore das behauptet … Ich bin dann nach Ascona zum Syndaco, zum Bürgermeister, und der hat die Locarneser Polizei alarmiert …«

»Und wo ist die Leiche jetzt?«

»Pedrello hat sie nach Ascona schaffen lassen, sie liegt in einem Schulzimmer … Doktor Brambilla hat die ersten Feststellungen gemacht … Morgen soll die Leiche nach Bellinzona überführt werden, dort haben sie einen Gerichtsarzt, der die Sektion machen wird …«

Schweigen. Ganz schwach tönt durch das Fenster das zögernde Schlagen eines Glockenspiels, von der Decke des Zimmers hängt ein brauner Papierstreifen, mit Leim bestrichen. Tote Fliegen kleben daran, eine aber ist noch lebendig und surrt eintönig, um sich zu befreien.

Mein Gegenüber hat die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Ich sehe nur sein kurzes braunes Haar, das wie eine feine Bürste wirkt. Seine Augen kann ich nicht sehen. Plötzlich murmelt Studer:

»Eine Frau … Messerstich … Heinrich Gösch … Der Graf …« Er schweigt, dann flucht er leise: »Himmelherrgott … nicht einmal ruhige Ferien kann man sich gönnen … aber natürlich, der Pedrello …« Wieder eine Pause, dann hebt er den Blick und fragt, was er eigentlich machen solle? …

»Herr Studer«, sage ich, »seit gestern Mittag haben zwei Polizisten in meiner Mühle ihr Hauptquartier aufgeschlagen, von vier Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends ist der Kommissär von Locarno in unserer Küche gehockt und hat mich und meine Freundin gequält: Wir müssten doch die Tote kennen, es sei doch klar, dass die Frau uns habe besuchen wollen, leugnen nütze da gar nichts, ein Geständnis sei das Beste … Sei es nicht Eifersucht gewesen? … Und immer italienisch … Ich halt das nicht mehr aus, Herr Studer, meine Freundin hat einen Weinkrampf bekommen, heut Morgen habe ich nur mit großer Mühe fortkönnen, die Polizisten haben mich nicht gesehen, ich bin zur Hintertür hinaus und durch den Wald nach Locarno gekommen … Der Graf hat mir gesagt, Ihr würdet uns sicher helfen, Herr Studer … Der Graf hat mir erzählt, dass Ihr kriminologisch geschult seid, Ihr habt bei Locard gearbeitet und bei Groß, Ihr geltet in der ganzen Schweiz und nicht nur in Bern als Autorität … Wenn ich sicher sein könnte, dass Ihr die Sache in die Hand nehmen würdet …«

»Wer alles hat die Leiche gesehen?«, fragt Studer trocken.

»Gösch natürlich zuerst, dann Bruno Marlehn und seine Frau, mein Freund Klempter, der Maler, und seine Frau, der Graf natürlich, dann Burkhardt, auch ein Maler, und May Wendelau, die Tänzerin, und noch ein paar andere Leute, an die ich mich nicht erinnere.«

»Viele Leute, allerhand Menschen … Sicuro, wie sie hier sagen … Und niemand hat das Frauenzimmer wiedererkannt? …«

»Niemand …« Ich schweige. Da plötzlich hebt Studer den Kopf, sieht mich an: Es ist kein sogenannter durchbohrender Blick, die Augen sind eher trübe und müde, immer noch hält Studer die Hände gefaltet, und zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand (beide stehen ab) steckt die erloschene Brissago … Vielleicht sieht er mich gar nicht? Er steht auf, geht zum Fenster, beugt sich über das Eisengitter, kommt zurück und wiederholt, während er an seinen Fingern zählt:

»Klempter samt Frau, Bruno Marlehn samt Frau, der Graf …« (kleine Pause) »Burkhardt, May Wendelau … Sieben … Sieben, die Ihr kennt … Und die Ermordete war fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt … Messerstich in den Rücken … Auf einem Seitenweg, der vom Sträßli Arcegno—Ronco nach Ascona abzweigt … Ich will gern mit Pedrello sprechen … Wenn er nichts dagegen hat, kann ich mir die Sache ansehen … Ansehen! … Nichts weiter … Das müsst Ihr begreifen. Ich kenn Euch nicht. Ihr kommt an einem schönen Morgen zu mir mit einer Empfehlung des Grafen – hat Euch der Graf erzählt, wie wir uns kennengelernt haben? Nein? Es war während dem Krieg … Keine angenehme Erinnerung … Eine ermordete Frau sagt Ihr? … Messerstich? Haben die Tschumpel überhaupt nach Spuren gesucht? … Nein? … Konnt ich mir denken … Aber zuerst will ich etwas z’Morgen, wenn dr nüt dagege heit … Heute ist der zehnte Juli … Am neunten Juli am Morgen hat der Heinrich Gösch die Leiche entdeckt … Ja? Also ist die Frau in der Nacht vom Achten zum Neunten ermordet worden … Und Ihr sagt, das Sträßlein verbinde Arcegno mit Ronco? Arcegno! Das ist doch ein verlassenes Kaff. Und in Ronco wohnen auch nicht viel Leute …« Studer geht hinter meinem Rücken auf und ab. Plötzlich schrecke ich zusammen, weil ich seine Hand auf meiner Schulter spüre. Er hat das unwillkürliche Zusammenzucken gespürt, denn er sagt gutmütig:

»Ihr seid sehr nervös geworden, Herr Schlatter. Und Ihr schreibt auch? … Was denn? …«

»Novellen«, sage ich. »Jetzt habe ich einen Roman in der Arbeit, aber ich weiß nicht, ob er etwas geben wird …«

»Äbe …« So etwas könne man wohl nie vorher sagen … Ob es etwas geben werde nämlich … Es sei wie bei einem Kriminalfall …

»Es gibt Fälle, die sehen ganz einfach aus, und dann verrecken sie einem unter der Hand, es gibt andere, die scheinen unentwirrbar, und dann ist die Lösung simpel … In der Nacht vom achten zum neunten Juli … Also in der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch … Wo seid Ihr am Dienstag gewesen? … Hä? …«

»In Ascona«, sage ich leise. »Beim Maler Klempter. Die andern waren auch da, die Tänzerin, Gösch und Bruno Marlehn mit seiner Frau …«

»Wann seid Ihr heimgegangen?«

»Es wird ein Uhr gewesen sein …«

»Über die Abkürzung?«

»Nein, ich habe Gösch noch heimbegleitet …«

»Aber Ihr seid an der Abzweigung vorbeigekommen? …«

»Ja, aber ich hab nichts gesehen.«

»Nichts gesehen? Und war doch Vollmond?«

»Der Wald reicht bis an die Straße …«

»Exakt! … Bis an die Straße … Ich kenn nämlich die Abzweigung … Hab einmal einen Spaziergang in der Gegend gemacht … Ja …« Und ob ich schon Kaffee getrunken habe … (Studer sagt »Gaffee« und betont das Wort auf der ersten Silbe.) Ich schüttle den Kopf.

»So kommet mit«, sagt Studer freundlich. »Ihr werdet meine Frau kennenlernen. Die Emmy … Dann gehen wir meinen Kollegen Pedrello besuchen, und dann komm ich mit Euch nach Ascona. Ihr müsst mich dann Euren Freunden vorstellen … Dem Gösch besonders … Der Gösch interessiert mich … Und’s Töchterli ist ganz stumm? Truurig … Truurig …« Studer schüttelte den Kopf, öffnete die Zimmertür und schob mich auf den Gang hinaus, indem er mir seine knochige Hand wieder auf die Schulter legte … Es war mir nicht sehr angenehm …

Er sagt noch, und es klingt ein ganz leiser Hohn in seiner Stimme:

»Künstler! … Ich werde Künstler kennenlernen … Ich kenn nur einen Künstler, bis jetzt, den alten Heer, ja, den J.C.«, er sagt »ize« als seien die Buchstaben ein Wort, »mit dem hab ich einmal in der Öpfelkammer1 eine halbe Nacht lang gesoffen … ein gäbiger Tüüfel … Sind Eure Freunde auch so gääbig?«