Tracer - Rob Boffard - E-Book

Tracer E-Book

Rob Boffard

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Beschreibung

Im All hört dich niemand schreien - oder?

Blau und wunderschön leuchtet die Erde inmitten der Schwärze des Weltalls, doch sie ist inzwischen unbewohnt. Von den Umwelteskapaden der Menschen zerstört, ist der Planet zu einer tödlichen Welt geworden. Die Überlebenden der globalen Katastrophe umkreisen in einer alten, rostigen Raumstation ihre alte Heimat – Enge, Schmutz und Ausweglosigkeit gehören zum Alltag der Besatzung. Ebenfalls mit an Bord sind Verschwörungen, Intrigen und dunkle Geheimnisse. Und als auf der Raumstation dann auch noch mehrere Morde geschehen, steht die Menschheit bald vor dem endgültigen Aus.

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Seitenzahl: 610

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ROB BOFFARD

TRACER

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Blau und wunderschön leuchtet die Erde inmitten der Schwärze des Weltalls, doch sie ist inzwischen unbewohnt. Von den Umwelteskapaden der Menschen zerstört, ist der Planet zu einer tödlichen Welt geworden. Die Überlebenden der globalen Katastrophe umkreisen in einer alten Raumstation ihre frühere Heimat – Enge, Schmutz und Ausweglosigkeit gehören zum Alltag der Bewohner. Außenerde, so der Name der Station, kreist in fast 500 Kilometern Höhe über dem blauen Planeten, und ihre eine Million Bewohner sind alles, was von der Menschheit übrig geblieben ist. Eine von ihnen ist die zwanzigjährige Riley Hale. Sie arbeitet als Tracer, als Kurier, die Pakete und Sendungen durch die von rivalisierenden Banden regierten Gänge der Raumstation bringt, und sie ist die beste ihres Fachs. Rileys eiserne Regel lautet, niemals die Pakete zu öffnen, die sie transportiert – bis sie eines Tages gezwungen ist, sich den Inhalt einer Sendung anzuschauen. Was sie sieht, verändert nicht nur ihr Leben, sondern das aller Menschen auf Außenerde. Denn es gibt offenbar einen Serienkiller, der auf der Station sein Unwesen treibt, und dieser Mann verfolgt einen wahnsinnigen Plan. Wenn Riley und ihre Verbündeten ihn nicht aufhalten können, werden die letzten Menschen des Universums sterben. Ein unbarmherziger Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Der Autor

Rob Boffard wurde in Johannesburg, Südafrika, geboren und verbringt seine Zeit als Autor zwischen London, Vancouver und Johannesburg. Als Journalist hat er in mehr als zwölf Ländern Artikel geschrieben, unter anderem für The Guardian und Wired. Tracer ist sein erster Roman.

Mehr über Rob Boffard und seinen Roman erfahren Sie unter:

 

 

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Titel der englischen Originalausgabe

TRACER

Deutsche Übersetzung von Bernhard Kempen

Deutsche Erstausgabe 06/2016

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2015 by Rob Boffard

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung

eines Motivs von ZargonDesign / iStockphoto

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-18544-2V001

www.diezukunft.de

 

Für M.O.R.

 

 

Sieben Jahre zuvor

Das Schiff bricht Stück für Stück auseinander.

Der Rumpf verbiegt sich knirschend, als würde er versuchen, sich von der Hitze des Wiedereintritts loszureißen. Die äußeren Schichten lösen sich, die Trümmer wirbeln an den Sichtluken des Cockpits vorbei, schwarze Streifen vor einem mattroten Glühen.

Singh, die erste Offizierin des Schiffs, zerrt an ihren Sitzgurten, als könnte sie sich auf diese Weise retten. Sie brüllt den Kapitän an, der neben ihr sitzt, aber er beachtet sie nicht. Das Flugdeck unter ihnen ist ein Meer aus blitzendem Rot; die Besatzung wird auf den Sitzen herumgeschleudert, auf der Suche nach etwas, irgendetwas, das sie einsetzen kann.

Sie haben Checklisten für solche Situationen. Aber es gibt keine Checkliste für den Fall, dass ein Schiff bäuchlings durch die Erdatmosphäre stürzt, wobei es den Luftwiderstand maximiert, und dann durch eine Explosion tief in den Eingeweiden des Maschinenraums herumgeworfen wird, um zunächst zu rotieren und dann in einen kreischenden Sturzflug überzugehen. Jetzt schießt es wie ein Speer durch die Atmosphäre, während die Reibung es in Stücke reißt.

Die Stimme des Kapitäns bleibt völlig ruhig. »Wir müssen das Heckmodul abstoßen«, sagt er.

Singh reißt die Augen auf. »Kapitän …«

Er ignoriert sie, legt die Hand an den Kommunikator in seinem Ohr. »Offizier Yamamoto«, sagt er, spricht es so deutlich wie möglich aus. »Stoßen Sie das Heckmodul ab.«

Koji Yamamoto starrt mit großen Augen zu ihm herauf, den Mund leicht geöffnet. Er ist das jüngste Besatzungsmitglied, kaum achtzehn Jahre alt. Der Kapitän muss seinen Namen wiederholen, bevor er sich umdreht und auf die Touchscreens einschlägt.

Der bislang lauteste Knall lässt das Schiff erzittern, als fast das gesamte hintere Drittel abgesprengt wird. Jetzt überschlägt sich das Schiff, und die Bewegung drückt die Besatzung wieder in die Sitze. Der Magen des Kapitäns fühlt sich an, als hätte er sich losgerissen und selbstständig gemacht. Er wartet, dass das Trudeln nachlässt, dass sich das Schiff wieder stabilisiert. Drei Sekunden. Fünf.

Er sieht das Gesicht seiner Frau, seiner Tochter. Nein, denk nicht an sie. Denk an das Schiff.

»Die Steuerungssysteme sind ausgefallen«, ruft McCallister mit verzerrter Stimme über das Kom. »Der Reaktorkern ist tot. Ich kann nichts mehr machen.«

»Zentrale hat Ihren Notruf gehört«, sagt Dominguez. »Sie …«

McCallisters Sicherheitsgurte reißen. Sie wird aus dem Sitz geschleudert, knallt gegen die Kontrollkonsole, hinterlässt einen dunkelroten Blutspritzer auf einem Bildschirm. Yamamoto greift nach ihr, vergisst, dass er noch angeschnallt ist. Singh schreit.

»Dominguez«, sagt der Kapitän. »Stellen Sie mich durch.«

Dominguez wendet den Blick von der verletzten McCallister ab. Eine Sekunde später fliegen seine Hände über die Kontrollen. Statisches Rauschen erfüllt die Kom-Einheit des Kapitäns, gefolgt von zwei schnellen Piepsern.

Er hält sich nicht mit dem Kommunikationsprotokoll auf. »Das Schiff befindet sich auf Kollisionskurs. Wir werden bruchlanden. Wenn wir …«

»John.«

Foster muss sich nicht identifizieren. Nach etlichen Besprechungen, Planungssitzungen und leisen Gesprächen in der Pilotenbar hat sich seine Stimme dem Gedächtnis des Kapitäns eingeprägt.

Der Kapitän weiß nicht, ob die übrigen Mitglieder der Flugüberwachung mithören, und es ist ihm auch egal. »Marshall«, sagt er. »Ich glaube, ich kann das Schiff runterbringen. Wir werden unser Notsignal aktivieren. Wartet ab, bis ihr uns erreichen könnt.«

»Es tut mir leid, John. Ich kann nichts tun.«

»Wovon redest du?«

Es gibt einen weiteren Knall und ein Dröhnen, als wäre das Schiff zwischen den Kiefern einer riesigen Bestie gefangen. Der Kapitän dreht sich zu Singh um, aber sie ist nicht mehr da. Genauso wie eine Seite des Schiffs. Dort klafft jetzt nur noch ein Loch mit gezackten Rändern aus zerrissenem Metall und flatternden Kabeln. Das schreckliche rote Leuchten dringt durch das Loch herein, streckt die Finger nach ihm aus, und er spürt, wie die Hitze auf seiner Haut brennt.

»Marshall, hör mir zu«, sagt der Kapitän, aber auch Marshall ist nicht mehr da. Der Kapitän kann den Himmel außerhalb des Schiffs sehen, außerhalb der Flammen. Er ist blau und klarer, als er es sich jemals vorstellen konnte. Er verdunkelt sich zu Schwarz, wo er die obere Atmosphäre erreicht, und im Weltraum dahinter funkeln einzelne Sterne.

Einer dieser Sterne ist Außenerde.

Vielleicht kann ich sie finden, wenn ich genau hinschaue, denkt der Kapitän. Er verspürt Wut und Fassungslosigkeit über Marshalls Worte, aber er will sich nicht davon entmutigen lassen. Er sagt sich, dass Außenerde Hilfe schicken wird. Sie müssen es tun. Er versucht sich die Gesichter seiner Familie vorzustellen, sie in den Vordergrund seines Bewusstseins zu rücken, aber das Dröhnen und die Hitze sind überall, und er kann nicht mehr …

 

 

1|Riley

Mein Name ist Riley Hale, und wenn ich renne, verschwindet die Welt.

Stampfende Beine. Pochendes Herz. Stahlplatten, die unter meinen Füßen donnern, während ich renne, hoch oben auf Ebene 6. Ich halte mein Bewegungsmoment, während ich durch die verdunkelten Korridore laufe. Ich konzentriere mich auf den nächsten Schritt, auf das Ein-und-Aus, das Stoßen-und-Ziehen meiner Atemzüge. Ausschreiten, auftreten, abfedern, abspringen, wiederholen. Die Station ist ein dichtes Gewirr aus Zwischendecks und Luftschächten um mich herum, jede Metalloberfläche mit uralten Graffiti übersät.

»Sie ist da drüben!«

Der Ruf kommt von einer Stelle hinter mir, am anderen Ende des Korridors. Die hastigen Schritte, die darauf folgen, hallen von den Wänden wider. Ich dachte, ich hätte diese Idioten bereits an der Grenze des Sektors abgeschüttelt, doch nun muss ich ihnen noch einmal davonlaufen. Ich hatte mich im Rhythmus meiner Schritte verloren, was gefährlich ist, wenn jemand versucht, einem das Transportgut zu stehlen. Ich weigere mich, meinen Atem mit einem Fluch zu vergeuden, aber ein ausgestoßenes Schnaufen verwandelt sich in ein frustriertes Knurren.

Die Lieren sind vielleicht nicht so schnell wie ich, aber offensichtlich geben sie nicht so leicht auf.

Ich wechsle vom Trab in den Sprint, und mein Rucksack hämmert gegen meine Wirbelsäule, als ich sogar noch schneller mit den Armen pumpe. Eine winzige Schweißperle streift mein Auge, zischend und brennend. Ich achte nicht darauf. Kein Tracer aus meinem Team hat jemals sein Transportgut verloren, und ich werde nicht die Erste sein, die versagt.

Ich biege um die Ecke – und wäre fast in eine Menschenansammlung gekracht. Es sind fünf, die durch den Korridor schlendern und sich miteinander unterhalten. Aber ich reagiere bereits, stoße mich mit dem rechten Fuß ab, springe in Richtung Wand. Ich hebe den anderen Fuß, drücke die Sohle gegen das Metall und ziehe mein linkes Knie bis zur Brust hoch. Das Bewegungsmoment treibt mich weiter, auch während ich mich abstoße und mit einem kleinen Schrei ausatme. Dann zwänge ich mich durch die Lücke zwischen den Leuten und der Wand. Mein linker Fuß landet auf dem Boden, und im nächsten Augenblick bin ich wieder in Bewegung. In vollem Schwung. Ein perfekter Tic Tac.

Die Lieren sind dicht hinter mir, stoßen mit der Gruppe zusammen, werfen die Leute in einem Durcheinander aus verwirrten Rufen um. Aber ich habe jetzt wieder einen Vorsprung. Ihre Schreie verhallen in der Ferne.

Man hat nicht allzu viel Bewegungsspielraum zwischen den Sektoren, ohne den Gangs etwas bezahlen zu müssen. Es sei denn, man weiß, wo und wie man durchkommt. Tracer wissen es. Und deshalb gibt es uns. Wenn jemand etwas an jemanden liefern will, oder wenn jemand ein kleines Paket hat, von dem er nicht möchte, dass die Gangs davon erfahren, kommt er zu uns. Wir liefern es aus – gegen Bezahlung, versteht sich –, und wenn man damit zu meinem Team kommt, den Teufelstänzern, liefern wir es schnell aus.

Der Korridorausgang ragt vor mir auf, und dann bin ich draußen auf der Galerie. Nach den Korridoren blenden mich die großen Lampen, die den riesigen offenen Raum beleuchten. Aus dem Korridor wird ein Laufsteg mit verrostetem Metallgeländer, und meine Schritte verhallen, verlieren sich im offenen Raum.

Kurz kommt das Diagramm an der gegenüberliegenden Wand in mein Blickfeld. Hundert Jahre, nachdem es aufgemalt wurde, ist es immer noch lesbar. Ein Plan der Station. Im Zentrum der Kern, eine riesige Kugel mit dem Hauptfusionsreaktor. Davon gehen zu beiden Seiten zwei Speichen aus, die mit einem gewaltigen Ring verbunden sind, dem Hauptteil der Station. Und darunter, nach über einem Jahrhundert fast völlig verblasst: Außenerde, Orbitales Konservationsmodul, erbaut AD 2234.

Vor mir kommen weitere Menschen durch den Eingang am anderen Ende auf den Laufsteg. Eine dicht gedrängte Gruppe von Mädchen, die sich laut unterhalten. Ich zähle zehn, fünfzehn – nein. Sie haben mich nicht gesehen. Ich steuere mit vollem Tempo genau auf sie zu.

Ohne langsamer zu werden, packe ich das rechte Geländer des Laufstegs und katapultiere mich hinauf und hinüber in den Raum.

Eine Sekunde lang ist nichts zu hören außer der Luft, die an mir vorbeirauscht. Die Gespräche der Mädchen werden leiser, als hätte jemand einen Lautstärkeregler heruntergedreht. Ich kann bis zum Boden der Galerie hinunterblicken, dreißig Meter unter mir, picke mir Einzelheiten heraus, die ich kurz in den Lücken des Netzes der sich kreuzenden Laufstege sehe.

Der Boden ist ein Durcheinander aus kaputten Bänken und kreisrunden Blumenbeeten, in denen nichts wächst. Dort sind zwei kleine Mädchen, die vor und zurück über eine Linie springen, die sie auf den Boden gemalt haben. Eine trägt einen ausgebleichten Kittel. Ich kann gerade noch das Wort Astro auf dem Rücken erkennen. Eine Lampe über ihnen flackert, und ihre Schatten blitzen immer wieder auf der Wand hinter ihnen auf, über die Metallplatten tanzend. Mein eigener Schatten breitet sich vor mir aus, zerteilt durch die Laufstege, ein schwarzer Umriss, von verrosteten Geländern gebrochen. Auf einem Laufsteg weiter unter streiten sich zwei Männer, schubsen sich gegenseitig. Einer boxt den anderen, worauf sein Opfer zurückweicht und die Gruppe, die die beiden umringt, idiotische Drohungen schreit.

Ich bin vom Laufsteg gesprungen, ohne mir Gedanken über meinen Landeplatz zu machen. Ich will gar nicht daran denken, was Amira tun würde, wenn sie davon erfährt. Wahrscheinlich explodieren. Denn falls sich unter mir jemand befindet, den ich von oben treffe, erwartet mich nicht nur ein gebrochener Fußknöchel.

Die Zeit scheint erstarrt zu sein. Mein Blick geht zum Laufsteg auf Ebene 5, der auf mich zurast.

Er ist leer. Niemand in Sicht, auch nicht ein Stück weiter. Ich ziehe die Beine an, hebe die Arme und mache mich auf die Landung gefasst.

Kontakt. Ich höre wieder etwas, einen Knall, der meinen Kopf zurückreißt, während ich mich vorwärts abrolle. Instinktiv drehe ich mich zur Seite, damit sich die Energie des Aufpralls verteilt, statt meine Wirbelsäule zusammenzustauchen. Meine rechte Hand trifft den Boden, die scharfen Kanten des gefrästen Stahls ritzen meine Haut, und ich stoße mich nach oben ab, beuge den Rücken, damit ich mich über den Rucksack abrollen kann.

Dann bin ich wieder auf den Beinen und renne weiter, auf den dunklen Ausgang am Ende des Laufstegs zu. Ich höre, wie die Lieren den Steg über mir erreichen. Sie haben mich gesehen, aber ihr wütendes Geheul verrät mir, dass es zu spät ist. Sie würden einen solchen Sprung niemals schaffen. Um zu mir zu gelangen, müssten sie sich durch die Treppenschächte auf der gegenüberliegenden Seite kämpfen. Bis dahin bin ich längst weg.

»Versucht niemals, einen Teufelstänzer einzuholen, Jungs«, murmele ich zwischen zwei Atemzügen.

 

 

2 | Darnell

»Sie haben es also nicht?«

Der Techniker gibt sich alle Mühe, Oren Darnell nicht anzusehen. Er blickt stirnrunzelnd auf den Tabscreen in seinen Händen und blättert mit einem zitternden Finger durch das Menü.

Darnells Nase zuckt, und er schnuppert vorsichtig, prüft die Luft. Er hatte schon immer einen guten Geruchssinn. Er kann Pflanzen an ihrem Duft erkennen und die verschiedenen Komponenten analysieren. Der Geruch der Düngersäcke, die an den Wänden aufgestapelt sind, ist intensiv, sogar penetrant, aber trotzdem kann er den Schweiß des Technikers riechen, den heißen und strengen Geruch der Angst. Gut.

»Ich weiß, dass es hier war«, sagt der Techniker kopfschüttelnd. Er ist klein, mit kurz geschorenem Haar und einer kaum sichtbaren Maske aus Bartstoppeln auf dem Gesicht. »Jemand muss es aus der Liste ausgetragen haben.«

Er schaut zu Darnell auf, nur für eine Sekunde, dann senkt er wieder den Blick. »Aber das ergibt keinen Sinn. Diese Sendung war nur für Ihren Gebrauch gekennzeichnet.«

Darnell sagt nichts. Er kratzt sich im Nacken, blickt sich zur Tür des Lagerraums um. Sein Wächter Reece lehnt am Rahmen und wirkt gelangweilt. Er bemerkt Darnells Blick und zuckt mit den Schultern.

»Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Darnell«, sagt der Techniker, schaltet den Tabscreen aus und klemmt ihn sich unter den Arm. Er macht es zu schwungvoll und muss das Gerät auffangen, bevor es zu Boden fallen kann. »Ich werde es finden. Ich lasse es Ihnen direkt in Ihr Büro schicken. Ich werde es sogar persönlich hinbringen. Überlassen Sie alles Weitere mir.«

Darnell sieht ihn lächelnd an. Ein warmes, fast väterliches Lächeln. »Schon gut«, sagt er. »So etwas kann passieren.«

»Ich weiß, was Sie meinen, Sir«, sagt der Techniker und erwidert Darnells Lächeln. »Aber wir werden der Sache auf den Grund …«

»Tun Sie mir einen Gefallen«, sagt Darnell und zeigt auf die Rückseite des Lagerraums. »Geben Sie mir bitte einen Sack mit Mikronährstoffen.«

Der Techniker lächelt noch breiter, erleichtert, dass er eine Aufgabe hat, etwas, das er problemlos erledigen kann. »Sofort«, sagt er und eilt quer durch den Raum, sucht bereits auf den Regalen nach einem Düngersack in mattem Orange. Er sieht ihn auf dem obersten Brett, knapp außerhalb seiner Reichweite, und er reckt sich auf Zehenspitzen empor, um am untersten Rand zu zerren, als etwas an seinem Kopf vorbeizischt. Das Messer prallt von der Wand ab, wirbelt durch die Luft, landet schließlich auf dem Boden. Der Techniker kann seinen Gesichtsausdruck auf der glatt polierten Klinge sehen. Unwillkürlich stößt er ein schwaches Wimmern aus. Der Tabscreen fällt ihm herunter, zersplittert, verstreut glitzernde Scherben.

»Ich habe immer einen leichten Drall nach rechts«, sagt Darnell, während er zum Techniker hinüberschlendert. »Aber machen Sie mir deswegen keinen Vorwurf. Ein Messer zu werfen ist schwierig – und dieses hat eine perfekt ausbalancierte Klinge.«

Der Techniker kann nichts sagen. Kann sich nicht rühren. Kann nicht einmal den Blick vom Messer losreißen, das sein Genick nur um wenige Zentimeter verfehlt hat. Der Griff ist aus Hartholz, ölig glänzend, die Maserung durch lange Benutzung geglättet.

»Der Arm ist das Entscheidende«, sagt Darnell. »Man darf es nicht loslassen, bevor der Arm gerade ausgestreckt ist. Ich weiß, ich weiß, ich muss unbedingt besser werden. Aber, he, Sie haben doch im Moment gar nichts anderes zu tun, oder? Warum bleiben Sie nicht und helfen mir ein wenig? Es ist ganz einfach. Sie müssen nur absolut still dastehen.«

Er zeigt auf das Messer. »Heben Sie es auf.«

Als sich der Techniker immer noch nicht bewegt, zu nichts imstande ist, außer zitternd dazustehen, stößt Darnell gegen seine Schulter. Es ist eine leichte, fast sanfte Berührung, aber sie hätte den Techniker beinahe umgeworfen. Er quiekt, ballt die Hände zu Fäusten, öffnet sie wieder.

»Heben Sie es auf.«

»Chef.« Reece kommt zu ihnen herüber, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Darnell blickt auf, und Reece deutet mit einer Kopfbewegung zur Tür.

Darnell sieht wieder den Techniker an, zeigt ihm noch einmal das warme Lächeln. »Die Pflicht ruft«, sagt er. »Um ehrlich zu sein, ist es schwierig, genug Zeit zum Üben zu finden. Aber machen Sie sich keine Sorgen – wenn ich frei habe, sage ich Ihnen Bescheid.«

Der Techniker nickt eifrig. Er weiß nicht, was er sonst tun kann.

Darnell wendet sich zum Gehen, wirft dann noch einen Blick über die Schulter zurück. »Die Klinge ist sehr kräftig gegen die Wand geprallt. Wahrscheinlich ist sie jetzt stumpf. Möchten Sie sich nützlich machen? Würden Sie sie für mich schärfen?«

»Aber sicher«, sagt der Techniker mit einer Stimme, die gar nicht wie seine eigene klingt. »Aber sicher. Das kann ich machen.«

»Sehr nett von Ihnen.« Darnell schlendert davon. Er wechselt ein paar geflüsterte Worte mit Reece, dann hebt er die Stimme, damit der Techniker ihn hören kann. »Gut und scharf, nicht vergessen! Wenn Sie ganz leicht auf die Schneide drücken, müsste es einen blutigen Schnitt geben.«

Dann verlässt er den Raum, und Reece folgt ihm im Abstand von ein paar Schritten.

 

 

3 |Riley

Ich werde ein wenig langsamer, als ich den Korridor auf Ebene 5 erreiche. Die Lieferadresse befindet sich noch ein gutes Stück den Ring hinauf, im Luftlabor des Garten-Sektors. Da jeder Sektor im Ring fünf Kilometer lang ist – und es insgesamt sechs Sektoren gibt –, wäre es noch ein weiter Weg. Es sei denn, man ist ein Tracer mit genug Ausdauer und Geschick, um Dinge dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden. Die Entfernung ist für mich kein Problem – wenn ich auf dem Weg zum Luftlabor bin, werde ich Prakesh wiedersehen.

Ich lächle über diese Vorstellung, bevor mir einfällt, dass er heute gar nicht da ist. Für ihn ist es ein seltener freier Tag, mit dem er geprahlt hat, als ich ihn vor einigen Wochen das letzte Mal getroffen habe.

Das Paket, das die Lieren stehlen wollen – in der Hoffnung, dass es etwas Nützliches ist –, schmiegt sich an meine Wirbelsäule. Es ist für Oren Darnell bestimmt, den Mann, der das Luftlabor leitet. Ich habe es von einem Händler auf dem Markt im Apogäum-Sektor erhalten. Der Händler – ich glaube, sein Name war Gray – hat mit sechs frischen Batterien bezahlt, hat sie auf den rostigen Tresen seines Stands geknallt, ohne zu mir aufzublicken. Damit kann ich gut leben. Wenn die Bezahlung stimmt, wird das Paket ausgeliefert.

Als ich in den Korridor einbiege, greife ich über die Schulter nach dem dünnen Plastikschlauch, der aus meinem Rucksack ragt, stecke ihn mir in den Mund und sauge Wasser aus dem Vorratsbehälter. Es ist warm und fühlt sich zähflüssig an. Es ist nicht viel, aber damit kann ich weitermachen.

Ich bin jetzt im Chengshi-Sektor zwischen Apogäum und Garten – etwa die Hälfte der Strecke bis zur Lieferadresse. Ich werde anhalten müssen, um meinen Vorrat irgendwo im Garten aufzufüllen, weil es ausgeschlossen ist, dass ich Wasser von Darnell bekomme. Ich bringe ihm zwar ein Paket, aber diesen Kerl nach Wasser zu fragen ist fast genauso tödlich wie ein blinder Sprung von einem Laufsteg.

Hier sind die Korridore dunkler als vorher. Ich muss genauer auf den Boden achten, als ich auf die nächste Biegung zurenne, nach Stellen Ausschau halten, wo die Stahlplatten verbogen sind. Zu meiner Überraschung gibt es hier einen funktionierenden Bildschirm, recht verstaubt, aber er zeigt eine fröhliche Werbung für den Weltraum-Bautrupp. Ein lächelnder Mann in schnittigem schwarzem Raumanzug mit geöffnetem Visier hält einen Plasmaschneider, während er sich um den Ausleger eines Bauschiffs herummanövriert. Das Video taucht den Korridor in sanftes blaues Licht, und als ich um die Ecke komme, schließe ich für einen Sekundenbruchteil die Augen. Das Licht sickert durch meine Lider, ein flackerndes, warmes Orange.

Ich war noch nie dort, aber manchmal stelle ich mir gern vor, dass ich auf der Erde bin und über Grasflächen renne, unter einem Himmel, der so blau ist, dass es schmerzt, ihn anzusehen. Ich spüre die Sonne warm im Genick, als ich immer schneller und schneller werde. Bis ich nicht mehr renne, sondern fliege.

Ich öffne die Augen.

Gerade noch rechtzeitig, um die Metallstange zu sehen, die um die Ecke schwingt und dann meinen Brustkorb trifft.

Eine Sekunde lang fliege ich tatsächlich, hänge schräg in der Luft. Dann stürze ich krachend zu Boden, und meine Knochen fühlen sich an, als würden sie mir durch die Haut getrieben. Ich will schreien, aber ich schaffe nicht mehr als ein gepresstes, heiseres Keuchen.

Der mit der Stange ist nur ein verwischtes schwarzes Etwas. Er dreht die Waffe in der Hand, als wäre er auf einem Spaziergang. Ein weiterer Schmerzkrampf erschüttert meine Brust, und ich huste – ein tiefes trockenes Ächzen, das den Schmerz in meinem Bauch verteilt.

»Gut getroffen«, sagt eine Stimme von links. Von anderswo, hinter ihm, ist Lachen zu hören.

Dann sind es sechs, die auf mich herabblicken. Es sind Lieren, aber andere als die, die mich zuvor gejagt haben. Ich huste wieder, diesmal noch schlimmer, als würde ein Dolch in meiner Brust stecken.

Der Kerl, der mich getroffen hat, blickt sich nervös um. Ich sehe ein dunkelrotes Wolfstattoo an seinem Hals. »Los«, sagt er und schaut in den Korridor. »Nehmt ihr Paket.«

Jemand stößt einen Stiefel unter meinen Rücken und rollt mich herum, worauf ich wieder husten muss. Ein Fuß in meinem Genick wirft mich zurück auf den Boden, bevor zwei andere Lieren meine Arme packen, sie nach hinten biegen und mir den Rucksack abstreifen.

Meine Gedanken rasen. Inzwischen hätten andere Leute in diesem Korridor auftauchen müssen. Ich kann hier nicht der einzige Mensch sein. Selbst wenn sie nicht eingreifen, könnten sie für die Ablenkung sorgen, die ich brauche, um zu entkommen. Und wie haben die Lieren diesen Hinterhalt überhaupt vorbereiten können? Sie waren hinter mir. Ich habe diesen Weg nur genommen, weil der Laufsteg blockiert war, weil ich dann …

Ah! Das war sehr clever. Die Mädchengruppe auf dem Steg. Sie wurde mir gezielt entgegengeschickt, entweder bezahlt oder gezwungen, das zu tun, was die Lieren von ihnen verlangten. Sie wussten, dass sie nicht schnell genug sind, um mich zu erwischen, also haben sie mich genau zu ihnen getrieben. Ich habe schon Lieferungen zum Luftlabor gebracht, also kennen sie die Strecken, die ich benutze, wissen, wohin ich laufe und was ich tue, wenn ich gejagt werde. Ganz schön blöd von dir, Riley.

»Können wir uns sonst noch etwas nehmen? Ihre Jacke?«, höre ich einen von ihnen sagen. Wut kocht in mir hoch. Wenn sie mir die Jacke meines Vaters abnehmen, werde ich sie töten. Jeden einzelnen.

»Nein, das ist nur ein Stück Dreck. Das Transportgut reicht.«

Sie ziehen mir den Rucksack ab und drücken mich wieder zu Boden. Jemand greift in meine Jackentaschen und schnappt sich die Batterien. Der Stiefel wird von meinem Genick genommen. Ich hebe den Kopf und sehe den Jungen mit der Stange, wie er eine Batterie hochwirft und auffängt, mit einem gemeinen Grinsen im Gesicht. In der anderen Hand hält er meinen Rucksack. Er und die anderen fünf ziehen sich zurück.

Ich stemme mich hoch, komme auf die Beine, während mein Brustkorb von der Anstrengung schmerzt und ich mich zwinge, still zu bleiben. Ich finde mein Gleichgewicht wieder, dann laufe ich auf sie zu, verlagere mein Gewicht auf die Fußballen, um im engen Korridor nicht zu viel Lärm zu machen. Schnelle Schritte.

Ich habe es auf den Kerl mit meinem Rucksack abgesehen, und genau in dem Moment, als ihm klar wird, dass ich hinter ihm bin, hole ich mit der rechten Hand zum Schlag aus. Ich habe die Hand zur Faust geballt, den Knöchel des Zeigefingers leicht vorgestreckt, und ich ziele genau auf seine Schädelbasis. Amira hat versucht, mir alles über Druckpunkte beizubringen, aber dies ist das erste Mal, dass ich es jemals in die Praxis umsetzen muss.

Ich treffe ins Ziel, genau in die kleine weiche Stelle, wo der Schädel mit der Wirbelsäule verbunden ist, und ich spüre, wie etwas unter meiner Faust knackt. Er gibt einen erstickten Laut von sich und stürzt nach vorn, wobei ihm mein Rucksack aus der Hand fällt.

Mir bleibt etwa eine halbe Sekunde, um meinen Sieg zu genießen. Dann tritt einer seiner Freunde vor und schlägt mir so heftig ins Auge, dass ich für eine Weile woanders bin.

Als ich zurückkomme – Sekunden später? Minuten? –, werde ich gegen die Korridorwand gedrückt, von zwei Lieren festgehalten. Mein Gesicht ist taub, und ich habe den ekligen metallischen Geschmack von Blut im Mund. Der eine, den ich angegriffen habe, liegt immer noch am Boden. Als ich hinsehe, stöhnt er, zuckt unter den flackernden Lampen.

Der Lieren mit dem Wolfstattoo steht vor mir, holt zu einem weiteren Hieb aus. Wenn er mich noch einmal trifft, heißt es tschüss, Riley.

Er schlägt zu. Ich reiße den Kopf zur Seite, und seine Faust kracht gegen die Metallwand. Der scheppernde Knall hallt um die Ecke. Er zieht die Hand mit einem Schmerzensschrei zurück. Ein Hautfetzen hängt von seinem Mittelfinger, und rund um die Wunde quillt bereits Blut hervor. Vor Überraschung haben seine Kumpel den Griff für einen Moment gelockert, als ich ausgewichen bin, aber es genügt nicht, um mich zu befreien, und jetzt drücken sie mich wieder gegen die Wand. »Sie hat tatsächlich Mumm«, knurrt einer.

Tattoo hält sein Handgelenk und schüttelt die Hand. »Du hast danebengeschlagen«, sage ich. »Kannst nicht mal jemanden treffen, der genau vor dir steht, was?«

»Meinst du?«, sagt er und wischt sich mit der unverletzten Hand über den Mund.

»Ja. Vielleicht sagst du deinen Jungs, dass sie mich loslassen sollen, und wir kämpfen ein paar Runden. Du und ich. Mal sehen, wer schneller ist.«

»Glaubst du wirklich? Du bist ziemlich klein für eine Tracer. Wie alt bist du? Fünfzehn?«

»Zwanzig«, blaffe ich zurück und bereue es im nächsten Moment.

»Und hässlich ist sie auch noch«, sagt einer der Lieren, die mich festhalten. »Wie irgendein Atommutant von der Erde.«

»Vielleicht hat sie da unten ein paar Verwandte. Neue Lebensformen.«

Sie lachen grausam und schrill. Ich versuche, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Hört mir zu«, sage ich. »Dieses Transportgut ist für Oren Darnell bestimmt. Im Garten stehe ich unter seinem Schutz. Wenn ihr mir die Lieferung abnehmt, müsst ihr euch vor ihm verantworten.«

»Wer zum Teufel ist Oren Darnell?«, sagt der, der meine linke Schulter hält.

»Was weißt du überhaupt?«, sagt der Lieren mit dem Tattoo. »Er ist der Chef des Luftlabors.« Aber sein Gesicht zeigt keine Furcht – stattdessen wirkt er amüsiert, während er immer noch die verletzte Hand schüttelt. Nicht gut.

»Er hat Verbindungen zu den Gangs«, sage ich. »Totenkopf. Team Schwarzes Loch. Glaubt ihr, Zhao möchte, dass ihr Transportgut mit dieser Adresse klauen wollt?«

Ich hatte die leise Hoffnung, die Erwähnung des Namens von Zhao Zheng, dem Anführer der Lieren, würde irgendeine Wirkung zeigen. Doch Tattoo lacht nur. »Gerüchte, Schätzchen. Mehr ist es nicht.«

»Es ist die Wahrheit. Ich …«

Dann zückt Tattoo ein Messer, und die Welt erstirbt auf meinen Lippen.

 

 

4 | Darnell

Darnell marschiert quer durch das Luftlabor. Seine schweren Schritte donnern auf den metallenen Laufstegen. Er muss sich nicht vergewissern, dass Reece ihm folgt. Sein Wächter ist immer in der Nähe, ist immer da, wenn Darnell ihn braucht. Im Gegensatz zu seinem Chef geht er mit lautlosen Schritten.

Der Laufsteg wird von Algenteichen gesäumt, jeder drei Quadratmeter groß, mit trüber Oberfläche. Darnell beugt sich über einen, zieht müßig einen Finger durch den Schleim.

»Und was ist jetzt so dringend, dass Sie mich wegzerren mussten?«, fragt er.

Reece bleibt in geringer Entfernung stehen, die Arme verschränkt. Er blickt nach links und rechts. Auf dem Boden des riesigen Luftlabors halten sich viele Techniker auf, die sich um die Bäume kümmern oder sich in dichten Gruppen bewegen, aber keiner von ihnen ist in der Nähe von Reece und Darnell.

»Nun?«, sagt Darnell und starrt in die zähflüssige Brühe.

»Was ist los, Chef?«, fragt Reece.

Darnell sagt nichts.

Reece öffnet die Arme, hakt die Daumen in den Gürtel. »Hier geht es nicht um irgendeinen Gangster, der seine Wassersteuer nicht bezahlt hat«, sagt er. »Das war einer Ihrer Angestellten. Bei den meisten Sachen kann ich Ihnen Rückendeckung geben, aber in diesem Fall dürfte es selbst mir schwerfallen, es wieder in Ordnung zu bringen.«

Darnell richtet sich schwungvoll auf und zeigt mit dem Finger auf Reece. Daran hängt ein kleiner Faden aus Algen, der vor und zurück schaukelt. »Bekommen Sie Angst, Reece?«, fragt er und tritt vom Tank zurück. »Glauben Sie, ich gehe zu weit?«

Der Wächter zuckt nicht zusammen, er verschränkt nur erneut die Arme.

»Wenn ich zu weit gehe«, sagt Darnell, »dann sollten Sie mich vielleicht aufhalten. Wie wär’s damit, Reece? Wollen Sie es versuchen?«

Reece sieht ihn mit kühlem Blick an. Trotz seiner Wut über diese Aufsässigkeit staunt ein Teil von Darnell über Reece’ Weigerung, sich einschüchtern zu lassen. Das ist ein Grund, warum er ihn schon so lange um sich hat.

»Sie sind abgelenkt, Chef«, sagt Reece. »Schon seit etwa einem Monat. Und ich habe noch nie erlebt, dass Sie mit einem Ihrer eigenen Techniker die Geduld verloren haben, nicht auf diese Weise. Was auch immer los ist, Sie sollten es mir sagen, damit ich …«

»Ich sollte?«

Reece erstarrt.

»Sorgen Sie einfach nur dafür, dass diese Lieferung hier eintrifft«, sagt Darnell. Er schwenkt einen Arm, um auf den Rest des Hangars zu zeigen. »Ist das nicht Ihre Aufgabe? Ich leite das Luftlabor, Reece. Ich bin für jedes Sauerstoffmolekül verantwortlich, das Sie in Ihre Lunge saugen, und für jedes CO2-Molekül, das dafür herauskommt. Sie müssen dafür sorgen, dass ich alles habe, was ich brauche, um das zu tun. Das ist es, was Sie tun sollten.«

»Ich werde mich darum kümmern«, verspricht Reece.

»Ausgezeichnet«, sagt Darnell und setzt seinen Marsch in Richtung Kontrollraum fort. Mit den Gedanken ist er längst woanders. Er muss sich mit anderen Dingen auseinandersetzen, zum Beispiel mit dieser Lieferung: das kleine Paket, das Arthur Gray ihm schicken soll. Wenn jemand es abfangen sollte, bekommt Darnell viel größere Schwierigkeiten als mit diesem blöden Messerwurf.

 

 

5 | Riley

Es wäre nett, wenn ich sagen könnte, dass es eine schöne Klinge ist. Aber das ist es nicht. Der Griff ist geflickt und abgenutzt, und der Stahl ist mit Rostflecken überzogen. Wenn der Schnitt einen nicht tötet, tut es die Infektion.

Tattoo hält es hoch, und das Licht spiegelt sich auf dem Metall. »Weißt du«, sagt er, »eigentlich wollten wir nur einen Treffer landen. Wir hatten gar nicht vor, dich zu töten.«

Er dreht das Messer in der Hand, zielt dann mit der Spitze auf meine Augen. »Aber jetzt müssen wir uns etwas nehmen. Du kannst nicht einfach einen von uns verletzen und erwarten, dass du nicht dafür bezahlen musst. Du verstehst, ja?«

Ich versuche etwas zu sagen, aber ich kann den Blick nicht von der Klinge losreißen. Er beugt sich näher heran. Die Spitze ist jetzt nur noch wenige Zentimeter entfernt. »Was soll es sein? Das linke Ohr oder das rechte?«

»Lasst mich los«, sage ich schließlich. Es klingt fast wie ein Knurren. Aber das Messer bleibt völlig ruhig; die Spitze schwankt kaum, als sie sich langsam meinem Gesicht nähert. Dann stößt er es behutsam vor und zurück. Ich spüre, wie mein Hemd auf dem Rücken nass vom Schweiß wird. Ich reiße meinen Körper zur Seite, aber die Lieren, die mich halten, sind zu stark. Einer von ihnen legt eine Hand auf meine Stirn, drückt meinen Kopf gegen die Wand. »Du solltest lieber stillhalten«, sagt er.

Links, rechts, links, rechts.

Hinter Tattoo ertönt ein Schrei. Er richtet sich irritiert auf und blickt über die Schulter zurück. Einer der anderen Lieren, groß, schlaksig, mit blasser Haut, hält meinen Rucksack. Er ist offen, und er winkt seine Kumpel hektisch heran.

Mit einem Seufzer zieht Tattoo das Messer von meinem Gesicht zurück und geht zu ihm hinüber. »Und jetzt? Was ist los mit …?«

Er stockt, als er in den Rucksack blickt. Er dreht sich um, versperrt mir die Sicht und unterhält sich flüsternd mit seinem Partner.

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was sich in meinem Rucksack befindet. Wir schauen niemals nach. Das ist einer der Gründe, warum mein Team so viele Aufträge bekommt. Man kann schicken, was auch immer man möchte, und man kann darauf vertrauen, dass wir nichts darüber wissen.

Ich spüre neue Hoffnung. Zum ersten Mal sieht es danach aus, dass ich vielleicht doch mit dem Leben davonkomme.

Nach einigem gezischeltem Hin-und-Her mit seinem Freund gibt Tattoo den Leuten, die mich festhalten, ein Zeichen. Unvermittelt lassen sie mich los. Ich breche an der Wand zusammen, versuche aufzustehen, aber meine Beine hören nicht mehr auf mich.

Tattoo starrt mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Er kommt zu mir, beugt sich herab und flüstert: »Es ist noch nicht vorbei.«

Er hebt eine Batterie hoch, hält sie mir genauso nahe vors Gesicht wie zuvor das Messer. »Und diese behalten wir.«

Der eine, der den Rucksack geöffnet hat, lässt ihn fallen, und er landet mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Auf ein Zeichen von Tattoo machen sich die Lieren durch den Korridor davon. Einer von ihnen schnappt sich den Mann, den ich mit dem Schlag gegen den Druckpunkt ausgeschaltet habe, wirft ihn sich wie einen Getreidesack über die Schulter.

Ich will aufstehen, aber ich bleibe vor der Wand hocken, bis sie außer Sichtweite sind. Ich zittere, und ich brauche eine Minute, bis ich mich langsam beruhige. Dann brauche ich eine weitere Minute, um wieder aufzustehen – wobei ich fast das Gleichgewicht verliere. Ich sehe, wie vor mir ein paar Blutstropfen auf den Boden fallen. Mein Gesicht summt vor Schmerz, und meine Augenhöhle steht in Flammen. Aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Ich habe schon viel zu viel Zeit verloren.

Als ich den immer noch offenen Rucksack hole und den Reißverschluss zuziehen will, werfe ich unwillkürlich einen Blick hinein. Ich sehe den grauen Kasten, den Gray mir gegeben hat, damit ich ihn überbringe – höchstens so groß wie eine Faust, wie etwas, in dem man ein kleines Maschinenteil aufbewahrt. Der Deckel des Kastens wurde von den Lieren geöffnet. Darin befindet sich etwas, das in mehrere Schichten Polsterfolie eingewickelt ist – ein verschwommener Umriss, der vage vertraut wirkt.

Und aus der rechten unteren Ecke des Kastens sickert ein dünnes Rinnsal in den schützenden Schaumstoff – es ist rot wie Blut.

Ich will den Rucksack schließen, den Reißverschluss zuziehen, meinen Auftrag erledigen und nicht an das Ding in der Folie denken, aber meine Hände zögern. Das Blut ist immer noch da, sammelt sich auf dem Schaumstoff. Der Korridor ist menschenleer.

Ich muss es wissen.

Langsam schiebe ich einen Finger in die Schutzfolie. Sie ist dick, fühlt sich feuchtkalt auf meiner Haut an. Das Plastik umschließt fest das Transportgut, doch es löst sich an den Rändern, als ich daran ziehe. Dann streifen meine Finger etwas Weiches und Feuchtes, und das Ding liegt frei.

Ich starre es an, zwinge mich, den Blick abzuwenden, aber nun ist jeder Irrtum ausgeschlossen.

Es ist ein Augapfel. Ich habe einen Augapfel mit mir herumgetragen.

 

 

6 | Darnell

Darnell sitzt am Tisch an der Rückseite des verdunkelten Kontrollraums, umgeben von ramponierten Stühlen. Jeder Techniker, der hier arbeitet, weiß, dass er sie nicht verrücken darf, nicht einmal um einen Zentimeter. Und dass er nichts über die erstickende Hitze sagen darf, die laut Anweisung ihres Chefs in diesem Zimmer zu herrschen hat.

Jetzt geht er die Berichte durch, als Reece den Lagertechniker hereinführt. Der Mann hält sich im Hintergrund, mit einer kleinen Schachtel unter dem Arm, und wartet darauf, dass Darnell ihn zur Kenntnis nimmt.

Schließlich winkt Darnell ihn herüber. Der Techniker nähert sich hastig und hält die Schachtel wie einen Schild vor sich. Die Großbuchstaben auf der Vorderseite ergeben die Worte LUFTLABOR LIEFERUNG 6/00/7-A EILIG.

»Hab es gefunden, Sir«, sagt er. »Es war nur am falschen Platz. Vorübergehend.«

Darnell würdigt ihn kaum eines Blickes. »Und das Messer?«

Der Mann schluckt. Mit zitternder Hand zieht er das Messer aus einer Tasche, achtet darauf, es nur an der Klinge anzufassen. Er legt es flach auf den Tisch, gleich neben die Schachtel.

Darnell neigt den Kopf zur Seite. »Da sind Fingerabdrücke auf der Klinge.«

»Ich …«

»Sie haben es geschärft, wie ich gesagt habe?«

»Ja, Sir. Wie Sie gesagt haben.«

Dann verspürt Darnell einen heißen und intensiven Drang. Er möchte die Schärfe des Messers testen, indem er es dem Mann in den Bauch stößt. Seine Finger zucken nervös. Es würde weniger als eine Sekunde dauern. Rein und raus.

Stattdessen winkt er den Mann weg. Der Techniker zieht sich zurück, nickt heftig, als wäre sein Genick bereits gebrochen. Darnell zieht eine finstere Miene und widmet sich wieder seinen Berichten. Obwohl er es niemals zugeben würde, gehen ihm immer noch Reece’ Worte durch den Kopf. Er muss vorsichtiger sein. Er hat zu hart gearbeitet und zu lange gewartet, um sich jetzt ablenken zu lassen.

Er reißt die Schachtel auf, schiebt seine Hand hinein. Seine Finger streifen bearbeitetes Glas, dann zieht er einen Tabscreen hervor – kleiner als die regulären Geräte, mit einer knollenförmigen Antenne auf der Oberseite. Er schaltet ihn ein, blättert sich durch die Menüoptionen. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus wie Öl auf Wasser. Sein Verbindungsmann im Tzevya-Sektor hat ganze Arbeit geleistet.

Der Lagertechniker stolpert beinahe über die Türschwelle, als er den Kontrollraum verlässt, und das Geräusch, mit dem sein Fuß gegen die Metallkante schlägt, lässt Darnell aufblicken. Er ist mit sich zufrieden, dass er seinem Drang nicht nachgegeben hat. Außerdem wird der Techniker früh genug bekommen, was er verdient hat. Genauso wie Reece und die anderen Techniker und alle anderen Bewohner von Außenerde, solange er sich nur zusammenreißen kann. Disziplin – das ist der Schlüssel. Selbstbeherrschung.

 

7 | Riley

Ein trockener Würgereiz steigt in meine Kehle, kocht vom Bauch hoch. Meine Hand zuckt und stößt gegen den Kasten. Er rutscht aus dem Rucksack, und das Ding springt aus der Plastikfolie, landet mit einem gedämpften Klatschen auf dem Boden.

Es rollt hin und her, gehalten vom Sehnerv, der wie eine blutige Sehne am Metall klebt. Es schaut mich nicht an, aber ich kann die Iris sehen, die dunkelblau den tintenschwarzen Punkt der Pupille umgibt. Ich muss mich zwingen, den Blick abzuwenden, und als ich es tue, verstärkt sich der Würgereiz. Ich beuge mich vor, dränge ihn zurück, schlucke ihn hinunter.

Du wirst jetzt nicht kotzen. Nicht hier.

Schau dir niemals an, was du transportierst. Das ist die eine große unumstößliche Sache, die Amira uns immer wieder eingebläut hat. Dafür gibt es einen Grund: Sie verschafft uns Aufträge. Die Leute vertrauen uns. Nein, wir werden Ihr Transportgut niemals stehlen, es interessiert uns nicht einmal, was es ist.

Und das Nichtwissen hält uns am Leben. Tracer, uns eingeschlossen, transportieren manchmal schlimme Sachen. Waffen, Schmuggelware, Drogen, die irgendwo in den Höhlen zusammengebraut wurden und in einem fernen Sektor verkauft werden sollen. Es wäre nett, wenn wir davon leben könnten, für Kliniken zu rennen, aber das können wir nicht. Es ist besser, wenn wir es nicht wissen. Theoretisch könnte ich seit Jahren herausgeschnittene Augäpfel transportiert haben, ohne jemals davon zu erfahren. Aber es tatsächlich zu sehen, zu berühren …

Ich gehe in die Hocke und benutze eine Ecke der Plastikfolie, um nach dem Nerv zu greifen, vorsichtig daran zu ziehen. Der Würgereiz kehrt zurück, und ich muss für ein paar Sekunden die Augen schließen und durch die Nase atmen, bevor ich wieder hinschauen kann. Weitere Details treten hervor. Winzige milchige Wolken in der Pupille, die ich bislang nicht bemerkt hatte. Dünne Adern, die wie eine filigrane Zeichung von der Iris ausgehen.

Bewegung. Stimmen. Ohne nachzudenken, schnappe ich mir den Augapfel. Er fühlt sich weich und nachgiebig an, wie Kitt.

Drück ihn nicht zu fest, sonst wird er platzen.

Wieder muss ich gegen einen Würgereiz ankämpfen. Ich lege das Ding in den Kasten zurück und schließe den Reißverschluss, als die Menschen, die zu den Stimmen gehören, um die Ecke kommen.

Zwei Stomper. Offiziell sind sie als Stationsschutzpolizisten bekannt, aber inzwischen nennt sie niemand mehr so. Ich bin überrascht, sie zu sehen, denn heutzutage sind nicht mehr allzu viele von ihnen unterwegs.

Ein paarmal pro Jahr hört man Geschichten über Gangbosse, die sich zusammentun und die Jagdsaison auf Stomper für eröffnet erklären, die dumm genug sind, sich in ihre Territorien zu wagen. Das endet jedes Mal mit etlichen Toten auf beiden Seiten, aber wenn es um neue Mitglieder geht, scheinen immer noch genug Leute bereit zu sein, sich den Gangs anzuschließen. Die Sektorenleiter geben sich alle Mühe, zeigen sich in den Bars und auf dem Markt und in den Kantinen, um nach neuen Rekruten für die Stomper-Einheiten zu suchen, aber sie müssen jedes Mal mit schlechten Nachrichten zum Rat im Apex zurückkehren.

Die Stomper, die auf mich zukommen, tragen dicke graue Overalls mit dem Stationslogo – einer stilisierten Ringsilhouette –, das auf die Brusttasche aufgestickt ist. Im engen Raum krachen ihre Stiefel schwer auf den Boden. An ihren Hüften hängen spezialangefertigte Pistolen: Waffen mit Munition, die Fleisch und Knochen durchdringen, aber kein Metall. Wir nennen sie Stinger.

Den linken habe ich schon gelegentlich gesehen – ich glaube, er heißt Royo, ein Bär von einem Mann mit dunkler Haut und rasiertem Schädel. Sein Partner ist genauso groß, mit zottigem Bart. Unter anderen Umständen würde er vielleicht einen gemütlichen Eindruck machen, aber als er mich nun fixiert, sehe ich, dass sein rechtes Auge aus Glas ist, tot und reglos in der Höhle.

Links, rechts, links, rechts.

Sie nehmen die Szene in sich auf. Blutspuren auf dem Boden und eine Tracer, die aussieht, als wäre sie frontal mit einem Asteroiden kollidiert. »Was ist hier los?«, fragt Royo, aber noch während die Worte aus seinem Mund kommen, schieße ich bereits an ihm vorbei. Sein Partner will nach mir greifen, aber ich bin zu schnell, schlüpfe unter seinem Arm hindurch. »Wichtige Lieferung!«, rufe ich über die Schulter zurück.

Ich erwarte, dass sie mich verfolgen, sich vielleicht sogar auf mich stürzen. Aber sie tun es nicht, und ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Vielleicht denken sie, dass ein zusammengeschlagener Tracer die Mühe nicht lohnt. Gute Neuigkeiten für mich. Ich muss einiges an Rückstand aufholen. Mein Schlüsselbein scheint in Ordnung zu sein, aber mein Gesicht pulsiert wieder, und brennende Schmerzwellen gehen von der Stelle aus, wo ich den Hieb eingesteckt habe.

Eine Million Gedanken stürmen auf mich ein, wetteifern um Aufmerksamkeit. Ein Teil von mir will den Kasten irgendwo wegwerfen und rennen, so tun, als hätte ich diesen Auftrag nie angenommen. Innerhalb von Sekunden lasse ich diese Option fallen – ich will nicht mal darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn Darnell seinen Augapfel nicht bekommt. Vermutlich würde er einen von mir als Ersatz benutzen. Und wenn er beschließt, sich an den Teufelstänzern zu rächen …

Aber kann ich das Transportgut wirklich ausliefern? So tun, als hätte ich den Augapfel niemals gesehen, zurückgehen und hoffen, dass alles wieder normal wird? Ist das jetzt überhaupt noch möglich? Jedes Mal, wenn jemand mir etwas gibt oder mich bittet, mich umzudrehen, damit er es in meinen Rucksack packen kann, werde ich an heute denken müssen.

Aber ich habe keine Wahl. Eigentlich nicht. Ich muss diesen Job zu Ende bringen. Es besteht die Chance, dass Darnell herausfindet, dass ich das Transportgut gesehen habe, aber das ist weniger riskant, als den Auftrag komplett sausen zu lassen.

Immer wenn der Rucksack schaukelt, wenn sich das Transportgut auf meinem Rücken verschiebt, rollt eine neue Welle des Schreckens durch mich hindurch.

Ich komme an den Bergbauanlagen vorbei, für die Chengshi bekannt ist. Die Öfen und Maschinen schweigen, und aus den Hallen, in denen sie stehen, dringt kein Licht auf den Korridor hinaus. Sie werden erst wieder laufen, wenn der nächste Asteroidenfänger neben der Station in den Orbit einschwenkt. Ich mag es nicht besonders, hier zu laufen, weil ich anschließend das Gefühl nicht loswerde, Dreck auf der Haut und der Kleidung zu haben. Ich sage mir, dass ich weiterrennen muss, dass es nur noch wenig mehr als einen Kilometer bis zur Grenze des Garten-Sektors sein kann.

Dann kommen ein paar Räume mit Schlacke, dazwischen vereinzelte heruntergekommene Habitate, die alle sicher verschlossen sind. Mehrere Male muss ich schnell reagieren, damit ich in den Korridoren keine Leute umrenne. Einige liegen am Boden, um sie herum ihr Besitz in unordentlichen Haufen. Wenn keine Habitat-Einheit bereit ist, sie aufzunehmen, müssen sie dort schlafen, wo es eben möglich ist.

Es fällt mir schwer, nach dem Überfall wieder in vollem Tempo zu rennen, sodass ich lieber in einen langsameren Trab verfalle. Als ich um die nächste Ecke biege, stoße ich fast mit einem Tagger zusammen.

Er malt etwas an die Wand – ich sehe es kurz, als ich ihm ausweiche, einen Slogan. »Der einzige Weg.« Die Phrase ergibt für mich überhaupt keinen Sinn, bis ich mich erinnere, dass ich sie schon einmal gehört habe. Bei einer Demonstration in einer der Galerien, wo die Worte skandiert wurden. Aber wogegen wurde noch gleich protestiert?

Der Tagger sieht mich. »Wir müssen die Geburtenrate begrenzen«, ruft er. »Den Menschen war es nie bestimmt, weiterhin zu existieren …«

Ach ja. Das war es. Freiwilliges Aussterben der Menschheit.

»Aus dem Weg«, sage ich, schleudere die Worte praktisch in seine Richtung, als ich vorbeizische.

Solche Sachen habe ich schon oft gehört. Dass wir keine Kinder mehr kriegen sollten, um das Gleichgewicht des Universums wiederherzustellen. Freiwillige Euthanasie. Wenn ich mich vom Tagger aufhalten lasse, wird er mir am Ende erzählen, dass Außenerde überhaupt nicht existieren sollte, dass es nur um ein Wettpinkeln zwischen den Staaten der Erde ging, das zu weit eskalierte, um es noch stoppen zu können. Bevölkerungsüberschuss, so hat man es genannt. Ich kenne die Geschichte genauso wie jede andere Person in dieser Station.

Natürlich war der schwere Atomkrieg ein paar Jahre später auch nicht hilfreich.

Aber das war vor langer Zeit, und es interessiert mich nicht allzu sehr. Ich drehe mich um, zeige dem Tagger einen ausgestreckten Mittelfinger. Dann renne ich weiter.

Bald laufe ich unter dem Schild hindurch, das die Grenze zwischen Garten und Chengshi markiert. Ich blicke hinauf. Vor längerer Zeit war jemand mit einer Spraydose hier, hat die Worte »Sektor 2« durchgestrichen und in grüner Farbe primitive Blumen und Bäume drumherum gemalt.

Man kann die Sektorengrenzen auf fast allen Ebenen überqueren, aber aus irgendeinem Grund finde ich mich fast immer auf dieser wieder. Der Garten ist sauberer als Chengshi – er wird besser instand gehalten, und es gibt weniger Graffiti und Dreck. Der größte Teil des Sektors wird vom Luftlabor und vom Nahrungslabor eingenommen, woher der Garten seinen Namen hat. Sie liegen hinter Luftschleusentüren am Fuß der Galerie. Ich kann die zwei Wächter erkennen, die heute Dienst haben: Dumar und Chang. Chang ist neu – vor ein paar Wochen verweigerte er mir den Zutritt, und ich musste warten, bis Prakesh in einer Pause herauskam, bevor ich eingelassen wurde. Aber Dumar arbeitet hier schon seit Jahren. Er ist ein stämmiger Kerl mit dunklen Augen und einem großen schwarzen geflochtenen Bart. Er hebt eine Hand, als ich mich nähere, weniger ein Befehl zum Anhalten, eher eine freundliche Begrüßung. Aber ich sehe auch, dass seine andere Hand wie immer auf dem Holster mit dem Stinger liegt.

»Wieder zurück?«, fragt er.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Freut mich, dich zu sehen, Dumar.«

»Ich schwöre, eines Tages gehst du da rein und züchtest Wurzeln, so oft, wie du hier zu Besuch kommst.«

»He, ich bin nur zu Besuch. Du arbeitest hier.«

Schon seit Jahren tauschen wir immer wieder diese Dialogzeilen aus. Er stößt ein gutmütiges Grunzen aus, als er sich seiner Kontrollkonsole zuwendet. Hinter ihm schnieft Chang. Prakesh hat mir einmal erzählt, dass er an seinem ersten Tag versucht hat, jeden Techniker, der durch die Tür wollte, einer Leibesvisitation zu unterziehen.

Dumar beäugt meinen Rucksack. »Eine Lieferung?«

Ich schlucke. »Richtig. An Mr. Darnell.«

Er schüttelt den Kopf. »Mit dem solltest du vorsichtig sein«, sagt er. Dann scheint er noch etwas hinzuzufügen wollen, aber Chang wirft ihm einen finsteren Blick zu, worauf er verstummt.

Dumar drückt ein paar Knöpfe, dann geht die äußere Luftschleusentür zischend auf. Ich trete hindurch. »Viel Spaß«, ruft er mir über die Schulter zu, als sich die Tür hinter mir schließt. Während ich darauf warte, dass sich die innere Tür öffnet, fahre ich mir mit der Hand durchs Haar. Wie üblich ist es fettig, verdreckt und unangenehm klebrig. Ich versuche es kurz zu halten, aber das nützt auch nichts.

Ich sehe mich auf der spiegelnden Metalltür. Mein Haar umrahmt ein Gesicht, das vor Schweiß glänzt. Ich versuche, nicht in die dunkelgrauen Augen meines Spiegelbilds zu blicken. Stattdessen konzentriere ich mich auf den Körper, strecke die Arme zu den Seiten, schüttele die Beine aus. Die Jacke ist klobig, aber die Figur darunter ist schlank und geschmeidig, mit ausgeprägten Muskeln vom endlosen Rennen und Klettern und Springen.

Es summt, dann blitzt es kurz bläulich auf – ultraviolettes Licht, das die Bakterien an der Oberfläche braten soll. Ich weiß nicht, warum sie sich die Mühe machen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es wirklich funktioniert. Die Tür vor mir öffnet sich zischend, verschwindet in der Wand.

Man gelangt zum Luftlabor, indem man durch das Nahrungslabor geht. Ich kann undeutlich die Umrisse der Pflanzen durch die Plastikkuppeln im Hangar erkennen: Mais, Tomatenstauden, Beete mit Kopfsalat, Bohnen, alles in das sanfte grüne Leuchten der Zuchtlampen getaucht. Im eigentlichen Nahrungslabor gibt es keine allgemeine Beleuchtung, der Weg vor mir wird vom matten Umgebungslicht erhellt; von den großen Kästen der Klimaanlage an den Wänden kommt ein sanftes Summen. Der Hangar scheint sich kilometerweit zu erstrecken, und in der Ferne erkenne ich die Lichter des Laborkomplexes, wo die Techniker daran arbeiten, ergiebigere Pflanzen zu züchten.

Hinter den Treibhäusern liegt die Insektenkolonie, die von den Labortechnikern Summsaal genannt wird, wie ich gehört habe. Winzige Käfer und Seidenraupen können allein nicht viel Lärm machen, aber wenn sie zu Millionen versammelt sind, können sie ein Summen erzeugen, das einem den Bauch vibrieren lässt. Trotzdem schmecken sie recht gut. Vor allem die gebratenen Käfer, die es manchmal auf dem Markt gibt. Knusprig und salzig. Viel besser als das Zeug in den Kantinen.

Ich biege nach rechts ab, komme an einem Treibhaus mit der Aufschrift Soja Japonica vorbei und laufe die Reihen entlang. Wenig später trete ich durch eine Tür, und nun wird der Raum über mir von einem dichten grünen Blätterdach ausgefüllt. Die Bäume sind speziell gezüchtete riesige Eichen, die dazu gedacht sind, Kohlendioxid aufzunehmen und so viel Sauerstoff wie möglich zu produzieren. Einige von ihnen sind schon alt – viel älter als die Techniker, die mit ihnen arbeiten. Im Laufe der Jahre sind ihre Wurzeln aus den Metallgefängnissen ausgebrochen und haben sich durch den Boden geschoben. Ich muss über einige hinwegsteigen, als ich zwischen den Bäumen hindurchlaufe.

ENDE DER LESEPROBE