Tugend - Reimer Gronemeyer - E-Book

Tugend E-Book

Reimer Gronemeyer

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Beschreibung

"Dieses Buch will sich auf die Suche nach den neuen Tugenden machen, die imstande sein müssen, drohender Verwüstung mit Liebe zu begegnen. Tugenden, die mit kluger Selbstbegrenzung auf die entfesselte Konsumgesellschaft reagieren. Die der Egomanie tapfer das Du entgegensetzen, um den anderen nicht aus dem Auge zu verlieren. Die gegen alle Trends eine gerechte Lebenswelt einfordern. So wachsen in Anknüpfung an die alten christlichen Tugenden die neuen, die gebraucht werden, auf dem Boden der freundschaftlichen Begegnung zwischen Menschen. Sie leben aus dem Glauben an die Kraft des hoffenden Menschen." Für den Soziologen und Theologen Reimer Gronemeyer sind es die Tugenden, die unserem Leben Halt geben und es individuell und gesellschaftlich glücken lassen. "Tugend" ist das leidenschaftliche, kämpferische Werk eines Mannes, der mit seinem Leben und seinen Büchern für eine Welt eintritt, die wieder menschlicher wird. Nicht, um das Gestern zu bewahren. Sondern um sich zu entscheiden: für ein Morgen, das uns allen eine lebenswerte Perspektive bietet.

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Reimer Gronemeyer

Tugend

Über das, was uns Halt gibt

Seltsam, alles, was sich bezog,

so lose im Raum flattern zu sehen.

RAINER MARIA RILKE. DUINESER ELEGIEN 1

Inhalt

Die Tugenden: ein erledigter Fall?

Wie gefährdet ist die Gemeinschaft?

Die alten Tugenden im Wildwasser der Flexibilisierung • Erodiert der Zusammenhalt? • Vom Charakter zum Algorithmus • Wenn der digitale Tugendwächter kommt • Die neue Apartheid • Gesellschaftsstaub. Psychostaub • Resümee: Geht alles schief? Wird alles gut?

Die neuen Tugenden, die wir brauchen

Empfindsamkeit • Es geht nur mit ›Umsonstigkeit‹ • Die Erde unter den Füßen • Wo ist das Land der Hoffnung? • Das Ende des weißen Mannes • Die Kunst des Sammelns. Die Kunst des Unterlassens • Der Traum vom wahren Leben • Bedrohte Gefühle • Epilog

Wie die Gemeinschaft wieder geheilt werden kann

Game over? Ein Neuanfang ohne Garantien • »So wird die Welt aussehen, wenn sie untergeht« • Hoffnung wider die Hoffnung

Schlussmelodie über den Zusammenhalt

Erste Variation: »… dass gepfleget werde der feste Buchstab« • Zweite Variation: Der Schmerz der Tugend. Der Schmerz der Gemeinschaftlichkeit • Dritte Variation: »Wir haben geweint, als wir dort ankamen« • Vierte Variation: Die großen Gefühle • Fünfte Variation: »Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder« • Sechste Variation: »Sich selbst als eine Geisel dem Wohl und Wehe des Anderen ergeben« • Worauf läuft das alles hinaus?

Danksagung

Anmerkungen

Die Tugenden: ein erledigter Fall?

Ich weiß wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.

PIER PAOLO PASOLINI

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Das Geld, sagt einer. Ja, die Gier, Konkurrenz und Neid, bekräftigt ein anderer. Nichts, sagt die Dritte. Es gibt keine Nachbarschaft mehr, beklagen die einen. Die Familien zerfallen, klagen die anderen. Sind tatsächlich nur noch Gier, Konkurrenz und Neid geblieben? Könnte ein solch erbärmlicher Klebstoff eine Gesellschaft retten? Oder ist es die Angst, die dafür sorgt, dass der Laden nicht auseinanderfliegt? Die Angst vor den Fremden, die ins Land drängen? Die Furcht vor dem wirtschaftlichen Abstieg angesichts chinesischer Übermacht, die sich wie eine Gewitterfront über uns ballt? Oder drängt sich der Schrecken über den Sturm des Fortschritts, der alles Heimatliche und Gewordene hinwegfegt, in den Vordergrund? All dies hinterlässt Gefühle der Verlassenheit und Schutzlosigkeit. Geld und Angst schmieden vielleicht eine Notgemeinschaft, aber eine freie, schützende und wärmende Gesellschaft kommt so nicht zustande.

Sokrates ist gerade zum Tode verurteilt worden. Er wird den Schierlingsbecher trinken und sterben. Nach dem Urteil wendet er sich an seine Richter. Und formuliert eine überraschende Aufforderung. »An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn ihr denkt, dass sie sich um Reichtum oder um sonst irgendetwas mehr bemühen als um die Tugend. Oder wenn sie so auftreten, als wären sie etwas, tatsächlich aber nichts sind. Dann weist sie zurecht, wie ich euch zurechtgewiesen habe.«1 Ein verzweifelter Appell des Sokrates an seine korrupten Richter, die mit ihrem Todesurteil gerade bewiesen haben, dass sie der Tugend den Garaus machen wollen. Sie setzt er ein als die Tugendwächter für seine Söhne. In dem Augenblick, in dem sein Tod besiegelt ist, bettelt er nicht um Gnade. Er wird auch die Fluchtmöglichkeit, die seine Schüler und Anhänger vorbereiten, nicht nutzen. Denn die arete, die Tugend, ist es, die Gemeinschaft möglich macht. Die Tugend ist die Voraussetzung für den Zusammenhalt in der polis, der Stadt. Und um diese Tugend, die Gemeinschaft erst möglich macht, ringt Sokrates. Unter der Überschrift: Tod oder Tugend. Lieber den Tod als den Verlust der Tugend.

Und wie steht es heute um die Tugenden? Wie steht es um all die hervorragenden Eigenschaften des Menschen, seine vorbildliche Haltung, die erstrebenswerten wertvollen Fähigkeiten zum Handeln, die ein Leben glücken und Gemeinschaften erblühen lassen? Von den Kardinalstugenden über die himmlischen oder die christlichen Tugenden, die Tugenden der Ritter oder der Soldaten, der Bürger oder eben jene Mischung, die es bis in unsere Zeit geschafft hat?

Es sieht so aus, als seien die alten Tugenden dem Untergang geweiht, denn sie passen nicht mehr in eine Zukunft, die von Computeralgorithmen und Biowissenschaften geprägt sein wird. Diese Zukunft – so scheint es – wird einen neuen Menschen hervorbringen, der dem aus der Mode gekommenen Humanismus Adieu sagt. Aber sind nicht gerade die Tugenden das Einzige, was uns darin bestärkt, der Herrschaft von Geld und Angst zu widersprechen? Sind sie nicht unsere uralten moralischen Faustkeile gegen den Machbarkeitswahn? Ich muss an ›Ötzi‹ denken. Dieses mit Fellen bekleidete Skelett, das von Spaziergängern in den Alpen, auf dem Tisenjoch, in mehr als 3000 Metern Höhe gefunden wurde. Er hatte einen Dolch bei sich, zwei abgebrochene Pfeilspitzen, einen Klingenkratzer und einen Bohrer. Auch ein Geweihzapfen in einem Lindenast fand sich, mit dem man Klingen und Spitzen schärfen konnte. Vor 5300 Jahren ist er in dieser alpinen Einsamkeit und Kälte unterwegs gewesen. Die meisten seiner Werkzeuge waren so stark abgenutzt und immer wieder nachgeschärft, dass sie schon den letzten Verwendungsgrad erreicht hatten. Hier war, so scheint es, ein sozial Isolierter, ein Getriebener, vermutlich ein Ausgestoßener, auf der Flucht, bis ihn schließlich ein Pfeil in den Rücken traf.2 Vielleicht können wir uns Ötzi als ein warnendes Beispiel dafür vorstellen, was passiert, wenn die Gemeinschaft zerbricht? Sind auch wir auf der Flucht, in der Tasche die abgenutzten, kaum noch funktionsfähigen Werkzeuge, alleingelassen auf dem Weg in eine unbekannte Zukunft, während uns die Verfolger, die Feinde, auf den Fersen sind?

Wir verlassen das Zeitalter des stabilen Wohlstandsstaates, steigen gewissermaßen in gefährliches alpines Gelände, die globalen Konkurrenten hinter uns. Sollten wir, um zu überleben, die hinderlichen Tugenden als unnötigen Ballast abwerfen? Können wir uns die alten Tugenden noch leisten, wenn die Welt einem einzigen ökonomischen Schlachtfeld gleichen wird, in dem sich nur die Allerstärksten durchsetzen und überleben werden? Man könnte sagen: Wir in Europa haben in den letzten Jahrhunderten ein Leben gelebt, das sich auf fossile Brennstoffe stützt. Unsere Autos, unser Brot – ohne fossile Brennstoffe nicht möglich. Kein Getreide ohne Düngemittel, die nicht ohne Erdöl zu haben sind. Das sind unsere Feuersteine, Faustkeile, Pfeilspitzen. Während die Industriegesellschaft materiell auf dem fossilen Brennstoff ruhte, wurde sie moralisch von den christlich-antiken Tugenden befeuert, die eine disziplinierte Arbeitsgesellschaft hervorbrachte. Zwei Ressourcen also – das Öl und die Tugenden –, die sich nun erschöpfen. Vor uns die vielen Krisen, vom globalen Klimawandel bis zur weltweit anschwellenden Migration. Vor uns dramatische Umbrüche: Künstliche Intelligenz und Automatisierung, Algorithmisierung des Alltags und Menschenverbesserung. Auf dem Programm steht die Optimierung des Homo sapiens zum Einzelkämpfer mit perfektionierter DNA. Eingehüllt in eine digitale Schutzweste, wird wohl nur noch seine Seele durch Softwareprogramme abgelöst werden müssen.

Was da jetzt designt wird, ist eine neue Kreatur, die die Koalition zwischen Industriegesellschaft und alten Tugenden überwunden haben wird. Nicht, dass diese Koalition immer gut funktioniert hätte. Oft genug blieben die Tugenden nur das Feigenblatt: Aber der Homo sapiens steht ohne seine alte Moral gewissermaßen nackt da. Die Herausforderungen, so muss er sich eingestehen, die durch Klimawandel, Artensterben, Überbevölkerung und Migration auf ihn zukommen, lassen sich tugendhaft allein wohl kaum bewältigen: Dazu wird ein Systemmanagement gebraucht, das rechnet und nicht wertet, das optimiert und nicht zweifelt.

Der Homo sapiens geht unweigerlich seiner Optimierung entgegen. Soll man ihn Cyborg nennen? Wenn wir – was jetzt in den Bereich des Möglichen rückt – unsere DNA, unser Hormonsystem oder unsere Gehirnstruktur nur ein wenig verändern, dann entsteht ein neues Wesen. Und die Bioingenieure, die sich den alten Körper vornehmen, seinen Gencode umschreiben, seine Gehirnströme neu ausrichten und sein biochemisches Gleichgewicht verändern, werden dadurch – so schreibt Yuval Noah Harari – neue kleine Götter, die den Homo sapiens zur überholten Figur machen. Erinnern wir uns an Lucy, deren Knochen im afrikanischen Graben gefunden wurden. Sie lebte vor 3,2 Millionen Jahren. Homo erectus. Lucy ging aufrecht. Der Übergang aber zum Homo sapiens war ein tiefer Bruch. Ebenso wird der Übergang vom Homo sapiens zum Cyborg einen tiefen Bruch bedeuten. Es versteht sich fast von selbst, dass dieser Homo cyborgensis sich weder auf die altmodischen und erschöpften fossilen Ressourcen noch auf die ebenso altmodischen und erschöpften moralischen Ressourcen beziehen wird. Er wird sich nicht einmal an sie erinnern.3

Angesichts dieser Entwicklungen kann das Thema »Tugend« eigentlich nur wie ein Kostüm aus der Mottenkiste wirken, mit dem ein abgehalfterter Showmaster auftritt. Sind die Tugenden also aus der Realität längst herausgeschnitten, ganz so wie man ja DNA-Abschnitte herausschneiden kann? Wird sich die Jugend lediglich amüsieren, wenn ihnen jemand von »Tugenden« redet? Die Fragen lassen an den Philosophen Ludwig Wittgenstein denken, der gesagt hat: »Die Bedeutung eines Begriffs ergibt sich aus seinem Gebrauch.«4 Ist folglich schon die Rede von Tugend an sich lächerlich? Und ist der Begriff, der an deren Stelle den herrschenden Realitäten Raum verschafft, nicht eigentlich der Begriff »Leistung«? Streichen wir also die Tugend und reden zeitgemäß von Leistung: »Hole alles aus dir heraus! Entfessle deine Ressourcen! Optimiere dich!« Achtung, waren die antiken Tugenden nicht genau so gemeint? Arete, das griechische Wort für Tugend, hat mit dem agathon, dem Guten, zu tun. Gut laufen können (wie bei den Festspielen in Olympia), gut mit einer Situation fertigwerden können, eine Kunst gut beherrschen: Das ist Tugend. Der Begriff war gar nicht moralisch aufgeladen, sondern fast könnte man sagen: Sportlich war er gemeint. Der Wettstreit, in dem das Gute in uns (agathon) zur Höchstform aufläuft. Zum Besten (aristos), zum Aristokraten, lässt uns dieser Wettlauf werden. So könnte man die klassische Tugend also doch mit Leistung gleichsetzen? Ist unsere Leistungsgesellschaft also die wahre Tugendgesellschaft? Nein, so ist es nicht.5 Weil sich die arete, die Tugend, und mit ihr der Wettkampf um das Gute einzig auf die polis, das Gemeinwohl, bezieht. Arete hält die Gesellschaft zusammen, während die Leistung in der Leistungsgesellschaft nur eine Richtung kennt: mich. Die arete war der gesellschaftliche Klebstoff, während die zeitgenössische Leistung die Gesellschaft in Egoismen aufspaltet.

Die vier alten Tugenden Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung ragen aus der Antike in unsere Zeit. Die Dreiheit aus Glaube, Liebe, Hoffnung war lange die gültige christliche Ergänzung der griechisch-römischen Tugenden. So wurden es sieben Tugenden. Diese Klassiker wurden in der Industriegesellschaft noch durch Fleiß, Gehorsam und Sparsamkeit ergänzt: Kommt uns dieses Werte-Ensemble heute nicht wie eine Dampflokomotive vor, die auf ein ICE-Gleis geraten ist? Unzeitgemäß.

Die besagten Tugenden und Werte6 konnten in einem Milieu gedeihen, das gegenwärtig zerfällt: Familie, Nachbarschaft, Kommune, Vereine, Kirchen. Jenes Milieu bot den gesellschaftlichen Zusammenhang, es stellte sozusagen die Bausteine. Was aber wird die postindustrielle, die zugleich eine postmoralische Gesellschaft sein wird, zusammenhalten? Braucht sie vielleicht gar nichts außer Systemimperativen? Nur noch Menschen, die sich selbst vermessen und optimieren? Aus der Unternehmensberatung wird von einem neuen »Werkzeug« berichtet, das Personalentscheidungen auf eine sichere Basis stellen soll: Das Tool »Precire« analysiert Sprachproben eines Menschen. Aus wenigen Sprachmustern kann dann abgeleitet werden, wie neugierig, risikofreudig, leistungsbereit oder emotional stabil jemand ist. Ein Tugendmessgerät als digitaler Personalberater, der erkennt, wer auf welchem Arbeitsplatz exzellente Leistungen bringen wird. (Precire Technologies ist ein in der Sprachanalysetechnologie führender Softwareentwickler aus Aachen.) Beinahe alles, was der Mensch tut, kann inzwischen digital vermessen werden. Das Privatleben wird digital durchdrungen und betriebswirtschaftlich skaliert – irgendwelcher traditioneller Werte, Tugenden gar, bedarf es nicht mehr.

Der Abschied scheint endgültig: Der Zug verlässt gerade jetzt jenen Bahnhof, der nach der alten Industriegesellschaft und ihrer Moral benannt war, um uns in die neue Welt der Biowissenschaften, des Systemmanagements und der computergestützten Algorithmen zu bringen. Wer nicht rechtzeitig einsteigt, bleibt zurück: abgehängt und verloren. Postmoralische ›alternative‹ Energien sorgen jetzt für Beschleunigung: Konkurrenz und Optimierung heißen die neuen Tugenden, die man eigentlich so nicht mehr nennen kann. Kann das gut gehen? Mancher denkt vielleicht, da ließe sich etwas aufspalten: Die guten alten Tugenden vom Fleiß bis zur Liebe für den Hausgebrauch. Privatisierung der Moral gewissermaßen, damit die Menschen etwas haben, woran sie sich halten können. Aber für die großen öffentlichen, politischen, ökologischen und ökonomischen Themen verlässt man sich lieber auf den Rechner, der optimierte Lösungen vorschlägt.

Aber was soll die gewissenlose Gier begrenzen, die jetzt schon fast unerträglich die Welt in wenige Reiche und immer mehr Arme aufspaltet? Was soll uns daran hindern, menschliche Wesen zu entwickeln, die ob ihrer physischen oder psychischen Superkompetenzen einen neuen Rassismus gebären? Was schützt uns davor, die Kontrolle über jene zu verlieren, die mit ihrer Herrschaft über unendliche Datenmengen Entscheidungen beeinflussen können, die den Staat zu einer überholten Angelegenheit werden lassen?

Man muss den gordischen Knoten durchschlagen. Es ist ganz einfach: Der Mensch kann nicht von Apps leben. Kann nicht als Systempartikel existieren. Er verdorrt ohne Liebe. Er erfriert ohne menschliche Wärme. Er wird verrückt ohne Sinnerfahrung. Manch einer wird entgegnen: Das sind alles alte Kamellen. Der neue Megatrend ist der verbesserte Mensch, der das nicht braucht. Alles, was Religion und Philosophie bisher gesagt haben, gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. So formuliert es explizit Stephen Hawking, der 2018 verstorbene Astrophysiker. Wir können – so Hawking – zwar noch nicht alles berechnen, aber das sei eine Frage der Zeit. Das Verfallsdatum von Tugenden und Werten, so muss man folgern, ist überschritten. Weg damit.

Auch wenn Tugenden und Werte nicht mehr durch Erziehung und Kultur wie selbstverständlich verankert sind, führen sie doch ein fast verstecktes Eigenleben in kulturellen Nischen, in denen sich Optimierungsimperative und betriebswirtschaftliche Kolonisierung noch nicht durchgesetzt haben. Was wir brauchen, ist eine Neuschöpfung, creatio ex nihilo: Schöpfung aus dem Nichts. Wie können die gesprungenen Glocken der Tugenden wieder zum Tönen gebracht werden? Nur archaische, ursprüngliche Bilder fallen dazu ein. Vermutlich verweist das Wort anthropos auf anthrax – die glühende Kohle. Als eine solche glühend-glimmende Kohle muss der Mensch gesehen werden, dessen Glut ein Feuer zu entfachen vermag, erinnert er sich an seine Fähigkeit zur Liebe. Erich Fromm hat es unvergesslich so formuliert:

»Wir müssen in der Tat zum Bewusstsein unserer selbst gelangen, um das Gute wählen zu können, aber diese Selbsterkenntnis wird uns nicht weiterhelfen, wenn wir die Fähigkeit eingebüßt haben, innerlich angerührt zu werden von der Not eines anderen menschlichen Wesens, vom freundlichen Blick eines anderen, vom Gesang eines Vogels und dem frischen Grün des Grases. Wenn der Mensch dem Leben gegenüber gleichgültig wird, besteht keine Hoffnung mehr, dass er das Gute wählen kann. Dann ist sein Herz in der Tat so verhärtet, dass sein ›Leben‹ zu Ende ist.«7

Das verheißungsvolle Bild der glühenden Kohle mag auch für die alten Tugenden gelten. Wir werden sie nicht einfach auf die neuen Herausforderungen anwenden können. Aber wenn es gelingt, die Glut zu entfachen, lodern im hellen Feuer die neuen Tugenden auf.

Dazu bedarf es der Übung. Das alte griechische Wort für Übung ist askesis. Begreifen wir sie als die Einübung in die neuen Tugenden, als Einübung auch in die rettende Freundschaft. Die Freundschaft wendet – wie Ivan Illich sagt – der Instrumentalität den Rücken zu und lebt aus der »Umsonstigkeit«. Das heißt: aus der Freude an dem anderen. Aus dem Verzeihen. Aus dem Respekt vor dem anderen. Aus dem Geschenk. Und dann beginnen sie wieder zu leuchten wie die Kohlen im Feuer, die alten Tugenden: der Glaube, die Liebe, die Hoffnung. Der Glaube, zum Beispiel, dass der Mensch nicht als optimierbares System gedacht ist. Die Liebe, die sich nicht verrechnen lassen will. Die Hoffnung, dass Geld und Gier nicht das letzte Wort haben.

Dieses Buch will sich auf die Suche nach den neuen Tugenden machen, die imstande sein müssen, drohender Verwüstung mit Liebe zu begegnen. Tugenden, die mit kluger Selbstbegrenzung auf die entfesselte Konsumgesellschaft reagieren. Die der Egomanie tapfer das Du entgegensetzen, um den anderen nicht aus dem Auge zu verlieren. Die gegen alle Trends eine gerechte Lebenswelt einfordern. So wachsen in Anknüpfung an die alten christlichen Tugenden die neuen, die gebraucht werden, auf dem Boden der freundschaftlichen Begegnung zwischen Menschen. Sie leben aus dem Glauben an die Kraft des hoffenden Menschen. Und diese Tugenden sind so alt und so neu wie die Liebe und so uneingelöst wie die Sehnsucht der Menschen nach Wärme.

Wie gefährdet ist die Gemeinschaft?

Im Spiralflug, wendend, kreisend, weitend

Hört der Greif den Ruf des Falkners nicht,

Zerfall ringsum, das Zentrum hält nicht stand!

Die Anarchie ist losgelassen in die Welt;

Blutrot schwappt frei die Flut und ringsumher

Wird’s Ritual der Unschuld nun ersäuft;

Die Besten ohne Kraft, die Schlechtesten

von leidenschaftlicher Besessenheit.

W.

Die alten Tugenden im Wildwasser der Flexibilisierung

Die harten Tugenden. Die guten alten harten Tugenden. Wie ein Fels in der Brandung. Wie hießen sie noch gleich? Sie dröhnen wie antike Donnerschläge: Gerechtigkeit! Tapferkeit! Mäßigung! Klugheit! Die Gerechtigkeit in der Robe? Die Tapferkeit in der Uniform? Die Mäßigung in der Kutte? Die Klugheit im Professorentalar? Da denkt man sich Staubwedel herbei, um die längst zerschlissenen Gewänder von Spinnweben zu befreien. Altmodisches Zeug. Und die drei christlichen Tugenden? Glockenschläge … Glaube! Liebe! Hoffnung! Irgendwie die soften Tugenden oder Worte aus einer mütterlichen Gardinenpredigt?

Ist da noch was zu retten? Die sieben Tugenden, dieses körperlose Resümee aus der Kulturgeschichte des Abendlands: Ist das mehr als eine Art Weltkulturerbe, das man anschauen kann wie den schiefen Turm von Pisa? Aber ein Kulturerbe eben, das so leer ist, wie Kirchen heute nun einmal sind. Gehören die Tugenden in einen Glaskasten, der im Museum der moralischen Anschauungen aufgestellt wird? Gut beleuchtet, schön, aber im Alltag ebenso wenig brauchbar wie ein tönernes Gefäß aus der Bronzezeit, das im Museum bewahrt wird.

Zwei Phänomene lassen die Tugenden richtig alt aussehen: Erstens: In den vergangenen 27 Jahren nahm die Gesamtmasse der Fluginsekten in Deutschland um 75 Prozent ab. Der Verlust der Insekten wirkt sich kaskadenartig auf andere Lebewesen aus, die ohne Insekten nicht überleben können.8 Die Folgen treffen auch die Menschen. Das Verschwinden der Insekten ist ein Beispiel für unübersehbare und bekannte Krisen, die unsere Existenz heute bedrohen: Klimawandel, Artensterben, Überbevölkerung, Luftverschmutzung, Plastikmüll, nukleare Sprengköpfe, Börsencrash, Welthunger, Terrorismus … Man kann sich die Tugenden zwar wie einen Harnisch um die Brust binden. Aber wie wir das Verschwinden der Bienen überleben wollen – das wissen wir deshalb noch lange nicht.

Wie sollen bitte diese modernen Krisen mit dem alten Instrumentarium ›Tugendkatalog‹ aufgefangen werden? Ein moralischer Vorderlader, eine längst überholte Waffe, die sich Hightech-Konflikten gegenübersieht.

Zweitens: Die Klage über den ›Verlust der Werte‹ ist verbreitet. Sie bringt das Gefühl zum Ausdruck, dass ein Wandel im Gang ist, bei dem die guten alten Zeiten ins Rutschen kommen. Ob die alten Zeiten gut waren, das sei dahingestellt. Aber das Gefühl, das früher da war: Man sei in ethischen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten sicher aufgehoben, dieses Gefühl haben offenbar viele Menschen nicht mehr. Manche greifen deshalb nach den klassischen Tugenden wie nach einem Rettungsring. Aber es sieht ganz danach aus, als würde sich die Zeit für diese alten Tugenden dem Ende zuneigen.

Denn die Tugenden, die gehören doch in eine feudale, eine autoritäre, ein starre, eine bäuerliche Welt. Ich sehe vor mir den Unternehmerpatriarchen mit erhobenem Zeigefinger; den Kirchenfürsten mit rotem Käppchen und wehenden Gewändern, das Brevier in der Hand; den Familienvater im Lehnstuhl thronend mit dem Rohrstock; den Bauern mit gegerbtem Gesicht und polternder Stimme. Wollte man ein passendes Wort für die Zeit, in der wir heute leben, wählen, dann könnte dieses Wort »Flexibilisierung« heißen. Flexibilisierung überall: Aus der stabilen Ehe wurde ein flexibles Beziehungsgewimmel. Aus dem lebenslangen Beruf ein Job auf Zeit mit flexibilisierter Arbeitszeit, ja der gesamte Lebenslauf geriet in den Sog der Flexibilisierung. So ist es nun: Nur das Individuum, das flexibilisierungsfähig und -willig ist, kann heute in Job und Freizeit auf eine pole position im gesellschaftlichen Wettrennen hoffen. Welche Rolle käme hier noch den Tugenden zu? Gleichen sie nicht den Binden und Tüchern, die um eine Mumie gewickelt werden und die sekundenschnell zu Staub zerfallen, holt man sie aus der Grabkammer zurück ans Licht?

So steht es um die Tugenden. Kein Geschäftsmann kann im globalen Wettkampf mit den Tugenden hantieren, er wäre rettungslos verloren. Ein wenig Fair Trade und Fair Play, eine kleine Bio-Branche oder eine Handvoll Sozialunternehmer füllen nur mehr die Nischen. Und nicht einmal mehr unter dem Dach des privaten Familienlebens kann jemand mit den Tugenden punkten. Denn die Kinder müssen doch auf den Konkurrenzkampf vorbereitet werden.

Zur Orientierung bleibt uns außer dem alles auflösenden fluiden Imperativ der »Flexibilisierung« nichts. Wir dürfen uns wie eine kleine gelbe Plastikente fühlen, die auf den Wellen schaukelt, mitgerissen von der Strömung, umgeben von unendlich fernen Horizonten: ungebunden und hilflos zugleich. Alles fließt. Alles ist glitschig, auf nichts kann man sich verlassen. Es gibt Menschen, denen das gefällt. Sie schwimmen im Meer der Flexibilität und wissen daraus ihre Vorteile, ihren Spaß und ihre Befreiungsgefühle zu ziehen. Sie brauchen keine Heimat und keine Bodenhaftung. Es sind doch nur die Ängstlichen, die Starren, die Unbeweglichen, die Traditionalisten, die Panikanfälle bekommen, wenn sie begreifen, dass alles ins Fließen geraten ist.

So besteht die Gefahr, dass die klassischen Tugenden zur Waffe werden, die vor allem von den Ängstlichen, den Verunsicherten, den Traditionalisten genutzt wird. Gern werden die alten Tugenden dabei zu reduzierten Preisen verkauft. Statt auf die klassischen Tugenden bezieht man sich auf die sogenannten Sekundärtugenden. So beschwor der thüringische Landesvorsitzende und Chef der AfD-Fraktion im Erfurter Landtag, Björn Höcke, 2016 in Schwerin die preußischen Tugenden: »Pünktlichkeit, Ordnung, Disziplin und Sauberkeit.«9 Stehen die Verunsicherten und Abgehängten auf einer schmelzenden Eisscholle, die aus den brüchig gewordenen Tugenden gebildet ist, und schreien um Hilfe? Die alten Werte, die alten Tugenden: Das ist ein Mischmasch aus den klassischen Tugenden und der preußischen Disziplin, und dieser gefrorene Mischmasch bildet die Eisscholle, auf denen sich die Irritierten festkrallen? Gehören also all diese Tugenden den Populisten, den Rechtsradikalen, den Ewiggestrigen?

1968: Die Götterdämmerung der Disziplinargesellschaft, in der autoritäre Väter und dressierende Mütter im Abgrund verschwanden. Sie haben die primären und die sekundären Tugenden mit sich gerissen. Ich erinnere mich an den Enthusiasmus, mit dem die muffigen Wohnzimmer leergeräumt wurden. Tugenden? Sind das nicht die Ladenhüter der bürgerlichen Gesellschaft? Raus damit durch das geöffnete Fenster.

Wir stehen an einem Scheideweg: Wollen wir die flexibilisierte Gesellschaft, die von aller Starrheit befreit in die Zukunft stürmt? Oder wollen wir die Tugendgesellschaft, die sich an den klassischen und den preußischen Tugenden orientiert? Wir haben die Wahl zwischen einer moralisch entkernten Zukunftsgesellschaft, deren erklärte Tugend allein in ihrer Orientierungslosigkeit besteht, und einer Gesellschaft, die auf restaurierten Tugenden ruht und die auf ihre Zukunftsfähigkeit pfeift. Die flexibilisierte Gesellschaft stürzt ihre Mitglieder in dauerhaften Stress, in eine fragwürdige Freiheit und läuft Gefahr, an den eigenen Problemen zugrunde zu gehen. Die traditionalistische Gesellschaft hingegen droht an ihrer Unbeweglichkeit jämmerlich einzugehen. Wie soll das denn gehen? Mit preußischer Ordnung und Disziplin, mit sorgfältig gekämmtem Scheitel, mit penibel getrimmtem Rasen, mit Garage und Familie im Einfamilienhaus in einer Welt überleben, die von Facebook, Twitter und WhatsApp geprägt wird?

Es scheint, diese Wahl führt in zwei wenig attraktive Alternativen. Daraus kann dann wohl nur eine Konsequenz gezogen werden. Wenn wir noch von Tugenden reden wollen, dann müssen sie aus unserer Lebens- und Krisensituation heraus neu entwickelt und auf sie zugeschnitten sein. Und dann kann versucht werden, die neuen Tugenden mit den alten Tugenden in Verbindung zu setzen, um zu sehen, ob und wie sich die neuen Tugenden aus den alten nähren können.

Aber da kommt ein Verdacht auf: Vielleicht sind wir schon an einem ganz anderen Punkt? Haben sich vielleicht die Tugenden in Laster verkehrt und die Laster in Tugenden?

Im Interesse unserer heutigen Konsumgesellschaft ist temperantia, Mäßigung, wirklich nicht angebracht. Zurückhaltung beim Verbrauch gefährdet doch das Wachstum. Und was sollen wir mit fides, dem Glauben, in einer Planungsgesellschaft? Gerechtigkeit und Tapferkeit – Fußfesseln auf dem Weg zur Selbstoptimierung. Und in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz eingestimmt ist, bleiben Neid und Gier, die alten Hauptlaster, doch der nötige Antriebsstoff. (Die sieben Laster, wie sie zum Beispiel an einem Fachwerkhaus aus dem 16. Jahrhundert in der Altstadt von Limburg verewigt sind, waren Hochmut, Neid, Unmäßigkeit, Geiz, Wollust, Zorn und Trägheit). Ja, Wollust und Unmäßigkeit passen genau in die Konsumgesellschaft. Dahin streben alle, schenkt man den sozialen Medien, den Werbespots und den Parteiprogrammen Glauben. Mehr! Mehr! Mehr! Keine Selbstbegrenzung, nie und unter keinen Umständen.