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Tünde Weiss lebt nach der Trennung von Partnerin Elli wieder bei ihrer mittlerweile pflegebedürftigen Tante. Plötzlich steht Libby, der betrügerische Grund für Tündes Trennung, in Tante Hedis Küche und trällert zur Freude der alten Dame Schlagerlieder. Tünde flüchtet in ihr Wahrsagerinnenstudio, wo Staub zu Elfenpuder und Mehl zu Einhornpulver werden. Doch die Trällertrulla will einfach nicht verschwinden – und nicht nur das: Seit Libby da ist, werden plötzlich Tündes Prophezeiungen auf mysteriöse Weise wahr. Wie soll Tünde neben ihren Problemen durch ihre Mehrgewichtigkeit, der Geldnot und ihrem vorlauten Gewissen nun auch noch mit der dauerfröhlichen und überpräsenten Libby zurechtkommen, die alle im Dorf direkt in ihre Herzen schließen? Als schließlich auch noch Elli auftaucht, ist Tündes Chaos perfekt …
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Seitenzahl: 423
Maiken Brathe
TÜNDEWEISS ALLES
Roman
ULRIKE HELMER VERLAG
ISBN (E-Book) 978-3-89741-914-8
ISBN (Print) 978-3-89741-471-6
© 2023 E-Book nach der Originalausgabe© 2023 Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach am TaunusAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung unter Verwendung einer Illustration von © Atabik1 / AdobeStock
Korrektorat: Susanna Piruzram
Ulrike Helmer VerlagKlosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach am [email protected]
www.ulrike-helmer-verlag.de
Für Tinki und ihre Engelsgeduld
»Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf. Es kommt nur auf die Entfernung an.«Marie von Ebner-Eschenbach
Kapitel 1
Under Pressure
IchbinWahrsagerinundgebezu, dasisteineLüge. WedersprecheichvielnochsageichdieWahrheit. Erstrechtnicht, wennesummeineFähigkeitengeht. SchonalsKindbekamichvorgegaukelt, dassichalleserreichenkann.
»Wenndufleißigbist, stehtdirdieWeltoffen«, hattePapabeijedemAbschiedskussgesagt, bevoreraufTourneeverschwandundmichbeiTanteHediließ. DochdieeinzigeWelt, diemirheuteoffensteht, istdie, dieichmirbeimBetrachtenmeinerWahrsagerinnenkugelzurechtspinne.
Ich habe nichts von dem erreicht, was ich als kleines Mädchen erreichen wollte, obwohl ich bis zu Papas Tod eine gute Schülerin gewesen war. Bin heute weder Testesserin in einer Schokoladenfabrik noch umschwärmte Sängerin, obwohl ich in den dafür notwendigen Disziplinen recht ambitioniert bin. Wahlweise kann ich sogar singen und essen gleichzeitig, da kenne ich keine Skrupel. Der Schokolade versuche ich seit langem erfolglos abzuschwören, auch wenn das ein harter Schlag für Nestlé wäre. »Übergewichtig«, sagt mein Arzt bei jedem Besuch und tippt mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage. »Mehrgewichtig«, sagte Elli mit einem Lächeln, und ich fühlte mich damals in dieser Doppeldeutigkeit sinnlichkeitsschwanger. »Fett«, sage ich, wenn ich in den Spiegel schaue, senke den Blick und fühle mich schuldig.
AberauchdasLebenträgtseinenTeilderVerantwortung. MeinStoffwechselistmitfastvierzigJahrenmittlerweileähnlichträgewieTanteHedisBenno. WennichdenblondenKateranschaueundermirüberseinendickenBauchhinwegeinenverächtlichenBlickzuwirft, habeichdasGefühl, meinezukünftigeReinkarnationzusehen.
Wennichnichtesse, singeich, allerdingsnurbeiderArbeit. SchaueichinmeineZukunftsschale, stimmeicheinenkehligenGesangan. Sowiejetztgerade.
»Sind das mythische Lieder?«, fragt mich meine Kundin Christa, die mir gegenüber sitzt. Sie versucht, die Melodie nachzusummen.
Ichgestehe, ichbineinbisschenzwiegespalten. EinerseitsspüreichErleichterung, dassChristaUnderpressurevonDavidBowienichterkennt. AufderanderenSeitenagtederSchmerzderUnbegabtenanmeinemStolz. Underpressure. MeinDavid-Bowie-RepertoireistPapasPlattensammlunggeschuldet.
DenBeschwörungssoundpasseichmeinenBesucherinnenan. DiemeistensindimAltervonPapaundmüsstendieLiederkennen. DeshalbdehneichdieVokale, legesilbenlangePauseneinundhoffe, dassmeineTrancebeimHändewedelnüberderSchaleauthentischwirkt. Abergibtesdasüberhaupt? EineauthentischeMagie? VielleichtbeimeinenerstenKüssenmitElli.
Ehrlichjetzt? WillstdudeineRollealsDramaqueennichtlangsamaufgeben?, rauntmirmeinGewissenzu. Dasmachtesimmer, wenndasSehnennachEllisichinunerträglicheHerzsticheverwandelt. VonwegenStiche – Dolchstöße, diemichmalträtieren! JedeNacht, wennichdieAugenschließeunddernorddeutscheWindmeingroßesFensterzumSchwingenbringt, drehtderSandmanndasMesserinderWunde, bisichnichtsmehrbinalsnurdieserSchmerz. MeinSandmann, dermichnachtsquält, hatroteHaareundflüstertimleisenSingsang: »TündeliebtElli – la, la, la, la, la – ElliTündenichtmehr.«Dashabeichnichtvorhergesehen.
Christaräuspertsich.
ChristamitihrerGürtelrose. IchbringeesnichtübersHerz, sieabzuweisen. Siekommtimmerwieder. Auchheuteversucheich, ihrdieGrenzenmeinerMagiezuerklären.
»Christa, estutmirleid, ichkannnichtheilen, nurwahrsagen.«
»Nur«, lacht sie und beginnt zu weinen. »Ich halte es nicht mehr aus«, flüsterte sie, die Stimme tränenerstickt. »Die Mächte sind doch gleich, probiere es doch wenigstens!« Sie hebt ihre Bluse, unter der das rohe Fleisch um ihren Rumpf zu sehen ist.
IchbineineBetrügerin, ja, abernichtohneSkrupel. MeinGewissenmeldetsichregezuWort. Wiekannstdunur, zischeltes. Ichweißnicht, obesdasLügenoderdasNichtbesprechenmeint.
IchnehmedietellergroßeMuschel, diemirPapavoneinerTourneemitgebrachthatte – beinaheglaubeichselbst, dassDingemitschönenErinnerungenguteEnergieinsichtragen –, verbrenneetwasSalbeipulverdarinundwedeleanschließendmiteinerFasanenfederdenRauchinChristasRichtung. Nachdemicherkläre, dassnursiedenSchlüsselzurAktivierungderSelbstheilungskräftebesitzt, summeichaufihrenWunschhineinweiteresLied. Oh! YouprettyThingsvibriertzwischenmeinenLippenundichziehedieSilbenindieLänge, eskortiertvonderSorge, DavidBowieimGrabinsRotierenzubringen.
Wassollichtun? IchbinOpfermeinereigenenLügengeworden. ChristaschwörtaufmichbeiGürtelroseundbisheristdienachjederSitzungverschwunden. Dasssiedasauchvonalleintäte, willsienichtglauben. Geldnehmeichdafürnicht. IchhabeauchmeinenStolz. UnddasvorlauteGewissen. NurihrenBirnenschnapsakzeptiereich, weilderauchTanteHediruhenhilft.
»Ortsterminelehneichab«, erkläreichMaxwiederholtundmerke, wieichtrotzdemweichwerde. NachdemChristasichverabschiedethatte, warMaxdurchdieTürdesStudiosgetretenundhattemichinbrünstiggebeten, seineLiebsteaufzusuchen. MaxistmeineinzigerMann. AnsonstenlassensichnurFrauendieZukunftvorhersagen. NebenChristasinddaszumBeispielBirgitmitihrenGeldsorgenundFraukemitihrerFragenachdemMannfürsLeben.
»Kommschon, Tünde«, säuseltMaxundknufftmichmitdemEllenbogenindieHüfte. MaxreichtmirgerademalbiszumBusen. Boxteichzurück, würdeichihnvondenFüßenhauen.
»IchbrauchedasAmbientemeinesStudios«, lügeichunderschautmitdiesemverschmitztenKleine-Jungen-Grinsen, dasnurwenigeinseinemAlterüberzeugendhinbekommen.
»DubistdochNaturgewaltgenug«, umschmeicheltermich. EbensoEllisWorte, wennsiefrühernacktaufmirlag, unddieWorteverursachteneinBrenneninmeinenAugen. IchkneifedieLiderzusammenundMaxdeutetdasalsja.
»Schatz, siekommt!«, rufterinseinSmartphoneundzumirgewandt: »EsgibtauchdeinenLieblingskuchen.« ZügigziehtermichausderTür, diebeimZuschlagendasStudioschaufensterzumVibrierenbringt.
ErlässtmirnichteinmalZeit, TanteHediBescheidzusagen, wohinichgehe. UndmitdemTelefonierenistesauchnichtsoeinfach: Wennsieetwasbraucht, ruftsiean, legtjedochauf, bevorichansHandygehe. Rufeichan, gehtsienichtdran, sondernruftzurück. Zweimalkurzklingelnlassen – Pause – dannnocheinmal. ZumGeldsparenbeiunseremknappenBudget. GrundsätzeausanalogenZeiten.
»TanteHedi, ichhabeeineFlatrate«, erkläreicheinumsandereMal. Dochsiewinktab, hältFlatratevermutlichfüreineflacheRatte, alsSynonymfüreineMeise, diesiemirzeigt, wennsiemeinehellseherischenUtensilienbetrachtet.
EinzigdasEinhornpulverausdemInternetshopDruidenstübchenübteineunerklärlicheAnziehungskraftaufTanteHediaus. DasbewahreichindergeschliffenenGlasdoseauf, diemeinerMuttergehörthabensoll. Erstdachteich, TanteHediistsauer, weilichdasErinnerungsstückihrerSchwägerinmissbrauche.
AuchwennesfürdichnichtszuErinnerngibt, istdasrespektlos, meckertanmanchenTagenmeinGewissen.
TrotzWiderwillenundschmerzenderKniekontrolliertTanteHediinmeinerAbwesenheitregelmäßigmeinStudio. DieDosestehtaufdemJugendstil-Büfett. EinmächtigerHolzschrankmitfloralenZierleisten, dieaussehen, alshättendieNaturgeistersiepersönlichgeschnitzt. AndenKantenhabeichFasanenfedernundPerlenkettenbefestigt. FürmeineZeremonienistesimmergut, wennimHintergrundetwaswipptundweht. SoeinwinddurchlässigesaltesHaushatdochetwasfürsich. MiristeseinRätsel, welchemagischeAnziehungskraftdasPulveroderdieDoseaufTanteHedihat. VielleichtexistiertdochmehrZaubereiinmeinemStudio, alsichdachte. SpäterfindeichdasalteStückgereinigtaufderAbtropfflächederKüchenspüle, mitweiterenAbsplitterungenamRand.
»TanteHedi, dasEinhornpulveristwahnsinnigteuer!«, schimpfeichregelmäßig. AuchwennichihreHandlungennurseltenverstehe, glaubeichnicht, dasssiedementwird. EinbisschentüdeligdarfsiemitüberachtzigJahrensein. WahrscheinlichhältsiedasZeugfürDrogen. EinhornpulverklingtnacheinembuntenTripzudenSternen. SeiteinemLieferengpassdesDruidenstübchensverwendeicheinZuckermehlgemisch. DieZuckerkristallesorgenfürdasGlitzern. Ichfragemich, warumichnichteherdaraufgekommenbin, dashättevielGeldgespart. ManchmaltanzenLösungenunslangevorderNaseherum, ohnedasswirsiegleichbemerken.
TanteHedimagnicht, wennichStudiosage. DergroßeRaumwarfrüherderLebensmittelladenihrerFamilie, bereitsindritterGeneration. SelbstdieWeltkriegehattedasGeschäftüberstanden, nurmichnicht, wieTanteHedibeharrt. Alsichjüngerwar, behauptetesie, meinSüßigkeitenkonsumhättedenLadenindenKonkursgetrieben. TiefimInnerenglaubeichdasauchnochheute. Eswargutvonihrgemeint, solltemichmotivierenabzunehmen. ZusätzlichwurdedertotedürreOpawiederausgegraben. NurmitWortennatürlich. Ichsäheihmsoähnlich, waswäreerstolz, wennichihmauchfigürlichentspräche. NichtnurdieblauenAugenundblondenLocken. Wennichnachfragte, wiedennOpamenschlichsogewesenwar, schwiegTanteHedinacheinemlangenSeufzen. Wiedasdennginge, soeinenLadeninderNazizeitzubetreiben, stichelteich. DannpressteTanteHedidieLippenzusammenbissieblutleererschienen, währendmeinGewissentadelte: TanteHediistimKrieggeboren, Tünde. Hörʼauf. Estutihrweh. KümmeredichumdeineeigenenLeichenimKeller.
MaxpfeifteinefröhlicheMelodie, währendermitmirdieLandstraßeentlangfährt. InseinemedlenSUVkommeichmirwieeinPromivor. FelderinverschiedenstenBraunnuancenrauschenanunsvorbei, zartesGrünandenGräben, Windräder, dieinGrüppchenbeieinanderstehenundmitihrenRotorengestikulieren. SieerinnernmichandieaufgekratztenDorffrauen, diesichmittwochszumMarkttagaufdemParkplatzdesDönerladenstreffen. Marktistwirklichgeprahlt: einGemüsekarrenundeinFischstandundallezweiWochennochderScherenschleiferMilan, dermitseinemslawischenAkzentdienorddeutschenGemüterseitJahrzehnteninWallungbringt.
ZwanzigMinutenFahrtbiszuMax’ HeimatstadtamFluss, diemirmittlerweilefastsogroßwieHamburgerscheint. DasLebenimDorflässtdieWeltschrumpfen. AllesjenseitsdesDorfesgehörtzueinem – unddasmeineichwörtlich – unfassbarenUniversum, dasohneEllikeineSternemehrbeherbergtundwieeinschwarzesLochnachallemgreift, wasmireinmalwichtigwar.
AußerTanteHedi.
VoretwasmehralseinemJahrbinichzurückzuihrgezogenundseitdemgehtesmitihrerGesundheitschleichendbergab. GibtesdaeinenZusammenhang?, bohrtmeinGewissenundnurmitSchokoladekannichseinvorlautesMaulstopfen. TanteHedimagkaumnochausdemHausgehenundseitdemmeinAutofahruntüchtigistundnebendemHausvorsichhinrostet, istihrRadiussokleinwieKaterBennos.
AlswirinMax’ Straßeeinbiegen, stauneichüberdasKunstwerkausrosaFarbtupfernaufgrauenKopfsteinen. Kirschblütenwehenunentwegtvondenknorrigen, dunklenÄsten, wirbelndurchdieLuftundergänzenschließlichdasBildaufdemBoden. IchbewunderediezartenFarben, samteneStrukturen. DieVielfältigkeitanRosatönen. BeimAnblickderBlütenimRauschpastellenerFrühlingsfarbenwürdeichgerneeinenPinselüberdasPapierhüpfenlassen. Damals, alsichdasStudiumaufgab, umEllisAssistentinzuwerden, habeichdasKreativseinnichtvermisst, aberseitdemEllimichwegendieserSchlagertrullaverlassenhat, fehltmirdieKunstinmeinemLeben. Machdirdochnichtsvor,meckertmeinGewissen, ElliistdieKünstlerin, nichtdu! Eshatjarecht. Obwohl – Hellsehen, ohneeinenblassenSchimmerzuhaben, istjaaucheineFormderKreativität.
DieMüllerswohnenineinerSackgassedesAltstadtviertels, direktamParkmitbürgersteiglosenStraßenseiten. Elliwärehin- undhergerissenzwischenBegeisterungfürdieKirschbaumkulisseundZornüberdenbuckeligenBoden.
MaxhältanundziehtausseinerTaschedieFernbedienungfürdasschmiedeeiserneTor.
»DuverdienstwohlgutalsSupermarktleiter«, sageichnichtganzfreivonNeid. AlsdasverschnörkelteGittermiteinemKlackenaufspringtundsichwiedurchunsichtbareHandöffnet, schaueichfasziniertzu, studieredasgrafischelegantgestalteteSchildamTorflügel, daslangsamausdemBlickfeldrattert. »Oder«, angestrengtleseichweiterausderFerne, »deineFrau«, kannkaumglauben, wasichentziffere, »alsTierkommunikatorin«.
»DeinenVerdienstausfallnehmeichaufmeineKappe, fallsdudirdeshalbSorgenmachst.« MaxberührtkurzmeinenArmundnicktstattmeiner.
DasHausderMüllersisthalbvonrotblättrigenAhornbäumenverdeckt. EineJugendstilvilla, weißgestrichenmitdunklenFarbverläufenanFensterbänkenundSimsen, woderRegenmitmoderigemWassereinenUmweggenommenhat, denPutzalsseineLeinwandnutzte, gemaltmitmoosigenFarben. Ichseufze. Ichsollteaufhören, inEllisPressetextenzudenken. ImmerwiederüberfälltmichausdemNichtsherausdieMelancholie, klammertundkralltsichfestanBanalitäten, lässtallesbedeutungsvollerscheinen. AbschiedwürdeichjetztineinerSéanceaufeinenZettelschreiben. DieTündevondamalsistfortundElliauch. Zumindestfürmich. Oderichfürsie. SchonlangemaltEllimichnichtmehr, wedermeinLächelnnochmeinenKörper. RegnerischeNachmittageimBett. Wirbeidenackt, ichdenPoaufdieFersengelehnt. EllimitdemZeichenblockaufdenOberschenkeln. »Bewegdichnicht. Bleib. Genau. So.«NurmeinHerzpreschteinderBrustaufundabundschickteBotschaftenindenUnterleib. DasAtmenglicheinemHindernisrennendurchmeinenKörper, derstillhaltensollte, lautEllisAnsagen, denenichgernefolgte, meinKörperjedochindiesemMomentdazunichtinderLagewar. DaszarteKratzenderKohleaufdemPapier. DasPrasselnandenScheibenderAltbauwohnung. MeinBlickaufEllisBrüste, dieinderBewegungihresArmesleichtzitterten.
»Tünde?« Maxtipptmichan. Erschrockenfahreich herum, bedeckereflexartigmeineBrust, blinzele, kehrezurückausdemzerwühltenBettmitEllisDuftnachMohnundNikotinundstarreaufseinfreundlichesGesicht, dengrauenBartunddielustigenAugenmitdenstrahlenförmigenFalten. Erschnalltmichväterlichab, steigtausundöffnetmirdieTür. Alsichnebenihmstehe, binicheinenKopfgrößer. Ichmagnichtgerneaufalleherabsehen. Seitdemichwiedersozugenommenhabe, kommeichmirnebenzierlichenMenschenwieeinStörfaktorvor. EinePrellwand. BeiderArbeitwieeineKlagemauer.
MaxtippteinenCodeaufdasTastenfeldnebenderTür.
IchsetzemichaufdieBankuntereinemBlumenkastenanderWand. RoteGeranienrankenkitzelnmeineStirn.
KratzenaufFliesenistzuhören. EinTrabenundHecheln. MaxschiebtsichdurcheinenSpaltinsHaus, ruft: »Wartekurz«, unddrücktdieTürhintersichinsSchloss.
»Wartekurz«, hatteauchElligesagt, alsichnachHausekamunddieTürkettemirdenZugangzurWohnungversperrte. NurweilichmitbeidenFäustengegendasHolzhämmerte, ließsiemichschließlichhinein. Elliwarschonimmerwichtiggewesen, wasdieNachbarnvonihrdenken. FrauKleinertausdemErdgeschoss, zumBeispiel. DiehofiertemeineFrauseitderAusstellunginderKunsthalle. MichbetrachtetesiehingegenmitArgusaugenundmitEllisabnehmenderLiebekommentiertesiedenZugewinnmeinerKilosmitzunehmenderGehässigkeit.
SogarheuteerinnereichmichandenKohlenstaubanEllisFingern, diezerwühltenHaare, anihrengespreiztenKimono, dermehroffenbarte, alsverbarg. DasHämmernimKopflöstedasmeinerFäusteab. DieTürstandoffen, sowieEllisMund, dieLippendurchblutet, vontausendenkirschrotenKüssen, alssiesichabwandte.
»FrauWeiss?«
Einetiefe, herbeStimme. MeinNamedringtlangsaminmeinBewusstseinundmeinHalsknackt, alsichmichzuderFrauumwende. GeschmeidigsetztsiesichnebenmichaufdieBankundnimmtmirdieGeranienrankeausderHand, dieich, ohneeszumerken, abgepflücktundderichnachundnachdieBlätterabgerissenhabe. DieFrauschütteltdenKopf. »SoeinePflanzehatauchGefühle.« HastigwischeichdasBlättermassakervonmeinenOberschenkeln.
WirsindetwagleichgroßunddennochunterscheidenwirunswieTagundNacht. Sieistschlank, schwarzhaarig, imgleichenAlterwieMax. Ererzähltemir, dasssiesichinderRealschulekennengelernthatten, einPaarseitvierzigJahren. VierzigJahren! Solangeichlebe. Unfassbar. ElliundichhabenesnurbeinaheaufdieHälftegeschafft. Ichwäresogargeblieben, hätteEllimireinZeichengegeben, dassdieserTagdamalseinFehlergewesenwar.
»Claudia.« DieFraustrecktmirdieHandhin, dieichgedankenverlorennichtergreife. Zuspäterkenneich, wieunhöflichdaswirkt.
»TündeWeiss.«
»Ichweiß.« Claudialächelt. »NichtnurTündeweißalles.«
Wirschweigen, währendichaufdieRückseitedesSchildesamTorglotze.
»DenScherzhatnochniejemandgemacht«, knüpfeichwiederan, demMaxzuliebe. ErwarmeinersterKunde. DerErste, derimmeretwaszuessenmitgebrachthatte. Kuchen. GebackenvondieserFraumitderselbstbewusstenAusstrahlung.
»Niemand? Echtnicht?«, freutsichClaudia, »wirsagenDu, nichtwahr?«
Ichnickeundwirschweigenweiter, bissiesicheineZigaretteanzündetundmireineanbietet. MeinHerz, einStein, alsichdasNikotinrieche. DasGeräuschihresAtemzugesbeimRauchenistlauteralsdasVogelgezwitscher.
»HabtihreinPonyimHaus?«
ClaudiasrauesLachenlässtmichaufschauen. Siegrinst, schnipptdieAscheab.
»DaswarMücke.« SieblästdenRauchübermeinenKopfhinweg.
»WoistMax?«
»DerbringtMückeinseinZimmer. DannkönnenwirgleichinRuheKaffee trinken.« Siebeugtsichverschwörerischrüber. »EsgibtSchokokuchen.« IhrZwinkernoffenbart, dassMaxmehrvonmirerzählthatalsumgekehrt. ClaudiablicktzumGrundstückstor. IhreSchulterlehntanmeinerundichspüredasZittern, dasihrenKörpererfasst. SiedrücktdieZigaretteineinemBlumentopfaus, drehtsichzumirundmustertmich. »WirsindKolleginnen«, sagtsieschließlich. EinKloßstecktinmeinemHals. Ichweißnicht, wasicherwidernsoll, fühlemichinmeinerBetrügereiertappt, bisichbegreife, siemeintnichtdenSchwindel, sonderndasSpirituelle. Claudialacht, verunsichertmichvonNeuem. Gedankenlesen. IstdasihreGabe? SietipptaufmeineStirnrunzeln. »Nichtnegativsein, Tünde, dasmachtFalten.«
»Nichtnegativsein«, hattesienahezugesungen, diejungeFrau, diedainmeinemBettlag, nackt, bisaufdieabsurdgroßenOhrringeausPfauenfedern. ZweiAugenmehr, diemichanglotzten. SieschämtesichnichteinenHauchihrerNacktheit. IhrenEllenbogenaufmeinSchmusekissengestemmt. MirbliebderMundoffenstehen. Siewarsichihrersosicher. SovollkommenimReinenmitsich, obwohlsieinmeinemBettlag, vermutlichdenGeruchmeinerFrauanihrersommersprossigenHauthatte. Siewarwederschlanknochdick, ihrerotenHaarereichtenbiszumAnsatzderkleinenBrüste. IndemkomplettenDaseindieserFraulagdiesesStrahlenanWahrhaftigkeit, dassdiesihrPlatzsei. Sichihrersichersein. Wieungerechtistdas, dasssoeinjungerMenschdaskannundichmichdieletztenzehnJahregefühlthabe, alsseiichinmeinemLebenaufderDurchreise. NuraufderWartespur, bisdasFettschmilztundichwiederdieschlankeTündebin. Ichsahmichdaliegen, mitdiesemLächelnohneHohn. Mich, alsEllimichnachmeinererstenSemesterfeteinihreWohnunggelockthatte. Wieselbstverständlichichliegenblieb, alsdamalsEllisFraunachHausekam.
»Bin wieder da!«, rufe ich in den Flur, werfe meinen Mantel auf den Tisch neben die Glaskugel, deren Haltering mit einem Tüllschal kaschiert ist, sodass der Eindruck entsteht, die Kugel balanciere von selbst im Stoff. Dabei ist hier nichts in Balance.
AufdemBeistellschränkcheninTanteHedisWohnküchestapelnsichdieRechnungen. MeinVerdacht, dasssiedenungeöffnetenBriefenregelmäßigeinenSchubsgibt, damitsieindasseitlicheFachfürZeitschriftenfallen, hattesichleidereinumsandereMalbestätigt. ÜberallemschautderKapitänmitKinnbartundSüdwesteranseinerPfeifenuckelndindieFerne. SelbstderlackierteGoldrahmenkannseinFernwehnichtbegrenzen. TanteHedisauchnicht. WiesooftläufteinReiseberichtimFernsehen, diesmalThailand.
»WarstduinmeinemStudio?«, frageichTanteHedi, dieinderMittedesRaumesamEsstischsitzt. VonihremPlatzauskannsiedenFernsehapparatgarnichtsehen, derwieeinRaumteilerdenWohn- undKüchenbereichmarkiert. Ichschalteihnab, drehemichumundstreicheTanteHedisanftüberdenRücken, ohne, dasssiereagiert. MiteinerLupevordemzerfurchtenGesichtgibtsievor, siewürdeZeitunglesen. DerFingerwandertvonZeilezuZeile. Aberichweiß, dasssiedaraufbrennt, zuerfahren, woichwar.
»Und, warstdujetztimStudio?«, hakeichnach.
»Studio«, wiederholtTanteHedimitleiser,rauerStimmeundlachteinmalkurzauf, ohneaufzuschauen. »DummesZeug.«
Ich setze mich zu ihr und drehe ihr die verkehrt herum liegende Zeitung um. Tante Hedi ignoriert mich, starrt weiter durch ihre Lupe. Einen Moment lang beobachte ich, wie sie vorgibt, zu lesen. Unbeachtet seufze ich, drehe mich zum Fenster und öffne es einen Spalt. Im Wohnraum riecht es immer etwas moderig, selbst wenn wir lüften. Auch wenn wir tausend Duftbäumchen aufhängen würden, bliebe der Geruch. Die Feuchtigkeit zieht seit hundert Jahren in die porösen Mauern. Unterhalb der Holzdielen begrenzt den schmalen Zwischenraum gestampfte Erde, wie bei so vielen Häusern aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts.
NachdemTanteHedisichschüttelt, schließeichdasFensterwieder.
»Du, ichwarbeidemMaxzuHause. SeineFrauistkrank.«
MitzusammengezogenenBrauenschautsiehoch. DurchdieLupevorihremGesichtseheichjedeAder, jedegelbeSchliereanihremAugapfel. VielleichtwäredaseineneueMethodealsGeschäftsidee, alternativzumAus-den-Händen-Lesen.
»Max?«, wiederholtsie.
»Ja, dermitdemleckerenSchokoladenkuchen.«
»Schokoladenkuchen?« Tante Hedi lässt die Lupe sinken und schaut sich suchend um, registriert mein Kopfschütteln und seufzt.
»GabnureinStückproPerson.« Undschonfühleichmichegoistischverdorben, weilichesmirnichtfürTanteHedihabeeinpackenlassen. »ClaudiaheißtsieundhatAngst.«
»Hastdudasvorausgesehen?«
»Nein.« Ichbinmirnichtsicher, obsiedenKuchenmeint, oderClaudiasGesundheitszustand.
TanteHedisKichernklingthexenhaft.
»TanteHedi, dasistnichtlustig!«
DievorgebeugtenSchulternhebensichleicht. »Ichhabesovielegehensehen.«
»Sokrankistsienicht.«
SiezucktmitdenSchultern. »Warumistsiekrank?«
»SiemagihrHausnichtverlassen. NurvordieTür, vielleichtnochzumTor. GrundstückszaunistGrenze. SieistdawieimGefängnis.«
»Sowieichhier.«
»Ach, TanteHedi. Ichversuchewirklich, Geldaufzutreiben. Ichschwöre, zuerstlassenwirdieBertareparieren.«
»Wen?«
»UnserAuto«, ichstreichleihreHand. »PapahatesdochnachunseremWellensittichgenannt, weilessoblauist.«
»Washabeichdamitzutun?«
»Nichts.« DeineKnie, willichsagen, dieschmerzendoch, unddukommstnichtausdemHaus. IchschmeckedieBitterkeitderSchuldgefühle. WäreichdochmeineneigenenWeggegangen. OhneElli. Dannwärevielessovielleichter. MitabgeschlossenemStudiumwäreichqualifiziertfürgutbezahlteJobs.
»IchhabeHunger, Kind.«
IchstreichleTanteHediüberdenknochigenRücken. SieistdürrwieeinRäucherstäbchenundalssienochderNikotinsuchtverfallenwar, rochsieauchdanach. SieträgtwiedereinendieserüberdimensionalenWollpullover, dieproportionalzuTanteHedisschrumpfendemKörperausleiern. DaseinststrahlendeLachsistderFarbeeinesverdorbenenFischesgewichen, dieZopfstrukturkaumerkennbarvorFlusenknötchen. ErfolgloshabeichihrneuePullisgekauft, dieungetragen, gefaltetimSchrankeinenGeburtstagnachdemanderenfeiern.
»SollichNudelnkochen?«, frageichüberihredünnenweißenHaarehinweg. IhreKopfhautistzusehen. PigmentfleckenaufderHaut. Allesanihrscheintzerbrechlich – undichküssesiespontanaufdasHaar. SieschütteltdenKopfodermichab. SiemagmeineGefühlsausbrüchenicht.
»BesorgliebereinenDöner«, krächztsie, nimmtwiederdieLupevorsAuge. DerkrummeFingerwanderterneutüberdasZeitungspapier. IchstreifemirdieHaareausdemGesicht. FühlenachdemScheininmeinerTasche, denmirMaxgegebenhat. VorgebeugtküsseichTanteHediaufdieWangeundflüstereinihrOhr: »Mörderin. SchonwiederFleisch. Bingleichwiederda«.
»Kalb!«, ruftTanteHedimirhinterher, alsichbereitsdenMantelgegriffenhabe. »MitvielZwiebeln!«
»Wir sind doch erwachsen«, erklärte Elli in einem Ton, mit dem sie mich daran erinnern wollte, dass sie siebzehn Jahre älter war als ich. »Viele getrennte Paare leben als Wohngemeinschaft zusammen«, und goss sich, mir und meiner Nachfolgerin einen Kaffee ein. Die neue Liebe heißt Libby, ist sieben Jahre jünger als ich und eine debütierende Schlagersängerin. Jede ihrer Bewegungen ein Statement der Emotionen. »Sehnsucht ist ein süßes Sehnen«, trällerte sie vor sich hin und flatterte mit den Händen vor ihrem Busen. Verzückt hielt sie inne und notierte die Zeile in ihrem Handy.
Erwachsenodernicht. LangehieltichdieWohngemeinschaftzudrittnichtaus.
»Dubistdocherwachsen«, hatteauchTanteHedibemerkt, alssiemiteinemSchrubberbewaffnetaufdieFingerfarbeamSchaufensterlosging.
»TanteHedi, hör’ auf!«, flehteichsieanundvondemSeeTheSoulließsienurdenSeestehen. DerStielvomSchrubbersahkaumdünnerausalsihreArmeundsieließsieerschöpftsinken. »Schaumal«, bemühteichmichumeinesanfteStimme, meineigenerArmlahmvomMalendesSchriftzugs. »Wennichwahrsage, dannbinichhierbeidirzuHause, fallsetwasist. UndichkanndenMenschenhelfen. Dasistdochschön. Ichhelfeihnenundsiehelfenuns!«
Heuchlerin, meldetesichdazumerstenMaldasGewissen. Dukannstdochnichteinmalvoraussagen, obTanteHedidenDönermitKalboderGeflügelwill.
MitverschränktenArmenbautesichdiealteDamevormiraufundkniffeinAugezu, währenddasanderemichfixierte. MiteinemleisenQuietschenrutschtederSchrubberstieldieScheibeherunterdurchmeinengerettetenSee.
»Waswillichjetzt?«, fragtesiemiteinemverbissenenZugumdenMund.
Döner, souffliertemeinGewissen. »Döner«, wiederholteichundführtedieverblüffteTantelächelndinsStudio.
AuchwenndasjetztübereinJahrherist, hatsichTanteHedisHungerkaumgelegt. MindestenszweimaldieWochemussichzuAlisImbissgehen. Ali, dergarnichtAliheißt, sondernKuddelundausDithmarschenstammt. WegenseinemdunklenTeintundderfastschonamourösenBegeisterungfürKnoblauchhattedieDorfgemeinschaftihnAligetauft. DaswarvormeinerZeitgewesen, irgendwannAnfangderAchtzigerjahre. DawarichgerademalaufdemWegRichtungGeburtskanalundwusstenochnicht, dassichdielängsteZeitmitmeinerMutterbereitsverbrachthatte.
FrüherwardasStudioOpasLadengewesen. AlsichzuEllizog, hatteTanteHediversucht, denLadenwiederinSchwungzubringen. DiesmalmitProduktenausderRegion. EineinnovativeIdee, wieichfand. HätteesdamalsbereitsInstagramgegeben, TanteHediwäreeineInfluencerindererstenStundegewesen: gestrickteStrümpfeundMarmeladevondenLandfrauen, SchafeundSonnenuntergängeamDeichinAquarellvonderVolkshochschule, EierundKartoffelnvomBauern. Dochnachdemjedestrickende, nähende, bastelndeNachbarsfraudasProduktderanderengekaufthatteundkeineTouristengruppenihrenWeginunserDorffanden, schlossTanteHediskleinerPopup-LadenundsievermieteteihnaneinenHaushaltsauflöseralsLager, bisdervoreinpaarJahrenverschwand, ohneetwasmitzunehmen. DeshalbsiehtmeinStudioauswieeinMuseumderJahrzehnte, undmeineBesucherinnenliebendas.
MüdekippleichaufmeinemStuhlmitdenBeinenaufdemTisch, rühregedankenverloreninderZukunftsschale. DieTeeschlierenderletztenSitzungsindeinertrübenBrühegewichen.
DasRitualhabeichmirselbstausgedacht. NachdemichheißesWasserinmeineSchalegieße (einePorzellanschüsselmitfiligranemMuster, dasanunzähligeAugenerinnert), tunkeicheinenTeebeutelunterTamtam, Händewedeln, GesummeundflatterndenLidernhinein, schwenkedenBeutelhinundher, umanschließendetwasEinhornpulverdarüberzustreuen. StarredanachaufdiesichverklumpendenMehlkörner, dielangsamzuBodensinken. DieSchildchenamTeebeutelmacheichneuerdingsab, nachdemeineKundinüberdasblaueja!vonRewegestolpertwar. MeinPlädoyerja!zurZukunftzusagen, fandkeineBegeisterung, nureinHebenihrerlinkenBraue.
EinenergischesKlopfenschrecktmichausmeinerMüdigkeit. IchverlieredasGleichgewicht, greifehektischnachdemTisch, dieFingerrutschenab, kippeum, kuglemicheinundrollewieeineAsselzurSeite. DieeigenenAirbagsanBordzuhaben, hatauchVorteile. DasScheppernmeinerTürglockenklingtempört, beruhigtsichgarnicht,undFrühlingskältebegleitetdieStimme, dieein »Allesokay?« indenRaumschmettert. Ichwerdegepackt, hochgezogen, binbeeindrucktvonderKraft, dennbisaufmeineBlaseistbeimirnichtselfengleich. DerStuhlwirdaufgerichtetundichdaraufgepresst. Eheichmichversehenkann, stehteinGlasWasservormir. Dahinter, aufderanderenSeitedesTisches, sitztnunmeinAttentäterundRetterineinerPersonundmustertmich. Ihnhabeichhierheutewirklichnichterwartet.
»Du?«
Maxlächeltschelmisch, greiftnachmeinerHand. »Allesgutbeidir, Tünde?« Ichentziehesieihm, klemmemirdieHaarehinterdieOhren, reibemirdasGesicht, nicke.
»Wiesobistduschonwiederda?«
VerlegenrutschteraufseinemSitzhinundher, dieHänderingendaufderPlatte. »WashatClaudiagesagt?« Erräuspertsich, schautmichan, winktab, willwiedernachmeinenFingerngreifen, aberichbinschneller, verbarrikadieresieunterdemTisch.
»Warumwillstdudaswissen, Max?« IchspüremeinGewissennicken. Dasklingterwachsen,würdeessagen, abwägend, interessiert, menschenfreundlich.Undschonmussichgrinsen. Esfälltmirschwer, ernstzubleiben. LacheninunpassendenSituationen. Wie, alswennjemanddenDranghat, inderKirchezupupsen. AlshätteicheinenfalschgepoltenSchalterinmir. Ichessejaauch, selbstwennichsattbin.
»Kannstdudasnichtvorhersehen?«, fragter, diesmalohneLächeln, dieAugenfeucht. Ichzwingemich, nichtzustöhnen.
»DenScherzhatnochniejemandgemacht.«
»Echtnicht?«, freutMaxsichzögerlich.
»Natürlich«, antworteich, »nochniemand«, dieMundwinkelnachobengetackert.
»Ich … «, jetztsitzterkerzengeradeundlegtdieHändeflachaufdenTisch, »… undClaudiahabenkeinenSexmehr – alsomiteinander. Wir –«
»La, la, la.« IchsteckemirdemonstrativdieFingerindieOhren. »Max, ichmagdich. JetztkenneichdeineFrau. Diemagichjetztauch. IchbinkeinePaartherapeutin.«
»AberduhastMenschenkenntnisundeinenDrahtzu …« Erschautsichum, damiteraufetwasMagischesweisenkann. AnseinemBlickmerkeich, dassernichtweiß, wasausreichendmagischfürseineArgumentationskettewäre.
AusderWohnküchenebenanhöreichTanteHedisFernseher. DudelsackundFlöte.
»Ichtue, wasduwillst, Tünde.«
»Dasistjaschön, aberwaserwartestduvonmir? EinAphrodisiakum? EinmentalesHeilverfahren? Dafürbinichnichtqualifiziert.«
»EsgehtdochnichtumSex. EsgehtumsEntfremden. IchwünschemirModeration.« Erlächelt. »ModerierenmitderMagiedeinerPersönlichkeit. Beiuns. Duweißtja«, ersiehtkurzzurTür, »ClaudiagehtnichtvomGrundstück.«
WirschweigenunseineWeilean, schauennurauf, alseinZweiggegendasFenstergewehtwird, undbetrachtenanschließenddasGesichtdesanderen. »Metakommunikationbeachten«, hätteElligesagt, »daranmusstduarbeiten. BetrachtedasGeschehenausderVogelperspektive.«Ichweiß, siemeinteLibby, sichundmich. EinVogelschissinmeinerVita. EinepeinlicheSituationmitderSchlagertrullagegennahezuzwanzigJahre, dieichalsAssistentinderberühmtenMalerinElliKrusearbeitendurfte.
AproposVogel. Ichlächele. »Max, kannstduAutosreparieren?«
FreudigerregthautmeinGegenübermitderFaustaufdenTisch. DieKugelrolltausihremTüllbettinseineRichtung, undMax’ Strahlennachzuurteilen, istdasdieMagie, dieererwartethatte.
»Nein, aberichkennejemanden, derdaskann. EinenechtenHelden!«
»Gut.« IchstreckeihmdieHandhin. »Schlagein, wirhabeneinenDeal. IchstelledirBertavor.«
»Wenimmerduwillst!«, antworteterlachendundspucktindieInnenflächeseinerHand, »Abgemacht!«, undschütteltmeine. ImfestenGriff. Manchmalwünschteich, ichkönntedochDingevorhersehen.
NachtsliegtmeinStudioinschummrigemLicht. DieStraßenlaternensindnah, dieSchaufensterbodenlang, dieVorhängehauchdünn, ehermitsymbolischemalsfunktionalemCharakter. GehässigwieLichtgerneist, strahltesdurchdieFaserndesStoffes, findetjedeÖffnung, uminmeinChaoszuleuchten, verwandeltSchatteninNachtgestalten, GarderobenständerinSkelette, BodenvaseningeduckteGeister. VonmeinemBettausähneltdergroßeHolzglobusinseinemGestellQuasimodo. DieRollenamFußzerbrochen, mussichdieWeltumrunden, wennichzumeinerSchlafstättemöchte. DieGlasmobilesanderDeckefangendenScheinderLaternenaufundgaukelnSternevor. MeinBetthabeichmiteinemaltenjapanischenZiehharmonika-ParaventvormeinenKundinnenblickgeschützt. DerSchlafplatzbestehtauseinerMatratzeaufeinemzusammengehämmertenPalettengestell. FutonnennendasFreigeister, ichsageNotlösungdazu. MeinBettstehtinHamburgundbeherbergtdiesehnsuchtsschwangereTrällertrulla. Wieschafftesiees, fließendmeinenPlatzeinzunehmen? ElliistnichtDorianGray. SieistvierundzwanzigJahreälteralsdieroteTeufelinmitdenPfauenaugen!
DamalshatsichkeineFrauKleinertübermichlustiggemacht. KeinBauch, derWellenüberdenHosenbundschlägt. DieLiebewarmeinErnährungsplan. Elliundichwarensovernarrtineinander, konntendieFingernichtvoneinanderlassen. DasGlückhatteeinenNamenundicheineTaille. Wennichdarandenke, wiewiraufdemBalkonimfünftenStock … EsistwieeineWundeaufpulen. DerSchorfbleibtfrisch, dennbeijedemSchlagerlied, dasTanteHediinderKüchemitsummtunddenTonlauterstellt, wirdmirspeiübel. VonwegenSehnsuchtisteinsüßesSehnen! SieisteinblutigesSchwert, dasinallerHärteimmerwiederinmeineEingeweidegerammtwird. VielleichtsollteEllisTrulladarübersingen, undichschmeißedannmitüberreifenTomatenundfaulenEiern.
MeinHerzrast, alsichausunruhigemSchlafaufschrecke. ObwohlmeinKörperstreikenwill, hasteichhoch, einGespür, dassTanteHediHilfebenötigt. VielleichthabeichjadochdaszweiteGesicht. ImFlurschalteichdasLichtanundlaufezuihremSchlafzimmer, auchwenninderWohnküchenochLichtscheint. VorsichtigöffneichdieTüreinenSpaltundflüstereindieDunkelheit: »TanteHedi?« EinSchluchzenkommtvomBett, dasmichbisinsMarktrifft. IcheilezuihrundlassemichvorihremaltenMessingmonsteraufdieKniefallen. TanteHediliegtaufderSeite, mirzugewandt, dieHaarestehenwirrvomKopfab. ZärtlichstreicheichsieihrausdemGesicht. Siesagtnichts, schautmichnuran, dieLippenzittern.
»Sollichdichumlagern?«
DieLiderflattern. VorsichtigschiebeichmeineHändeunterihreHüfteundSchulter, wendesieaufdenRücken. EinvertrautesRitual. AnschließendnehmeichihreHand, streichelesie, massieresachtedenEllenbogen, bisersichausseinerSteifheitlöst, bewegeihnsanft, bisTanteHediselbstwiederinderLageist, sichzurühren. »Allesgut?«, frageichundsieschließtdieAugen.
DerHungerwecktmicherneutundeinTrällernausderKüche. TanteHedihörtmitdemFernseherMusik, seitdemihrUKW-Radionichtsmehrtut, außereinzustaubenundandieJahrezuerinnern, alssieheimlichdieSenderderAlliiertenhörte. IhrVater, soerzähltTanteHedigerne, gabvor, alsbemerkteerdasnicht. MitderPfeifeimMunddrehteerandemBakelitknopfherum, derschwereTabakduftimRaum, bisdasSirrenundDudelnderStimmedesNachrichtensprecherswich.
StaubkörnertanzenineinemStrahlSonnenlicht, derdurchdieGardinenfällt. Gähnendreckeichmich, werfedieDeckezurückunddrehemichaufdieKnie, umaufzustehen. TanteHedisMusiknervt. MeinSchlafshirthatsichummeineHüftegestaut. IchzieheesübermeinenPo, schlurfebarfußzuderTürzumFlur, währendderStoffwiedernachobenrutscht. DasGähnenwillnichtaufhören, ichstreichemirdieLockenhinterdieOhren, kratzemeinenKopf. MeineSchläfenpochen. DerGesangwirdunerträglichlaut, einZiehenimBauch, einKribbelnindenHänden, Fluchtinstinkt. IchseheTanteHediinihremSesselsitzen. LächelndwipptsiemitderHandzuderschrecklichfröhlichenMelodie. Mirwirdübel, meineBeinefrierenvomkühlenFlur, trotzdemsteheichinFlammen, schauedurchdenTürrahmenaufeinenRücken, derrhythmischhinundherwippt. GründasKleid. Natürlichgrün, wassonst? »Grünistsinnlich, dienatürlicheAntwortaufRot«, erzählteEllistetsbeimMalen. UndnatürlichträgtderEindringlinggrünzudenverfluchtrotenHaaren! Undsingt! SingtinmeinerKüche! WaszumTeufelmachtdiehier? JetztentdecktmichTanteHediundwinktmiraufgekratztzu! Komm, sagtihrdünnerArmundderGesangverstummt. LangsamdrehtsichdieTeufelinumundgrinst. IchstarrezuBoden, dochderPferdefußistverstecktinhohenStiefeln.
Sieisteinbisschendickergeworden, denkeich, nichtohneHäme. IchfühlemichzuBodengeschlagen, wiedieTeufelinmichdasoanlächelt, mitihremSommersprossen-Gesicht, gerahmtvonOhrringen, diegroßundsperrigsind.
»HalloTünde. Kennstdumichnoch? Ichbin’s, Libby.« SehnsuchtisteinsüßesSehnen. Ichsagtejaschon, sieschreibtdenMistselbst. »Duwusstestbestimmt, dassichkomme«, sagtsiemiternstemGesicht.
»Derwargut«, kichertmeineTanteundklopftsichaufdenSchenkel.
»Aberklaro«, erklärtdieTeufelinlächelnd. »Tündeweißschließlichalles. Auch, wieesmitmeinemLebenweitergehensollundwoichhinkann.«
Kapitel 2
Queen Bitch
»Elli?«
EllisAtemanmeinemOhr. DasHandyinderHandwirdmitjederSekundebleierner. MeinArmsinkt, schwer, meinInstinktreißtihnwiederhoch. NatürlichistdasElli, rauntmeinGewissen.DuhastEllisNummergewählt, dieEinzige, dieduauswendigkannst, scheinheilig, siedemonstrativausdemHandyzulöschen.
SchweigenaufbeidenSeitenderLeitung. EinbisschenGemeinsamkeit, durchzucktesmich. Elliundich. WirtundasGleiche. NurklebenmeineWorteirgendwoamtrockenenGaumen. EllimeldetsichnieamTelefon. DasistihreArt, denAnrufendenmitzuteilen, dasssienichttelefonierenmag.
»Duhastdasimmergemacht, Elli!«, sageichjetzt. AusgesprochennimmtesanSchreckenzu, zerreißtmichinzweiTeile. InWutundVerlangen. »Michzappelnlassen.«
»Tünde«, hauchtsieinsMikrofon. Musssiedaswirklichhauchen? Sierauchtgerade, dasistnurausgeatmet,ermahntmichmeinGewissen. Seinichtsoeingebildet, umdichgehteshiernicht.
TrotztrockenerKehlemussichschlucken, verschluckemichanallem, wasichsagenmöchte, amWollenundVerwünschen. »Ich …«, wageichzuflüstern, alsplötzlichdieKlinkezumeinemStudiohinuntergedrücktwird. DieTüristverschlossen. EinKlopfen, dannBollern, dermetallischeTaktdesgerütteltenMetallgriffes, erneutesVersuchen. Undwieder. Undwieder. Sinnlos, obwohlmanesbesserweiß, sowieichhier, mitdemtonnenschwerenHandyinderHand. IchnehmeesvomOhr. Flugmodus, meinHerzimSturzflug.
Ichbinsprachloswiefrüher, alsichalsKindDingeeinfachnichtsagenkonnte. Worte, diesichimHalsfestgesetzthattenunddasAtmenerschwerten. Dort, woeigentlichdasVentilzumSchreiensaß. Dahabeichgelernt, zuschlucken. DieFragen, wiemeineMutterwar. WannPapavonderTourneewiederkommt. DieSehnsucht. NachdenLippenmeinerSchulfreundinLisa, dienurPferdestehlenwollte, oderZigarettenausTanteHedisLaden. AllesinSchokoladeummanteltheruntergeschlungen, schnell, heimlich, aufmeinemBettnebenderfaserigenTapete, dieleerenVerpackungenimMülleimerderDorfkneipenebenanentsorgt.
DasVerschluckenpassiertmirerstseitElli. UnddasHusten. NichtnurwegendesZigarettenrauches, sondernweilmirdasGlückimHalsesteckenblieb, alsdieroteTeufelininmeinLebenzog.
AlsLibbysichalsderSchlagerlärminunseremHeimentpuppthatte, michanstrahlteundmir – inunsererKüche! – einenKaffeeanbot, bliebenwirstehen, alshättenwireinKommandoverpasst, übereinenScherzzulachen, dieBühnezuverlassen, weiterzuleben. NurTanteHedisHandwippteweiter, fingunsereBlickeein. ZumeinemErstaunendrehtesichnacheinerWeilemeinKörpereinfachumundichgingwortlosfort, kralltedieZehenbeijedemSchritt, kehrteinmeinStudiozurück, inmeinChaos, indemallesanderewippte, nurnichtTanteHedisHandvorBegeisterung.
DieGlasmobilesklirrten, alsichdieTürzuschmiss, denSchlüsselzweimalumdrehte, michgegendasHolzlehnte.
FernesLacheninderKüche. Trippelschritte, unsymmetrischübermir. DerDackelliefaufseinendreiBeinenhinundher. EinAutomitlaufendemMotoramStraßenrand. DieAufdringlichkeiteinerFahrradklingel. EinSchwarmKrähenwarbisindasStudiozuhören. Allemachteneinfachweiter.
Undichhier, mitebennochEllisAtemanmeinemOhr, unfähig. Inallem.
DieEllenbogenstoßenandieWändedesWCsimStudio, alsichmichhineinwinde. DaskalteWasserbeißtinmeinemGesicht, schmälertdenKopfschmerz. DenSpiegelmeideich, geherückwärtsausdemkleinenRaum, indemichmichnichtdrehenkann, weilWaschbeckenundToilettenureinenschmalenPfadzulassen. BereitsbeimEintretenmussichmichentscheiden: WillichmichmitWasserbenetzenoderWasserlassen. Alswüssteichimmergleich, wasichwirklichwill.
»Tünde!«
KeineFrage, einAusrufezeichen. Frauke, meinealteSchulkameradin, weiß, wassiewill. EinenMann. Undzwarsofort. »DieUhrtickt«, sagtsiewiejedesMal, wennicheinenKerlinderZukunftsschalefindensoll. BereitsjetztseisiespätdranmitdemKinderkriegen.
»Spätgebärendwärstdu, Frauke«, sageich. EinMannnurfüreinKind? VerrückteVorstellung.
»Emotionalgereift«, kontertsie. »Los, Tünde«, räuspertFraukesichundschiebtihreBrusthinterdemSeidenstoffnachvorne, »findenwirmireinenMann.« undklopftdabeiaufihreArmbanduhr, alsgingeesumSekunden.
BereitsamTischsitzendsortiertsieihrelegantesKleidamKnieundstreichtsichenergischüberdenBusen, alsstündeeinRendezvousunmittelbarbevor.
»Darfichmicherstanziehen?« IchgreifenachmeinemMorgenmantel, einFrotteeungetüm, dasimInternetanderzartenBlondineinkirschrotwieeineerotischeEinladungaussah. InderGrößeXL, nurnochinGrauverfügbargewesen, fühleichmichwieeinElefantundbinfroh, dasskeinandererDickhäuterdaist, derdenMantelalserotischeEinladungwahrnehmenwill.
FraukeistmitsichundmeinerGlaskugelbeschäftigt. IhrbrünetterSchopfstrammimZopf, keinHaartrautsichheraus. DurchihreBrillengläsererscheinenihreschönenbraunenAugennochgrößeralsohnehinschon.
»Frauke …«, beginneich, nachdemichihrgegenüberPlatzgenommenhabe. Ticktack, ticktack, unterbrichtmichdasGewissen, vergeudenichtihreRessourcen.
»Tünde«, FraukeklopftaufdieGlaskugel, »schauheutemalhierrein. DasEinhornpulveristmirzuvage.« Sieimitiertmich: »IchsehedenManndeinerTräume, erist … warte … Moment …« IhrKopfwackeltseltsamhinundherundihreFingertrommelnaufderTischdecke. QueenBitch! SobeklopptseheichnieimLebenaus!
»Ichhabedichnichtgezwungen, hierzusein.« MitbeidenHändenstreicheichmirdieHaareausdemGesicht, lehnemichzurückundverschränkedieArmevorderBrust.
»Ichbrauchedaskonkreter, Tünde!« JetztklopftsieaufdenTisch. »EinfachmehrMagie!«
VoneinerSekundeaufdienächsteschaltetsieum, istnichtmehrdietougheFrau, sonderneinunsichererTeenager. EinfacheineDeernvomLand, wieicheswar. WirkommenbeideausdiesembegrenztenDorf, dasausnurzweiStraßenundeinemVerbindungswegbesteht, indemichwohne. NichtmehralsderBäckermitPoststelle, dieDorfkneipe, derenSchließungimmernochalleignorieren, AlisDönerladenundFraukeseigeneBlumenbude.
FraukesFingerruhenwiederaufihremSchoß. IchblinzeledurchhalbgeschlosseneLider, haltedieHändeschützendüberderKugelundwiegemeinenKopfhinundher, währendmeinGewissenversucht, mirBildervonFraukesImitationhinterdasinnereAugezuschummeln. MeineLippenzittern, alsichBowies: Ican’t