Wie schön wir waren - Imbolo Mbue - E-Book

Wie schön wir waren E-Book

Imbolo Mbue

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Beschreibung

»Imbolo Mbue ist eine überragende Erzählerin.« Jonathan Franzen. Nach ihrem gefeierten Debüt »Das geträumte Land«, für das sie den PEN/Faulkner-Preis erhalten hat, beweist Imbolo Mbue mit »Wie schön wir waren« erneut ihre erzählerische Brillanz gepaart mit einem Gespür für die großen Themen unserer Zeit. Die Bewohner von Kosawa leben in Angst, denn ein amerikanischer Ölkonzern droht das kleine afrikanische Dorf auszulöschen. Öllecks haben das Ackerland unfruchtbar gemacht; Kinder sterben, weil das Trinkwasser vergiftet ist. Den Menschen aus Kosawa werden Versprechungen über Aufräumarbeiten und finanzielle Reparationen gemacht, die nie eingehalten werden, aber die korrupte Regierung bedient nur ihre eigenen Interessen. Die Dorfbewohner beschließen, sich zu wehren. Ihr Kampf soll Jahrzehnte andauern. Erzählt aus der Perspektive einer Generation von Kindern, allen voran Thula, die zu einer Revolutionärin heranwächst. Mbues zweiter Roman ist eine meisterhafte Untersuchung dessen, was passiert, wenn die Profitgier des Westens gepaart mit dem Gespenst des Kolonialismus auf die Entschlossenheit einer Gemeinschaft trifft, an ihrem angestammten Land festzuhalten – und auf die Bereitschaft einer jungen Frau, alles für die Freiheit ihrer Mitmenschen zu opfern.

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Seitenzahl: 669

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Imbolo Mbue

Wie schön wir waren

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Imbolo Mbue

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

Motto

Wir hätten wissen müssen …

Thula

Die Kinder

Bongo

Die Kinder

Sahel

Die Kinder

Yaya

Die Kinder

Juba

Die Kinder

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Inhaltsverzeichnis

Für meine schönen, schönen Kinder

Inhaltsverzeichnis

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Jesaja 9:2

Inhaltsverzeichnis

Wir hätten wissen müssen, dass das Ende nahte. Wie hätten wir es nicht wissen sollen? Als auf einmal Säure vom Himmel regnete und die Flüsse sich grün färbten, hätten wir wissen müssen, dass unser Land bald tot sein würde. Andererseits: Wie hätten wir es wissen sollen, wo sie doch nicht wollten, dass wir es wussten? Als wir auf einmal strauchelten und wankten, zitterten und abknickten wie zarte Ästchen, erzählten sie uns, bald sei es vorbei, schon in Kürze werde es uns allen besser gehen. Sie baten uns zu Dorftreffen, um darüber zu sprechen. Sie erzählten uns, wir müssten ihnen vertrauen.

Wir hätten ihnen ins Gesicht spucken und ihnen entgegenschleudern sollen, was sie in Wahrheit waren: Lügner und Barbaren, skrupellos und böse. Wir hätten ihre Mütter und Großmütter verfluchen, ihre Väter beleidigen und dafür beten sollen, ihren Kindern möge unsagbares Leid widerfahren. Wir hassten sie, und wir hassten ihre Treffen, doch an jedem dieser Treffen nahmen wir teil. Alle acht Wochen gingen wir zum Dorfplatz, um ihnen zuzuhören. Wir starben. Wir waren hilflos. Wir hatten Angst. Diese Treffen waren unsere einzige Chance auf Rettung.

An den festgesetzten Tagen rannten wir nach der Schule nach Hause, wild entschlossen, so schnell wie möglich unsere Aufgaben zu erledigen, damit wir kein einziges Wort bei dem Treffen verpassten. Wir holten das Wasser vom Brunnen, scheuchten die Ziegen und Hühner in den Bambusstall im Hof, fegten die Blätter und Zweige vor der Haustür zusammen. Nach dem Abendessen wuschen wir die Eisentöpfe und stapelweise Schüsseln; verließen unsere Hütten lange vor der Zeit, für die das Treffen einberufen war. Wir wollten da sein, bevor sie mit ihren feinen Anzügen und den polierten Schuhen auf den Platz stolzierten. Auch unsere Mütter eilten zum Versammlungsplatz, genau wie unsere Väter. Ihre Arbeit im Wald hinter dem großen Fluss ließen sie unverrichtet liegen, an ihren Händen und den nackten Füßen klebte giftige Erde. »Die Arbeit wartet auch bis morgen auf uns«, sagten unsere Väter, »aber was die Männer von Pexton zu sagen haben, das erfahren wir nun mal nur heute.« Selbst wenn sie nach stundenlanger Schinderei unter der gütigen, aber unbarmherzigen Sonne kaum noch Kraft in den Knochen hatten, gingen sie zu den Treffen, weil es wichtig war, dass wir alle kamen.

Nur Konga, unser Dorfirrer, nahm nicht an den Treffen teil. Konga, der nichts von unserem Leid ahnte und den im Leben nicht ängstigte, was war oder was kam. Während wir uns beeilten, schlief er auf dem Schulhof, schnarchte und sabberte, wenn er sich nicht gerade hin und her warf, sich kratzte oder mit geschlossenen Augen vor sich hin murmelte. Gefangen wie er war, allein in einer Welt, in der die Geister regierten und der Mensch sich dieser Herrschaft gegenüber hilflos sah, wusste er nichts über Pexton.

Beinah vollkommen still saßen wir auf dem Dorfplatz, während sich die Sonne für den Tag von uns verabschiedete, und bemerkten gar nicht, wie durch die Schönheit ihres Untergangs unser Schmerz aufbrach. Wir schauten zu, wie die Männer von Pexton ihre Aktenkoffer auf dem Tisch ablegten, den unser Dorfoberhaupt Woja Beki für sie hingestellt hatte. Sie kamen immer zu dritt: Für uns waren sie der Runde (sein Gesicht war so rund wie ein Ball, mit dem wir nur zu gern ein bisschen gekickt hätten), der Kranke (seine Anzüge schlackerten an ihm herum, weshalb er aussah wie einer, der an einer fleischraubenden Krankheit litt) und der Anführer (er war fürs Reden zuständig, die anderen beiden fürs Nicken). Bei uns wurde getuschelt, als bei ihnen die Aktenkoffer aufschnappten, sie sich gegenseitig Unterlagen reichten und sich hinter vorgehaltener Hand ins Ohr flüsterten, um ihre Lügen abzusprechen. Wir hatten nirgendwo dringender zu sein, also warteten wir und hofften auf gute Neuigkeiten. Dann und wann flüsterten wir uns etwas zu, fragten uns, was sie wohl dachten, wenn sie kurz verstummten und zu uns schauten: zu unseren Großvätern und Vätern auf den Hockern ganz vorn, jenen mit toten oder sterbenden Kindern in der ersten Reihe, unseren Großmüttern und Müttern dahinter, die Babys an der Brust beruhigten und uns böse anblitzten, wenn wir unter dem Mangobaum einen falschen Laut von uns gaben. Unsere jungen Frauen seufzten immer wieder und schüttelten den Kopf. Unsere jungen Männer im hinteren Bereich standen wutschnaubend da und pressten die Kiefer aufeinander.

Wir atmeten ein, warteten, atmeten aus. Wir dachten an jene, die an Krankheiten gestorben waren, für die es weder Namen noch Heilmittel gab – unsere Geschwister und Cousins und Freunde, die an dem Gift im Wasser und dem Gift in der Luft und an dem vergifteten Gemüse und Obst aus der Erde umgekommen waren, jener Erde, die an dem Tag, an dem Pexton mit dem Bohren begann, vergiftet worden war. Wir hofften, die Männer würden uns in die Augen schauen und etwas für uns empfinden. Wir waren Kinder, genau wie ihre Kinder, und wir wollten, dass sie das erkannten. Falls sie das taten, verrieten ihre Mienen es nicht. Sie waren da, damit Pexton ein reines Gewissen behielt; sie waren nicht unseretwegen da.

 

 

Woja Beki ging nach vorn und dankte allen für ihr Kommen.

»Liebes Dorf«, sagte er und entblößte die Zähne, die keiner sehen wollte, »wenn wir nicht sagen, was wir wollen, kriegen wir es nicht. Wenn wir nicht rauslassen, was in uns rumort, werden wir unter Verstopfung leiden und sterben, richtig?«

Wir antworteten nicht; es interessierte uns nicht, was er zu sagen hatte. Wir wussten, dass er einer von ihnen war. Wir wussten seit Jahren, dass wir ihm nichts mehr bedeuteten, obwohl er unser Anführer war und von denselben Ahnen abstammte wie wir. Pexton hatte sich seine Mitarbeit erkauft, im Gegenzug hatte er ihnen unsere Zukunft zugeschanzt. Wir sahen mit eigenen Augen und hörten mit eigenen Ohren, wie Pexton seine Frauen mästete, seinen Söhnen Jobs in der Hauptstadt verschaffte, ihm Umschläge mit Geld zusteckte. Als sich die Hinweise mehrten, stellten unsere Väter und Großväter ihn zur Rede, aber er überzeugte sie, ihm zu vertrauen, erzählte ihnen, er habe einen Plan: er tue das alles, weil er unser Land zurückholen wolle. Er vergoss zwei Tassen Tränen und schwor beim Geist unserer Ahnen, dass er Pexton genauso hassen würde wie wir, ob sie das denn nicht merkten? Unsere jungen Männer taten sich zusammen, um ihn zu töten, aber unsere alten Männer fanden es heraus und drängten sie, ihn zu verschonen. Es habe schon genug Tote gegeben, sagten unsere alten Männer; wir hätten schon genug Grabstellen aufgebraucht.

Woja Beki sah uns weiter an, sein hässliches Zahnfleisch lag noch immer frei. Hätten wir es doch bloß nicht ansehen müssen, aber man kam nicht dran vorbei. Wenn man ihm ins Gesicht schaute, war es das Erste, was man sah: Zahnfleisch so schwarz wie die dunkelste Stunde der Nacht, durchsetzt von verschiedenen Tönen Pink; schiefe braune Zähne, dazwischen klaffende Lücken.

»Liebes Dorf«, fuhr er fort, »selbst ein Schaf weiß, wie es seinem Herrn sagt, was es will. Darum haben wir uns heute hier versammelt, um das Gespräch wieder aufzunehmen. Wir danken den freundlichen Vertretern von Pexton, dass sie erneut gekommen sind, um mit uns zu reden. Boten sind gut, aber warum sollten wir sie nutzen, wo wir doch selbst Münder zum Reden haben? Es hat viele Missverständnisse gegeben, aber dieses Treffen bringt uns einer Lösung für das gemeinsame Leid hoffentlich näher. Nach heute Abend können Pexton und wir hoffentlich weiter in Richtung Freundschaft gehen. Denn Freundschaft ist eine gute Sache, nicht wahr?«

Wir wussten, wir würden sie niemals Freunde nennen, aber manche von uns nickten.

Im Schein der abnehmenden Sonne sah unser Dorf fast schön aus, unsere Gesichter dämmerten fast frei von Angst. Unsere Großväter und Großmütter wirkten sorglos, aber wir wussten, dass sie das nicht waren. Sie hatten viel gesehen, aber etwas wie das hatten sie noch nie gesehen.

»Wir hören nun den ehrenwerten Herrn Vertreter von Pexton, der extra aus Bézam gekommen ist, um erneut mit uns zu sprechen«, sagte Woja Beki, bevor er wieder seinen Platz einnahm.

Der Anführer erhob sich, machte ein paar Schritte auf uns zu und blieb in der Mitte des Dorfplatzes stehen.

Mehrere Sekunden lang starrte er uns an, den Kopf geneigt, das Lächeln so bemüht herzlich, dass wir uns fragten, ob wir irgendetwas ausstrahlten, das uns gar nicht bewusst war. Hoffentlich würde er uns etwas sagen, das uns in Gesang und Tanz ausbrechen ließe. Hoffentlich würde er uns sagen, dass Pexton beschlossen habe, zusammenzupacken und die Krankheiten mitzunehmen.

Sein Lächeln wurde breit, dann schmal, landete direkt auf unseren Gesichtern, während er unser Schweigen las. Offenbar zufrieden legte er los. Was für ein wunderbarer Tag. Welche Freude, wieder in Kosawa zu sein, sagte er. Was für ein herrlicher Abend mit dem Halbmond in der Ferne, der perfekten Brise und diesem einträchtigen Gezwitscher. Das seien doch nicht etwa Spatzen? Was für ein traumhaft schönes Dorf. Er danke uns für unser Kommen. Es sei wunderbar, uns alle wiederzusehen. Und wie viele kostbare Kinder es in Kosawa gebe, unglaublich. Bitte, wir müssten ihm glauben, dass die Leute in der Zentrale betrübt seien über das, was uns passiere. Sie würden hart daran arbeiten, die Sache in Ordnung zu bringen und alle wieder gesund und glücklich zu sehen. Er sprach langsam und lächelte ununterbrochen, als würde er uns die guten Nachrichten überbringen, nach denen wir uns so sehnten.

Wir sahen ihm zu, ohne auch nur zu blinzeln, und hörten uns die Lügen an, die wir schon kannten: Dass wir den Menschen, die bei Pexton das Sagen hatten, am Herzen lägen. Dass wir den großen Männern in der Regierung Seiner Exzellenz am Herzen lägen. Dass Hunderte Menschen aus der Hauptstadt ihn gebeten hätten, uns ihr Mitgefühl auszusprechen. »Jedes Mal, wenn sie von einem eurer Toten erfahren, trauern sie mit euch«, sagte er. »Bald ist es vorbei. Es wird Zeit, dass euer Leid ein Ende hat, nicht wahr?«

Der Runde und der Kranke nickten.

»Pexton und die Regierung sind eure Freunde«, sagte der Anführer. »Wir in Bézam denken an euch und arbeiten hart für euch, das dürft ihr auch an den allerschlimmsten Tagen nicht vergessen.«

Unsere Mütter und Väter wollten wissen, wann genau unsere Luft, unser Wasser und unser Boden wieder sauber seien. »Wissen Sie, wie viele Kinder wir beerdigt haben?«, rief ein Vater. Er hieß Lusaka; er hatte zwei Söhne beerdigt. Wir waren auf der Beerdigung von beiden Jungen und hatten uns schluchzend über ihre Körper gebeugt, die dunkler aussahen als zu Lebzeiten, schön gemacht mit weißen Hemden, die bald schon eins sein würden mit ihrem Fleisch.

Lusakas verstorbener jüngerer Sohn Wambi war so alt gewesen wie wir, war mit uns in eine Klasse gegangen.

Zwei Jahre war Wambis Tod jetzt her, aber noch immer dachten wir an ihn. Im Rechnen war er der Klügste gewesen, und auch der Stillste in der Klasse, außer wenn er gehustet hatte. Alle zusammengerechnet waren wir seit Hunderten von Jahren am Leben, aber noch nie hatten wir jemanden husten hören wie ihn. Wenn der Husten einsetzte, tränten ihm die Augen, krümmte sich sein Rücken, musste er sich irgendwo festhalten. Es war traurig mitanzusehen, mitleiderregend, aber auf dieselbe Weise lustig, wie wenn ein runder Mann auf den Hintern plumpst. Weiß dein Vater nicht, wo es zum Medizinmann geht?, sagten wir dann immer und lachten das sorglose Lachen gesunder Kinder. Wir wussten nicht, dass schon bald auch ein paar andere von uns husten würden. Wie hätten wir uns vorstellen können, dass uns so etwas passieren würde? Dass manche von uns trockenen Husten und Ausschlag und Fieber bekämen – als Vorboten unseres Todes? Bleib uns bloß weg mit diesem fiesen Husten, sagten wir immer zu Wambi. Aber es war nicht nur ein fieser Husten, fanden wir später heraus. Die schmutzige Luft hatte sich in seiner Lunge festgesetzt. Nach und nach machte sich das Gift in seinem Körper breit und wuchs sich zu etwas anderem aus. Ehe wir uns versahen, war Wambi tot.

Als wir rings um seinen Sarg standen, brachten wir das Abschiedslied für ihn kaum heraus, so erstickt waren unsere Stimmen von den Tränen. Manche von uns mussten von ihren Vätern nach Hause getragen werden, so schwach waren wir. Innerhalb von fünf Monaten nach Wambis Tod waren zwei von uns tot. Wer überlebte, hatte Angst, der Tod sei nah; wir waren sicher, die Nächsten zu sein, obwohl wir manchmal Angst hatten, die Letzten zu sein. Alle Kinder im selben Alter wären schon tot und wir hätten keine Freunde mehr in unserer Größe, mit denen wir im Regen die Zunge herausstrecken und die Tropfen kosten, keinen mehr, mit dem wir auf dem Dorfplatz spielen oder um die saftigste Mango kämpfen könnten.

Jedes Mal, wenn wir Fieber bekamen oder jemand in unserer Nähe hustete, dachten wir an unsere verstorbenen Freunde. Wir hatten Angst, dass jemand in unserer Hütte die Krankheit kriegen würde, die wie ein Dieb im Dunkeln gekommen war, nun vor jeder Hütte hockte und auf eine Chance wartete, hineinzugelangen. Wir sorgten uns um jeden Einzelnen, auch wenn die Krankheit die Körper von Kindern am liebsten mochte. Wäre die erste Person in unserer Hütte erst mal krank, befürchteten wir, würde sie die Krankheit an die nächste Person weitergeben, und diese Person an die nächste, und über kurz oder lang würde unsere gesamte Familie erkranken und sterben, einer nach dem anderen, oder vielleicht alle auf einmal, aber wahrscheinlich eher einer nach dem anderen, die Älteren vor den Jüngeren, sodass wir vielleicht erst dann sterben würden, wenn wir alle anderen beerdigt hätten. Unsere Ängste ließen uns nachts nicht schlafen.

Wir hassten es, dass Angst uns in den Schlaf wiegte und Angst uns wieder weckte, wir den ganzen Tag Angst atmeten, ein und aus. Unsere Mütter und Väter sagten, wir bräuchten keine Angst zu haben, der große Geist werde uns leiten und beschützen, doch ihre Worte trösteten uns nicht, denn der große Geist hatte auch die anderen Kinder geleitet und beschützt, und was hatte es ihnen gebracht? Trotzdem nickten wir jedes Mal, wenn unsere Eltern uns auf diese Weise Mut zusprachen – unsere Väter beim Gutenachtsagen, unsere Mütter in den frühen Morgenstunden, wenn wir schreiend aus einem Albtraum hochschreckten –, wussten wir doch, dass sie logen, damit wir beruhigt wären und keine Albträume hätten, damit wir ausgeschlafen erwachen und nach dem Frühstück zur Schule sprinten würden, sorglos und fröhlich, wie wir es hätten sein sollen. Wir wurden immer dann an die Lügen unserer Eltern erinnert, wenn es wieder einen neuen Todesfall gab, mal in unserer Hütte, mal in der Hütte nebenan, manchmal Kinder, die jünger waren als wir, Babys und Kleinkinder, die nur am Leben genippt hatten, immer Kinder, die wir kannten. Wir waren jung, aber wir wussten: der Tod ist blind.

 

 

»Bitte, Sie müssen etwas tun«, rief eine unserer Tanten dem Anführer zu, ihr Baby schlaff im Arm. Es war das Gift, das Baby war zu rein für das verschmutzte Wasser aus dem Dorfbrunnen, die toxischen Stoffe, die von Pextons Ölfeld durchgesickert waren. Einer unserer Väter fragte, ob Pexton uns in der Zwischenzeit sauberes Wasser schicken könne, wenigstens für die Kleinsten. Der Anführer schüttelte den Kopf; er kannte die Frage schon. Er holte tief Luft und setzte zu seiner Standardantwort an: Die Bereitstellung von Wasser falle nicht in Pextons Zuständigkeit, aber weil wir dem Anführer am Herzen lägen, würde er in der Zentrale mit ein paar Leuten sprechen, die unsere Bitte der Wasserbehörde vortragen und hören würden, was man dort dazu sage. Habe der Anführer beim letzten Mal nicht dasselbe gesagt?, wollte einer der Großväter wissen. Wie lange daure es in Bézam, Informationen von einer Behörde zur anderen weiterzugeben? Sehr lange, antwortete der Anführer.

Da weinten einige unserer Mütter. Wie gern hätten wir ihre Tränen getrocknet.

Unsere jungen Männer schrien: »Dann marschieren wir eben nach Bézam und brennen die Zentrale nieder. Dann tun wir Pexton eben genauso weh wie Pexton uns.«

Die Männer von Pexton grinsten nur. Sie wussten, die jungen Männer würden das nicht tun. Wir alle wussten, dass Seine Exzellenz unsere jungen Männer töten lassen würde, wenn sie es wagen sollten, Pexton anzugreifen, und unser Dorf dann noch geschwächter wäre.

Wir hatten es schon miterlebt.

Erst im Jahr zuvor hatten wir gesehen, wie sechs unserer Männer nach Bézam aufgebrochen waren, Wasser und gedörrte Lebensmittel in ihren Taschen aus Bast. Die Gruppe, die von dem Vater von einer von uns angeführt wurde – der einen von uns namens Thula –, versprach dem Dorf nichts Geringeres, als von der Regierung und von Pexton die Zusicherung einzuholen, dass man unser Land wieder in den Zustand vor Pextons Ankunft zurückversetzen werde. Tag für Tag warteten wir an der Seite unserer Freundin Thula auf die Rückkehr ihres Vaters und der anderen Männer, alle unsere Nachbarn oder Verwandten, drei von ihnen mit kranken Kindern zu Hause. Als sie zehn Tage später nicht zurück waren, beschlich uns die Angst, man habe sie ins Gefängnis gesteckt. Oder Schlimmeres. Eine zweite Gruppe von Männern reiste nach Bézam, um die Sechs zu suchen und nach Hause zu holen, doch sie kam mit leeren Händen zurück. Monate später kamen die Männer von Pexton zum ersten Mal zu einem Treffen mit dem Dorf. Als unsere Ältesten den Anführer bei diesem ersten Treffen fragten, wo denn unsere verschwundenen Männer seien, sagte er, er wisse von nichts, Pexton mische sich nicht ein, wenn es um den Verbleib der Bürger unseres Landes gehe, es sei denn, es handle sich um Arbeiter von Pexton.

An jenem Abend im Oktober 1980 erinnerte uns der Anführer erneut daran, auch diesmal mit einem Lächeln, dass Pexton unser Freund sei und wir trotz der Opfer, die wir erbringen müssten, eines Tages zurückschauen und stolz sein würden, dass Pexton sich für unser Land interessiert habe.

Er wollte wissen, ob wir sonst noch Fragen hätten.

Hatten wir nicht. Jegliche Hoffnung, die wir zu Beginn des Treffens vielleicht gehabt hatten, hatte sich verflüchtigt und unsere letzten Wörter mitgenommen. Der Anführer lächelte noch einmal und dankte uns für unser Kommen. Der Runde und der Kranke ließen ihre Aktenkoffer zuschnappen. Ihr Fahrer wartete in einem schwarzen Land Rover an unserer Schule auf sie, um sie zurück nach Bézam zu bringen, zurück zu ihrer Familie und ihrem Leben mit all den sauberen Gütern und Luxusartikeln, die wir nie würden herbeizaubern können.

Woja Beki erhob sich und dankte uns ebenfalls. Er wünschte uns eine gute Nacht und erinnerte uns daran, in acht Wochen zum nächsten Treffen zu kommen. Er bat uns, bis dahin gesund zu bleiben.

–––––

An den meisten Abenden hätten wir den Dorfplatz verlassen und uns nach Hause begeben.

Auf dem Weg durch die Dunkelheit hätten wir kaum miteinander gesprochen, so überwältigt von unerbittlicher, erdrückender Verzweiflung. Wir hätten unsere Schritte langsam gesetzt, die Köpfe gesenkt, zerknirscht, uns Hoffnungen gemacht zu haben, beschämt von unserer Bedeutungslosigkeit.

An jedem anderen Abend hätte uns das Treffen daran erinnert, dass wir nichts gegen sie unternehmen konnten, sie uns aber alles nehmen konnten, weil wir ihnen gehörten. Ihre Worte hätten nur verfestigt, dass wir nicht ungeschehen machen konnten, dass unsere Regierung uns drei Jahrzehnte zuvor, an einem Tag, dessen Datum wir nie erfahren werden, während eines Treffens in Bézam, bei dem keiner von uns anwesend war, an Pexton übergeben hatte. Ihnen auf einem Blatt Papier unser Land und unser Wasser ausgehändigt hatte. Wir hätten nur noch akzeptieren können, dass wir jetzt ihnen gehörten. Hätten uns eingestehen müssen, dass wir vor langer Zeit bezwungen worden waren.

Aber an diesem Abend, dem Abend, als die Luft verdächtig ruhig und die Grillen seltsam still waren, begaben wir uns nicht nach Hause. Denn gerade als wir aufstehen und uns voneinander verabschieden wollten, hörten wir ein Rascheln im hinteren Teil der Versammlung. Wir hörten eine Stimme, die uns befahl, sitzen zu bleiben, das Treffen sei noch nicht vorbei, es fange gerade erst an. Wir drehten uns um und erblickten einen Mann, groß und hager, verfilztes Haar, bekleidet nur mit einer löchrigen Hose. Es war Konga, unser Dorfirrer.

Er keuchte, als wäre er vom Schulhof zum Dorfplatz gerannt. Anders als sonst war er überschwänglich und lebhaft, nicht dieser lethargische Typ, der im Dorf herumlungerte, mit unsichtbaren Freunden lachte oder die Faust gegen Feinde erhob, die außer ihm keiner sah. In der einsetzenden Dunkelheit sahen wir das Glühen in seinen Augen, die Aufregung, als er ganz nach vorn eilte, in seinem Rausch nahezu schwebte. Wir schauten einander an, zu verblüfft, um zu fragen: Was macht er denn da?

Noch nie hatten wir den Anführer so fassungslos erlebt wie in dem Moment, als er sich an Woja Beki wandte und fragte, was Konga wolle, warum ein Irrer das Ende des Treffens störe? Noch nie hatten wir Woja Beki so sprachlos erlebt wie in dem Moment, als er den Kopf wandte, um Konga anzusehen.

Vor uns allen stand eine völlig veränderte Version unseres Dorfirren.

Als besäße er alle Autorität der Welt, blaffte Konga die Pexton-Männer an und befahl ihnen, sich zu setzen, ob sie nicht hören würden, was er sage? Ob sie so viel Dreck in den Ohren hätten, dass seine Stimme nicht zu ihnen durchdringe? Das Treffen sei noch nicht zu Ende, es fange gerade erst an.

Der Anführer, den Kongas Dreistigkeit in Rage versetzte und den nun der mitgebrachte Anstand aus Bézam verließ, blaffte zurück und fragte, wie ein Irrer es wagen könne, so mit einem Vertreter von Pexton zu sprechen. Konga kicherte, ehe er antwortete, er könne sprechen, mit wem er wolle und wie er wolle. Eine Antwort, die den Anführer dazu veranlasste, sich bei Woja Beki zu erkundigen, warum er herumstehe wie ein Idiot und diesen unverschämten Spinner gewähren lasse. Konga räusperte sich, holte alles hoch und spuckte dem Anführer etwas zwischen die Beine, das in unserer Vorstellung ein dunkelgelber Schleimbatzen war.

Wir hielten den Atem an. Wusste Konga, wer diese Männer waren und was sie mit ihm anstellen konnten?

Der Anführer starrte Konga an. Dann uns. Dann wieder Konga. Er bedeutete seinen Lakaien, sich die Aktenkoffer zu schnappen. Alle drei Männer nahmen ihre Koffer und wandten sich zum Gehen. Wir holten tief Luft, froh, das Drama zu einem Ende kommen zu sehen, doch das Gefühl der Erleichterung verwandelte sich in eine noch größere Ratlosigkeit, als Konga das Trio fragte, wie es gedenke, nach Bézam zurückzukommen. Die Vertreter von Pexton drehten sich um, verdutzt, wenn nicht gar erschrocken.

Was dann geschah, hätte keiner von uns je erwartet. Keiner von uns hätte sich je vorstellen können, das Konga vor den Pexton-Männern und vor dem Dorf die Hand in die Hose schieben würde. Unsere Mütter und Großmütter hielten sich die Augen zu, aus Angst, er habe etwas vor, das eine Frau nicht mitansehen sollte, die Sache, von der man uns gesagt hatte, auf keinen Fall hinzuschauen, wenn Konga sie vor uns mache.

Wir ließen die Augen offen und beobachteten, wie Konga mit leicht geöffnetem Mund etwas in seiner Hose streichelte, wieder und wieder, maßlos übertrieben. Vorsichtig zog er etwas heraus. Er hielt es hoch und fragte die Männer, ob es ihnen gehöre. Wir rissen die Augen auf, genauso wie die Männer. In dem golden glänzenden Ding in der Hand des Irren erkannten sie ihren Wagenschlüssel.

Noch ehe wir uns von der Enthüllung erholten, fragte Konga die Pexton-Männer, wo ihr Fahrer sei. Der Fahrer wartete während der Treffen im Wagen, wenn nun aber Konga den Schlüssel in der Hand hielt, wo war er dann? Konga sagte nichts. Mit einem Grinsen teilte er den Männern lediglich mit, dass der Schlüssel in seiner Hand tatsächlich der Wagenschlüssel sei und ihr Fahrer nicht länger auf dem Schulhof auf sie warte.

Plötzlich redeten alle auf einmal. Was passierte gerade? Was tat er da?

Woja Beki stammelte nur noch, verbeugte sich vor dem Anführer, versicherte ihm, dass Konga nur das Spiel eines Irren spiele. Konga, müsse der Anführer bitte verstehen, könne ohne Verstand nicht ermessen, dass die ehrenwerten Herren Vertreter keine Spielchen spielten; dem Fahrer gehe es natürlich gut, er erwarte sie sicher am Wagen; Konga werde ihnen den Schlüssel natürlich sofort übergeben; er bitte den Anführer um Entschuldigung, im Namen des gesamten Dorfes; man habe den Gästen gegenüber keinesfalls respektlos wirken wollen; die allerbesten Wünsche für die Heimreise nach Bézam; ganz Kosawa sei ihnen dankbar, dass sie erneut gekommen seien, denn …

Konga befahl Woja Beki, den Mund zu halten und zur Seite zu treten.

Wir hätten am liebsten gejohlt. Wir wären am liebsten auf und ab gesprungen und hätten geklatscht, aber das taten wir nicht – wir wurden gerade Zeugen von etwas Außergewöhnlichem, und dessen Verlauf wollten wir auf keinen Fall stören.

Konga hob den Blick zum Himmel, wie um sich an die Sterne zu wenden.

Als er den Blick wieder senkte, teilte er den Pexton-Männern mit, dass sie heute nicht mehr nach Bézam zurückkehren würden. Der Anführer, der Kranke und der Runde sahen einander an und lachten, belustigt von dem Gedanken, dass ein Irrer ihnen drohte, sie gefangen zu nehmen. Wir fanden es auch irgendwie lustig, aber wir lachten nicht, denn Konga sagte es noch einmal, diesmal langsam und bestimmt: Meine Herren, Sie werden die Nacht hier bei uns in Kosawa verbringen.

Er meinte, was er da sagte, das hörten wir an seinem Ton, und das hörte jetzt auch der Anführer, denn er lachte nicht mehr. Verwirrt schaute er uns an, fragte uns, was hier vor sich gehe, wovon der Irre spreche, und klang erst flehentlich und dann fordernd; fest entschlossen, eine Antwort zu erhalten, völlig gleich wie.

Wir sagten kein Wort.

Voller Zorn starrte der Anführer auf Konga. Wut entwich aus seiner Nase, aber er musste sich zusammennehmen. Die Stimme leicht erhoben, ermahnte er Konga, welches Spiel er auch spiele, es sei jetzt vorbei und an der Zeit, den Schlüssel auszuhändigen, er würde ungern Gewalt anwenden, der Abend würde sonst böse enden, was er nicht wolle, da Kosawa Pexton am Herzen läge, darum solle Konga ihm jetzt schnell den Schlüssel aushändigen, damit die Sache vergeben und vergessen werden könne.

Wir rechneten nicht damit, dass Konga auf ihn hören würde, aber wir hätten auch nicht erwartet, dass er den Anführer eine halbe Ewigkeit begaffen, verhöhnen und dann ausgiebig verlachen würde.

Der Anführer wandte sich an Woja Beki, dieser senkte rasch den Kopf.

»Nimm ihm den Schlüssel ab«, schrie der Anführer unser Dorfoberhaupt an.

Woja Beki rührte sich nicht. Uns war klar, warum der Anführer Woja Beki darum bat. Der Anführer durfte seine ehrenwerte Stellung auf keinen Fall dadurch herabsetzen, dass er oder einer seiner Männer sich in einen Kampf mit einem ungehobelten Irren verwickeln ließen.

»Nimm diesem Idioten den Schlüssel ab«, schrie der Anführer erneut.

Woja Beki blieb wie angewurzelt stehen, vielleicht voller Scham, sehr wahrscheinlich voller Angst, dem großen Mann aus Bézam in die Augen zu sehen.

Was dann folgte, hatten wir in unserer Fantasie schon lange selbst tun wollen – einige von uns hatten es im Traum getan und waren grinsend erwacht –, aber es machte den Schock nicht kleiner, als Konga, ohne zu lachen, vor Woja Beki trat und ihm ins Gesicht spuckte. Wir kicherten, schnappten entsetzt nach Luft, kniffen die Augen leicht zusammen. Ohne den Kopf zu heben, wischte sich Woja Beki die Spucke von den Lippen. Der Anführer, inzwischen ein wild gestikulierendes Bündel aus Wut und Verblüffung, würdigte Woja Beki keines Blickes und brüllte erneut herum, schrie alle an, dem Irren den Schlüssel abzunehmen, irgendwer solle ihm auf der Stelle den Schlüssel besorgen, andernfalls hätte das ernsthafte Konsequenzen.

Nicht einer von uns tat oder sagte etwas.

Keiner von uns nahm es auf sich, dem Anführer zu sagen, dass Konga nicht berührt werden durfte. Wir machten keine Anstalten, ihm zu sagen, dass wir Konga, egal, was er täte, wie sehr er uns auch demütigen, verletzen oder ängstigen würde, nicht berühren konnten, weil wir Menschen mit seinem Leiden nicht berühren. Wir sagten dem Anführer nicht, dass seit Jahrzehnten keiner von uns Konga berührt hatte und keiner es je tun würde, denn wer einen Irren berührte, zog den schlimmsten aller Flüche auf sich.

 

 

Wenn sich der Anführer mit uns hingesetzt hätte, hätten wir ihm Kongas Geschichte erzählt, die Geschichte, die unsere Eltern uns immer wieder erzählten, wenn wir uns über Konga lustig machten, jedes Mal, wenn sie uns irgendwo im Dorf dabei erwischten, wie wir hinter seinem Rücken Grimassen schnitten, über sein verfilztes Haar spotteten, sein einziges Paar Hosen, seine dreckigen Fingernägel. Wir hätten dem Anführer erzählt, Konga sei nicht als Irrer geboren, sondern, auch wenn man es bei seinem jetzigen Anblick kaum glauben mochte, früher ein stolzer, schöner Mann gewesen.

Wenn der Anführer gefragt hätte, hätten wir ihm erzählt, dass lange vor unserer Geburt, als unsere Eltern so alt waren wie wir, Dutzende junge Frauen aus unserem Dorf davon geträumt hatten, Kongas Frau zu werden und ihm Söhne zu gebären, die später einmal genauso wohlgeformt und hochgewachsen wären wie er. Seine Eltern, inzwischen längst verstorben, hatten von den Enkeln geträumt, die ihnen ihr einziges Kind schenken würde. Konga war damals ein ausgezeichneter Bauer, ein ausgezeichneter Jäger und ein noch besserer Fischer gewesen. An jedem beliebigen Tag erzählten uns unsere Eltern, Konga könne es in allem weit bringen, er sei dazu bestimmt, ein schönes Leben zu haben. Aber dann, an einem heißen Tag, klagte er plötzlich, er würde ununterbrochen Stimmen hören. Sie würden ihn auslachen, erzählte er seinen Eltern, ihn beschwören, sich umzubringen, ihm sagen, er werde ewig leben. Sie erschienen ihm nachts im Traum und tagsüber in Gestalt von Männern, Frauen und Kindern aus dunklen Sphären, die so lange im Grab gelegen hatten, dass kaum noch Fleisch an ihnen hing. Sie wirkten entschlossen, ihn nie mehr gehen zu lassen, bedrängten ihn in einer Sprache, die er nicht verstand, belagerten ihn, sobald er sich zum Essen setzte, und verfolgten ihn durchs Dorf.

Seine Eltern suchten unser Dorfmedium auf, das sagte, man könne nichts tun; ein rachesüchtiger Geist habe sich Kongas Verstand bemächtigt, zur Strafe für ein Unrecht, das ein Vorfahre Jahrhunderte zuvor begangen habe. Konga werde den Rest seines Lebens Buße tun. Der Geist könne nicht besänftigt werden. Den Eltern, so das Medium, bliebe nur, die Tür ihrer Hütte offen zu lassen, damit Konga die Hütte betreten und verlassen könne, wie er wolle. Außerdem riet ihnen das Medium, eine Matte vor die Hütte zu legen, damit Konga sich einen geeigneten Platz im Freien suchen könne und es in den Nächten bequem habe, in denen die Stimmen ihn schlafen ließen.

Als wir geboren wurden, schlief Konga schon seit zwanzig Jahren unter freiem Himmel. Da seine Eltern verstorben waren und ihm keine Geschwister hinterlassen hatten, die ihn hätten ernähren können, wechselten unsere Mütter sich ab, ihm Essen und Trinken unter den Mangobaum zu bringen. An manchen Tagen aß er das Essen und trank das Wasser; an anderen ließ er es stehen, bis die Fliegen es sich holten, die Ameisen hindurchmarschierten, die Ziegen aus Versehen die Schüsseln mit den Resten umstießen und unsere Mütter seufzend ihre Schüsseln einsammelten, nur um ihm das nächste Mal, wenn sie an der Reihe waren, wieder Essen zu bringen. Die meisten Tage saß er halb nackt unter dem Mangobaum, kratzte sich am ganzen Körper, der nur bei Regen mit Wasser in Berührung kam, und pulte sich große verkrustete Stücke aus der Nase. Hin und wieder sang er ein romantisches Lied, die Augen geschlossen, als hätte er früher einmal die Hauptrolle in einer großen Liebesgeschichte gespielt. Manchmal richtete er weise Worte an seine unsichtbaren Freunde oder schimpfte mit irgendwelchen Spinnern, die außer ihm keiner sah, die Arme wild fuchtelnd in der Luft, das Gesicht verzerrt, um laut auf irgendetwas hinzuweisen, das außer ihm keiner verstand. Er kam zu jeder Hochzeit und jeder Beerdigung, beobachtete das Treiben aus der Ferne, ohne je zu tanzen oder zu weinen, aber zu den Dorftreffen kam er nie. Wenn ein Treffen anstand, blieb er auf dem Schulhof, ohne Interesse an unserer misslichen Lage. Wir dachten, er wäre unfähig, wütend auf irgendwen zu sein, abgesehen von den Stimmen in seinem Kopf und dem Geist, der ihn zugrunde gerichtet hatte. Wir dachten, er bekäme von nichts und niemandem irgendwas mit, abgesehen von seinen unmittelbaren Bedürfnissen und den Phantomen, die ihn verfolgten.

An diesem Abend aber, mit dem Wagenschlüssel in der erhobenen Faust, sahen wir, dass er fähig war zu Wut auf Menschen, einer Wut, die sich zeigte, als er dem Anführer sagte, dass der Anführer ihm nichts könne.

 

 

Der Anführer, der es leid war, eine Menge anzuschreien, die nicht reagierte, unterbrach sein Fluchen und seufzte. Er schüttelte den Kopf. Offenbar verstand er allmählich, dass wir Konga den Schlüssel niemals abnehmen würden und dass er in einem dunklen Dorf, weit entfernt von der Pexton-Zentrale, nichts gegen einen Irren unternehmen konnte. Wir empfanden kein Mitleid mit ihm – wie auch, der Rausch beim Anblick seiner Verzweiflung nahm uns völlig ein. Konga, der neben ihm stand, sang jetzt und drehte sich im Kreis. Er winkte mit dem Schlüssel vor den Augen der drei Männer, trippelte so fröhlich herum wie ein Bräutigam an seinem Hochzeitstag, sagte immer wieder, dass die Männer die Nacht bei uns verbringen würden, viele Nächte vielleicht – oh, was für eine besondere Ehre.

Der Anführer winkte seine Männer heran und flüsterte ihnen ins Ohr. Der Runde und der Kranke nickten, als er sprach, alle drei blickten immer wieder zur Seite, während sie vermutlich an einer Strategie tüftelten, um an ihren Schlüssel zu kommen, einem Plan, der sie ohne größere Erniedrigung davonkommen ließe.

Offensichtlich zufrieden mit ihrem Plan und überzeugt von dessen Stärke, machten sie einen Schritt auf Konga zu, ohne zu ahnen, welcher Fluch sie und ihre Nachfahren bis in alle Ewigkeit gefangen halten würde. Wir beugten uns vor. Die Männer von Pexton taten noch zwei Schritte. Konga führte den Schlüssel zum Mund.

»Keinen Schritt weiter«, sagte er, »sonst schlucke ich ihn runter.«

Wir hielten den Atem an. Er würde es tun. Das wussten wir. Auch die Männer von Pexton müssen es verstanden haben, denn der Kranke taumelte, und das Gesicht des Runden wurde noch kugeliger, und plötzlich sahen sie alle aus wie Kinder in einem dunklen, bösen Wald.

Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf Woja Beki, der die Sprache wiedergefunden hatte und Konga beschwor, keine Schande über unser Dorf zu bringen. Eine halbe Ewigkeit flehte er ihn an, nannte ihn den Sohn des Leoparden, den Besitzer einer Stimme, melodischer als Musik, den Träger eines Strahlens, intensiver als das der Sonne. Er erinnerte Konga daran, wie sehr man ihn liebe, wie gesegnet wir uns durch ihn fühlten, welche Freude am Tag seiner Geburt in Kosawa geherrscht habe, welch …

Der Anführer schnitt ihm das Wort ab und herrschte ihn an, nicht solchen Unsinn zu reden; aus seiner Stimme war jegliche Höflichkeit gewichen. Sie klang schrill, als er mit Blick auf seine Lakaien, die noch immer bei jedem Wort nickten, schrie, dass das alles absurd sei, völlig absurd, woraufhin Konga erwiderte, der Anführer solle erst einmal klarstellen, was genauso absurd sei, und der Anführer antwortete, die Vorstellung, dass ein Irrer ihn, den ehrenwerten Herrn Vertreter von Pexton nicht nach Hause fahren lasse, sei die genaue Definition von absurd.

Konga bog sich vor Lachen. So hypnotisiert, wie wir waren, sah man in unseren Gesichtern nicht die kleinste Regung. Woja Beki riss uns aus dieser Trance, als er näher trat und mit zittriger Stimme fragte, ob wir weiter nur still dasitzen und zusehen wollten, wie Konga unsere Gäste beleidige – Gäste, die mehrere Stunden Fahrt auf sich genommen hätten, um uns zu versichern, dass unsere Sorgen bald ein Ende fänden.

Niemand antwortete ihm.

»Wenn unsere ehrenwerten Gäste morgen früh nicht in ihren Büros erscheinen«, fuhr Woja Beki fort, »kommen abends Soldaten, um sie zu suchen. Das wird nicht schön, wenn die Soldaten kommen, das verspreche ich euch. Sie werden uns nicht fragen, warum wir nichts getan haben, um Konga zu stoppen. Sie werden sich keine Gedanken darüber machen, dass Konga nicht zu kontrollieren ist. Sie werden uns einfach bestrafen. Sie werden uns niedermetzeln, jeden Einzelnen von uns.«

Wir schauten einander an.

»Glaubt ihr mir nicht?«, sprach Woja Beki weiter. »Hat uns nicht erst letzten Monat die Nachricht erreicht, dass Soldaten ein ganzes Dorf niedergebrannt haben, weil ein in Rage geratener Mann aus dem Dorf dem Steuereintreiber den Schädel gespalten hat? Wo sind die Bewohner dieses Dorfes heute? Sind sie nicht verstreut und schlafen in den Hütten ihrer Verwandten auf dem blanken Boden? Würden sie sagen, der Leichtsinn eines Mannes rechtfertigt, dass sie ihr Zuhause verloren haben? Und warum sollten die Soldaten nicht auch unser Dorf niederbrennen? In unserem Land gibt es Gesetze und Konsequenzen: Wir werden es teuer bezahlen, wenn wir unseren Freunden hier nicht den Respekt zollen, den sie verdienen. Ich flehe euch an: Lasst nicht zu, dass uns das Gleiche passiert. Bitte, lasst meine Worte nicht ungehört verhallen. Irre oder nicht, den Soldaten ist das egal. Sie werden uns mit ihren Kugeln durchlöchern, auch die allerkleinsten Kinder.«

Die Pexton-Männer nickten, offenbar zur Warnung, dass es genauso käme.

Als uns dämmerte, welches Schicksal uns bevorstand, hätten wir mit unserem gesammelten Schweiß einen ausgetrockneten Brunnen füllen können. Wir wussten, was Waffen anrichten konnten, aber wir hatten nie in Betracht gezogen, durch Kugeln zu sterben.

Einer unserer Großväter stand auf und richtete das Wort an Konga, der grinsend die Hüften wiegte. »Bitte«, sagte er, »wir wollen keine Soldaten im Dorf. Bitte, Konga Wanjika, Sohn von Bantu Wanjika, ich flehe dich an, gib diesen Männern ihren Schlüssel. Dein Vater war mein Cousin zweiten Grades, und ich spreche zu dir in seinem Namen. Bring nicht noch mehr Leid über uns. Lass den Schlüssel fallen, ich hebe ihn auf und reiche ihn weiter. Hol ihren Fahrer her, ganz egal, wo du ihn versteckst. Und dann wollen wir uns eine gute Nacht wünschen und nach Hause gehen.«

Wir dachten, Konga würde den Rat eines vom Alter erleuchteten Mannes annehmen, der schon ein langes Leben hinter sich hatte und zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden wusste. Wir dachten, unser Dorfirrer würde sich daran erinnern, dass es unsere Pflicht war, den Ältesten zu gehorchen und die Worte der Weisen zu achten, eine Lektion, die wir von klein auf lernen. In unserer Wolke der Verblüffung vergaßen wir, dass sein verlustig gegangener Verstand auch sämtliche Lektionen mit sich gerissen hatte, von diesem rachsüchtigen Geist zersetzt und ihm zu den Ohren hinausgezogen. Wir vergaßen, dass er jetzt mehr wie ein Neugeborenes als ein Erwachsener war, ohne ein Bewusstsein für Zeit, ohne ein Bewusstsein für die Vergangenheit und die Zukunft, lediglich in Besitz eines vagen Bewusstseins für die Welt der Geister, der wir alle entstammen und zu der wir zurückkehren würden. Wir wurden daran erinnert, dass er definitiv nicht bei Verstand war, als er den Schlüssel zurück in die Hose schob und lachte.

 

 

»Gib ihnen den Schlüssel«, schrie eine unserer Mütter. Alle anderen Mütter stimmten mit ein. »Bitte«, sagten sie, »wir wollen nicht, dass die Soldaten kommen. Wir flehen dich an.«

»Wollt ihr nur dasitzen und zusehen, wie ein Irrer Schrecken über eure Familien bringt?«, sagte der Anführer zu unseren Vätern und Großvätern in den ersten Reihen und schaute von einem zum nächsten. »Seid ihr bereit, seinetwegen zu sterben?«

Gut möglich, dass die Soldaten schon auf dem Weg nach Kosawa seien, sagte er wiederholt. Wir sollten seine Worte als letzte Aufforderung begreifen, dem Irren sofort den Schlüssel abzunehmen, andernfalls stünde uns ein blutiges Gemetzel bevor.

Unser angsterfülltes Gemurmel wurde immer lauter. Wir sahen deutlich, was vor uns lag. Wir sahen unser Dorf ausgelöscht, vergiftet und hingerichtet. Wir sahen in Konga unseren Untergang.

Wir wollten nichts zu tun haben mit seinem Irrsinn.

Der Anführer zeigte auf unsere jungen Männer in den hinteren Reihen und bat vier Freiwillige nach vorn, vier starke junge Männer, die Konga den Schlüssel abnehmen würden.

Keiner trat nach vorn. Wir wollten ein Blutbad vermeiden, aber dafür einen Irren berühren? Woja Beki trat dicht an den Anführer heran und flüsterte ihm ins Ohr.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte der Anführer, dem eine Mischung aus Schrecken, Mitleid und Abscheu ins Gesicht geschrieben stand. Woja Beki schüttelte den Kopf. Der Anführer schaute uns an, als hätte man ihm gerade verraten, dass wir aus einem anderen Königreich kämen, einem Königreich mit Gesetzen, die nicht das Geringste mit denen der normalen Menschen zu tun hätten. »Wie könnt ihr so etwas glauben?«, rief er mit in die Luft gerissenen Armen. »Man stirbt nicht, wenn man einen Irren berührt. Das hat es noch nie gegeben, niemals. Versteht ihr?«

Aber wie sollten ihm Gesetze heilig sein, die man ihm nicht ins Herz gebrannt hatte?

»Beschafft mir sofort den Schlüssel«, sagte er entschieden, »oder ihr alle werdet es morgen bereuen.«

Woja Beki holte tief Luft. Er schaute zu unseren jungen Männern im hinteren Bereich und sagte mit einer Stimme, die klang, als habe er sie geliehen und müsse sie nun sorgsam behandeln, um sie auch ja nicht beschädigt zurückzugeben, die Zukunft Kosawas laste nun auf ihnen.

»Eure Väter können nicht kämpfen«, sagte er. »Eure Mütter sind alt, eure Ehefrauen sind Frauen, eure Kinder sind schwach. Wenn ihr nicht tut, was Recht ist, wer dann? Ich verspreche euch, wenn ihr weiter nur rumsteht und zulasst, dass Konga uns Leid zufügt, wird der Wind bald Lieder über ein Dorf singen, das vernichtet wurde, weil seine jungen Männer Feiglinge waren.«

Einer der jungen Männer trat nach vorn. Mit einer Stimme so zittrig wie Woja Bekis bot er seine Hilfe an. Seine Frau schrie auf, flehte ihn an, es nicht zu tun. Auch seine Mutter flehte mit brüchiger Stimme. Sein Vater wandte sich ab.

Woja Beki nickte und schickte ihm ein zaghaftes Lächeln, ein Zeichen der Dankbarkeit.

Drei weitere Männer traten vor. Wir machen es, sagten sie.

Macht es nicht, schrien Stimmen über den Platz. Macht es, riefen andere. Wollt ihr, dass sie und ihre Nachfahren auf ewig verflucht sind?, riefen die Gegner, von denen sich viele erhoben. Wollt ihr, dass wir alle morgen früh getötet werden?, antworteten die Befürworter genauso aufgebracht. Es muss eine andere Lösung geben. Es gibt keine andere Lösung.

Der Streit war in vollem Gange. Laut und erbittert und schrill.

Wenn wir uns heute gegen sie erheben, haben wir die Chance, wieder frei zu sein, sagten die einen. Wenn wir so zu Freiheit gelangen, werden wir dafür sterben, sagten die anderen. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir auch Menschen sind. Die Soldaten werden uns erschießen. Der große Geist will uns über Konga ausrichten, dass wir kämpfen können und kämpfen sollen. Kämpfen? Womit denn? Na, mit dem, was wir haben. Was haben wir denn außer Speere? Wir haben Macheten und Steine und Kessel mit heißem Wasser. Wie könnt ihr ernsthaft glauben, wir hätten auch nur die geringste Chance? Konga hat uns gezeigt, dass wir sehr wohl eine Chance haben. Konga ist irre. Vielleicht täte uns ein wenig von seinem Irrsinn gut. Wie könnt ihr so etwas sagen? Wir waren einmal ein mutiges Volk, das Blut des Leoparden fließt in unseren Adern. Wann haben wir das aus den Augen verloren? Morgen werden wir alle sterben. Wollt ihr das?

Alle standen und schrien durcheinander; keiner hörte zu. Konga und der Anführer erhoben die Faust. Die vier jungen Männer standen zwischen ihnen, nicht sicher, auf wessen Seite sie waren. Wir Kinder weinten fast alle, doch in dem Chaos, das unser Leben nun war, gingen die traurigen Laute unter. Manche von uns hatten Angst, der Tod käme am nächsten Tag, manche hatten Angst, die Krankheit brächte den Tod im nächsten Monat.

Wir alle kannten die Wahrheit: Der Tod war nah.

 

 

Als wir schon glaubten, das Treffen würde niemals enden, erhob sich Lusaka, der Vater unseres verstorbenen Freundes Wambi, und ging nach vorn. Er klatschte in die Hände, um für Ruhe zu sorgen. Das Stimmengewirr nahm ab, und er klatschte weiter, bis sich alle gesetzt hatten und schwiegen.

Er war einer der friedvollsten Männer in Kosawa und ergriff selten das Wort; wenn er es tat, hörten alle zu. Durch den Verlust seiner Söhne wirkte er geschrumpft, kleiner als früher, aber seine Weisheit war offenbar gewachsen.

»Wir kommen heute nicht zu einer Einigung«, sagte er und entlockte allen, abgesehen von wenigen Müttern und Vätern, Großmüttern und Großvätern, zustimmendes Gemurmel. »Ich möchte euch einen Vorschlag unterbreiten, damit wir den Streit fürs Erste beenden. Erlaubt mir, dass ich diese Männer mit zu mir nach Hause nehme, und erlaubt Konga, dass er mit ihrem Fahrer und ihrem Schlüssel macht, was er will. Ich werde ihnen ein Bett geben, und meine Frau gibt ihnen morgen früh zu essen. Wenn sie gegessen haben, werde ich ihnen die Gräber meiner Söhne zeigen, die an dem Gift von Pexton gestorben sind. Ich werde ihnen das Grab von jedem Kind zeigen, das wir beerdigt haben, und sie werden die Gräber zählen, damit sie die genaue Zahl kennen und sie nie vergessen. Dann werden wir sie als Gefangene hierbehalten, und ich werde sie bewachen, bis ihre Chefs aufhören, uns zu töten.«

»Gefangene?«, sagte der Anführer. »Für wen hältst du dich, dass du uns …«

»Wie kommst du darauf, dass Pexton uns in Ruhe lässt, wenn wir seine Männer gefangen nehmen?«, schrie einer unserer Väter.

»Und wie lange sollen wir sie bitte schön gefangen halten?«, meinte ein anderer.

»Du bist kränker im Kopf als Konga, wenn du glaubst, wir könnten die Leute in Bézam irgendwie steuern.«

Der Tumult setzte wieder ein. Alle redeten durcheinander, keiner hörte zu. Die Männer von Pexton und Woja Beki schauten uns an, als hätten wir völlig den Verstand verloren. Mehrere unserer Großväter standen auf, um Lusaka zu tadeln: Wie könne er nur so naiv sein und glauben, Pexton würde sich unseren Drohungen und Forderungen beugen? Was ließe ihn glauben, es würde sie interessieren? Und was würden wir tun, wenn am morgigen Tag die Soldaten kämen, mit genug Kugeln für jedes lebende Wesen in Kosawa?

»Wenn die Soldaten kommen«, sagte Lusaka, »sagen wir ihnen, wenn sie auch nur einen von uns töten, töten wir diese Männer hier.«

»Und was, wenn es ihnen egal ist?«, rief eine Mutter. »Wenn sie zulassen, dass wir die Männer töten, und sie dann uns töten? Interessiert es Pexton, ob diese Männer leben oder sterben?«

»Oh ja«, antwortete Konga, der mit seiner donnernden Stimme alle zum Schweigen brachte. »Pexton lässt niemals zu, dass seinen Männern was passiert, denn Pexton liebt seine Männer.«

Die meisten unserer Großväter nickten zustimmend, als hätten sie Beweise dafür gesehen.

Wir glaubten es auch, denn jetzt war offensichtlich, dass der große Geist Besitz von Konga ergriffen hatte. Da er irre geworden war und sämtliches Wissen über die jüngste und ferne Vergangenheit verloren hatte, konnte er nicht wissen, was Pexton für seine Männer empfand, darum musste es der große Geist sein, der durch ihn sprach. Daran zweifelten wir keine Sekunde. Der große Geist war unter uns, und er forderte uns auf, mutig zu sein. Jene von uns, die geweint hatten, wischten sich die Tränen von den Wangen. Unsere Väter und Mütter tuschelten miteinander, nickten und seufzten erleichtert.

Lusaka klatschte erneut in die Hände, um alle zum Schweigen zu bringen. »Es ist ganz einfach«, sagte er matt. »Wenn Pexton nicht aufhört, unsere Kinder zu töten, dann töte ich diese drei Kinder von Pexton mit bloßen Händen.«

Niemand auf dem Platz gab einen Laut von sich.

Lusaka wünschte allen Gute Nacht und machte sich auf den Weg zu seiner Hütte.

Konga befahl den vier jungen Männern, sich die Pexton-Männer und Woja Beki zu schnappen und Lusaka zu folgen. »Wagt es ja nicht, mich anzufassen«, sagte der Anführer. Die jungen Männer aber wagten es.

Jeder packte einen der Männer, jeder der Männer wehrte sich auf seine Art: der Anführer schlug wild um sich, seine Lakaien traten und boxten in die Luft. Woja Beki fuchtelte mit dem Finger und herrschte die jungen Männer mit gefletschten Zähnen an, sofort loszulassen, erinnerte sie, dass er ihr Anführer sei, das Blut des Leoparden in ihm am dicksten fließe, er die Befehle gebe und sie das besser nicht vergessen sollten. Konga bat um Verstärkung, er brauche vier weitere Männer. Acht eilten nach vorn, unter ihnen der Onkel unserer Freundin Thula – ein junger Mann namens Bongo, dessen Eifer, unserem Leid ein Ende zu bereiten, jeden von uns beeindruckte, da er selbst noch gar keine Kinder hatte. Jetzt, wo es die Gefangenen mit zwölf Männern zu tun bekamen, kämpften sie weniger und fluchten mehr. Ihre Stimmen wurden leiser. Das Wimmern der Frauen und Kinder von Woja Beki war nun hörbar. Zwei seiner Kinder gingen in unsere Klasse. Wir machten keine Anstalten, sie zu trösten; wir mochten sie schon seit Langem nicht mehr.

Konga dankte uns für unser Kommen und teilte uns mit, dass das Treffen offiziell beendet sei. Er wünschte uns Gute Nacht. »Morgen«, sagte er, »wird alles anders.«

 

 

Manche von uns gingen ängstlich nach Hause. Manche von uns schwebten, glücklich und leicht. Unsere Freundin Thula, die an ihren verschwundenen und wahrscheinlich toten Vater dachte, ging mit gesenktem Kopf, ihren kleinen Bruder Juba an der Hand, ein Kind, das an dem Gift von Pexton gestorben und durch die Gnade des großen Geistes wieder lebendig geworden war. Hinter ihnen, mit langsamen Schritten, gingen ihre Mutter und die Mutter ihres Vaters, die sicher hofften, bald Antworten zum Verbleib ihres Mannes und Sohnes zu erhalten. Wie jede andere Familie in Kosawa auch, wünschten sich die Nangis endlich Erlösung von ihrem Schmerz. An diesem Abend waren wir alle trotz unserer Angst voller Hoffnung.

Morgen kommen die Soldaten, und vielleicht sind wir bei Sonnenuntergang tot.

Morgen gibt sich Pexton geschlagen, und wir dürfen leben bis ins hohe Alter.

Wir versuchten, nicht über unsere Zukunft nachzudenken. Wir wollten an diesem Abend festhalten, solange wir konnten, uns diesen Optimismus bewahren, der plötzlich über uns gekommen war, dieses leise Versprechen eines Triumphs. Wir wollten von demselben Wahn ergriffen sein wie Konga und die flüchtige Ekstase der Furchtlosigkeit genießen, in freudiger Erwartung unseres Lebens als Eroberer.

Sie hatten vorzeitig ihren Sieg über uns verkündet. An diesem Abend erklärten wir ihnen den Krieg, und am Morgen darauf erwarteten wir ihre Ankunft.

Sie hätten wissen müssen, dass man uns nicht leicht besiegt.

Inhaltsverzeichnis

Thula

Die Hütte ist warm, aber ich klappere mit den Zähnen. Meine Gedanken winden sich, zwingen mich zu der Vorstellung, wie eine Kugel mir den Bauch aufreißt und das Blut rausschießt. Wie viele Kugeln bräuchte es wohl, um mich zu töten? Wie würde ich als Leiche aussehen? Mein Leben lang war der Tod zugegen, und trotzdem macht er mir Angst. Das Unerklärliche an ihm beunruhigt mich. Wie jemand da sein und nicht da sein kann, noch Teil unserer Welt, aber schon woanders, mit einer für Frischluft unzugänglichen Nase, mit für immer geschlossenen Augen, einem auf ewig versiegelten Mund, ein Mensch, aber nur ein Ding. Ich hasse diese Welt, aber ich möchte sie auch nicht vorzeitig verlassen. Ich möchte lange leben, möchte sehen, was das Leben mir nach einer verkorksten Kindheit bietet, aber ich weiß, dass der Tod danach giert, mich zu holen. Die Reise, die Papa und mich wieder vereint, beginnt vielleicht schon morgen. Das eine Mal, nach der Beerdigung einer meiner Freundinnen, fragte ich Papa nach dem Übergang von dieser in die nächste Welt, wie einsam und gefährlich er sei, und Papa sagte, der Übergang sei bei jedem anders, je nachdem, was für ein Leben man geführt habe; Worte, die mich nicht trösteten. »Du stirbst noch ganz lange nicht, Thula«, sagte Papa. Eine Lüge, das wussten wir beide. Denn wer kann einem anderen Menschen versprechen, dass er lange lebt?

 

 

Mama bindet das Seil fest, das unsere Eingangstür geschlossen hält. Ihre Hände zittern, als sie einen Knoten nach dem anderen macht, anscheinend überzeugt, dass eine fest verschlossene Bambustür das Eindringen der Soldaten verhindert. Sie beeilt sich, um das Gleiche mit der Hintertür zu machen. Juba und ich sitzen mit unserer Yaya, im Wohnzimmer; Juba auf ihrem Schoß, ich auf dem Hocker neben ihr. Mit der einen Hand streicht sie Juba über den Kopf, mit der anderen umfasst sie meine Schulter. Abgesehen von den Geräuschen, die Mamas Anstrengungen machen, ist es still in unserer Hütte. In ganz Kosawa ist es still.

»Kommt, ihr Lieben«, sagt Yaya liebevoll, »gehen wir schlafen. Wir müssen uns ausruhen für das, was der Tag morgen bringt.« Derart in Ruhe gehüllt, habe ich sie nicht mehr erlebt, seit Papa fort ist. »Wenn irgendwer kommt, um uns irgendwas zu nehmen, geben wir es her, selbst wenn es unser Leben ist.«

»Bongo und alle anderen Männer schärfen gerade ihre Macheten«, sagt Mama, als sie wieder ins Wohnzimmer tritt. Ihre Stimme bebt. »Wenn diese Soldaten glauben, sie könnten einfach kommen und …«

»Aber Mama, die Soldaten haben Waffen«, sage ich und kämpfe mit den Tränen. Bevor Papa uns verließ, ermahnte er mich, nur zu weinen, wenn es gar nicht anders gehe. »Wie helfen uns da Macheten?«

»Jakani und Sakani machen das schon«, erwidert Mama.

Ich stelle keine weiteren Fragen. Die Zwillinge – unser Dorfmedium und unser Medizinmann – können Sachen, die sind einfach unglaublich. Sie sind jenseits von normal, aber sie sind sterblich; auch auf sie wartet der Tod.

»Heute schlafen wir alle bei mir im Zimmer«, sagt Yaya, die in die Ferne starrt. »Wir träumen den gleichen Traum, vielleicht einen Traum, in dem wir Papa und Big Papa sehen.«

Wieder schweigen wir, lauschen der Stille draußen. Yaya steht als Erste auf, stützt sich auf ihren Stock. Juba und ich folgen ihr. Ohne uns den Mund auszuspülen oder die Schlafsachen anzuziehen, legen wir uns zu ihr, einer rechts und einer links. Mama schläft auf dem Boden, hat niemanden neben sich, der sie tröstet, jetzt, wo Papa fort ist und die Tradition es ihr verbietet, je wieder das Bett mit einem Mann zu teilen. Juba und Yaya gleiten in den Schlaf – ihr Atmen geht in leichtes Schnarchen über –, aber Mama und ich werden sicher wie fast alle in Kosawa die ganze Nacht wach liegen; echten Frieden schenkt das Leben nur den ganz Jungen und den ganz Alten. Meine Gedanken lassen sich nicht aufhalten, sie spulen vor zu dem Moment, wenn die Soldaten Mama und Yaya und Juba vor mir töten. Wie lange werde ich wohl in der Luft hängen zwischen dieser und der nächsten Welt, bevor ich mich inmitten meiner Verwandten wiederfinde, die mich hoffentlich willkommen heißen und mir beibringen werden, in ihrer Welt zu Hause zu sein. Mögen sie mir helfen, die wenigen guten Sachen dieser Welt zu vergessen. Vielleicht wird es ganz leicht, mich an das Land jenseits aller Vorstellungen zu gewöhnen. Papa und Big Papa sind schon da, Mama, Yaya, Juba und Bongo werden mich dorthin begleiten. Wir werden wieder zusammen sein, aber zuerst müssen wir sterben.

–––––

Mamas und Papas Ermahnung, nie auch nur in die Nähe des großen Flusses zu gehen, ist meine allererste Erinnerung. Wie hätte ich ohne ihre Warnung wissen können, dass Flüsse normalerweise nicht mit Öl und Giftmüll überzogen sind? Wie hätten meine Freunde und ich ohne unsere Eltern und ihre Geschichten von einem sauberen Kosawa und dem Schwimmen in sauberen Flüssen wissen sollen, dass der gelegentliche Rauch, der das Dorf einhüllte und unsere Augen und Nasen reizte, nicht zum normalen Alltag anderer Kinder unseres Alters gehört?

In dem Jahr, in dem meine Freunde und ich geboren wurden, manche schon an den Brüsten unserer Mütter lagen, während wir anderen die letzten Tage im Land der Ungeborenen verbrachten, explodierte in Gardens ein Bohrloch. Unsere Eltern und Großeltern erzählten uns, die Explosion habe Rohöl- und Rauchsäulen in die Luft geschickt, die höher gewesen seien als Bäume. Die Luft habe sich mit Ruß gefüllt, ein Anblick, den jeder für ein Omen gehalten hätte, wo man etwas Derartiges doch noch nie erlebt hatte. In unserem sechsten Lebensjahr aber, nachdem unsere Eltern zu spüren bekommen hatten, welchen Fluch das Leben auf einem Stück Land bedeutet, unter dem es Öl gab, begriffen sie, dass sie an jenem Tag kein Omen gesehen hatten, sondern die Folgen eines kaputten Bohrlochkopfs, der längst hätte ausgetauscht werden müssen, nur dass Pexton keinen Grund dazu hatte, wo doch vor allem wir den Preis für ihre Nachlässigkeit zahlten.

–––––

Eines Abends, ich bin fünf, frage ich Papa, während er und ich auf der Veranda sitzen, warum die Ölfelder und die Unterkünfte für die Pexton-Arbeiter ringsherum Gardens heißen, obwohl es dort keine einzige Blume gibt. Papa lacht, denkt eine Weile nach und sagt, na ja, Gardens sei eine andere Art von Garten, Pexton sei eine andere Art von Gärtner; seine Blume sei das Öl. Ich frage Papa, ob die Pipelines, die in Gardens ihren Anfang haben, irgendwo zu Ende sind – die scheinen ewig lang zu sein, um unser Dorf herumzugehen und über den großen Fluss, durch unsere Felder hindurch und tief in den Wald hinein, das Ende nirgendwo in Sicht. Papa erzählt mir, alles, was einen Anfang habe, habe auch ein Ende. Im Fall der Pipelines befände sich der Anfang an den Ölquellen und das Ende in einer fernen Kleinstadt, viele Busstunden weit weg, einer Kleinstadt am Meer. Dort, sagt Papa, käme das Öl in Container und würde nach Übersee gebracht, an diesen Ort namens Amerika.

Ich stelle Papa Fragen über Amerika, ob es so viele Einwohner habe wie Kosawa, und er erzählt mir, wenn er sich recht an seine Schulzeit erinnere, gebe es in Amerika ungefähr siebentausend Einwohner, die meisten davon hochgewachsene Männer; der Aufseher in Gardens käme von dort. Der Aufseher und seine Freunde seien nach Kosawa gekommen, um Öl zu beschaffen, damit ihre anderen Freunde in Amerika Öl für ihre Autos hätten. In Amerika besitze jeder ein Auto, sagt Papa, weil die Stunden dort so schnell verstreichen würden, dass die Leute Autos bräuchten, um schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen und alles zu erledigen, bevor die Sonne untergehe. Ich frage ihn, ob ich irgendwann auch ein Auto haben und etwas von unserem Öl benutzen dürfe. Da grinst Papa und sagt, natürlich kannst du ein Auto haben, warum nicht? Aber achte darauf, dass du ein großes kaufst, damit du mich zum Jagen fahren kannst und ich nicht jedes Mal zu Fuß zum Wald gehen muss; dann kann ich meine Beine schonen. Da ich Pexton hasse, sage ich, dass ich ihr Öl nicht in meinem Auto haben wolle, ich also ein Auto kaufen müsse, das kein Öl brauche. Papa sagt, jedes Auto brauche Öl, aber ich beharre darauf, dass mein Auto anders wäre. Papa kichert bei der Vorstellung. Dann fängt er an zu lachen. Er lacht so doll, dass ich auch lachen muss, denn die Freude in seinen Augen kitzelt mein Herz.

–––––

Wo ist Papa? Was haben sie in Bézam mit ihm gemacht? Besteht die Chance, dass er noch lebt?

Anfangs, als er nicht von seiner Mission zurückkehrte, malte ich mir aus, wie ich irgendwann mit ersten grauen Haaren und allmählich schwindender Kraft auf der Veranda sitzen und noch immer auf meinen Papa warten würde, darauf warten, dass ein alter Mann auftauchen und sagen würde: »Thula, ich bin’s, dein Vater, Malabo Nangi. Ich bin zurückgekommen, damit wir wieder auf der Veranda sitzen und reden und lachen können.« Was werde ich zu diesem alten Mann sagen? Was könnte den Verlust meines engsten Freundes je wiedergutmachen, meines geliebten Papas, so ganz anders als alle anderen Papas in Kosawa? Ein Papa, der abends mit seiner Tochter zusammensaß und die Sterne zählte, der mit ihr darüber nachdachte, ob Grashalme in der Angst leben, eines Tages niedergetrampelt zu werden, der ihr einschärfte, später nie zu vergessen, wie es sich angefühlt habe, ein Kind zu sein, schutzbedürftig und klein. Viel von dem Leid in der Welt entstehe durch jene, die vergessen hätten, dass auch sie einmal Kinder waren.

 

 

Papa wollte viele Kinder, aber er bekam nur Juba und mich.