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Beschreibung

Der pensionierte Kommissar Vitus Pangratz ist nachts im Wald auf Foto-Pirsch. Denn er hat einen Plan. Er will im Ruhestand ganz groß rauskommen als Naturfotograf mit dem Fotokalender „Die Wildsau bei Nacht“. Doch dann gerät er im Wald ins Stolpern – über eine angenagte Hand! Die gehört eigentlich zum seit geraumer Zeit verschwundenen örtlichen Jugendfußballtrainer. Pangratz lässt seine Pensionärs-Pläne fallen und nimmt sich lieber der Sache an. Gemeinsam mit seiner Tochter Johanna „Jo“ Coleman, einer Lokalreporterin, die ihrer Karriere einen Schubs verleihen will, begibt er sich auf Spurensuche. Bald steht die ganze Kleinstadt Kopf.

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Zum Buch

Der pensionierte Kommissar Vitus Pangratz ist nachts im Wald auf Fotopirsch. Denn er hat einen Plan. Er will im Ruhestand ganz groß rauskommen als Naturfotograf mit dem Fotokalender »Die Wildsau bei Nacht«. Doch dann gerät er im Wald ins Stolpern – über eine angenagte Hand! Die gehört eigentlich zum seit geraumer Zeit verschwundenen örtlichen Jugend-Fußballtrainer Tiger Wild. Pangratz lässt seine Pensionärspläne fallen und nimmt sich lieber der Sache an. Gemeinsam mit seiner Tochter Johanna »Jo« Coleman, einer Lokalreporterin, die ihrer Karriere einen Schubs verleihen will, begibt er sich auf Spurensuche. Bald steht die sonst so beschauliche Kleinstadt kopf.

Zur Autorin

Hinter dem Pseudonym ALMA BAYER verbirgt sich eine Autorin aus Oberbayern, die seit 15 Jahren als Journalistin tätig ist.

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Copyright © 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Covermotiv: © shutterstock/Iakov Kalinin; chrisbrignell; Eric Isselee; auphoto Satz: Uhl + Massopust, Aalen SL · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-18240-3V003
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Der Ehering saß fest. Noch einmal versuchte sie, das zerkratzte Symbol ewiger Treue über Marius’ kräftiges Fingergelenk zu ziehen. Er ließ es mit derselben kühlen Ruhe geschehen, mit der er seit jeher auf Probleme reagiert hatte. »Jetzt sei halt ein bisserl kooperativ, Tiger«, bat sie ihn, ohne wirklich eine Reaktion zu erwarten. Mitgefühl und Leidenschaft packten diesen Kerl nur am Rande des Fußballfeldes, wenn seine Jungs um den Sieg kämpften und er sich hinterher als Erfolgstrainer feiern lassen konnte. Marius »Tiger« Wild war im regionalen Fußball eine Größe. Er entfaltete Talente oder faltete sie so zusammen, bis sie nicht mehr wussten, dass das Runde ins Eckige gehörte. Ob ein Junge jemals die Chance bekommen würde, in der Bundesliga zu spielen, entschied sich bereits im Grundschulalter. In den frühen Jahren, in denen Jugendtrainer wie Marius »Tiger« Wild ihre Macht ausübten. »Vorbei, Tiger, vorbei«, sagte sie und mühte sich weiter, den Ehering über seinen Finger zu ziehen. Doch selbst in seinem erbärmlichen Zustand wollte er die Situation bestimmen. Wenn auch nichts anderes mehr von ihm übrig war als seine kräftige Hand und der Ehering, den ihm Sabrina vor Jahren in der Rosenheimer Kirche Heilig Blut an den Finger gesteckt hatte.

Genervt verdrehte sie die Augen und holte einen Tiegel Vaseline aus dem Hängeschrank. Das Mittel hatte ihnen schon oft gute Dienste geleistet. Billiger als Gleitcreme war es obendrein und an der Kasse des Drogeriemarkts weniger peinlich. »Zwischen uns lief es doch wie geschmiert«, erinnerte sie ihn an die guten alten Zeiten, als er noch durch ihre Mitte kam. In der Damentoilette des Sportstadions, auf dem Beifahrersitz seines Angeberautos und in ihrem Ehebett. Jetzt nur nicht wehmütig werden!

Sie nahm seine Hand wieder in die ihre und massierte ihm beinahe zärtlich das Gleitmittel auf den rechten Ringfinger, während der bis dahin freundliche Sommertag hinter dem Milchglas des Badezimmerfensters seine Frische aushauchte. Es wurde Abend, und ihre Nachbarn heizten den Grill an. Sie hatte die Einladung wieder einmal abgelehnt. In den vergangenen Wochen war ihr nicht mehr so nach Fleisch. »Außerdem ist mir unser letztes Rendezvous wichtiger«, sagte sie zu Tigers Hand und versuchte noch einmal ihr Glück. Doch sosehr sie auch zog, der Ring saß fest. Sie hätte es mit Spucke versuchen sollen und seinen Finger in den Mund nehmen, wie früher, wenn sie ihn mit ihrer Zunge einstimmen wollte, aber ihr grauste vor der Vaseline auf seiner kalten Haut. Obendrein hatte sie genug von seinen Sperenzchen. »Jetzt gib das Ding schon her! Hältst doch eh nichts von Treue.« Ihr bayrischer Dialekt hallte zwischen den blassblauen Fliesen.

Endlich glitt das Schmuckstück auf der Vaselinespur über seinen kräftigen Knorpel zu ihr. Nur kurz huschte ihr Blick über die Gravur auf der Innenseite, bevor sie den Ehering auf das rosa Kunstfaserkleid des Toilettendeckels legte. Ein paar Gramm Gold waren schließlich auch etwas wert, mindestens ein Paar Fußballschuhe in Kindergröße. Vielleicht sogar das Modell Adizero F50, in dem Thomas Müller Weltmeister wurde. Tiger hatte sie auch getragen. Mit einem tiefen Seufzer drückte sie seine rechte Hand zum Abschied, packte sie in einen 3-Liter-Gefrierbeutel und legte sie zurück in die kleine geblümte Kühltasche. Sie vermied es, die Stelle zu berühren, an der die Hand vom Körper getrennt worden war. »Servus, Tiger!« Sie schloss den Deckel mit dem Reißverschluss. Es war höchste Zeit. Der Wildpark würde gleich schließen, und die Schweine waren bestimmt schon hungrig.

Alois Steimer lag in seinem Bett und ging gedanklich noch einmal die Aufstellung für den nächsten Tag durch: Spieler, Positionen, Strategie. Fußball war Kopfsache. Seine dunklen Brusthaare kräuselten sich am oberen Rand einer neuen Bettwäsche, auf der eigenartige Blüten in Pastelltönen schwammen. »Lotos auf Mako-Satin, ganz edle ägyptische Baumwolle«, informierte ihn Uschi-Muschi, die er leider nicht mehr so nennen durfte, verklemmt wie sie war. Dabei liebkoste selbst der ehemalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber seine Gattin Karin mit dem Spitznamen »Muschi«. Und beschwerte die sich darüber? Na also! Alois hatte es nicht so gut getroffen wie Edmund. Seine Uschi war undankbar, wartungsintensiv und wollte andauernd reden. Angeblich, weil sie ihm »nah sein wollte«. In Wahrheit wollte sie ihn nur aushorchen und belehren. Schon war es wieder so weit. Sie legte ihren Krimi auf dem Blumenmeer ab und erklärte mit bedeutungsschwangerem Unterton: »Auf den Lotos kommt es an. Lotosblüten gelten in Asien als Sinnbild einer guten Ehe. Verstehst, was ich meine?« »Ich glaub schon«, murmelte er und griff sich den Spielplan vom Nachttisch. Er hatte weder Lust noch Zeit für Beziehungsgespräche. Morgen stand das Testspiel für den entscheidenden Chiemgau-Cup an. Seine Jungs mussten glänzen, besonders Adrian, denn selbstverständlich hatte er seinem Sohn eine Schlüsselrolle zugedacht. Als Stürmer und Spielführer sollte der Bursche endlich zeigen, dass er das Talent seines Vaters geerbt hatte. Ein stolzes Lächeln hob Steimers Mundwinkel. Leider bezog Uschi diese Regung auf sich, weil sie alles auf sich bezog. Erfreut meinte sie: »Mei! Endlich schaust einmal nicht genervt, wenn ich mit dir reden will.«

»Vielleicht liegt’s am Lotos.« Er zog die Bettdecke höher. Am liebsten hätte er sich darunter verkrochen, um Uschi weder hören noch sehen zu müssen, doch seine einzige Chance war ein Ablenkungsmanöver. Er musste ein anderes Thema setzen. Wenn schon reden, dann über etwas, das ihm wichtig war.

»Uschi, der Adrian braucht dringend unsere Unterstützung.«

Alois war bereit, alles für die Karriere seines Sohnes zu tun, und für seine eigene. Nebenbei wollte er beweisen, dass die Fußstapfen vom sogenannten »Erfolgscoach« Tiger Wild nicht zu groß für ihn waren, auch wenn es beim 1. FC Rosenheim ahnungslose Menschen gab, die hinter seinem breiten Rücken behaupteten, er wäre nur ein Lückenfüller – mehr schlecht als recht.

Uschi gähnte. »Nicht schon wieder diese langweilige Fußballscheiße! Alois, wir müssen an unserer Beziehung arbeiten.«

»So redest du über meine Leidenschaft und die Zukunft unseres Sohnes? Alles klar.« Beleidigt drehte er sich zur Seite und bedauerte, dass Uschi-Muschi so gar nichts von den überambitionierten Fußballmüttern hatte, die ihren Sprösslingen die Haare aufstellten, wie es Shootingstar Joshua Kimmich vorgab. Selbst zum Training erschienen die Knirpse inzwischen mit Gel und Spray am Kopf. Natürlich hatte er auch seinen Hoffnungsträger Adrian optisch aufgerüstet. Alois’ Sohn trug inzwischen einen Irokesenschnitt wie der Bayern-Spieler Arturo Vidal. Wegen der Unverwechselbarkeit auf dem Fußballfeld und dem frühen Markenaufbau hatte Alois diesen Style für ihn ausgesucht. Er verstand etwas vom Verkauf, schließlich arbeitete er als selbstständiger Versicherungsvertreter. Als der Klügere von beiden gab er nach und wandte sich wieder Uschi zu.

»Schatzi, du kennst doch die Geschichte vom Ødegaard.« Sie seufzte gelangweilt, aber er erzählte ihr trotzdem wieder von dem Norweger, der nichts dem Zufall überlassen hatte und seinen Sohn Martin Laufwege üben ließ, bis er sie blind beherrschte, und seine räumliche Wahrnehmung trainierte, bis der Junge fast instinktiv jede Bewegung hinter seinem Rücken spürte. Das Ergebnis war beeindruckend: Mit 15 Jahren spielte Martin Ødegaard zum ersten Mal in der norwegischen Nationalmannschaft, als jüngster Nationalspieler aller Zeiten. Von da an wollten ihn alle haben. Die größten europäischen Fußballclubs boten für das Ausnahmetalent, und Real Madrid bekam den Zuschlag. Für Millionen wechselte Martin Ødegaard nach Spanien. Der FC Bayern ging leer aus – im Gegensatz zu Ødegaards Vater, der jetzt auch auf der Gehaltsliste der Spanier stand. Genau so und nicht anders stellte sich Alois Steimer seine Zukunft vor. Nur nicht in Spanien, sondern in Bayern. Adrian würde es nach München schaffen, zum Rekordmeister. Leise begann Alois die Hymne zu singen: »FC Bayern, Stern des Südens, ja so heißt er mein Verein…«

»Psssst«, zischte Uschi-Muschi, die sich wieder hinter ihrem Buch versteckt hatte.

»Ich hätte es auch weit bringen können im Fußball«, seufzte er. Aber mit 18 Jahren war er auf der Landstraße vom Erfolgsweg abgekommen und im Graben gelandet. Neben der Windschutzscheibe und verschiedenen Knochen zerbrachen damals auch seine Zukunftspläne.

Seine Frau kannte die Geschichte und blätterte einfach auf die nächste Seite, ohne ihn auch nur anzusehen.

»Ich dachte, du willst reden«, beschwerte er sich.

»Jetzt nicht mehr.«

Er sah sie an. Ihre schlaffen Pfunde zwischen Brust und Venushügel bedeckte ein verwaschenes T-Shirt, das sie sich am Ende ihrer Schwangerschaft gekauft hatte. Es umhüllte den Zustand, den sie »Afterbaby-Body« nannte, obwohl ihr Nachwuchs bereits vor sieben Jahren geschlüpft war und heute in der F-Jugend spielte. »U9« korrigierte er sich.

Sexy war etwas anders, aber dass Muschi ihn so offensichtlich ignorierte, provozierte seine Männlichkeit. Er spürte, wie sich unter der Lotosdecke in seinem Laserschwert die Kräfte sammelten. Die Macht war mit ihm. Wieder einmal. Steimer war nicht nur Fußballfan, sondern begeisterte sich auch für Star Wars. »Von allen Welten das Beste«, so sah er es, und ein kurzer Ausflug auf den fernen Planeten neben ihm würde ihn entspannen, vorausgesetzt, Uschi bestand nicht auf einem eigenen Orgasmus, denn dann würde die Angelegenheit anstrengend und langatmig für ihn werden. Selbst beim Sex kam sie nicht auf den Punkt, ohne vorher endlos auszuholen. Trotzdem riskierte er eine Annäherung. Vorsichtig, beinahe gefühlvoll, schob er seine Hand unter ihre Bettdecke und tastete sich voran. Schon berührten seine Fingerspitzen ihre weiche Masse, aber anstatt dankbar zu seufzen und rücksichtsvoll das Licht zu löschen, sagte sie: »Ich hab keine Lust auf dich.« Verdammt! Was bildete sich diese Frau eigentlich ein? Trotzdem bemühte er sich um eine zärtliche Tonlage. »Schatzi, ich will dich spüren, wie früher.« Er fühlte die Krater an ihrem Oberschenkel und ging darüber hinweg.

»Du bist so ein Depp!«, schnaubte sie, aber er nahm ihr die Beleidigung nicht übel, sondern filterte stattdessen die versteckte Zuneigung heraus, während er nach ihrer Hand griff und sie unter seine Decke zog. »Uschi, ich will dir doch bloß meine Liebe zeigen.«

»Was verstehst du schon von Liebe?« Nun ja, sehr zugeneigt klang das nicht, aber kurz vor dem Tor lässt sich ein guter Stürmer nicht bremsen.

»Zumindest mein Laserschwert versteht eine ganze Menge von der Liebe! Ich zeig’s dir. Uschi-Mmmmhhh uuuhhhh…« Seine Hand tastete sich weiter, aber sein Weib hatte keine Lust auf eine Demonstration seiner Gefühle.

»Manchmal könnte ich dich umbringen«, sagte sie. Die Längsfalte zwischen ihren Augen vertiefte sich und teilte ihre Stirn in zwei Hälften, hinter der rechten Seite verbargen sich bei normalen Frauen Emotionen, aber bei Uschi nahm ihr Killerinstinkt den ganzen Raum ein.

»Im Morden hast ja jetzt Übung.«

Uschi wurde blass. Tor! Treffer! Volltreffer! »Es war ein Versehen«, verteidigte sie sich. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass er ein schwaches Herz hatte.«

Vitus Pangratz kletterte über den Zaun des Wildparks Blindham und bedauerte, dass ihn seine ehemaligen Kollegen nicht sehen konnten. Von wegen bereit für den Ruhestand! Er war noch immer der beste Fährtenleser und noch immer Rock ’n’ Roll. Aber seit seiner vorzeitigen Pensionierung als Kriminalkommissar musste er selbst für Herausforderungen sorgen, deshalb hatte Vitus Pangratz eine Affäre begonnen. Mit einem Model der anderen Art. Er war auf dem Weg zu ihr. Sein Herz beschleunigte und überholte sein gesundes Grundmetrum. Vorsichtig sah er sich um. Niemand war im Wald zu sehen. Im Licht der blauen Stunde zeichneten sich nur Laub- und Nadelbäume ab, den Hintergrund bebilderte die Alpenkette mit ihren Felszacken und Gipfeln. Die Stimmung war märchenhaft. Romantisch. Bayern zum Verlieben. Aber die Natur stand im Weg und stichelte ihm unangenehm ins Gesicht. Vitus wich den Nadeln eines Fichtenzweiges aus und murmelte: »Die Fichte sticht, die Tanne nicht.« Er kickte einen länglichen Zapfen über eine der vielen Wurzeln, die sich wie knochige Finger in den Boden krallten. Danach strich er zufrieden seine Haare nach hinten. Die Welle auf seinem Kopf war eine Hommage an Elvis. Sollte er seine Affäre Priscilla nennen, wie Elvis’ große Liebe, eine davon? Er fand den Namen passend für die süße Sau. Fast lautlos stimmte er »Oh what night!« an. Der King hatte für jede Lebenslage den richtigen Song eingespielt, und Vitus kannte sie alle. Ob seine Priscilla musikalisch war? Er würde es herausfinden. Auf dem weichen Waldboden suchte er ihre Spuren.

»Uuuhhhh! Uuuhhhh! Uuuhhhh!« Über ihm rief ein Käuzchen die Nacht herbei. Früher glaubte die Landbevölkerung in dieser Gegend, der Vogel würde einen Todesfall ankündigen. »Hört man ein Käuzchen, muss jemand sterben«, hieß es. Wer zur Familie der Eulen gehörte, galt als Teufelstier, das Bauern an Scheunentore nagelten, um ihre Höfe vor Unglück zu bewahren. »Uuuhhhh!« Wieder hallte der Ruf des Käuzchens zwischen den Bäumen. Ein schlechtes Omen? Schmarrn! Nicht jede Bauernweisheit hatte sich ihren Titel ehrenhaft verdient. Verächtlich pustete Vitus Luft durch seine Lippen. Bayern war in der Neuzeit angelangt, und ein Beweis dafür hing ihm gewichtig am Hals: seine nahezu professionelle Digitalkamera. Nachdem er von seinem Nachfolger mit den Ellenbogen und aus dem Hinterhalt in den Ruhestand gestoßen worden war, brauchte Vitus ein Hobby und hatte sich für Fotografie entschieden. Sein erster Bildband sollte »Die Wildsau im Wald heißen«. Johanna fand den Titel »Die Schöne und das Biest« passender. War das Humor, Sachverstand oder eine unglaubliche Unverschämtheit? Bei seinem Fräulein Tochter konnte man nie sicher sein. Leider hatte sie kaum mehr Zeit für ihren Vater, seit sie bei einem Rosenheimer Online-Nachrichtendienst als Reporterin arbeitete. Anstatt sich um Vitus Pangratz zu kümmern, schob sie ihn auf Webseiten wie »senioren-zum-verlieben.de« oder »zweisam-im-herbst.info« ab. Gelegentlich empfahl sie ihm sogar einen Dackel. Aber einen ausgeprägten Jagdtrieb und eine erstklassige Spürnase hatte er selbst. In diesem Moment bewies er es erneut. Jeder andere wäre darüber hinweggestolpert, aber Vitus Pangratz entdeckte das Zeichen, das sie ihm hinterlassen hatte.

Er ging in die Knie, um mit seinen Händen den Boden zu untersuchen, den sie berührt hatte. Konzentriert strich er über feuchte Erdklumpen, Grashalme und braune Blätter. Eine Duftnote von Endlichkeit stieg in seine feine Nase und gab die Botschaft an sein Gehirn weiter. Im selben Moment rief das Käuzchen wieder. »Uuuhhhh! Uuuhhhh! Uuuhhhh!«

»Elender Vogel«, raunzte Pangratz, erhob sich und suchte mit seinem Blick die Bäume nach dem Störenfried ab. Unter Waldeslust stellte er sich andere Töne vor. Plötzlich raschelte es hinter ihm. Sie? So nah? Sein Herz beschleunigte erneut. Angespannt griff er zur Kamera, bereit, der Gefahr ins Auge zu sehen. Geschätzte 90 Kilo Üppigkeit konnten den stärksten Mann umwerfen, aber Vitus ließ sich davon nicht beirren. Das Jagdfieber erhitzte sein Blut. »Komm her, du Sau, du.«

Natürlich wusste er, dass Wildschweine Menschen gewöhnlich aus dem Weg gingen, aber vielleicht hatte diese eine Bache trotzdem Zutrauen gefasst. Immerhin lebte sie in einem Wildpark, und er besuchte sie nicht zum ersten Mal. Er musst ruhig bleiben, Sicherheit ausstrahlen, Vertrauen vermitteln. Jetzt nur keine falsche, hektische Bewegung. Schritt für Schritt tastete sich Vitus vorwärts und achtete darauf, nicht zu stolpern. Der Waldboden war um diese Uhrzeit tückisch feucht und voller Wurzelwerk.

Seine Fußspitze stieß einen Erdklumpen zur Seite. Fast wäre er darüber hinweggegangen, als er ein weißes Etwas sah. Ein Knochen? Wildschweine sind Allesfresser. Interessiert griff Pangratz nach dem Speiserest und schüttelte die Erde ab. »Ja, leckst mich am Arsch!«, entfuhr es ihm. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt Vitus Pangratz eine angefressene Hand. Alle Finger waren noch dran, nur der Körper fehlte. Er sah Elle und Speiche, die beiden Knochen ragten zwischen Fleischfetzen, Sehnen und Muskeln heraus. Auf dem Handrücken klaffte eine Kerbe, als hätte eine Wildsau hier ihren Hauer reingerammt, nur um festzustellen, dass das wenige Fleisch die vielen Knochen nicht lohnte. Immerhin ordneten ganze 27 davon eine Hand. Da könnte das Tier ja gleich Spareribs fressen, dachte Vitus Pangratz. Vorsichtig legte er seinen Fund wieder dort ab, wo er ihn aufgehoben hatte. Dann wischte er seine Finger an seiner Jeans sauber und griff zum Telefon. Er wusste, wen er sofort anrufen musste. Die Polizei war es nicht.

Johanna »Jo« Coleman war vor der Polizei im Wildpark, dafür hatte Vitus Pangratz gesorgt. Für ihn gab es keine Berufsehre mehr zu verteidigen, und die Familie ging vor. Erst recht, wenn sie sich auf die überschaubare Zahl von zwei Personen beschränkte: Vater und Tochter. Zum Dank leuchtete ihm Johanna mit ihrer Videokamera ins Gesicht, ging vom Du zum Sie über und fragte in nüchternem Reporterton: »Herr Pangratz, Sie waren der Letzte, der diese Hand geschüttelt hat. Was war das für ein Gefühl?« Dumme Frage! Warum hatte sein Dirndl keinen anständigen Beruf gelernt? »Du hättest Bankkauffrau werden sollen wie deine Freundin Marina«, brummte er. »Aber leider hast du mit Geld ein genauso schlechtes Händchen wie mit Männern.«

»Hast ja recht, Papa«, grinste Jo. Sie hatte schon früh gelernt, wie sich Diskussionen mit ihrem Vater zeit- und nervenschonend abkürzen ließen: Einfach recht geben und dann das eigene Ding durchziehen. Ihre Mutter hatte es ihr vorgemacht.

Immer noch zielte sie mit der Kamera auf ihren Vater, räusperte sich kurz und schlüpfte wieder in die Rolle der Videoreporterin »Jo Coleman«, obwohl Vitus sie vor 37 Jahren mit seiner Frau auf den Namen Johanna Pangratz getauft hatte. Johanna, das bedeutete: »die Gottbegnadete«. Nicht genug, dass sie ihren schönen Vornamen und möglicherweise alle damit verbundenen Gnaden zusammengestutzt hatte, auch dem traditionsreichen Familiennamen »Pangratz« hatte sie Unrecht getan. Achtlos abgestreift wie eine alte Jacke hatte sie ihn bei der Hochzeit mit dem Amerikaner und selbst nach der Scheidung nicht wieder angelegt, obwohl das junge Glück nur elf Monate gehalten hatte. Liebe macht eben blind. Selbst mit Vaterliebe konnte man sich lächerlich machen, wie Vitus gerade vor laufender Kamera und bei vollem Bewusstsein bewies. Seufzend ergab er sich seinem Schicksal. Seine Tochter war alles, was ihm geblieben war. »Also los, Johanna, noch mal von vorne und diesmal mit einer annähernd intelligenten Frage.« Sie warf ihm eine Kusshand zu.

»Herr Pangratz, Sie waren Kriminalkommissar. Ein ziemlich erfolgreicher obendrein. Gerade haben Sie eine menschliche Hand hier im Wildpark Blindham gefunden. Was sagt Ihr Instinkt dazu?«

»Dass der Rest fehlt. Da hat vermutlich jemand Hunger gehabt.«

»Ein Kannibale?« Seine Tochter sah weniger entsetzt als sensationslustig aus.

»Ich würde eher Wildschweine mutmaßen.«

»Wildschweine, aha!«

Jo rang einen starken Würgereflex nieder und zoomte das Fundstück heran. Am Ringfinger entdeckte sie einen hellen Streifen. »Hier war einmal ein Ehering.«

»Die Ehe ist inzwischen beendet«, sagte Pangratz und überlegte, ob der Ring vielleicht Priscilla im Magen lag. Das war keine schöne Vorstellung. Er konzentrierte sich wieder auf seine Tochter Johanna. Sie wisse ja wohl, dass sie die Aufnahmen nicht verwenden dürfe. Nicht wahr?

Jo ging gar nicht darauf ein, sondern meinte: »Eine Leiche von Wildschweinen beseitigen zu lassen, ist schon ziemlich ungewöhnlich, oder?«

»Eine echte Sauerei«, meinte Pangratz, und Jo verdrehte die Augen.

»Dieser Mord ist eine Sauerei, wollten Sie das sagen, Kommissar Pangratz?«

»Mord ist meistens eine Sauerei, aber noch wissen wir nicht, ob es wirklich Mord war.«

Jo sah ihn bittend an.

»Freiwillig wirft sich sicher keiner den Schweinen zum Fraß hin«, sagte Vitus Pangratz gutmütig und in der Hoffnung, seiner Tochter und ihrer halbseidenen Karriere weiterzuhelfen. Vielleicht kam sie ja mal ins echte Fernsehen, nicht nur ins Internet. Für Vitus zählten nur die öffentlich-rechtlichen Sender, selbst wenn sie ihn langweilten.

»Wer macht so etwas Grässliches?«, fragte Jo.

»Das soll mein Nachfolger herausfinden. Da kommt er gerade. Der Ruf eines hervorragenden Profilers eilt ihm übrigens voraus«, spottete Vitus.

Jo sah einen Lichtkegel, der sich wie ein riesiges Glühwürmchen auf sie zubewegte. Sofort schwenkte sie ihre Kamera und erkannte den Umriss von Kommissar Hopfinger. Er war lang und dürr wie der legendäre Komiker Karl Valentin, aber leider völlig humorfrei. »Seid’s narrisch! Raus aus dem Gehege!«, brüllte er zur Begrüßung. »Raus! Sie sind in Lebensgefahr!«

Im nächsten Moment flog mit lautem Knall eine Pistolenkugel durch die Sommernacht.

Der Schuss aus seiner Dienstwaffe war ins Leere gegangen, trotzdem gebar sich Kommissar Hopfinger wie ein Lebensretter. »Die Wildsau hätte Sie glatt umgerannt, vielleicht sogar getötet. Die kam von hinten direkt auf Sie zu, Herr Pangratz. Das ist Ihnen glatt entgangen, gell! Sie waren halt beschäftigt«, sagte er zu seinem Vorgänger. Ganz offensichtlich erwartete er Dank für seine Heldentat. Immerhin war Hopfinger der Einzige gewesen, der die angriffslustige Bache im Gebüsch bemerkt hatte. Eine Bestie, da war sich Hopfinger sicher, während Vitus Pangratz die Bestie eher in Hopfingers Fantasie vermutete und in diesem Moment wünschte, sie würde seinen Nachfolger von innen auffressen. Aber Hopfinger monologisierte weiter. Ohne ihn lägen Vitus Pangratz oder diese aufdringliche Reporterin Jo Coleman jetzt wahrscheinlich schwer verletzt am Boden, neben der angefressenen Hand, meinte er. Doch Undank war der Welten Lohn, und Vitus Pangratz warf ihm vor, »sinnlos im Wald herumzuballern und Tiere zu verschrecken.« Hopfinger streckte seinen krummen Rücken durch, bis er seine volle Größe erreicht hatte, und sagte von oben herab: »Was die Einschätzung von Gefahren anbelangt, haben Sie, Herr Pangratz, und da sind wir uns wohl einig, keine guten Referenzen vorzuweisen. Absolut keine.« Jetzt richtete auch Vitus seinen Oberkörper auf und spannte jede einzelne Muskelfaser an. Ein schlanker Gorilla mit Stirnwelle, der sich vor Stolz auf die Brust trommeln wollte. Jo Coleman beobachtete die Szene und musste reagieren. Bevor sich ihr Vater zu einer unüberlegten Äußerung oder Bewegung hinreißen ließ, richtete sie ihre Kamera auf den amtierenden Kommissar.

»Was ist Ihr erster Eindruck, Herr Hopfinger?«, fragte sie so respektvoll wie möglich, was sie in diesem Fall Anstrengung kostete.

»Polizeihauptkommissar Hopfinger«, korrigierte er, bevor er antwortete. »Leider hat hier ein wild gewordenes Schwein die letzten Spuren zerstört. Sie verstehen mich?« Er sah zu Vitus, der inzwischen mit einem alten Kollegen sprach und die Anspielung nicht hörte. »Wir müssen uns auf die Suche nach weiteren Resten machen und herausfinden, ob das, was zu der Hand gehört, schon tot war, bevor es gefressen wurde. Viel ist ja nicht mehr übrig.«

»Kann Ihnen da die Gerichtsmedizin weiterhelfen?«

»Der Pathologe weiß alles, kann alles, kommt aber immer zu spät. Sie verstehen!«

So wie die Hand aussah, waren vermutlich nur noch fremde DNA-Spuren von Waldtieren zu finden, aber immerhin ließ sich die Hand hoffentlich einem Vermissten zuordnen. Es gab ja immer welche, die nicht mehr nach Hause kamen.

»Haben Sie schon einen Verdacht, wer es sein könnte?«, fragte Jo. Nein, gab Hopfinger vor.

Ob die Spurensicherung nun die Mägen der Wildschweine im Park auspumpen würde? Eher nicht, antwortete der Hauptkommissar, bevor er bemerkte, dass Jos Vater Vitus Pangratz sich davonschleichen wollte. Kommissar Hopfinger hielt ihn auf.

»Was treiben Sie überhaupt hier, Herr Pangratz? Der Wildpark ist ja schon lange zu. So etwas ist widerrechtliches Betreten – oder hatten Sie eine persönliche Einladung?« Eine einseitige Verabredung trifft es besser, dachte Vitus und erklärte, er sei auf Fotosafari im Park gewesen und habe die Schließzeiten übersehen. Beim Versuch, einen Weg nach draußen zu finden, sei er über einen Zaun geklettert und habe sich wohl versehentlich im Wildschweingehege verirrt.

Hopfinger schüttelte den Kopf, dann bat er Jo, ihren Vater sicher nach Hause zu bringen, als würde dieser an Altersdemenz leiden, aber Vitus hatte noch eine Frage.

»Herr Hopfinger, ist Marius Wild eigentlich jemals wieder aufgetaucht?«

»Sie sprechen wohl vom Fußballtrainer Tiger Wild?«, präzisierte Hopfinger, der andere offensichtlich gerne verbesserte.

»Genau der. Er verschwand doch vor ein paar Wochen spurlos, nur sein Auto stand noch am Sportplatz.« Vitus schaute zu seiner Tochter. Ihre Kamera lief weiter, auch wenn Jo sie so beiläufig wie möglich in der Hand hielt.

»Das weiß ich, Pangratz, mein Sohn spielt in Tigers Team. Die Mannschaft vermisst ihn schmerzlich, aber der Tiger ist ein erwachsener Mann und kann gehen, wohin und mit wem er will, auch ohne sich abzumelden. Sicher steckt ohnehin mal wieder nur eine Weibergeschichte dahinter«, schnauzte Hopfinger ihn an. Vitus Pangratz hatte ihm den Abend gründlich versaut, und er war noch nicht fertig damit. »Hat der Tiger etwa in fremden Revieren gewildert?«, fragte Pangratz seinen Nachfolger. Der winkte ab. »Was Sicheres weiß man nicht, aber die Frauen stehen auf den Kerl, selbst meine.« Hopfinger erhöhte seine Stimme um ein paar Oktaven und äffte seine Gattin nach. »Wie der Tiger sich für die Kinder engagiert, das ist richtig rührend.« Dann wechselte er wieder in seine eigene Tonlage und meinte: »Als Vorbild hat sie mir den Tiger präsentiert. Als ob es sich ein Mann wie ich, mit einem vernünftigen und verantwortungsvollen Job, leisten könnte, nachmittags ehrenamtlich Kinder zu trainieren.« Darum sollten sich gefälligst andere kümmern. Fahrlehrer wie Tiger Wild und Versicherungsvertreter wie Alois Steimer, dessen Nachfolger auf dem Fußballplatz. »Wo bleibt eigentlich die Spurensicherung? Kruzifünferl!«

»Komm, Jo, wir gehen!« Vitus führte Jo, die mit einem Taxi nach Blindham gekommen war, zu seinem Wagen. »Schau mer mal, wer den Fall schneller klärt, der Hopfinger oder ich.«

»Der Hopfinger wird zumindest schneller herausfinden, wem die Hand gehört hat«, meinte Jo.

»Der Hopfinger braucht dafür die Gerichtsmedizin, während ich meinem Instinkt und meine guten Verbindungen vertrauen kann.«

»Und, was sagt dir dein Instinkt?«

»Wild, sagt er, Tiger Wild! Ich hab von Anfang an nicht geglaubt, dass der Mann einfach so verschwunden ist, aber es war ja nicht mehr mein Job.«

»Jetzt ist es auch nicht mehr dein Job, Papa.«

»Was mein Job ist, bestimme immer noch ich, mein Fräulein Tochter. Außerdem: Man schlägt keine Hand aus, die sich einem hilfesuchend entgegenstreckt.« Nein, das tat man nicht. Vitus Pangratz hatte einen neuen Fall. Endlich!

Die Nacht war noch jung, seine Erregung stark, und Alois Steimer gab nicht auf. Nach einer langen Schweigepause wagte sich seine Hand erneut unter den Lotos-Bettbezug auf die andere Seite der Front, die zwischen den Matratzen und den Eheleuten verlief. Uschi hatte sich wieder hinter ihrem Buch verbarrikadiert. »Bayerischer Blues« stand auf dem Cover. Als er sich mutig in ihren Dschungel vortastete, gab sie ihre Deckung für einen Augenblick auf, um wortlos seine Hand wegzuschieben. Sein Angriff und ihre reflexartige Abwehr war das übliche Manöver. Es waren seltene Momente, in denen sie wortlos auf dem weißen Laken Frieden schlossen, für die Zeit des Beischlafs. Kurz: Uschi kam ihren ehelichen Pflichten nur ungenügend nach, und Steimer war seit langem zur Selbsthilfe unter der Dusche verdammt.

Gekränkt sagte er: »Andere Frauen würden sich über eine kleine Aufmerksamkeit freuen.«

»Sprichst du von deinen Fußballmamas?« Sie hob seine Bettdecke, rückte mit der anderen Hand ihre Brille zurecht und warf einen kritischen Blick auf seine ausgebeulten Boxershorts, bevor sie urteilte: »Kleine Aufmerksamkeit trifft die Sache genau.«

Wahnsinn. Absoluter Wahnsinn! Neben ihm lag die weibliche Version von »Jabba the Hutt«, dem Schwabbelmonster aus Star Wars, und er musste sich von diesem Ungetüm abweisen lassen. Sein Ego schoss in Lichtgeschwindigkeit zurück: »Im Verhältnis zu deinen galaktischen Ausmaßen wirkt selbst der Größte klein. Uschi-Muschi!« Tor! Treffer! Volltreffer! Er hatte es einfach drauf!

Nicht zum ersten Mal dachte er an Trennung, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Es würde Adrian vom Fußballtraining ablenken und ihn selbst auch. Als Hausfrau machte sich Uschi-Muschi durchaus nützlich: Sie war sauber und ordentlich. Außerdem fürchtete er, dass seine Frau bei einer Scheidung auf das Sorgerecht pochen würde, und ihr alleine konnte er seine großen Pläne für Adrian nicht überlassen. Sie verstand nichts vom Fußball, sondern untergrub geflissentlich seine Bemühungen, aus Adrian einen künftigen Star zu machen. Apropos, hatte sein Sohn heute Abend genügend Kohlenhydrate gegessen, um morgen auf dem Feld zu voller Form aufzulaufen? Uschi-Muschi torpedierte immer wieder den Speiseplan, den er für Adrian mit Hilfe des Internets zusammengestellt hatte. Fußball war schließlich ein Leistungssport, kein Kindergeburtstag, aber im Notfall musste er seinen Sohn morgen mit Cola wecken. Zucker und Koffein hatten sich schon oft bewährt, wenn der Junge wieder einmal nicht aus den Federn kommen wollte. Das Murmeltier.

Frustriert nahm er seinen Spielplan zur Hand. Nach kurzem Überlegen strich er den Namen Ludwig, weil der treffsichere Teufelsbraten wie ein Messi am Ball blieb und, wenn es schlecht lief, damit bis zum Tor wieselte. Ludwig konnte seinem Adrian glatt die Show stehlen. Außerdem gehörte Ludwigs Mutter Marina zu denen, die Alois nicht ernst nahmen und stattdessen Tiger nachtrauerten. Was die Weiber nur alle an dem Kerl fanden? »Er ist halt ein gestandenes Mannsbild«, hatte ihm seine Uschi-Muschi erklärt. »Und wie der mit den Kindern kann!« Pah! Er selbst war auch ein Kinderversteher und ein Frauenversteher obendrein, vorausgesetzt, die weiblichen Gehirnströme liefen in geordneten Bahnen und nicht kreuz und quer wie bei seiner Gattin.

Ein kaum hörbares Schluchzen unterbrach seine Gedanken. Es kam aus dem Zimmer nebenan. Adrian! Sein Hoffnungsträger weinte. Alois Steimer stand auf und ging zu seinem Sohn.

Es war kurz vor Mitternacht, als Jo Coleman die grünlackierte Tür zu ihrer kleinen Wohnung im Rosenheimer Färberviertel aufstieß. Sie hatte Glück gehabt, den Mietvertrag für die 40 Quadratmeter zu bekommen. Mit »richtiges Massel« beschrieb das Bayrische, dank dem Jiddischen, die Sache treffend. Wenn der Immobilienmarkt weiter so fieberte, hatten sie in ihrem Stadtteil bald Verhältnisse wie auf dem Münchner Wohnungsmarkt. Denn wo früher Färber, Lederer und Fischer arbeiteten, wollten seit ein paar Jahren alle wohnen: Das alte Rosenheimer Handwerksquartier aus dem 16. Jahrhundert hatte sich zum bevorzugten Wohn- und Geschäftsviertel entwickelt, und Jo hauste mittendrin.

Sie schlüpfte aus ihren abgelaufenen, müffelnden Converse-Schuhen und tappte über Wollmäuse und Brösel barfuß zum brummenden Kühlschrank. Wenn schon nichts Essbares darin zu finden war, Getränke hielt sie zumindest immer auf Vorrat. Durstig griff sie sich eine »Engerl Weisse«. Das alkoholfreie Weißbier aus der kleinen Brauerei Maxlrain hielt, was sein Name versprach, es war wirklich himmlisch. Obendrein war das Etikett der Flasche amüsant: Ein mutmaßlich betrunkener Engel hob vor einer bayrischen Bilderbuch-Landschaft ein Bierglas und rückte mit der anderen Hand den roten Kardinalshut auf seinem Kopf so zurecht, dass dessen Quasten vor seinem Geschlecht baumelten und es zu einem Rätsel machten. Aber waren nicht alle Engel irgendwie Transgender-Fälle? Jedenfalls die bayrischen, egal ob gemalt oder geschnitzt. Die anderen waren ja angeblich körperlose Wesen und damit mangelhaft ausgestattet für die sinnlichen Vergnügungen des Lebens. »In Bayern haben selbst die Engel mehr Spaß«, dachte Jo und prostete ihrem persönlichen Schutzengel zu. Himmelwärts. »Hoffentlich gilt das auch für dich, Mama«, flüsterte sie.

Jo ging davon aus, dass ihre Mutter in die Rolle eines Schutzengels geschlüpft war, als sie von der Seite der Lebenden auf die der Toten gewechselt war. Vorher hatte sie die damals noch kleine Jo von der Existenz der Schutzengel überzeugt. Obwohl sie inzwischen zumindest offiziell als Erwachsene galt, hielt Jo an diesem Kinderglauben fest. Aus Nostalgie und weil sie manchmal wirklich glaubte, ihre Mutter an ihrer Seite zu spüren.

Sie hob das Glas. Gab es wirklich Engel, und welchen Geschlechts waren die bayrischen, die sich auf Etiketten betranken? Diese Fragen wollte sie sich für eine Story merken, auch wenn sie ihren Chefredakteur damit vermutlich überfordern würde. Sepp Anzenberger war einfach gestrickt, und dasselbe erwartete er von den Geschichten, die Jo als freiberufliche Videoreporterin für seinen Onlinedienst Rosenheim News schrieb und drehte. Mit bewusst tiefergelegtem Niveau nahm Anzenberger Rücksicht auf seine Zielgruppe, behauptete er. Inspirieren ließ er sich vom ehemaligen Bild-Chef Kai Diekmann, zumindest optisch. Seit dieser einen Bart trug, wucherten auch in Sepps Gesicht Haare, und selbst sein Brillenmodell »Nerd« orientierte sich am großen Vorbild aus dem Springer Verlag. Und irgendwann wollte er auch die Bezahlschranke auf ihrer Website Rosenheim-news.info einführen, so wie die Bild. Wie auch immer, die Story, die Jo heute am Haken hatte, würde Sepp gefallen und Kai Diekmann vermutlich auch.

Gut gelaunt wählte sie Anzenbergers Handynummer. Es war spät, Geisterstunde, aber das sollte an einem Samstag kein Problem sein. Ihr Chef war sicher noch im Rosenheimer Nachtleben unterwegs, wahrscheinlich im Rizz.

»Pronto!«, meldete sich Anzenberger, als wäre er in Rom geboren und nicht in Rosenheim. Vermutlich sah er sich als Gigolo, nur weil er eine Ferienwohnung am Gardasee sein Eigen nannte.

»Hey, hier ist Jo. Ich hab etwas, was dir gefallen wird, und das exklusiv.«

»Mensch, Coleman«, reagierte er genervt. »Ich bin gerade mit einer heißen Braut zusammen, deine Exklusivstory muss mindestens so gut sein wie das, was ich dafür aufschiebe. Verstehst, was ich meine?«

Jo verstand und war sich sicher, dass ihre Story besser war als Sex mit Sepp, dass jede Story besser war als Sex mit Sepp, aber da bei Anzenberger im Hintergrund jemand kicherte, beeilte sie sich, ihre News zu pitchen, für den Fall, dass Sepp die Sache mit dem Sex und der Story anders bewertete.

»Hör zu, Boss«, sie nannte ihn nur bei besonderen Gelegenheiten so. »Im Wildpark Blindham ist ein Leichenteil gefunden worden. Eine Hand. Der Rest wurde vermutlich von Wildschweinen gefressen. Und jetzt kommt’s: Wir sind die Ersten, die davon wissen. Exklusiv! Die Konkurrenz schläft noch. Ich hab den Finder auf Film und den zuständigen Kommissar auch. Am Tatort! Ich sage nur: Fetter Scoop. Und jetzt bist du dran!«

»Wirklich wahr, Coleman? Du bist der Wahnsinn!« Sepp klang begeistert, bevor er seufzte: »Na, ned jetzt, lass mich in Ruhe.«

»Ich?«

»Nicht du, meine aufdringliche Begleitung. Nichts für ungut, Schatzi, aber hier geht’s um wichtige Dinge. Coleman, bist noch bei mir?« Sie bejahte.

»Dann lass uns zur Sache kommen, wem hat die Hand gehört?«

»Das muss die Polizei erst noch herausfinden, war ja kein Namensschild dran.«

»Jo, wir sind in Rosenheim, nicht in Rio. In unserer Gegend liegen Hände nicht einfach so rum, ohne dass der Rest jemandem fehlen würde. Schön gesagt, gell? Darfst mich zitieren. Also, wem gehört die Pratzen? Die Polizei weiß doch, wer vermisst wird?«

»Ein Mann names Tiger Wild wurde erwähnt. Sagt dir der Name was?« Jo hörte ein schnelles Patschen, als würde Sepp Anzenberger vor Begeisterung auf den Tisch schlagen.

»Yeah! Der Tiger, ja klar! Ich hab’s doch gewusst, dass den jemand auf dem Gewissen hat. Natürlich gehört die Hand dem Tiger. Super Gschicht! Die schreibst noch heute Nacht!«

»Und wenn die Hand doch jemand anderem gehört?«

»Dann haben wir die nächste super Gschicht!«

»Ich fühl mich da nicht ganz wohl bei der Sache«, wandte Jo ein.

»Coleman, du bist im Online-Journalismus, nicht auf Wellness-Kur. Also, kümmerst du dich jetzt um die Story, oder soll ich einen Kollegen darauf ansetzen?«

»Das ist meine Story!«

»Dann mach was draus! Ich erwarte Großes von dir!«

»Okay, dann erzähl mir was von Tiger Wild.«

»Der Tiger! Saugeil!« Die Verbindung brach ab.

»Sepp? Geht’s dir gut?«

Vermutlich ging es ihrem Chefredakteur gerade zu gut, aber das wollte sich Jo gar nicht so genau vorstellen. Sie drückte auf Wahlwiederholung, aber Anzenberger antwortete nicht.

Es dauerte keine drei Minuten, bis er sich wieder meldete, ohne Entschuldigung, dafür mit entspannter Stimme. Der Druck war raus. Ja, er erinnerte sich gut an Tiger, den verschwundenen Fußballtrainer. Es war der beste Jugendtrainer, den der 1. FC Rosenheim je hatte. »Sie nannten ihn nicht umsonst den Tiger, Tiiiiiigeeeerrrr Wild«, röhrte er in ihr Ohr und fügte respektvoll an: »Er machte seinem Namen alle Ehre. Der Tiger war ein Tier.«

»Frauengeschichten?«, hakte Jo ein, die wusste, was Anzenberger imponierte.

»Offiziell war er verheiratet, und beim Rest hat er sich nicht erwischen lassen. Also, a Hund war er scho’, der Tiger, wie man bei uns so sagt. Hast mi?« Ja, sie hatte verstanden, trotzdem fauchte Anzenberger sie an, vermutlich wollte er wie eine Raubkatze klingen. »Coleman, jetzt mach dich endlich an die Arbeit.«

In Adrians Kinderzimmer sah es aus wie in einem FC-Bayern-Fanshop. Von der Schreibtischunterlage bis zum Schlafanzug war alles in den Vereinsfarben des Münchner Rekordmeisters gehalten: Rot und Weiß. An der Wand hing ein Poster der aktuellen Mannschaft neben einem großen FC-Bayern-Kalender, und am Boden lag das neue Auswärtstrikot von Thomas Müller. Alois wäre fast darauf ausgerutscht, als er im Schein des kleinen Fußball-Nachtlichts zum Bett seines weinenden Sohnes tapste, der unter einer FC-Bayern-Bettdecke steckte. »Sag mal, weißt du eigentlich, wie viel so ein Trikot kostet?«, schimpfte er, holte einen Kleiderbügel aus dem Schrank und hängte das Synthetik-T-Shirt sorgfältig auf. Erst danach beugte er sich über Adrian und fragte etwas freundlicher: »Was ist denn los, mein kleiner Ballkünstler? Hast du schlimm geträumt?«

»Ich hab Bauchweh Papa. Ich kann morgen nicht Fußball spielen.«

Das Kind gab den Jammerlappen, weil ihn seine Mutter verweichlichte. Würde er sich nicht um Adrians sportliche Zukunft kümmern, wäre der Junge längst so schlapp wie Uschi-Muschis Bauchfett.

»Ah, kommt jetzt wieder diese Nummer?«, warf Alois Steimer seinem Sohn vor und bemühte sich dennoch, ruhig zu bleiben.

»Ich hab wirklich Bauchweh, Papa. Ehrlich. Ehrenwort.« Der Junge schniefte und wischte sich mit seinem Schlafanzugärmel die Tränen und Rotze aus dem Gesicht. Seine Augen waren verquollen. Plötzlich stand auch Uschi neben Adrians Bett, strich ihm über die Haare und meinte: »Wenn du krank bist, musst du morgen nicht spielen. Natürlich nicht.« Sie warf ihrem Mann einen missbilligenden Blick zu und schlüpfte in die Rolle der besorgten Mutter, es war ihre Paraderolle, sie beherrschte sie glänzend, obwohl ihr vor drei Minuten ihr »Krimi« noch wichtiger gewesen war als das Weinen ihres Sohnes. Wer war aufgestanden? Er, der Vater! Typisch! Und gleich würde sie behaupten, sie hätte Adrian nicht gehört. Steimer ärgerte sich gewaltig.

»Was heißt hier krank?«, blaffte er Uschi an. »Der Junge hat Lampenfieber, das ist völlig normal vor einem wichtigen Spiel. Da muss er durch.«

Uschi legte Adrian die Hand auf die Stirn. »Es fühlt sich nach Fieber an.«

Alois konterte sofort: »Sag ich ja, Lampenfieber, und wenn er sich ein bisschen warm anfühlt, dann kommt das nur von der Heulerei und weil du ihn so verhätschelst.« Er hielt Adrian seine flache Hand hin. »Komm, Bub, give me five! Wenn du morgen den Pokal in der Hand hältst, ist alles wieder gut.« Der Sieg seiner Mannschaft würde auch Alois zum Gewinner machen, und wer gewann, hatte immer recht. So war es doch, nicht nur im Fußball.

»Alois, wenn das Kind krank ist, bleibt es zu Hause!«, keifte Uschi. Auf ihrem T-Shirt prangte ein Schokoladenfleck auf der Höhe ihrer linken Brustwarze. Jabba the Hutt versteckte nämlich heimlich »Nervenfutter« im Schlafzimmer. Alois hatte ihren Vorrat entdeckt, als ihm der Verschluss seines Ohrrings unter das Bett gesprungen war. Seit seinen Jugendtagen trug er einen kleinen silbernen Fußball am Ohrläppchen. Das Loch hatte er sich gemeinsam mit Tiger stechen lassen. Reflexartig versicherte sich Alois mit seiner Hand, ob das Schmuckstück noch steckte. Es war an seinem Platz, so unverrückbar wie Uschis Schokoladenfleck. »Wenn Adrian krank ist, bleibt er zu Hause«, wiederholte seine Frau, Jabba the Hutt. Langsam reichte es Alois.

»Halt du dich da raus. Du verstehst nichts von Dingen, die keine Kalorien haben und nicht zwischen zwei Buchdeckel passen.«

»Aber von meinem Kind versteh ich was.« Ihre Stimme wurde lauter, gleich würde sie wieder kreischen, da legte ihr Adrian seine kleine Hand auf den Arm: »Mama, bitte nicht wieder streiten, der Papa hat recht, ich hab nur ein bisschen Lampenfieber, und ich will ja morgen gewinnen. Versprochen.« Er nickte und hörte gar nicht wieder auf damit, wie der Wackeldackel in Uschis Auto, den Adrian seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte, überzeugt, ihr damit einen heimlichen Herzenswunsch zu erfüllen – und als wäre dem wirklich so, hatte Uschi völlig hysterisch darüber gejubelt, während sie Alois’ Geschenk, ein neues Handy, nahezu ignorierte. »Bitte nicht wieder streiten«, wiederholte Adrian. »Ich will ja spielen und meine Chance nutzen.«

Triumphierend nickte Alois seiner Frau zu. »Ganz mein Sohn, der Junge. Ein echter Kämpfer, kein Warmduscher.« Noch immer hielt er ihm seine flache Hand entgegen und wartete darauf, dass ihm Adrian »five« gab. Endlich klatschte der Junge ab. »Wenn du morgen ein Tor schießt, darfst dir am Montag im Spielzeuggeschäft eine Siegerprämie aussuchen«, flüsterte Alois ihm zu.

»Ich bin ein Mann und keine Memme, gell, Papa?«

»Das bist du, Bub! Das bist du! Ein echter Kerl, ganz wie der Papa!«

Alois Steimer war zufrieden mit sich. Er wusste, wie man mit Kindern umging. Das galt ganz besonders für seinen Sohn.

Jo saß mit ihrem Weißbier an demselben dunklen Eichentisch, an dem sie früher in der Küche ihrer Oma Dampfnudeln gegessen hatte. Heute diente das Erbstück als Ablage für Brezeln, italienische Liefergerichte und als Schreibtisch. Gerade schnitt Jo die Filmaufnahmen von ihrem Vater aus dem Wildpark Blindham zu einem kurzen Interview zusammen und tippte einen langen Begleittext dazu, in den sie alles packte, was sie im Moment wusste beziehungsweise vermutete. Der Name Tiger Wild tauchte auf, seine Hand zeigte sie nicht. Sie schaffte es kaum, auf die Aufnahme zu schauen, ohne ihren Vater Vitus an ihrer Seite und Adrenalinalarm unter ihrer Haut. Wie sollte sie derart zartbesaitet endlich Karriere machen?

Am Anfang war ihr Reporterjob nur eine Notlösung gewesen, um ihr Konto aus den roten Zahlen zu retten, aber inzwischen hatte Jo Spaß daran. Zudem verhinderte diese bezahlte Beschäftigung, dass sie zu viel an ihren Exmann dachte und eine idiotische, völlig unangebrachte Sehnsucht nach ihm entwickeln konnte. Jack hatte eine andere gevögelt, Jos Herz gebrochen und dabei kein Klischee gescheut. Am Ende schob er alles auf ein großes Missverständnis, aber eine Rosenheimerin ließ sich nicht für dumm verkaufen. »We are like Romeo and Juliet, kannst du das nicht sehen?«, heulte er nach dem Gerichtstermin, der ihre Scheidung besiegelte. Es gibt nur wenige Männer, denen Tränen stehen, aber Jack Coleman gehörte leider dazu. »You killed me, Jo! You killed me! But I will always love you«, jammerte er filmreif, bevor er mit Schwung zu einer Blondine in einen himbeerfarbenen Porsche stieg, die in ihr eigenes Tuning mindestens so viel investiert hatte wie in ihren Wagen. Jo kannte die Tussi, die sich erst an Jacks Hose und dann an seinem Herzen zu schaffen gemacht hatte. Na ja, vielleicht blieb sein Herz auch außen vor, und er hatte stattdessen seinen Kopf eingeschaltet. Jos Nachfolgerin war Jacks Karrierechance. Sie würde ihn an Daddys großem Pool in Los Angeles wichtigen Leuten vorstellen und ihm einen sicheren Platz im Haifischbecken verschaffen. Aus dem kleinen Fisch Jack konnte ein ganz großer werden, denn der Vater der Blondine war Filmproduzent. »Jackpot!«, murmelte Jo. Obwohl ihr Ex fünf Jahre jünger war als sie, hatte auch er nicht ewig Zeit. Hollywood verlangt Frischfleisch, keine faltigen Talente.

Jo stand von ihrem Schreibtisch auf und ging ins Badezimmer, um zu kontrollieren, welche Schleifspuren ihre Jugend hinterlassen hatte, bevor sie sich so lautlos auf und davon gemacht hatte. Das Gesamtbild war eigentlich noch in Ordnung. Eigentlich? Das sagte doch schon alles.

Niemand kam aus Los Angeles mit dem Gefühl zurück, das Alter spiele keine Rolle. Jo war jetzt 37, fühlte sich wie 27 und hatte den Marktwert einer 47-Jährigen, obwohl sie keine Schauspielerin war, sondern Drehbuchautorin, Regisseurin und im Moment auch Onlinejournalistin. Sie fletschte ihrem Spiegelbild die Zähne. Irgendwann würde sie es allen beweisen. »If you can dream it, you can do it«, äffte sie ihren Ex nach, der diese Weisheit von Walt Disney geklaut hatte. Goofy!

»Vergiss Jack! Vergiss ihn einfach!«, ermahnte sie sich und war froh, dass der Pazifische Ozean zwischen ihr und dieser fatalen Fehlbesetzung von Ehemann lag. Sie war nach Rosenheim zurückgekehrt, um am Ende nicht selbst noch an ein Missverständnis zu glauben, rückfällig zu werden und direkt im Bett zu landen, auf einer rosa Wolke aus Träumen unter Jacks Körper. Auf ihren Verstand war in dieser Beziehung kein Verlass, wie meistens, wenn es um Gefühle ging. »You are so emotional, Baby«, hörte sie Jack sagen. Es hatte ihn begeistert. Ja, sie war emotional, aber doch nicht blöd.

Ihr Vater Vitus hatte den beiden schon am Anfang ihr Ende prophezeit, was er allerdings bei jedem Partner seiner Tochter zu tun pflegte. Er nannte sie alle »Übergangslösung«. Keiner war ihm gut genug für sein Mädchen, sein Dirndl. Auch Jacks Nachfolger würde es nicht leicht haben, aber es war ohnehin keiner in Sicht. Dabei käme ihr eine Affäre zur Ablenkung und sexuellen Entspannung gelegen, dachte Jo. Sollte sie den Mann anrufen, mit dem sie vor Jahren den besten, weil bislang einzigen One-Night-Stand ihres Lebens hatte? Es war eine heiße Nacht, die auf dem Rosenheimer Herbstfest ihre ersten Sterne gezündet hatte, zwei Tage vor ihrem Abflug nach Amerika. Seinen Namen hatte Jo niemandem verraten, aber auch nie vergessen: Alois Steimer. Was er wohl gerade trieb und mit wem?

Sie holte ein neues Engerl aus Maxlrain an ihre Seite, mit dessen Hilfe sie ihren Artikel noch einmal überarbeiten wollte. Morgen früh sollte alles sendefertig sein. »Rosenheim News kennt keinen Sonntag«, war die Devise ihres Chefs. Sonntag, verdammt, morgen war Sonntag. Fast hätte sie es vergessen: Ihr Patenkind Ludwig hatte ein wichtiges Fußballspiel, und sie hatte versprochen zu kommen, dabei konnte sie sich nichts Langweiligeres vorstellen, als einen Sonntagnachmittag am Spielfeldrand zu verbringen, aber das war der Preis ihrer Freundschaft zu Marina, Ludwigs Mutter. Eine teure Angelegenheit, aber natürlich unbezahlbar. Sie seufzte. Andererseits: Hatte ihr Chef Sepp Anzenberger nicht erwähnt, der 1. FC Rosenheim wäre Tiger Wilds ehemaliges Revier gewesen? Und Tiger Wild war möglicherweise das andere Ende der Hand. Das passte doch wie die Faust aufs Auge und der Ball ins Tor. Plötzlich freute sich Jo auf ihr Sonntagsprogramm, doch bis dahin gab es noch viel zu tun. Es war zwei Uhr morgens. Sie musste schreiben. Prost, Engerl!

Jo Coleman hatte den Anpfiff verpasst, aber dafür lief ihr multimedialer Beitrag seit heute früh auf Rosenheim-News.info. Ihr Chefredakteur Sepp Anzenberger war »völlig geflasht« gewesen, auch wenn er sich eine bessere Überschrift gewünscht hätte. »Mordssauerei in Blindham!« oder »Tiger von Wildsau gefressen« hätte er »fucking besser« gefunden als »Mord im Wildpark Blindham?«, und dann auch noch mit Fragezeichen. Es hatte eine Weile gedauert, bis Jo ihn endlich zur Vernunft gebracht hatte, deshalb kam sie erst jetzt ins Jahnstadion, wo bereits viele kleine Rosenheimer über den Rasen jagten. Die Blau-Gelb-Gestreiften waren die Heimmannschaft, so viel wusste sie, aber wo war ihr Patenkind? Auch seine Mutter Marina war nirgends zu sehen. Kein Wunder bei dem Gedränge am Spielfeldrand. Die Erwachsenen standen beieinander, als wollten sie sich gegenseitig den Schweiß aus den Poren drücken. Heiß genug dafür war es. Jo wischte sich die Stirn, bevor sie sich zwischen die Zuschauer drängte.

»Jonas, beweg deinen Arsch! Du bist nicht zum Blümchenpflücken auf dem Rasen. Geh ran!«, brüllte jemand. Hysterisch gellte eine Frauenstimme dazwischen. »Hau ihn weg! HAUIHNHALTWEG!« Das menschliche Megafon war nur wenige Meter von Jo entfernt und sprang hektisch auf und ab, bevor es im Stakkatorhythmus seiner Bewegung drohte: »Jonas, jetzt beiß dich durch, sonst gibt’s Fernsehverbot. Ich warne dich. JONAS!« Nach dieser Ansage und ihren Sprungübungen ließ sich die Frau erschöpft in den grünen Campingstuhl plumpsen, der hinter ihr stand. Jo rückte auf und zwängte sich in die kaum vorhandene Lücke daneben. »Sorry, ich bin zu spät gekommen. Können Sie mir bitte sagen, wie es steht?«

Ohne Jo anzusehen, antwortete die Frau mürrisch: »Wir liegen hinten. Drei zu null für die anderen. Der TUS Bad Aibling führt – und er führt uns vor.«

Schon sprang das Megafon wieder auf. »Kämpfen, Rosenheim! Ihr müsst KÄMPFEN! Lasst euch von den Aiblingern nicht einschüchtern.« Dann zischte sie: »Scheißguter Jahrgang bei den Aiblingern und scheißguter Trainer! Jedesmal, wenn der eine Mannschaft übernimmt, steht schon bald der FC Bayern auf der Matte und schaut, was er daraus macht.«

»Genau so einen hatten wir hier auch. Einen Trainer, der wusste, was er tat. Einen, der es wirklich draufhatte. Einen mit Gschpür«, mischte sich ein Mann im Bayern-Trikot ein. »Den Tiger!« Jo hörte Ehrfurcht in der Stimme. »Der Tiger ist unersetzlich! Wenn er nur endlich wiederkommen würde.«

»Wir wissen alle, dass das nicht passieren wird. Aber klar ist, wenn der Tiger noch bei uns wär, würde das Spiel heute anders laufen«, seufzte die Camperin.

»Der Tiger?« Jo stellte sich dumm. »Ist das der verschwundene Trainer?«

»Genau der und kein Geringerer, womit ich seinen unwürdigen Nachfolger meine«, sagte der Bayern-Fan.

»Was ist eigentlich mit dem Tiger passiert?« Jo ging davon aus, dass es ihr Beitrag auf Rosenheim News noch nicht bis auf den Fußballplatz geschafft hatte. Die Hand und die Vermutung, sie gehöre Tiger, waren noch Insiderwissen.

Das Bayern-Trikot hob seine Schultern an, und die großen Schweißflecken auf seinem T-Shirt folgten der Bewegung. Wie alle hier hätte auch er gerne gewusst, warum der Tiger verschwunden ist, erklärte er Jo. »Sehr mysteriös das Ganze. Gerade jetzt, kurz bevor sein Bub den Sprung in die U9-Mannschaft des FC Bayerns schaffen konnte. Das versteht keiner. Also freiwillig ist der Tiger sicher nicht von uns gegangen, wenn Sie mich fragen.«

»Was ist denn genau passiert?«, fragte Jo nach.

»Das weiß nur der liebe Gott. Ja Himmelherrgott, was spielen denn die Saubuam da? Das ist doch kein Fußball! Sakradi!« Er hatte jetzt keine Zeit mehr für Jo, dafür bot die Frau auf dem Campingstuhl eine Info an.

»Vielleicht hat ihm eine Weibergeschichte das Genick gebrochen?«, unkte sie. »Er war ja schon irgendwie ein Traummann. Einer, der sich um seine Kinder gekümmert hat.« Ihr eigener Mann wäre auf diesem Gebiet leider eher ein Loser, meinte sie. Sonst wäre er ja heute hier, nicht wahr, und sie müsste ihren Jonas nicht alleine anfeuern. »LAUF,BUB! LAUF! GEHHIN! Beweg deine Haxen!«

Der Mann zu ihrer Linken winkte ab. »Geh Schmarrn! Der Tiger war zu Hause gut bedient. So eine Frau wie die Sabrina betrügt kein vernünftiger Mann, selbst wenn er die Chance dazu hat. Und Chancen hatte er wohl genug. Ihr Weiber seid ihm ja nachgelaufen wie verrückt.«

»Nur kein Neid! Aber es stimmt schon, der Tiger hatte einen Schlag bei Frauen, und Gelegenheit macht Liebe«, so die Camperin.

»Der Tiger hat nur Fußball im Kopf gehabt und seine Familie. Der Tiger war ein Familienmensch.«

Am liebsten hätte Jo die Unterhaltung mitgeschrieben oder aufgenommen. Sie versuchte sich jedes Wort zu merken, für ihre nächste Onlinegeschichte. »Randnotiz vom Fußballfeld«, das klänge doch gut, dachte sie und holte ihr Smartphone aus der Tasche, um heimlich die Aufnahmetaste zu drücken, doch leider brach die Unterhaltung der beiden an dieser Stelle ab, weil die Bad Aiblinger ins Rosenheimer Tor getroffen hatten und sich die Gesprächspartner jetzt einig waren: Das hätte nie, niemals, passieren dürfen. Und ja, das wäre nie, niemals, passiert unter Tigers Ägide. Der Tiger hatte seine Jungs im Griff gehabt!

»Wer trainiert eigentlich jetzt Tigers Mannschaft?«, fragte Jo das Bayern-Trikot.

Sein Träger zeigte mit abfälligem Gesichtsausdruck auf die andere Seite des Spielfelds. »Der Hampelmann da drüben.«

Jo sah einen Mann, der sich die Seele aus dem Leib brüllte. »Adrian! Adrian!« Er gestikulierte wild, schlug sich verzweifelt die Hand auf die Stirn und appellierte erneut an einen Jungen namens Adrian. »Nutz deine Chance!«

Oh Gott! Sie erkannte den Mann auf den ersten Blick: Es war Alois Steimer, ihr One-Night-Stand vom Herbstfest. Jetzt brüllte er: »Carpe diem!«

Vitus Pangratz wischte sich mit einem karierten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und bereute seine Entscheidung bereits, sich ausnahmsweise an die Öffnungszeiten gehalten zu haben. Er stand am Eingang des Wildparks Blindham in der Warteschlange und verfluchte die Münchner, die mit ihrer Vergnügungssucht das Umland verpesteten. Immer wieder sonntags packten sie ihre Familien in großspurige Geländewagen und verstopften die A8 Richtung Süden. Bei Aying fuhren sie ab, um ihre ganze Bagage nach Blindham zu lenken und in seinen geliebten Wildpark einzufallen. Selbstredend verstanden sie nichts vom Parken. Nur mit Mühe hatte Vitus für seinen alten Chevi Camaro einen Platz unter den breitarschigen Monsterfahrzeugen gefunden. Jetzt stand sein Glanzstück in deren Schatten. Wie ihn dieses automobile Aufrüsten anwiderte! Auf den Straßen zählten nur noch Größe und Muskeln, Hirn und Fahrgefühl ersetzte der Bordcomputer. Es gab Momente, in denen sich Vitus ins vergangene Jahrhundert zurücksehnte. Damals hatten die Menschen noch schöne Autos und Zeit gehabt. Apropos Zeit. Ungeduldig sah er auf die Uhr. Seit er »außer Dienst« war, konnte er Stillstand noch weniger ertragen als früher im Dienst. »Warum geht denn hier nichts vorwärts?«, fragte er halblaut, aber niemand antwortete ihm.

Der Stau vor ihm trug Sonnenbrillen, die an Insektenaugen erinnerten und vermutlich die besseren Hälften der Gesichter verdeckten. Er blickte sich um und sah nicht ein natürliches Lächeln. Wahrscheinlich hatten die mutmaßlichen Münchner den Rest von Fröhlichkeit an der Tankstelle verloren. Ja mei! Wenigstens die Kinder schienen noch Spaß zu haben. Um ihn herum wuselten Leon, Luisa, Lara und Nepomuk, zumindest standen diese Namen auf neongrünen Kappen. Für derlei optische Zumutungen war die Schwarzweißfotografie gemacht.

Endlich bewegte sich die Schlange im Schneckentempo weiter, und Vitus erreichte das kleine Kassenfenster. »Grüß Gott, ein Erwachsener bitte.« Er hatte kaum ausgesprochen, da drängelte sich ein kleiner Fratz an ihm vorbei und trat Vitus auf die Zehen. Dem Fratz war das egal. »Ich will drei Packungen Wildfutter, aber zeitnah«, sagte er zur Kassiererin. Der Ton verriet: Der Kindergartenknirps war es gewohnt, Befehle zu erteilen. Pangratz allerdings auch. Erst beim Militär, dann bei der Polizei, deshalb schnauzte er den Fratz unwirsch an: »Du Kniabiesla, haben dir deine Eltern keine Manieren beigebracht? Schleich dich! Ich bin vor dir dran.« Doch der Rotzbua ließ sich nicht einschüchtern. Wahrscheinlich kannte er bislang nur Hierarchien, die so flach waren wie seine Sandalen. »Ganz ruhig, Alter«, entgegnete der Dreikäsehoch mit dem Watschengesicht und hielt nach seiner Mutter Ausschau. Sie stand hinter Vitus Pangratz.

»Mama, gib mir Geld!« Vitus drehte sich zu der Frau, die von ihrem Kind mit einer Cash-Cow verwechselt wurde. Sie holte zehn Euro aus ihrem Portemonnaie und reichte den Schein an Vitus vorbei.

»Er ist schon so selbstbewusst und eigenständig, mein Leon«, freute sie sich, bevor auch sie sich an Vitus vorbeidrängelte, um ihrem Sohn zu folgen. »Danke für Ihr Verständnis«, flötete sie ihm zu. Welches Verständnis? Trutschn! Blöde Kuh! Verzogenes Kalb!

»So geht es hier nicht, meine Dame, der Herr ist an der Reihe.« Allein die Kassiererin meinte es gut mit ihm und wies die diensteifrige Mutter auf den hinteren Platz. Dankbar lächelte Vitus Pangratz durchs Kassenfenster. Die Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Nur woher? Klar, aus Sauguad, das Feinschmeckerbistro am Rosenheimer Max-Josefs-Platz, wo er manchmal zu Mittag aß. Nur war ihm dort nie aufgefallen, dass sie ein so freundliches, hübsches Gesicht hatte. Plötzlich hatte es Vitus nicht mehr eilig, sondern ließ Leon und seine Gefolgschaft gerne vor. Als sie endlich den Eingang passiert hatten, sagte er zur Kassiererin: »Gegen diesen saufrechen Fratzen war meine Tochter ein Musterkind, und das war sie beileibe nicht, also nicht unter normalen Maßstäben.« Worauf er insgeheim stolz war. Lieber frech und frei als gehorsam und brav. Es war schon gut, Autoritäten in Frage zu stellen, solange es sich nicht um ihn persönlich handelte, Vitus Pangratz, Kriminalkommissar außer Dienst.

»Sich vorzudrängeln ist rücksichtslos, dafür habe ich kein Verständnis«, sagte die Frau hinter dem Fenster, bevor sie anfügte: »Mein Sohn durfte vieles, aber Rücksicht auf andere zu nehmen, das war mir bei seiner Erziehung wichtig.« Dann wünschte sie ihm einen schönen Sonntag und wollte zur Tagesordnung übergehen, doch Vitus blieb stehen, weil ihn ihre braunen Locken plötzlich an seine verstorbene Frau erinnerten. Die Warteschlange hinter sich ignorierte er. Er hatte ja selbst lange genug gewartet.

»Wie alt ist er denn, Ihr Junge?«, fragte er.

»Acht Jahre«, antwortete sie, und für einen Moment ging in ihren großen Augen das Licht aus. Kein einziger Funke blieb zurück. Pangratz kannte diese alles auslöschende Dunkelheit, die unter dem Boden eines jeden Lebens lauerte. Seine Frau war darin verschwunden, nachdem sie Johannas kleinen Bruder drei Monate nach seiner Geburt leblos in der Wiege gefunden hatte. Plötzlicher Kindstod. Ein dumpfes Summen holte Pangratz zurück ins Jetzt. Es war das Geräusch des Türöffners.

»Sie müssen dagegendrücken, dann geht die Tür auf«, sagte die Frau und blies sich eine braune Locke aus dem Gesicht, so wie es Rosina immer getan hatte. Fasziniert schaute ihr Vitus dabei zu und überhörte das Gemecker hinter sich. Selbst als es lauter wurde: »Ja, wird’s jetzt bald?« Ein Möchtegernmünchner mit aufgesetztem Dialekt, Vitus’ Ohren erkannten es sofort, und nun ließ er sich erst recht nicht hetzen, sondern fragte die Frau mit den Locken: »Arbeiten Sie noch im Sauguad?« Jetzt konnte auch sie sein Gesicht zuordnen,was sie mit einem Lächeln bestätigte. Ja, sie arbeitete noch immer im Feinschmeckerbistro, nur an Sonn- und Feiertagen half sie in Blindham aus. Nun müsse sie aber wirklich weiterarbeiten. Leider. Sie zwinkerte, und Pangratz verabschiedete sich mit einem hoffnungsvollen »Auf Wiedersehen!« Er nahm sich vor, wieder öfter im Feinschmeckerbistro zu essen, und fragte sich, wer sich am Wochenende um den achtjährigen Sohn kümmerte. Vielleicht der Erzeuger? War sie geschieden? Noch ein schneller Kontrollblick. Sie trug keinen Ehering.

Alois Steimer hatte Jo nicht bemerkt. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Fußballfeldes, wütete mit Armen und Beinen wie der ehemalige Borussia-Dortmund-Trainer Jürgen Klopp und sah auch noch so aus: unrasiert, mit wehendem Deckhaar und beeindruckend groß. Das Klopp-Double brüllte: »Adrian, das ist dein Ball! Der gehört dir! Dir! Gehört er!«

»Adrian, zieh durch! Jetzt zieh halt durch!«

»Mensch, halt drauf! Draufhalten! Adrian! Halt drauf!«

»Ja, was ist denn heute los mit dir? Wir sind hier doch nicht beim Ballett!«

»Adrian! Jetzt reiß dich zusammen! Zeig endlich, was du kannst!«

Hatte sie wirklich mit diesem Mann Sex gehabt?

»Scheiße!«, brüllte ihr ehemaliger One-Night-Stand, während andere begeistert »Tor! Tor! Toooor!« brüllten. Das war also die Zukunft des Fußballs? Jo schüttelte den Kopf. Sie würde ihre Kinder, sollte sie jemals welche haben, niemals aufs Fußballfeld lassen. Niemals!

Aua! Jemand zog Jo an ihren langen Haaren. »Hey, schön, dass du gekommen bist.« Es war ihre Freundin Marina, die sich in der ersten Klasse ungefragt neben Jo gesetzt und diesen Platz während der gesamten Schulzeit nicht aufgegeben hatte, selbst als Lehrer dies verlangten und bei Verweigerung des Gehorsams mit Verweisen drohten. Marina wusste schon damals, wie man die Prioritäten setzte, und Verweise waren für sie nur ein Stück Papier gewesen. Klopapier. Marina legte auf andere Dinge Wert: auf das Prädikat »beste Freundin« zum Beispiel. Das galt noch heute, auch wenn Jo und Marina sich nicht mehr so häufig sahen. Einen Grund hielt Marina an der Hand: ihr heulendes Kind. Ludwig. Für seine Taufe war Jo vor sieben Jahren extra aus Amerika eingeflogen. Jo mochte ihr Patenkind, auch wenn sie sich selten darum kümmerte, erst trennte sie ein Ozean von ihren Verpflichtungen, dann die Arbeit. Aber immerhin jetzt war sie da. »Champion, was ist los? Ich bin hier, um Tore sehen. Deine!«, sagte sie, doch Ludwig schniefte zur Antwort in das dunkelblaue »Supermom«-T-Shirt seiner Mutter und verwandelte es in eine Rotzfahne. Marina schien sich nicht daran zu stören, die Frau, die früher in glitzernden, figurbetonten Markenfetzen um die Häuser gezogen war, hatte sich optisch und inhaltlich vom »Sex-and-the-City-Girl« zur »Supermom« entwickelt. Tröstend und vorsichtig strich Mama Marina über Ludwigs gestylten Schopf und erklärte Jo: »Er trägt die Haare jetzt wie Götze. Richtig cool, findest du nicht?« Jo zuckte mit den Schultern, aber Marina sprach bereits weiter: »Der Götze ist ein Ausnahmetalent, etwas ganz Besonderes. Wie der Ludwig. Weltmeister-Tor, ich sage nur: Weltmeister-Tor.« Marina beugte sich zu ihrem Sohn, »Gell, Ludwig?«, und ordnete mit ihren Fingern seine Frisur. Eine Haarsträhne hatte sich bei der vorangegangenen Streicheleinheit von ihrem Platz gelöst. Marina klebte sie mit Spucke wieder an.

»Deine eigenen Haare könnten auch etwas Aufmerksamkeit vertragen«, bemerkte Jo.

»Mir sind jetzt andere Dinge wichtig«, schnappte Marina zurück. »Außerdem, schau dich doch selbst an.«

»Besser nicht.«

»Genau!«

Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Warum weint Ludwig denn? Hätte er vielleicht lieber eine andere Frisur? Mit weniger Gel?«, witzelte Jo, und Marina strafte sie mit einem strengen Blick.