Winterbreak - James Corner - E-Book

Winterbreak E-Book

James Corner

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Beschreibung

Das Jahr 2156 in Hamlin. James Corner lebt mittendrin in dieser schillernden Stadt. Das Leben ist angenehm, gespickt mit technischen Raffinessen. James hat alles, was er sich wünscht. Sein Leben ist perfekt auf ihn und seine Fähigkeiten zugeschnitten. Trotzdem ist er unglücklich. Als er Carla kennenlernt, scheint es bergauf zu gehen, aber nur für kurze Zeit. Plötzlich fängt ein Teil der Bevölkerung an, sich seltsam und aggressiv zu verhalten. Als sich das Verhalten verschlimmert und ausbreitet, ruft die Regierung Winterbreak aus, damit die Situation nicht eskaliert. Ein Jahr später erwacht James und schnell wird klar: nichts ist so, wie es mal war.

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Seitenzahl: 526

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James Corner

Winterbreak

Band 1 - Hamlin

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Impressum neobooks

Kapitel 1

Piep piep piep piep piep…!

„Guten Morgen Hamlin, es ist sechs Uhr in der Früh und die Stadt erwacht! Im Moment sind die Straßen noch frei, aber es scheint, als beginne der Stau in den kommenden Minuten! Heute erreichen wir Temperaturen von 12 bis 15 Grad im Tagesverlauf, je nachdem, wo ihr euch heute aufhaltet. Der Regen wird uns aber ganzen Tag erhalten bleiben und erst gegen Abend schwächer. Der Wind nimmt im Tagesverlauf ab und wir können endlich darauf hoffen, dass uns das triste Wetter..." Zack! Mit einem Schlag verstummte das Radio, während meine Handfläche am Display entlang hinabglitt. „Ahhh!“ Diese beschissenen Kopfschmerzen von gestern waren immer noch da. Ein unerträgliches Hämmern in meinem Schädel, das mich noch völlig krank machte.

Ab dieser Sekunde begann mein täglicher Kampf ums Wachwerden. Der Kampf, der Morgen für Morgen mit jedem weiteren Jahr schwerer, länger und härter wurde. Vergleichbar mit einer Armee, die gegen einen übermächtigen Dämonen antritt und dabei Stunde um Stunde tapfere Krieger verliert. Selbst die X112-Easy Wake Up Pills wirkten nicht mehr. Ein klassisches Beispiel für eine der Lügen der Werbeindustrie. Klagen half nichts in dieser ausweglosen Situation, ich musste raus aus diesem Bett. Ein beherzter Sprung Richtung Fensterfront leitete den Tag vollends ein. „Jalousie öffnen." Das Sprachkommando löste den morgendlichen Helligkeitsschock aus. Der Blick hinaus war trist, grau in grau. Wieder Regen. Das war nun schon der zwanzigste Tag in Folge. Draußen glich die Welt einer Dusche, die seit Tagen auf Hochbetrieb lief. Meine Dusche hingegen war zehn Schritte von mir entfernt und mein nächster Stopp im morgendlichen Aufstehprozess.

Der Prozess, der meiner Erfahrung nach jeden von uns morgens quälte und folterte. Es war eine Routine, die uns schleichend tötete. „35°Grad Wassertemperatur, bitte mit Wellnesslevel fünf, Dauer fünf Minuten." Die Kommandos hallten durch das weiß geflieste Bad aus hellem Smaranit. Helles, von der Decke emittiertes Diodenlicht erhellte die Dusche. Der Sprachbefehl „Radio an, Station Hamlin 1922", erlöste mich von der unheimlich herrschenden Stille. Ich konnte es nach all den Jahren immer noch nicht leiden, meinen Atem zu hören, und nichts außer mir selbst wahrzunehmen. Es war mir unangenehm. Mit dem Fließen des Wassers nahm der Tag seinen Lauf. Ich fragte mich, welcher Termin heute anstehen würde. Irgendein beschissener Termin am Mittag musste es sein, aber es fiel mir nicht ein. Vielleicht sollte ich mir doch den neuen Applikation-Planer holen? Zumindest wäre dann das Problem mit meinem beginnenden Gedächtnisverlust kompensierbar. Schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste, dachte ich mir, während das Wasser über meinen Schwanz lief. Beim Duschen hingegen zu wichsen blieb auch mit 33 Jahren ein Hochgenuss am Morgen, der an diesem Tag nach sehr kurzer Zeit abrupt endete. Ein tägliches Highlight, dachte ich mir, während unterdessen schon der Countdown meines Toothcleaners Sekunde für Sekunde weniger wurde. „In zwei Minuten zu strahlend weißen Zähnen, mit dem Toothy UVA. Toothy wünscht Ihnen einen schönen Tag." Vielleicht hätte ich doch ein paar Eurocoins mehr für das werbefreie Modell ausgeben sollen. Generell wäre der Umzug in eine werbeärmere oder gar -freie Zone eine sinnvolle Investition gewesen, anstatt in diese verdreckte Ecke der Stadt. Heute erkannte ich, dass der günstige Mietpreis nur die Rückseite der Medaille war. Das lernte ich durch diese täglichen, unendlichen Botschaften der Industrie, die Jahr für Jahr schlimmer wurden. Selbst im dreißigsten Stock konnte man sich diesem Terror nicht entziehen. Überall war man umgeben von schillernden, audiovisuellen Werbeflächen, Werbelasershows und fliegenden Drohnen mit beschissener Computerwerbung. Wie pervers das Ganze gewuchert war! Wie ein Virusgeschwür, das sich stillschweigend in deinem Hirn ausbreitete, bis es zu spät war. Das Baddisplay zeigte ein Gesicht, das mittlerweile die ersten Falten aufwarf. Seit mehr als drei Jahren erschien nun schon die tägliche Meldung, die Falten bei Eurocosmetics behandeln zu lassen. „Für ein schöneres Aussehen und besseres Leben", so lautete die tägliche Botschaft. Falten schienen also auf unser Bewusstsein mehr Einfluss zu haben als ich mir eingestehen wollte.

„James Corner, Ihre Bartlänge überschreitet die Toleranz Ihres Arbeitgebers und sollte angepasst werden!" Die freundliche Frauenstimme wies einen Mann auf alles Mögliche hin, je nach Konfiguration. Ein meines Erachtens furchtbares Feature, das durch eine Frauenstimme wirkungsvoll unterstützt wurde. Ich hatte mich oft gefragt, wie die Person zu dieser Stimme wohl aussehen würde. In meiner Fantasie steckte eine große Blondine, schlank, mit kleinen Brüsten und vollen Lippen dahinter. Gerne würde ich Sie eines Tages gerne kennenlernen und Ihr meine Bewunderung entgegenbringen. Meine Bewunderung für ihren täglichen, frustprovozierenden Infotainment-Dienst. Kein Mann würde diese Kommandos jeden Morgen von seiner Frau ertragen ohne sie irgendwann zu erschlagen, diese Unbekannte schaffte es dennoch über Jahre.

„James, Ihr Urin weist einen hohen Anteil an Creatinin auf, bitte kontaktieren Sie Ihren Urologen.“ Die Werte zeigten, dass keine akute Gefahr bestand. Fünf mögliche Krankheiten konnten den erhöhten Creatininanteil auslösen. „Ich werde für Ende der Woche einen Check-Up-Termin für Sie vereinbaren!" Große Scheiße, dachte ich mir, dieses System kontrolliert alles. Durch die Einführung von GMS, des Gesundheitsmanagementsystems im letzten Jahrzehnt, wussten dann wirklich alle, wie es um meine Gesundheit stand. Begonnen hatte es mit einfachen, automatischen Krankmeldungen an den Arbeitgeber. Alle waren damals begeistert, wieder eine Erleichterung des sowieso schon leichten Lebens. Über jeden neuen technischen Scheiß, der den Menschen etwas abnahm, freute sich die Nation. Für mich war das nicht gerade die schöne neue Welt. Nun durfte ich mich beim Mittagessen auf die angepasste Speise freuen, die meinen Creatininspiegel senken sollten. Was war eigentlich Creatinin? Scheiße, es interessierte mich eigentlich nicht, eher wohl meine Altersversicherung, meinen Arbeitgeber und meinen Arzt. Ich musste mich beeilen. Der Prozess durfte nicht geändert werden. Die Kleider lagen von gestern noch auf dem Sofa. Sowieso sah das Wohnzimmer sehr heruntergekommen aus, wie alles in meinem Leben. Als ich zur Tür lief, traf mich ein Gedanke wie ein Blitz: der Termin! Heute um 14 Uhr stand ein Meeting mit der Controllingabteilung an und die Unterlagen dafür waren noch lange nicht fertig. Also war doch nicht alles in meinem Leben fertig. Wie ich diese Controller hasste, bohrende, kleine, fiese Nervensägen. Controlling war für mich ein Beruf für Sadisten und Kontrollfanatiker, deren Ziel es war, die Kreativen mit ihrer Kostenarbeit zu versklaven. Kosten waren noch nie mein Thema, und es interessierte mich auch nicht sonderlich. Der Tag heute wurde ein wirklich toller einzigartiger Tag, genauso, wie es die neueste VehicleTransportSystem Werbung, die durch die Wohnung schallte, versprach.

Als ich die Tür unten öffnete, schlug mir wider Erwarten kein Regen ins Gesicht. Der Wetterbericht schien also fehlbar zu sein. Gott sei Dank, dachte ich und schnappte mir ein Mobibike, obwohl diese Dinger bei Nässe der reinste Horror waren. „Bitte geben Sie Ihr Ziel ein", eine freundliche Stimme forderte den Mobibikelenker auf, sein Ziel anzusagen. „6-3-25 Station Metro Süd 6“, sagte ich. „Wählen Sie bitte Ihr Infotainmentprogramm - Wählen Sie bitte Ihr Infotainmentprogramm, keine InEarphones erkannt, bitte nutzen Sie Ihre herkömmlichen Kopfhörer", quäkte die nervige Stimme. Wie jeden Morgen wählte ich den OneWorldChannel. Ich war wahrscheinlich der Einzige, der diesen Sender nutzte. Nachrichten interessierten heutzutage wenig Menschen, stattdessen wollte jeder die Musikvideos von MusicStream mit den perfekten Bodies und eingänglichen Melodien sehen. Um mich herum füllten sich die Straßen. Langsam realisierte ich, dass ich nicht alleine in der Stadt war, nicht einmal kurz vor sieben. 25 Millionen Menschen waren doch nicht zu übersehen. Sie stanken und verbrauchten den Sauerstoff der erwachenden Stadt.

Kurz vor der Magnettrack-Haltestelle verdichtete sich der Verkehr und kam kurze Zeit später zum Erliegen. Das Infotainmentsystem zeigte eine Zwanzig an, die Zeit, die nun für den Stau reserviert war. Nach dem ersten Stopp übernahm der automatische Staupilot die Steuerung. Dieses System wurde entwickelt, um die Stauzeiten maximal zu reduzieren und es wirkte. Zumindest bis die Zahl der Vehicles enorm anstieg. Zwei- oder Vierräder, egal, der Bestand stieg und damit auch wieder die Zeit im Stau. Mein Blick richtete sich nach oben, wo ein wolkenverhangener Himmel aus einer graublauen Farbmischung die Stadt bedeckte. Von hier unten wirkte es, als wanderte ein dicker alter Teppich von links nach rechts und schlug dabei hier und da Wellen auf. Der Counter auf dem Display zeigte eine Zwei an. Mein Ausflug zum Himmel hatte mich mein Umfeld komplett vergessen lassen. „Parkpilot aktiviert – Suche beginnt – bitte warten“. Auch hier schlug mir wieder die tägliche Routine des Prozesses entgegen. „Herr Corner, Sie parken heute in A10-5-53, wir wünschen Ihnen einen schönen Tag, Ihre AutoParking AG.“ Nachdem mein Mobibike nun endlich zum Stehen kam, rannte ich wie vom Sensenmann persönlich verfolgt in Richtung Magnettrack. Dort hatte sich schon eine Traube aus Hunderten von Menschen gebildet, die alle mit dem Transporter ins Industriezentrum wollten.

Kapitel 2

Ich stand am Ende der Traube. Vor mir lauter Gesichter, die sich eng aneinander gepresst Richtung Türen schoben, teils gestresst, teils relaxt. Ich bemerkte einen jungen Mann kurz vor mir, der zwischen zwei dicken Frauen eingeklemmt zur Tür geschoben wurde. Sein Gesichtsausdruck war verkrampft, fast ängstlich zwischen diesen zwei Türmen von Frauen. Ich musste bei dem Anblick dieses Sandwiches das erste Mal an diesem Morgen lachen.

Ich kam als einer der letzten in den Transporter, der sich kurz darauf in Bewegung setzte. Ich war durch meine Nachlässigkeit beim Einsteigen im Perfume-3, dem Parfümwagen, gelandet. Ein mosig-herber Duft lag im Abteil, nicht gerade dezent. Er wirkte auf mich erdrückend, fast schon bedrohend. Dazu klassische Musik und ein sich dauernd wiederholender Werbetrailer: „…das neue Perfume-Power 35 verzaubert Ihre Umgebung in ein Powerspielfeld und macht Sie zu einem ganz besonderen Spieler darauf…“ Der Spruch war so dämlich und oberflächlich, dass er durchaus von einem Putzroboter erfunden worden sein könnte. Vorausgesetzt, dieser hätte schon so viel Staub auf seiner Hauptplatine, dass es zu Fehlschaltungen kam. Dämlicher war eigentlich nur die Werbeära Anfang des Jahrhunderts gewesen. An der Universität wurde dies am Rande in Mediengeschichte erwähnt. Es galt als das übelste Jahrzehnt der Menschheit, was die Werbewirtschaft betrifft. Quasi das kriegerische, experimentelle Jahrzehnt der Werbung. Gut gegen Böse wurde dort auf den Fernsehbildschirmen der Menschheit ausgetragen. Damals stand die Verdummung des Konsumenten im Mittelpunkt. Die Botschaften sollten sich durch regelmäßige Abfolgen stupide wiederholen. Der gleiche Scheiß sollte wieder und wieder das Hirn erweichen, ähnlich wie bei einer Folter. Am Schluss kaufte man das Produkt wohl schon aus Mitleid.Ding!Ein Klingeln hallte in meinem Kopfhörer. „Hallo James, möchtest du auch unwiderstehlich werden? Dein jetziges Parfüm verrät mir, dass der hohe Anteil an Citrus beim weiblichen Geschlecht nur zu 20% auf Wohlgefallen trifft. Mit Perfume-Power 35 kannst du diesen Anteil auf über 80% steigern. Willst du das? Soll ich dir eine Packung an die 150-4-3 liefern lassen?“ Die freundliche Stimme in meinem Ohr versuchte nun, mir diesen Scheiß zu verkaufen. Werbung war heutzutage zwar subtiler und diffiziler geworden, wirkte aber leider immer noch nicht bei 100% der Humanoiden. Die Richtung der Personalisierung war erschreckend, ich bekam immer wieder Gänsehaut, wie bei einem Horrorfilm. Die kleinen Härchen richteten sich auf, als wollten sie gegen diese Botschaften kämpfen, die da auf mich einwirkten. Mein Körper wollte sich gegen diese Werbung zur Wehr setzen. Ein gutes Zeichen, dachte ich.

Noch fünf Minuten, dann erreichten wir die Zentralstation, mein Ziel. Dann hatte dieser Werbehorror ein Ende. Und ich hatte meine Lektion der Abteilwahl auch gelernt. Aus dem Fenster konnte ich den Himmel sehen. Ein kleines Wolkenfenster öffnete sich und ein Sonnenstrahl richtet sich auf den Freedom Tower in Mitten der Stadt. Er begann an der angestrahlten Seite weißlich zu leuchten, ein schöner Anblick. Im Abteil starrten nun viele aus ihren Fenstern, die schillernde Fassade zog ihre Blicke magisch an und ihr Gesichtsausdruck wurde friedlich. Das Bild erinnerte an einen legendären Zombiehorrorfilm, in dem die Zombies wie versteinert den Himmel erblickten, als die letzten Überlebenden sie mit Feuerwerk überlisteten.

Die Türen öffneten sich und ich wurde durch die ungeduldig drängelnden Mitfahrer zur Tür hinausgeschoben. Ich stand an Track 13. Über mir schloss sich eine weiß leuchtende Hallendecke aus fluoreszierendem, wärmeabstrahlendem Glas. Eine angenehme Wärme, gepaart mit verschiedensten Düften aus kleinen Brotfilialen empfing den Reisenden. „James“, eine freundliche, süß klingende Frauenstimme schallte durch die Halle. Dieses Mal dröhnte es nicht aus dem Parfümabteil. „James, Hi, guten Morgen. Was machst du denn schon so früh hier?“ Eine gute und berechtigte, aber zugleich ungerechte Frage. Warum sollte ich nicht hier stehen? Wie alle anderen, denen ihre Karriere und ihr Job etwas bedeuteten? Sah ich so aus, als wollte ich dies nicht auch? Dabei wurde mein Bart heute Morgen extra auf die Grenzlänge meines Arbeitgebers gestutzt! „Guten Morgen, Susan“, mit einer krächzenden Stimme versuchte ich, die sanft und schön klingenden Worte ihrer zauberhaften Stimme zu erwidern. Zu mehr war ich in diesem Moment nicht fähig, ganz im Gegensatz zu Susan: „Schön dich hier zu sehen. Ich bin heute auch früher dran als sonst, wir haben heute eine Vorstellung unser ersten Entwürfe bei Y-Move. Ich muss dafür noch ein paar Unterlagen erstellen für unsere Lightpresentation am Abend. Heute entscheidet der Markenvorstand von Y-Move über diese Kampagne. Sie ist immens wichtig für uns…“ Was für ein verbaler Überfall auf einen Mann, der sich heute aus dem Bett quälen musste und mit kleinen Pupillen und halb geschlossenen Augen um kurz vor acht auf dem Track stand. „Ein großer Tag heute für dich Susan, da kann ich dir nur viel Erfolg wünschen!“, den ich selbst für mein Controllermeeting auch gut gebrauchen könnte. „Danke James, du hast Recht, damit hätten wir einen der Größten in der Modebranche bei uns als Kunde.“ Susan strahlte mich mit ihren blitzend weißen Zähnen an, als hätte sie gerade 10 Millionen in der Lotterie gewonnen. Toothy schien bei ihr perfekt zu funktionieren. Eigentlich schien bei ihr alles perfekt zu funktionieren. Anfang zwanzig, eine zarte, reine, weiße Haut ohne Falten, Sommersprossen oder sonstigen Makeln. Hellblondes, mittellanges, gesträhntes Haar, in das sich unauffällig noch zwei, drei Farbnuancen geschlichen hatten. Eine Figur, die einen Mann sofort zum Träumen brachte. Sie war, wie Edward sagen würde, der Inbegriff einer Werbegöttin. Manchmal nannte er diese Frauen auch einfacher Werbebitches oder Plakatschlampen, abhängig von seiner persönlichen Stimmung und Situation. Ihr Arsch saß perfekt in einer eng anliegenden schwarzen Stoffhose, klein und rund, wie ich es liebte. Einfach 180 cm Perfektion. Um dieses Gespräch beneideten mich jetzt mindestens 90% der Männer hier in der Station. Schlussendlich durfte aber auch ich sie nicht ficken, obwohl das einer meiner liebsten Träume war. Am liebsten würde ich das jetzt in die umstehenden Gesichter schreien und ihre Reaktionen darauf beobachten. Ein dickerer Herr neben mir im dunklen Anzug fixierte Susan schon eine Weile mit seinen dicken braunen Augen. Wie gerne würde ich diesem nun ins Gesicht schauen und sagen, ich ficke diese junge Frau gleich richtig durch! Aber könnten Sie sie mit Ihren Blicken bitte für mich vollends ausziehen, dann habe ich weniger Aufwand später und wir sehen beide, was darunter steckt!

Das Fickprivileg gebührte ausschließlich dem Leiter unser Businessunit, Gerhard Wagner. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, diese Frau zu bekommen, aber der Erfolg schien sich bei ihm nicht nur im Beruflichen widerzuspiegeln. Ich war im Moment gut beraten, meine Finger von Susans schönen Arsch fern zu halten, da meine Qualitäten am Arbeitsmarkt aktuell eher nicht gefragt waren. Wir liefen zum Ausgang der Station. Von dort aus waren es zu Fuß noch 10 Minuten bis zur Firma. Kein größerer Aufwand, da man selbst nicht mehr laufen musste. Vor einem Jahr wurden hier die Transportbänder installiert. Sie verliefen außerhalb der Station zu allen Gebäuden und hatten eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 20km/h. Sie beförderten einen in Joggingtempo ins Büro, während man sich gemütlich mit einer hübschen Susan unterhalten konnte, oder besser gesagt von dieser unterhalten wurde. Denn seit wir uns getroffen hatten, prasselten ununterbrochen Worte, Sätze und Phrasen auf mich ein, wie der Regen, der eigentlich vom Wetterbericht vorhergesagt worden war. Mal stärker mal schwächer, mal langsamer mal schneller, plitsch platsch, plitsch platsch. Noch zwei Minuten, dann sollten sich unsere Wege trennen. Die Abteilung „Werbung-Mode“ saß im Komplex AC-4, ich mit meiner Abteilung im AC-6. „Also James, war nett mir dir zu reden. Vielleicht sehen wir uns mal beim Mittagessen oder gehen zusammen joggen. Die haben doch seit zwei Wochen ein neuen, gelenkschonenden Parcour im Park eröffnet.“ „Ja, können wir machen“, erwiderte ich, „aber diese Woche sieht es schlecht bei mir aus. Vielleicht nächste, ich melde mich bei dir. Und viel Erfolg bei deiner Show heute.“ In diesem Moment bog sie auch schon ab und ihr geiler Arsch bewegte sich mit 20kmh von mir weg. Es wurde ruhig und ich lauschte wieder entspannt den Gesprächen der Anderen um mich herum. Noch acht Stunden bis zu meinem Meeting. Mein Magen begann zu grummeln. Für mich zog heute ein Sturm auf und die Vorzeichen dafür waren nicht zu übersehen.

Im Büro war heute Morgen noch nicht besonders viel los. Auf dem Weg zu meiner Workstation begegnete ich nicht mehr als einer Handvoll Leute. Ein Meer aus leeren Schreibtischen füllte den Großraum. Der Blick aus den Fenstern war so grau wie die Schreibtischoberflächen hier drinnen. Überall verwaiste Schreibtische und leere Container. Bei so einem Wetter würde man am liebsten zuhause bleiben und schlafen. Nicht aber wenn ein Meeting anstand. Am Ende des leeren Büros türmte sich eine undurchsichtige Milchglaswand wie eine Nebelbank auf. Um diese zu erreichen lief man etwa 35 Meter durch den Vorhof, wie er von mir immer genannt wurde; der Vorhof zur Hölle. Hinter der Wand lagen die Büros der Werbedesigner, die durch eine milchige, undurchsichtige Tür vom Vorhof der Sachbearbeiter getrennt wurde. An einer dieser Türen stand auf einem titanfarbenen Schild der Name James Corner, direkt unterhalb des Namens Edward Meyers. „James, scheiß die Wand an, was machst du denn schon hier? Hat dich eine Frau frühzeitig aus dem Bett geworfen weil du so scheiße darin warst?!“ Mit diesen Worten empfing mich Meyers überrascht.

„Meyers, hi, schön deinen fetten Arsch so früh am Morgen zu sehen.“ Meyers saß wie immer schon ab sechs Uhr im Büro. Es war, als ob er sein Leben hier in diesem glasigen, durchdesignten Büro verbringen wollte. „Ho ho ho, da ist einer aber ganz schön beschissen drauf heute. Hat dich dein kleiner James mal wieder nach zwei Minuten im Stich gelassen, oder will er gar nicht mehr?“ Sein Lachen und seine Sprüche um diese Zeit waren mindestens so hart wie mein Schwanz beim Duschen heute Morgen, nur eben nicht annähernd so erfrischend. „Meyers, du Penner, ich habe heute unser Meeting mit dem Controlling und die Unterlagen sind nicht annähernd da, wo sie vom Bearbeitungsstand sein sollten. Mal abgesehen davon, dass deine Schuhsohlen voller Dreck sind, sodass ich mal davon ausgehe, dass du zu Fuß vom Puff hierher gelaufen bist.“ Seine Füße zuckten vom Schreibtisch zurück. Normalerweise war das das Bild, welches sich einem Besucher erschloss, der in unser Büro eintrat - die Sohlen von Meyers auf seinem Glasschreibtisch. “Corner, du Arsch, das sind ganz neue Schuhe, Mann. Die waren sau teuer und strahlen dir mit ihren neuen braunen Ledersohlen in dein hässliches Gesicht. Sie leuchten auf dich, also respektier das und freu dich.“ Er stand auf und wackelte auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und stellte die obligatorische Frage: „Kaffee, Trottel?“. Dies war und blieb wohl der Höhepunkt unseres morgendlichen Treffens. Wir hatten uns im Selling-Net eine alte Schweizer Kaffeemaschine bestellt, die wie ein heiliger Schrein in unserem Büro stand. Ein alter, silberfarbener Vollautomat, der verschiedene Kaffeearten zubereiten konnte. Aufgrund seines Alters funktionierte nur noch sein Mahlwerk, so dass die Auswahl auf schwarzen Kaffee begrenzt wurde. Sein Display zeigte nichts an, da die Beleuchtung nicht mehr funktionierte. Meyers hatte über einen Kumpel Connections nach Afrika zu irgendeinem kleinen hinterwäldlerischen Schwarzen, der noch auf klassische Art und Weise Kaffeebohnen anpflanzte und röstete. Einer, der die wenigen Kaffeeliebhaber noch belieferte. Ein Foto von diesem schrägen Vogel hing über der Maschine mit den Worten „Enjoy this original coffee“. Ich weiß nicht, wer diesen scheiß Text erfunden hatte, aber er hing darüber mit handsignierten Unterschriften von William Ernest Tyler und Edward Meyers. Jedes Mal dachte ich mir, dass dieser dubiose Händler ein Vermögen an uns verdiente. Aber dieser Geschmack und der süchtig machende Faktor kamen den guten alten Zigaretten gleich. Diese Kaffeebohnen waren trotzdem illegal, da deren Anbau die Umwelt zerstörte und Europa nur noch synthetisierten Kaffeeimport erlaubte. Unsere Kollegen störte dies nicht, es wurde mehr oder weniger von den meisten geduldet.

Mein Vater hatte auch eine Schwäche gehabt: Zigaretten. Nur konnte er es im Gegensatz zu mir und meiner Kaffeesucht überhaupt nicht kontrollieren. Das war wohl auch der Grund, warum er daran starb. Er war einer der letzten, die an Lungenkrebs starben, bevor das Totalverbot für Zigaretten griff. Genossen hatte er aber jede einzelne seiner zig tausenden Zigaretten. Er war ein Lebemensch, bis er vom Krebs zerfressen wurde. Dabei sah er selbst auf dem Totenbett aus, als zog er gerade noch genüsslich an einer Zigarette. Das lag nun schon 10 Jahre zurück. Meyers schalte die Maschine an. Ein kurzes Klackern ertönte und das Mahlwerk drehte dreimal testweise. Meyers leerte die Bohnen in den Behälter und goss das Wasser aus seiner Wasserbox in den Tank der Maschine. „Yeah Babe, zauber uns nen Kaffee…“ Meyers war schon ziemlich abgedreht, vom Typ her ein Kumpel mit Arschlochmanieren, aber dafür liebte ich ihn. Wir waren uns ähnlicher, als uns lieb war.

„Corner, ich werde heute Abend mit den zwei Mäusen aus der Sensation-Bar ausgehen. Die, die dich so süß fanden!“ Er lachte, weil er merkte, dass er mir damit wirklich voll auf die Eier ging. „Bist du dabei? Wir wollten Richtung Clubbing Xperience im Edison Tower losziehen.“ Meyers hatte vor kurzem bei unserer letzten Bartour zwei Frauen angegraben. Besoffen war er ein Meister im Flirten. Da ich nur halb so besoffen gewesen war wie er, hatte ich die Rolle des Gesprächspartners übernommen. Es waren zwei Sekretärinnen, die unweit unseres Büros arbeiteten. Ihren Geschichten zufolge war zumindest Anna offen für Sex. Sie vögelte gerne nebenher mit ihrem Chef. Dieser hatte ein Büro im 30.Stock. Beim Vögeln konnte sie seine Aussicht genießen. Es bot ihr auch sonst noch weitere Annehmlichkeiten in ihrer Firma.

Sie war dennoch kein Mädchen, das einfach ins Bett zu bekommen war, was sich schnell herausstellte. Sie wollte klassisch erobert werden. Schneller als andere, aber klassisch. An diesem Abend hatte ich aber keine Ambitionen gehabt und der Abend verlief entsprechend. Ich nahm keine Nummer von ihr, nur Edward wollte sie unbedingt wieder sehen. Sie war eine ansehnliche Frau. Etwas zu kleine Brüste, aber das wäre für mich auch okay, zumindest für ein paar Mal. Der Versuch, sie ins Bett zu kriegen, würde mich maximal ein paar Drinks kosten und wenn es nicht klappen sollte, wäre ich von dort aus immer noch schnell in der „Shag Station 6“, um eine billige Nummer durchzuziehen. Nach kurzem Überlegen sagte ich zu, der Tag heute war eh schon bescheiden, da konnte der Abend mit Meyers einen beschissenen Höhepunkt dessen darstellen: „Ich bin dabei, Edward“, erwiderte ich. „Nur lässt du dieses Mal die Finger von Anna, du konzentrierst dich auf ihre Kollegin! Und dieses Mal wird nicht auf dem Klo nachverhandelt, mein Freund!“ Er lachte und hob seine Hand zum Einschlagen. „Corner, schlag ein, wir machen heute die Bräute klar, ohne zu saufen!“. Dieser Satz schallte durch das Büro als auch in dieser Sekunde simultan die Tür aufging und Kollege Walters eintrat. „Guten Morgen, Herr Meyers, Herr Corner. Sie sind schon wieder fleißig am Texten, wie ich sehe.“ Meyers erstarrte, während Walters seinen Überraschungsangriff sichtlich genoss. Meyers sah in seiner Pose kurz vor dem Einschlagen nur dämlich aus. „Klar und guten Morgen Walters, wir haben schließlich hier einen der bedeutendsten Aufträge der ADVERTISING PILOT AG“, erwiderte Meyers. „Was würden wir sonst tun, als unsere Firma in neue Sphären zu katapultieren. Wenn es so weiterläuft, Herr Kollege, ist mein Insidertipp für Sie, kaufen Sie Aktien, Mann…“ Ich unterbrach Meyers mit einem lauten Husten. „Guten Morgen, Walters“, ich reichte ihm meine Hand, um die Aufmerksamkeit von diesem Chaoten Meyers wegzulenken. „Walters, ich brauche heute noch Ihre Hilfe. Wir sind mit der Cellphoning-Kampagne kostenmäßig am Anschlag. Wir stehen an der Wand! Unser Auftraggeber macht Druck, wir brauchen aber mehr Budget. Das wird die größte Kampagne seit der Impfwerbung gegen Aids. Aber eben nur, wenn wir entsprechend Zeit und Geld bekommen. Heute sitzen wir beim Controlling zum Review.“ „Wie soll ich euch dabei helfen?“, fragte Walters. „Wir brauchen Ihre Fachexpertise im neuralen Marketing. Ich habe auch schon einen Plan, zumindest eine grobe Vorstellung.“ Ich klang plötzlich so euphorisch, als würde mir meine Arbeit Spaß machen und ich kurz vor dem nächsten Karriereschritt stehen. Als müsste ich mich in dieser Sekunde bei Walters profilieren, nach dem Motto „Jetzt oder nie!“ „Wir müssen zum CEO von ADVY und ihm diese Kampagne persönlich erläutern.“ ADVY war der Kosename unseres Konzerns. „Die Kampagne darf nicht durch die trägen Ärsche, drei Hierarchiestufen über uns gefiltert werden!“, rief ich. Meyers begann zu lachen. „Meyers, das ist unsere einzige Chance! Das Controlling stoppt heute die Kampagne. Zumindest, was meinen Teil und meine Person angeht“.

Ich hatte die Kampagne vor einem Dreivierteljahr übernommen. Bis dahin war sie von einem Kollegen betreut worden, der bei einem Mobibikeunfall ums Leben kam. Er hieß Vince Jackson und hinterließ nach diesem tragischen Unfall dieses Projekt sowie eine Frau mit drei kleinen Kindern. Ein Systemausfall seines Mobibikes hatte ihn gegen die Glasfront eines Modegeschäfts katapultiert. Beim Durchschlagen der Scheibe schnitt er sich so ziemlich alle obenliegenden Venen auf, weswegen er in kürzester Zeit verblutete. Die Bilder bei Cell-TV zeigten eine Blutlache, als hätte man einen überbesetzten Schweinestall zum Explodieren gebracht. Zu seiner Zeit war diese Kampagne relativ unbedeutend, ähnlich wie Jackson hier im Unternehmen. Sie entstand als Nebenprodukt zu einer Hauptwerbekampagne eines Kunden, der sich an uns wandte, um eine klassische Kampagne für sein Mobiltelefon zu entwerfen. Wir sollten für Noky Cell Phone eine Kampagne entwickeln, die eine neuartige Technik benutzte. Damals war diese Technik noch weit vom Durchbruch entfernt, zumindest wurde dies zu dieser Zeit so an uns weitergegeben. Da ich zu diesem Zeitpunkt im Vision-Phonemarketing war, kam unser Chef nach Jacksons Tod auf mich zu, um mir dieses Projekt beiläufig unterzujubeln. Ich nahm es an, weil ich mehr über diese Technik erfahren wollte und mein Stand in der Abteilung nicht gerade der Beste war.

Ich hatte vor vier Jahren das erste Mal in ScienceVision darüber gelesen, als eine Vision und Möglichkeit in der Zukunft. Ein chinesischer Forscher hatte damals versucht, das neurale Netz des Menschen mit einem Chip zu verbinden. Er wollte diesen über die Neutronentransmitter der menschlichen Nervenbahnen steuern. Anscheinend, so war die Meinung damals, wäre dies in absehbarere Zeit nicht möglich.

Der damalige Ansatz stammte auch aus der pharmalogischen Branche und diente dem Ansatz, den Umgang mit schweren Krankheiten zu erleichtern. Nun stand unglaublicher Weise gerade dieser Durchbruch kurz bevor. Noky Cell Phone hatte einen wichtigen Schritt in diese Richtung geschafft. Gerade ein Telekommunikationsunternehmen! Sie pflanzten einem Menschen einen Chip unter die Haut, der es ihm ermöglichte, ohne Einsatz eines Zusatzgerätes zu telefonieren. Er konnte, einfach gesprochen, diesen Chip über Gedanken bedienen, beziehungsweise diesen durch seine Neurotransmitter steuern. Es war unglaublich. Der Chip empfing diese Transmitter und konnte die Botschaften umsetzen. Ähnlich wie diese uralten Telefone, in die man die Nummern über einen Zahlenblock eintippen musste und der Chip im Gerät diese Informationen verarbeitete. Nur dass die Finger nun durch Neuronen der Nervenbahnen ersetzt wurden. Ein uraltes Prinzip von Anfang des Jahrhunderts, aufgegriffen und perfektioniert. Als Akku diente dabei die Bluttemperatur von 36,3° Grad, die den Chip mit Energie füllte. In einer streng geheimen Besprechung innerhalb des Noky Forschungskomplexes wurde uns ein Prototyp des Chips kurz vorgestellt. Anscheinend war es dadurch dem Nutzer möglich, ein Telefon zu steuern. Dies war nach Meinung der Experten wahrscheinlichdieErfindung in diesem Jahrhundert. Nicht, weil sich dadurch ein Telefon steuern ließ, es stellte einen Durchbruch in der Kybernetikforschung dar. Eine weitere Symbiose der Technik mit dem Menschen.

Und meine Idee war perfekt dazu. Ich überlegte mir vor einem halben Jahr, wie sich eine solche Technik vermarkten ließe. Da fiel mir eine Vorlesungsstunde an meiner Universität ein. Eine der wenigen Vorlesungen, an die ich mich noch erinnern kann. Damals hatten wir in Kommunikationswissenschaften einen jungen Professor. Er glich ein wenig Prof. Merger aus der Fernsehserie „Dead or Alive in Space“. Ein junger, hochaufgeschossener Jüngling, der eher wie achtzehn als fünfunddreißig wirkte. Kein Bart, kurze schwarze, dichte Haare und dunklere Haut. Meist trug er ein einfach gestreiftes Hemd, das für gewöhnlich hinten an seiner Stoffhose heraus hing. Er war ein offener Zukunftsvisionär. Stets schwärmte er von Mobibikes und den transatlantischen Gleitern. Der Professor hatte an einem Donnerstag eine Slideshow aufgelegt. Sie trug den Titel „Transneurales Marketing - der Weg durch das Gehirn zu den Wünschen des Einzelnen“. Eine Unterlage über die gezielte elektromagnetische Stimulation von Hormonen im Gehirn. Dabei werden bestimmte Hirnregionen bestrahlt, um die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin zu stimulieren. Diese lösen dadurch ähnlich wie Sex oder Essen Glücksgefühle aus. Zeitgleich wird ein Bild oder Tonsignal an die Ohren und das Auge gesandt, um das Gefühl mit dem Produkt zu verbinden. Dies kann über ein klassisches Bild geschehen oder mittels eines Laserlichts auf die Netzhaut projiziert werden, ohne dass man es wahrnimmt.

Und genau diese Innovation war meine Idee für die Kampagne. Es war für mich eine Symbiose der fortschrittlichsten Techniken. Obgleich ich beide als pervers erachtete und keine von beiden für mich nutzen würde. Aber in mir war diese Schizophrenie aus Technikliebe und Zukunftsangst. Vielleicht trieb mich genau diese Schizophrenie in diese verlogene Branche.

Es gab diese Art des Marketings noch nicht, aber ich wusste von Kongressen, dass einige daran fieberhaft arbeiteten. Im letzten Jahr gab es im Rahmen der Marketing Convention in Hamlin einem Vortrag zu diesem Thema. Dabei sprach Professor Sonnenberg von der Chemical Solutions, einem Biotechnologietochterunternehmen unseres Konzerns, darüber. Ich lernte ihn damals spät abends an der Hotelbar kennen und er erzählte mir sehr viel darüber. Er war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Er widmete sein ganzes Leben dieser Forschung und war zeitgleich einer ihrer größten Kritiker. Er fürchtete den Missbrauch dieser Technik mehr als alle anderen. Dies war für ihn die Motivation, daran zu arbeiten und es als Erster zu schaffen, eine kontrollierte und gewollte Stimulation zu erreichen. Der zufällige Kontakt ermöglichte es mir, diese Technik in meiner Kampagne zu verwenden. Professor Sonnenberg wurde ab diesem Tag mein Coach in neuralem Marketing. Außerdem bot er mir an, als Berater zu fungieren. Ich konnte ihn bei Tag und Nacht kontaktieren.

Walters hingegen lehnte seine Unterstützung ab. Er wollte sich nicht für uns einsetzen. Das wurde durch seine stotternde und stümperhafte Gegenargumentation klar. Er würde wahrscheinlich nicht mal für seine Ehefrau, wenn es um Leben und Tod ginge, einen Termin bei unserem CEO vereinbaren. Damit würde er auffallen, was für ihn eine Katastrophe darstellte. Er hatte nicht das Rückgrat, sich für irgendjemanden einzusetzen. Er war der Inbegriff einer Arbeitsdrohne. Nach weiteren drei bis vier Minuten Smalltalk verließ er den Raum wieder. Wahrscheinlich war auch er erleichtert, als er die Tür hinter sich zuzog. Das Problem war nur, mit ihm schwang auch mein Plan zur Tür hinaus. Ich musste mir etwas Neues überlegen.

Kapitel 3

Es dauerte keine zehn Minuten, bis sich unsere Tür erneut öffnete. Es war die Sekretärin unseres Chefs, Corinna Steinberger. „Guten Morgen, Edward, guten Morgen, James“. Ihre Stimme schallte freundlich durch den Raum, hatte aber eine Nuance Aufregung dabei. „Hat einer von euch beiden die Nachrichten Updates heute gesehen? Ein verrückter neunzigjähriger Mann ist heute beim Shopping in der Central-Mall ausgeflippt. Anscheinend, so berichteten Augenzeugen, ist er urplötzlich auf eine Frau zugelaufen und hat sie am Hals gepackt und gewürgt.“ Meyers brach in Gelächter aus „…da will’s ein Alter aber nochmal wissen… Der alte Killer von der Central-Mall“. Ich muss zugeben, ich selbst war auch sehr amüsiert über diese Nachricht, wollte aber Corinna mit ihren News nicht bloßstellen. Ich versuchte, Meyers wieder zu beruhigen, der plötzlich anfing, wie ein Geisteskranker mit dem Kopf zu wackeln und die Augen zu verdrehen. Dabei wankte er langsam auf Corinna zu, hob die rechte Hand und begann laut und widerlich zu grunzen. „Ich merke schon, bei euch zweien scheint diese Nachricht also emotional nichts auszulösen.“ An ihrer Stimmer merkte man nun, dass sie über Meyers‘ Reaktion etwas beleidigt war. „Ach Corinna, wer wird denn gleich so sauer sein? Nur ein kleiner Witz meinerseits. Komm schon, halb so wild. Was ist denn der Frau passiert?“, fragte Meyers. „Gar nichts, sie kam mit einem Schock davon, aber komisch ist das schon, ein so alter Mann?“ „So was passiert“, erwiderte ich. „Wir sind hier in Europa mittlerweile fast eine halbe Milliarde Menschen, da tickt auch hin und wieder ein Alter durch! Vielleicht hat er seine Medikamente verweigert oder falsch eingenommen. Im Alter werden die Menschen einfach labiler“, versuchte ich, das Geschehen zu erklären. Da machte ich mir mehr Sorgen wegen meines Controllermeetings am Mittag, dachte ich mir. „Aber doch nicht aggressiver, das ist doch komisch! Edward, ich brauche von dir noch die Abrechnungen deiner letzten beiden Aufträge für meinen Chef. Bitte lass diese mir noch diese Woche zukommen!“ Corinna lächelte und verschwand, wie Walters, durch unsere Milchglastür. „Mann, die war ja mal aufgeregt. Die lässt sich durch jede Scheißmeldung schocken. Letztes Mal kam sie so, als ein Hund von einem Transporter erfasst wurde und auf eine Passantin geschleudert wurde. Da war sie mindestens genauso aufgelöst. Da konnte ich es aber noch verstehen. Die Frau sah schließlich aus wie in einem Splatterfilm, mit Hundeblut und Innereien behängt. In der Haut ihres Freundes will ich auch nicht stecken. Schatz, ich kann heute nicht mit dir schlafen, mich beschäftigt der alte Killer aus dem Einkaufszentrum!“, ereiferte sich Meyers. Wir begannen beide zu lachen, Meyers war halt doch ein Arschloch. Aber Leute in Slapstickmanier nachmachen, das konnte dieser Vogel.

Kapitel 4

Gegen 12.30 Uhr ging ich mit Meyers in unserem Firmenrestaurant Mittagessen. Das Restaurant gehörte zu den modernsten Schnellrestaurants im kompletten Industriepark. Es war mit dreihundert Tischen für jeweils vier Personen ausgestattet. Mittendrin gab es so genannte Inseln, runde Tische, an denen bis zu zwölf Personen sitzen konnten. Von uns wurden diese spöttisch „Inseln der Verdammten“ genannt, da dort meist eher die Außenseiter oder einzelne verirrte Kreaturen saßen.

Wir setzten uns an Tisch 227. Nach zwei Minuten fuhr uns ein silbernes Gefährt entgegen, ein Serviceroboter. Er sah aus wie ein überdimensionierter Staubsauger. Er war rund und hatte einen Durchmesser von circa 80 Zentimetern bei einer Höhe von ungefähr 50 Zentimetern. „Guten Tag, die Herren, bitte identifizieren Sie sich!“ Oben auf dem Körper des Roboters war in der Mitte neben einem Lautsprecher eine Kamera verbaut, die uns mittlerweile fokussiert hatte. „James Corner“, antwortete ich. „Muuiiiierrschiyss“, Edward konnte es nicht lassen, diese Maschinen zu fordern und zu verwirren. „Eingabe nicht erkannt! – Es wurde kein Herr Muschis gefunden, bitte wiederholen“. Diesen Witz brachte Meyers mindestens zweimal pro Woche und seine Wortkreationen waren niemals dieselben. Die Maschine wiederholte das Wort Muschi. Meyers lachte laut. Für ihn war das der größte Spaß, er war manchmal so albern wie ein Kind. Wirklich witzig war diese Aktion vor einem halben Jahr gewesen. Meyers diktierte dem Roboter mal wieder einen Namen, dieses Mal einen richtig kreativen. Just in diesem Moment kam unser Bereichsleiter an den Tisch, um uns zu begrüßen. Der Roboter begann, den Namen auszusprechen und antwortete somit auf die Begrüßung unseres Chefs mit „Maschinenmuschilecker wurde nicht erkannt, bitte wiederholen Sie die Eingabe.“ Dies war einer der Momente, in denen selbst Meyers knallrot wurde und keiner von uns mehr etwas sprach. Ich hätte in diesem Moment zu gerne die Gedanken unseres Chefs lesen wollen.

Meyers identifizierte sich nun auch endlich richtig und der Roboter fuhr Richtung Küche. Nach fünf Minuten kam er zurück. Vorne öffnete sich eine Klappe und unsere Essen standen darin. Meine Portion war leider nicht, das was ich erwartet hatte. Präferiert hätte ich donnerstags etwas anderes, zum Beispiel ein saftiges Steak serviert mit PumPlums. Stattdessen schallte mir die Stimme des Roboters entgegen: „James Corner, ihr Speiseplan wurde entsprechend der heute empfangenen Gesundheitsdaten adaptiert. Im Moment sind keine weiteren Schritte notwendig. Ihr Plan wird bis zum 18. April automatisch für vier Wochen geändert!“ Ganz toll, dachte ich mir, während Edward wie immer sein Wunschessen bekam. Auf meinem Teller lag ein Gemüsebrei, der stark danach aussah, als beinhalte er Brokkoli. Dabei war Meyers fett und nicht ich. Ich wunderte mich stets, wie er es schaffte, diesen Check zu umgehen. Wahrscheinlich nahm er den Urin der Nachbarskatze für den Morgentest. Das System musste fehlerhaft arbeiten, die Welt war auch im 22. Jahrhundert weiterhin ungerecht. Das Essen bei uns verlief in völliger Stille und Nachdenklichkeit. Jeder von uns aß. „Also, Freund, heute Abend darf uns mit den Hasen nichts schief laufen!“, Meyers unterbrach die Stille. „Ich bin wirklich heiß auf die Kleine!“. Plötzlich begann mein Messenger zu blinken, ich hatte eine neue Email erhalten. Ich stand auf und verabschiedete mich schnell von Meyers und begab mich auf dem Weg zurück ins Büro. Er schrie mir irgendetwas hinterher. Er war wohl über meinen plötzlichen Aufsprung nicht erfreut. Es war eine Message von unserem Bereichsleiter, die mich aufstehen ließ. Unser Controllermeeting war kurzfristig abgesagt worden. Ein Grund dafür stand nicht dabei. Ich rief ihn an. In einem kurzen Gespräch erläuterte er mir die Neuigkeiten, die es seitens unseres CEOs gab. Anscheinend hatte dieser ein Treffen mit dem Management von Noky Cell Phones, in dem auch unser Projekt zur Sprache kam. Wir hatten durch dieses Meeting die nötige Vorstandsattention erhalten. Es musste also doch einen Gott geben! Dies war die Nachricht über unseren Sieg, das Controllingmonster war beseitigt! Mit dem Rückenwind aus dieser Ebene stand unseren weiteren Forschungen nichts mehr im Wege. Ich fühlte mich richtig gut. Der Tag wandelte sich in Sekunden in einen der wenigen Tage im Arbeitsleben, die richtig Spaß machen. Mein Mittag konnte einen entspannten Verlauf nehmen. Ich beschloss kurzerhand, Corinna Steinberger zu besuchen, um die Situation von heute Morgen wieder gerade zu biegen. Was würde da besser helfen als ein kleiner, belangloser Smalltalk nach dem Mittag. Sie saß vier Etagen über mir. Nachdem man den Fahrstuhl verlassen hatte, empfing einen die gleiche Halle wie bei uns. Mit dem Unterschied, dass hier zahlenmäßig nicht einmal 20 % der arbeitenden Menschen aus unserer Etage saßen. Hier waren die Flächen weitläufiger und die Gehälter höher. Pflanzen unterbrachen diese Freiflächen immer wieder, sie schirmten wohl die leichten Gehaltsdifferenzen auf diesem Stock gegenseitig ab. Direkt am Fenster saß Corinna. Sie wirkte nachdenklich und in ihre Arbeit vertieft. Mit einem sanftmütigem „Hallo“ holte ich sie von ihrer Arbeit langsam zurück. „James, freut mich dich zu sehen. Mir geht es heute leider nicht besonders gut. Ich fühle mich schlapp und müde.“ Sie sah auch bleich im Gesicht aus. Die Farbe ihrer sonst so schönen Lippen war weißlich. „Ich muss immer wieder an den alten Mann aus dem Einkaufszentrum denken, das macht mir Angst.“ Ich wollte sie wieder besänftigen, doch sie unterbrach mich. „James, stopp! Es ist nett, dass du mich beruhigen willst, aber hör mal zu. Ich habe heute mit meinem Schwager in Paris telefoniert. Er arbeitet doch dort seit einem halben Jahr in dem Zentralklinikum. Du wirst es nicht glauben, aber es gab anscheinend in Frankreich in der Nähe von Lyon einen ähnlichen Fall. Dieser wurde heute in den Medien bekannt und sorgt in ganz Frankreich für Entsetzen. Eine vierundachtzigjährige Frau, es ist schrecklich. Sie war eine einfache Bäuerin, die alleine und zurückgezogen auf ihrem Bauernhof lebte. Ihr Mann war bereits vor Jahren gestorben. Also eine ganz gewöhnliche alte Frau. Anscheinend, wie jeden Wochentag, übernahm sie die Aufsicht für ihre Enkelin, da ihre Tochter geschieden war und nicht die finanzielle Möglichkeit hatte, ihr Kind in eine private Kinderaufsichtsstation abzugeben. Als die Tochter gegen Spätnachmittag zurückkam, war ihre Mutter nicht aufzufinden. Der Hof wirkte wie leer. Im ersten Moment dachte sie, die beiden seien bei den Nachbarn. Also wartete sie draußen auf einer Bank. Als eine halbe Stunde später noch immer niemand auftauchte, begab sie sich in das Haus. Das Essen stand fertig gekocht auf dem gedeckten Tisch, aber niemand war zu sehen. Sie ging nach oben, um nach ihnen zu suchen. Auch in den oberen Zimmern war niemand. In ihrer Verzweiflung lief sie die alte Kellertreppe hinab. Als sie das Licht anschaltete, bot sich ihr ein Bild des Grauens: Ihre Tochter lag blutüberströmt auf einem alten Holztisch. In ihrem Kopf steckte ein 30 Zentimeter langes Küchenmesser. Der ganze Körper war übersäht mit Messereinstichen. Sie war tot! Es glich einer Hinrichtung. Der Boden war blutverschmiert. Nur lag dort nicht ein Mörder wie im Mittelalter, sondern ein kleines Mädchen von knapp acht Jahren. Plötzlich bewegte sich aus dem Dunkeln ihre Mutter auf sie zu. Anscheinend war sie total verwirrt. Sie attackierte ihre Tochter mit bloßen Händen. Die begann sich heftig zu wehren, stieß die alte Frau zurück und lief nach oben. Dort schloss sie die Treppe ab und alarmierte über ihren Messenger die Polizei. Als die eintraf, lag ihre Mutter tot im Keller. Sie war beim Stoß ihrer Tochter gestolpert und hatte sich beim Fallen das Genick gebrochen. Die Tochter wurde in die psychiatrische Anstalt eingeliefert, in der mein Schwager arbeitet. Der Fall wird aktuell untersucht. Sie haben aber noch keine Anhaltspunkte. Laut meinem Schwager wollten sie im Laufe der Woche eine Autopsie des Gehirns der alten Frau durchführen, um mehr Licht ins Dunkle dieses Falles zu bringen. Gruselig James, das ist der reinste Horror, diese Geschichte. Meinst du, es gibt einen Zusammenhang?“ Ich war selbst etwas überrascht und als ich meinen Arm erblickte, sah ich, dass ich eine Gänsehaut bekommen hatte. Einen Zusammenhang schloss ich aber sofort aus. Zwei Fälle, zwei Länder, da lag der Zufall näher als die Zusammengehörigkeit der Taten.

„Corinna, das ist Zufall, mach‘ dir keine Sorgen darüber. Ich gebe zu, es ist schockierend, was da in Frankreich passiert ist, aber das ist unsere Welt. Auf uns prasseln täglich neue Informationen ein, die unser Gehirn erfassen und verarbeiten muss. Da kann es vorkommen, dass nach ein einigen Jahrzehnten Defekte daran auftreten, die dann zu solchen Fehlreaktionen führen. Ich glaube, es war Zufall.“ Corinna lächelte mich an. „James, es ist wirklich süß von dir, dass du mich beruhigen willst, aber du schaffst es nicht. Ich bleibe dabei, hier stimmt etwas nicht!“ „Gut, wir werden sehen, bei weiteren Taten bekommst du bei uns unten eine Gratistasse guten, alten, afrikanischen Kaffee!“ Sie lachte und blickte zurück auf ihren Schreibtisch. Ich merkte, dass sie keine Zeit zum Reden hatte, also verabschiedete ich mich. Als ich zurück zum Fahrstuhl lief, fiel mir ein, dass ich bei dem Gespräch gerade unverschämt oft auf ihre Brüste geschaut hatte. Fuck, dachte ich mir, dabei wollte ich mir diese Abart wieder abgewöhnen. Hier im Büro hatte es 19° Grad, es war so kalt, dass man ihre Brustwarzen deutlich durch die Bluse sehen konnte. Es waren diese kleinen runden Magneten, die meine Augen magisch anzogen. Hoffentlich hatte sie es nicht bemerkt. Ich war mir aber sicher, sie hatte. Ob es ihr wohl gefallen hatte?

Ich arbeitete den restlichen Tag konzentriert an meiner Kampagne. Meyers hatte einen Termin auswärts, was die nötige Ruhe für ein kreatives Arbeiten schuf. Gegen 18.00 Uhr verließ ich das Büro. Ich wollte unbedingt vor dem Treffen mit Meyers noch daheim vorbeischauen. Irgendwas in mir sagte mir dauernd, dass etwas Schlimmes mit meiner Wohnung passierte. Keine Ahnung, wieso. Ich hatte dieses Gefühl nun schon seit Monaten. Immer wieder sah ich gedanklich meine Wohnung in Trümmern, in Flammen oder unter Wasser stehen. Manchmal dachte ich, ich sollte doch einmal einen Psychiater aufsuchen und nach dem Rechten schauen lassen. In meinem Kopf musste irgendwas aus der Spur laufen. Im Transporter zahlte ich dieses Mal 0,5 Eurocoins, um in einem werbefreien Wagen zu sitzen. Um mich herum waren eigentlich nur ältere Menschen. Spöttisch wurde dieser Teil auch oftmals Sterbewagen genannt. Die Jüngeren würden sich hier nie hinein verirren. Es war einfach herrlich ruhig. Nur beim Beschleunigen hörte man ab und zu den Magnetantrieb aufheulen. Es war ein leichtes Surren, das die Stille kurzzeitig unterbrach. Ich öffnete meinen Messenger und schloss meine Earphones an. Ich suchte im Nachrichtenarchiv nach dem Fall aus Frankreich. Es lagen aber noch keine weiteren Erkenntnisse vor. Ich hatte das Cliparchiv angeschaut, der Tatort sah wirklich aus wie in einem Horrorfilm.

Kapitel 5

Zuhause angekommen atmete ich erst mal auf. Das Hochhaus stand noch und auch meine Wohnung schien völlig unversehrt zu sein. Ich wechselte meine Kleidung und schluckte eine Easy Wake Up Pill. Mein Messenger vibrierte. Es war Meyers, er kam direkt zum Treffpunkt. Da es draußen wieder in Strömen regnete, beschloss ich, kein Mobibike zu nehmen, sondern forderte mir ein SmallCab an. Ich wollte nicht wie ein begossener Pudel vorfahren.

Ich stieg in das SmallCab ein. Der Chauffeur fragte mich freundlich nach dem Zielort. Es war ein X-10 Fahrsystem, das den Smallcap bediente. Eine projizierte Figur auf der vorderen Scheibe des SmallCabs. „Edison Tower, Level 0, danke.“ Ein paar wenige Worte und das Gefährt berechnete die beste und schnellste Route. Um kurz vor zehn war auf den Straßen wenig Verkehr und der Edsion Tower war in dreißig Minuten zu erreichen. Es war schon dunkel und die Stadt funkelte in allen Farben. Die Projektionen der neusten Produkte auf den Flächen der Häuser schillerten in den Fenstern meines SmallCabs. Wir hielten zwei Mal, um noch zwei weitere Personen mitzunehmen. Eine Frau und einen älteren Mann, beide recht schweigsam. So kam es, dass ich die Fahrt in Gedanken verbrachte, beim Ausblick auf die Straßen von Hamlin. Woran ich dachte?

Energie und Ressourcen sparen, diese Schlagwörter bestimmten die Nachrichten der letzten Wochen. Durch den Ausfall zweier Solarfelder in der Sahara stieg der Strompreis nun seit Wochen. Ein Sandsturm hatte dort mehrere kleinere Felder in Schutt und Asche gelegt und dabei eine Transportpipeline nach Europa zerstört. Die Regierung ging davon aus, dass der Strompreis bis Mitte dieses Jahres wieder fallen sollte. Trotzdem bildeten sich Gruppen, die zum Stromsparen aufriefen. So entstand das SmallCab-Sharing. Jeder konnte nun ein besetztes und für diesen Modus freigeschaltetes SmallCab buchen und mitnutzen. Ich fand diese Idee witzig, da man so in Kontakt zu neuen Leuten kam. Es war sicher nicht des Geldes oder des Stroms wegen. Ich war einfach nur einsam. Mal mehr, mal weniger. Meine letzte Beziehung lag nun schon fünf Jahre zurück. Knapp zweitausend Tage. Mit ihr ging auch die Ära eines glücklichen Mannes zu Ende. Ich liebte sie damals sehr. Die Ära Sarah war mit Sicherheit heute schon einer der Höhepunkte in meinem Leben. Auch wenn das unter normalen Umständen noch ein ganze Weile andauern sollte. Laut Statistik hatte ich dieses Jahr ein Drittel meines Lebens hinter mir. Scheiße, dachte ich, schon wieder war ich in Gedanken bei Sarah. Zweitausend Tage später – ich wollte nicht mehr an sie denken, aber in meinem Gehirn waren die Bilder von ihr gespeichert. Für diese Art der Speicherung gab es leider heutzutage noch keinen Löschbefehl. Gäbe es ihn, ich glaube, ich hätte ihn ausgeführt.

Der Edison Tower war komplett in gelb-rotes Licht gefärbt. An seiner Spitze leuchtete die Werbung eines großen Entertainment-Projektorherstellers. Im unteren Bereich, der Einfahrtszone, standen bereits ungefähr fünfzig SmallCabs, die alle darauf warteten, vom TTMS, dem TowerTrafficManagementSystem, geleitet zu werden. Aus meinem Fenster sah ich eine Traube Menschen, die am Eingang stand. Am Rand der Menschentraube stand auch Meyers. Er hatte sich in seinen schicken, schwarzen Anzug geschwungen, der seinen fetten Arsch elegant umhüllte. Er stand da, die Hände locker in der Hosentasche, in Begleitung zweier Frauen. Es waren Rebecca und Anna, unsere Dates. Als mein SmallCab endlich zum Stehen kam, lief ich zu den Dreien. Annas Augen begannen zu leuchten, als sie mich sah, sie lief auf mich zu und begrüßte mich klassisch mit einem Wangenkuss. Sie hatte ein verführerisches Parfüm benutzt. Eine weiche, feminine Note umströmte ihren Hals, als sie sich näherte. Es war eine Mischung aus Vanille und einem holzigem Duft, soviel konnte meine Nase aus dieser Vielzahl an Essenzen selektieren. Sie streifte meine Wange leicht beim Küssen, ich spürte, wie ihre zarte Gesichtshaut über meine raue Haut glitt. „Hi, James, ich freue mich so, dass du noch mitkommen konntest. Edward erzählte mir, dass du direkt aus einem Meeting in Warschau hier her gekommen bist. Das war bestimmt super stressig?“ Meyers zwinkerte mir zu, manchmal könnte ich ihn dafür umbringen. Verlegen versuchte ich es herunterzuspielen, ich wusste nicht, was dieser Penner erzählt hatte. Ich reichte Rebecca die Hand. Leicht gestreckt und distanziert, sie interessierte mich nicht wirklich. Meyers hob mal wieder die Hand, um seine Abcheckerbegrüßung zu starten. Ich spielte mit, als ob wir das Tag Team schlechthin waren. Seine Hände waren feucht, er war nervös. Am Eingang wartete bereits eine Schlange vor dem Foyer. Das Xpierence war einer der angesagtesten Clubs in der Stadt. Er war eher elitär gehalten. Zumindest wurde am Eingang streng selektiert. Wir hatten aber einen Bonus. An der Tür stand heute ein Bekannter von Edward, Jackson Soor, ein echter Engländer. Er war fast 2,10 Meter und wog unglaubliche hundertfünfzig Kilo. Seine Spiegelglatze unterstrich seine Erscheinung mit einer gewissen Härte und Stringenz. Er trainierte im selben Gym wie ein Freund von Meyers. Über ihn lernte Meyers Soor kennen. Das war unser erster Trumpf. Der zweite war, dass hier Gäste aus der Werbebranche gerne gesehen waren. Am beliebtesten waren aber wir Werbemenschen von Advertising Pilot, da wir die Eröffnungskampange für das Xpierence konzipiert hatten.

„Hey Meyers, how are you doing?“, Soor hatte Meyers in der Schlange entdeckt und uns nach vorne gewunken. „Nice to see you man, hello girls, hello boy!“ Mich begrüßte dieser Schrank mit Boy, ich kam mir vor wie ein Schulbube neben dieser Maschine. „Soor, old cowboy, how do you do?“, Meyers war sichtlich begeistert, dass er so empfangen wurde und alle um uns herum auf ihn starrten. Er genoss die Show. Nach kurzer Zeit öffnete uns Soor das Absperrseil hinter ihm und wir konnten endlich eintreten. Der Fahrstuhl katapultierte uns in Sekunden in den fünfundfünfzigsten Stock. Als die Tür aufging, schallte uns laute Musik entgegen. Von einem auf den anderen Moment vibrierten die Bässe im ganzen Körper. Das Herz und die Lunge bebten von diesem höllischen Druck, während die Vings total im Kopf resonierten. Diese Art der modernen Instrumente konnte einen absolut mitreißen und in eine andere Welt bringen. Der Club war recht gut besucht für diese Uhrzeit. Das Xpierence umfasste ganze drei Stockwerke des Towers mit unterschiedlichen Themenräumen. Die Musik wechselte in den Räumen von Roocie über klassischen Modern Hip Beat bis hin zu Sambian Rush. Die Dekoration in jedem der Räume war stets eine Herausforderung für die Augen der Gäste. Bis ins Detail geplante Accessoires schmückten die Räume in Farben und Lichtnuancen, fast surreal anmutend. An einem Eck des Towers, im Smoothroom, waren die Außenscheiben entfernt worden. Man konnte sich dort relaxt in eine der Couches setzen und saß wie auf einer Terrasse in über hundert Meter Höhe. Von hier aus konnte man seinen Blick auf den nordöstlichen Teil der Stadt schweifen lassen und dabei entspannt einen der neuesten Drink-Kreationen des internationalen Barkeeperteams genießen. Der mittlerweile komplett beleuchtete Hafen stellte den Mittelpunkt eines unglaublichen Beleuchtungsszenarios dar. Das war der Grund, warum alle in diesen Club wollten. Er war etwas ganz Besonderes, in jeder Hinsicht. Das Design war einmalig. Geradlinigkeit der Formen und Elemente, Puristik in allen Facetten. Eine weiß-schwarze Farbinszenierung in den Elementen. Dieser Club war für mich die Verkörperung des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts, oder zumindest ein Ausblick auf dessen Kunstepoche. Rebecca und Anna liefen wie verwirrte Hühner direkt auf die Tanzfläche, um zu tanzen. Mich zog es mit Meyers erst mal an eine Innenbar, da der Smoothroom bereits voll war. Die Zahl der Gäste dort war auf Zwanzig begrenzt. Ein paar WakeUp Drinks waren jetzt nötig, um meiner leicht depressiven Stimmung zu entfliehen. Wir standen an der Bar und beobachteten die Mädels und Kerle auf der Tanzfläche. Es war eine heiße Mischung. Die Mädels trugen freizügige Outfits, die einen ins Schwärmen kommen ließen. Glitzernde Kleider mit entsprechenden Dekolletés wechselten ab sich mit eng anliegenden Tops, die die darunterliegenden Brüste voll zur Geltung kommen ließen. So stellte ich mir mein Paradies vor, mit dem Unterschied, dass die Frauen dort nur für mich tanzten. Der Altersdurchschnitt der Mädels hier betrug Anfang Zwanzig, die Herren lagen im Durchschnitt bei Dreißig. Ich war also noch im Rahmen, um hier zu jagen. „James, ich glaub mit Becci läuft nichts, die steht nicht auf mich!“ Meyers war frustriert. „Ich habe vorher eine Weile mit ihr gesprochen, ich glaube die hat zwischenzeitlich wieder Eine. So eine Lesbe! Die ist bestimmt Bi oder Tri oder was weiß ich, auf jeden Fall geht da nix!“ Er war wirklich frustriert. Ein roter Laserscheinpointer strahlte sein Gesicht an, als richtete gerade der Teufel sein Gewehr auf seinen Schädel! „Meyers, Mann, wenn das nichts wird, verschwinden wir anschließend an einen geheimen Ort, dann zeige ich dir mal ein kleines Geheimnis von mir.“ Ich schrie ihn an, weil die Musik mittlerweile ohrenbetäubend war. Wir tranken aus und suchten Rebecca und Anna auf der Tanzfläche. Anna tanzte mich an, als hätte ich einen Privatedance bestellt. Es war mir irgendwie unangenehm und begann mich zu stören. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, diese Frau flachzulegen. Ich hatte keine Ambitionen mehr, sie zu erobern. Ich fand sie plötzlich nur noch scheiße. Von einer Sekunde zur Nächsten wechselte meine Meinung von ihr. Sie machte mir Angst und als sie mich antanzte, mischte sich ihr einladender Duft von vorhin mit einer Nuance aus Schweiß. Mein Gott, Lichtjahre Unterschied zu Sarah! Diese Frau hatte keine Klasse und keinen Stil, soviel war jetzt klar. Ich zog Meyers zur Seite, der mittlerweile eine ältere Blondine antanzte. „Edward, komm mit, wir müssen reden“, ich zog ihn Richtung Toilette, wo die Musik allmählich leiser wurde. Drinnen, am Waschbecken konnte ich erst mal mein ermüdetes und geschocktes Gesicht wieder ein wenig auffrischen. Ich erzählte ihm von meinem Problem mit Anna, woraufhin er los lachte. „Corner, du bist echt total kaputt! Such dir wirklich mal einen Psychiater! Du bist echt so kaputt, mein Freund, dafür liebe ich dich!“ Er erkannte wohl, dass ich ein Problem hatte. Nichtsdestotrotz mussten wir hier raus aus diesem Club, am besten unerkannt! Wir verließen das Xpierence kurz vor zwölf, ohne die Mädels. Wir lachten am unteren Ausgang wie betrunkene Teenies. Wir waren soeben vor unseren Dates geflüchtet.

Kapitel 6