Zwergengrau - Iburah Meiku - E-Book

Zwergengrau E-Book

Iburah Meiku

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Beschreibung

Mysteriöse nächtliche Überfälle halten die Zwerge, Elfen, Sylphen, Nixen und Wichtel der Kleingartenanlage Wonne-Scholle e.V. in Atem. Während die menschlichen Gärtner nichts Böses ahnen, überschlagen sich in der parallelen feinstofflichen Welt der Naturwesen die Ereignisse: Zwerge werden versteinert und Elfenfeen entführt! Der ziemlich frisch gebackene Inspektor Hargis und sein noch frischer gebackenes Team haben allerdings ihre Schwierigkeiten mit dem Fall. Denn die eigenwilligen feinstofflichen Bewohner der Kleingartenanlage sind oftmals nicht sehr hilfreich. Hargis muss bald feststellen, dass neben überheblichen Elfen und albernen Wichteln die typische Skurrilität der Naturwesen auch vor seinem eigenen Team nicht Halt macht. Zu allem Überfluss verdreht die schöne Kalliope Sabina dem Inspektor noch gehörig den Kopf. Dennoch gelingt es den Startup-Detektiven herauszufinden, welcher unbarmherzige Täter hinter den Anschlägen steckt. Mit einem magisch manipulierten Kristall kann er zur Zeit des Zwergengrau seine Opfer versteinern und ihnen dann langsam die Lebensenergie entziehen...

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage Februar 2017

Copyright © 2017 by Ebozon Verlag

ein Unternehmen der CONDURIS UG (haftungsbeschränkt)

www.ebozon-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Michael Burg

Coverfoto: Michael Burg

Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag

ISBN 978-3-95963-360-4 (PDF)

ISBN 978-3-95963-358-1 (ePUB)

ISBN 978-3-95963-359-8 (Mobipocket)

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Veröffentlichung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Meiku Iburah

ZWERGENGRAU

Ein Naturwesen – Krimi

Ebozon Verlag

Widmung 1

Für den unvergessenen K. Lauer

Widmung 2

Für alle feinstofflichen Wesen, die unsere Natur so magisch machen. Und für alle Freunde, die einander nie im Stich lassen, egal wie groß die Dummheit des anderen gerade ist.

Wie alles begann oder wer ist eigentlich Meiku Iburah?

Ganz einfach: Meiku Iburah ist ein gemeinsamer Autorenname, den wir uns bei einem großen Glas Pflaumenschnaps ausgedacht haben. Klingt gut, oder? In der Menschenwelt haben wir weniger exotische Namen, Heike und Michael… plus natürlich unsere Nachnamen. Meiku Iburah ist ein bunter Buchstaben-Mix daraus. Da wir über die magische Welt der Naturwesen schreiben, sollte etwas von diesem Zauber auch in unserem Autoren-Pseudonym spürbar werden.

Schon immer waren wir fasziniert von Zwergen, Elfen und Feen. Es geschah an einem heißen Sommertag – wir saßen auf dem Balkon, tranken Kaffee und aßen Gierschcreme-Bütterkes – da überfiel uns spontan die Idee zu diesem Roman. Wir fragten uns: Wie soll das funktionieren, ein Schreiben zu zweit? Das wird sicher kompliziert… Wurde es aber gar nicht. Jeder von uns hat abwechselnd eine Szene oder ein nächstes Kapitel geschrieben und auf wundersame Weise fügten sich alle Teile passend zusammen. Wir brauchten nicht einmal viel daran zu ändern. Es war, als ob die Zwerge und Elfen an der Story mitschreiben würden, um das Werk zu einem harmonischen Ganzen werden zu lassen. Oft hat der Verlauf der Handlung uns sogar selbst überrascht. Deshalb hat uns das Schreiben besonders viel Spaß gemacht und wir hoffen, dass Ihr, liebe Leserinnen und Leser, ebenfalls viel Freude am Reich der Naturwesen habt. Denn was ist eine noch so gute Geschichte ohne ihre Leser? Nix. Überhaupt nix, um es mit den Worten der Nixen zu sagen. Deshalb: DANKE fürs Dabeisein!

Übrigens haben wir den Eindruck, dass es noch viel, viel mehr aus der Wonne-Scholle zu erzählen gibt. Es ist gut möglich, dass Ihr bald wieder von uns hört.

Bis dahin, seid nett zu allen Naturwesen, denen Ihr begegnet!

Herzlichst, Euer

Meiku Iburah

P.S.: Damit Ihr in der Welt der Naturwesen und auch bei den auftretenden Menschen und Tieren immer den Überblick behaltet, könnt Ihr das Personenverzeichnis am Ende des Buches nutzen.

Prolog 1

Die Tür knarrt leise, als er sie zustößt und ins Freie hastet. Endlich! Klare Luft, nächtliche Stille, Beruhigung… Er hustet mehrmals. Kurz und stoßweise, so als ob er damit seinen Ärger abschütteln will. Das wäre schön - den Frust einfach hinauslassen in den dunklen Garten… Doch völlig finster ist die Nacht nicht mehr. Der Himmel zeigt einen leicht grauen Schimmer, das mystische Grau, das noch vor dem Morgengrau erscheint. Kein sicherer Moment, um draußen zu sein. Doch etwas hat ihn aus dem Haus gezogen, ein unbewusster und mächtiger Gedanke, nicht nur der Ärger des Abends und der Streit mit ihr. Wie von selbst lenkt er seine Schritte auf die Wiese, zwischen die knorrigen Apfelbäume. Plötzlich undurchsichtiger Nebel. Aus dem Nichts hat er sich gebildet, geisterhaft… Wabern, ein leises Zischeln um ihn herum. Spricht jemand mit ihm? Er merkt, dass er selbst ebenfalls redet, wie ferngesteuert, ohne Sinn… Überall pulsierende Luft. Ein neuer Gedanke, grell, beherrschend… Er legt seine Mütze ab, beugt sich nach vorn, kopfüber nach unten. Fester Grasboden unter seinem Kopf, seine Beine entfliehen fast wie von selbst in Richtung Himmel. Der raue Baumstamm reibt am Rücken. Seine Hand umgreift etwas Kaltes. Wer hat es ihm gegeben? Was geschieht mit ihm? Das Denken wird träge, die Muskeln auch. Die Welt steht Kopf, zähe Bilder schwimmen durch sein Gehirn: Das Gesicht seiner Frau, die dicken blonden Zöpfe. Eine Gruppe von Nachbarn, die laut seinen Namen rufen, ihn anfeuern. Wozu? Darunter noch ein bekanntes Gesicht mit Bart, das er lange nicht gesehen hat. Besuch. Dann sieht er ein aschgraues Antlitz, das er nicht kennt, mit roten Augen, hämischem Grinsen. Er will weg, zurück ins Bett, will nach ihr rufen, doch es geht nicht mehr. Angst… Sein Mund erstarrt, da ist soviel Müdigkeit, die Wiese dreht sich. Die Dunkelheit saugt ihn taumelnd auf. Er ist irgendwie noch da, aber wo ist seine Welt geblieben? Was werden die wohl sagen, die ihn so finden werden…

Prolog 2

Hector hielt genüsslich seine Nase in die weiche Brise des heraufziehenden Tages. Die Luft des frühen Morgens war klar und frisch. Eine Wohltat während der schon lange währenden Juli-Hitze. Er liebte den Moment, wenn die nachtblauen, nebligen Schatten in ein trübes Grau überwechselten und nach und nach die Umrisse von Bäumen, Büschen, Kieswegen und Gartenlauben daraus auftauchten. Es war so, als würde man ein Motiv mit einer Kamera einfangen und es Schritt für Schritt scharf stellen. Für einen kurzen Augenblick hielt sich das graue Panorama, bis sich letztlich die prallen Farben des Sommers darin ausbreiteten, auch wenn Hector diese nicht wahrnehmen konnte, in seiner Welt blieb alles grau schattiert. Nun, im klaren Licht, blickte Hector von seinem Platz am Eingangstor über den langen Kiesweg, der sich durch die Gartenparzellen erstreckte und so für eine Teilung in rechte und linke Seite sorgte. Alles lag noch friedlich und in aller Stille da. Es würde noch ein paar Stündchen dauern, bis sich diese kleine Idylle mit geschäftigem Leben füllte. Das Areal, das Hector überschaute, gehörte zur Kleingartenanlage Wonne-Scholle e.V. Hectors Herrchen war hier schon seit Jahrzehnten Betreiber, Platzwart und Wächter, wobei das Bewachen mittlerweile ihm, Hector, als Aufgabe zufiel. Viel zu tun gab es nicht. Nur ab und an galt es, ein paar unbefugte Kinder oder Jugendliche weg zu bellen und immer wieder mal, über den Tag verteilt, ein dunkles, heiseres Bellen quer über die Anlage zu schicken. Einfach, damit ein jeder Vereinsgärtner ihn als anwesend und als „im Dienst“ wahrnahm.

Der schwarze Bernhardiner Hector wirkte mit der bulligen Gestalt und seinem etwas verhangenen Blick eher gemütlich als einschüchternd. Aber das täuschte. Wenn es darauf ankam, konnte er rennen wie der Wind und sein kräftiges Gebell hatte schon so manchem Besucher einen mächtigen Schrecken eingejagt. Seine Ohren und Augen waren sehr sensibel für jedes Geräusch und jede Bewegung innerhalb des Gartengeländes. Dennoch und bei allen scharfen Sinnen: Mitten im Gebiet der Wonne-Scholle gab es etwas, das selbst er nicht wahrnehmen konnte. Eine weitere, feinstoffliche Gartenwelt. Ein Reich der Naturwesen. Transzendent und mit lichten Energien. Bevölkert von Zwergen, Elfen, Feen und Sylphen und von Nixen, die sich in den künstlich angelegten Gartenteichen tummelten. Dies alles konnte Hector nicht bewusst sehen. Sicher ahnte er es und nahm instinktiv Schwingungen und Eindrücke auf, die aber letztlich abstrakt und nicht greifbar blieben. So erfuhr er niemals von dieser kleinen Welt voll zauberhafter Wesen. Hörte nie das Summen der feinen Stimmen, das leise Kichern der Wichtel und die geschäftigen Geräusche, wenn all diese Wesen ihr Tagwerk verrichteten.

Es war eine Welt voller Beschaulichkeit, ein Miteinander aller dortigen Bewohner im Einklang mit der Natur. Bis zu diesem Tag im Juli – als eine dunkle Bedrohung und eine zermürbende Gefahr dort Einzug hielten. Von da an war nichts mehr so, wie es einmal war…

1

Während Hector den frühen Morgen auf seine Weise genoss, mit umherschweifenden Blicken an den Gärten vorbeitrottete und zwischen Gräsern und Büschen nach neuen Erkenntnissen schnüffelte, erwachte auch die andere, feinstoffliche Gartenwelt zum Leben.

In der Parzelle Nummer P4 – die menschlichen Besitzer waren die Eheleute Frommberg, ihres Zeichens Ruheständler - saß am Rande des Gemüsebeets Geerth, seines Zeichens Zwerg, im Schatten eines großen Kohlblattes. Geerth steckte im Wechsel seine Füße in die krümelige Erde und zog sie in Zeitlupe wieder heraus, sodass kleine Dreckklümpchen langsam von seinen Schuhen rieselten. Er war früh aufgestanden und hatte seine frisch gewaschene, hellgrüne Zwergenkluft angezogen. Geerth begann den Tag gern im Gemüsebeet der Frommbergs, welches mit der sauber geharkten Erde und den geraden Furchen vom Rechen eine beruhigende Wirkung auf ihn ausübte. Er genoss es, auf die Erdrillen zu schauen und dabei Gedanken und Träumereien nachzuhängen. Später, wenn es richtig hell geworden war, würde es reichlich Arbeit geben, denn heute war ein ganz besonderer Tag.

Geerths Kleidung war einheitlich grün, sogar seine Mütze. Bei Zwergen-Männern gab es drei Kleidungsfarben: Grün, blau und ockergelb. Die Mütze färbte sich erst dann rot, wenn ein Zwerg seine spezifische Aufgabe im Zwergenvolk erkannt und übernommen hatte oder etwas ganz Herausragendes zum Wohle aller Zwerge geleistet hatte. Bei Geerth war beides noch nicht passiert. Er hatte schon verschiedene Überlegungen zu seiner möglichen Berufung angestellt, aber bisher ohne Ergebnis. Vielleicht würde er sich eines Tages dem Gartenbau widmen, der Pflanzenpflege oder für die Züchtung und Bewachung von Erdkristallen zuständig sein. Er musste es abwarten, denn sich einfach frei für irgendeine Aufgabe zu entscheiden, reichte nicht für eine rote Mütze. Die stellte sich erst ein, wenn man seine richtige Berufung im Verlauf des eigenen Schicksals gefunden hatte. Dies konnte allerdings Jahre dauern. Immerhin war Geerth erst junge 50 Jahre und viele Wege lagen noch vor ihm. Zwergen wurden meist weltliche und handfeste Aufgaben zuteil, nur ganz wenige kamen mit magischen Fähigkeiten zur Welt. Einige waren mit Heilkräften ausgestattet und dann als Heiler oder Gelehrte tätig. Natürlich wünschte Geerth sich etwas Aufregendes zu werden, wie zum Beispiel Grenzwächter, Pflanzenheiler oder Höhlenbeauftragter. Noch besser wäre es, eine heldenhafte Tat zu vollbringen, aber er hatte keine Idee, wie diese aussehen konnte. Sein Patenonkel Hargis hatte eine spannende Aufgabe als Waldaufseher in den Vogesen, in einem sehr großen Territorium. Hargis war kein Zwerg, sondern ein Gnom. Gnome waren die Ur-Zwerge und lebten längst nicht so domestiziert, wie es die Zwerge taten. Sein Onkel wohnte mitten im Wald, sogar ein wenig abseits von seiner Wohn-Gruppe und als Aufseher war er ohnehin ständig unterwegs und auf sich gestellt. Was für eine grandiose Berufung! Geerth bewunderte seinen Patenonkel sehr und hatte gern den Geschichten gelauscht, die ihm sein Vater über Hargis erzählt hatte. Früher hatte Hargis sie regelmäßig besucht, doch seit vielen Jahren nicht mehr. Einen wirklich benennbaren Grund gab es dafür nicht; es war wohl reiner Zeitmangel gewesen. Onkel Hargis hatte früher immer mit ihm, seinem Freund Lurgi und ihrer Feen-Freundin Toffy gespielt und ihnen spannende Geschichten über das freie Leben im Wald erzählt. Vielen Zwergen in der Wonne-Scholle war Hargis ans Herz gewachsen und sie vermissten ihn. Oft wurden die alten Anekdoten über ihn ausgetauscht, sodass Hargis einen legendären Ruf erhalten hatte. Auch Geerth hatte immer respektvoll zu ihm aufgesehen und das hatte sich in all den Jahren nicht geändert.

Nach so langer Zeit hatte Onkel Hargis in der letzten Woche plötzlich seinen Besuch angekündigt. Seit der Brief per Wühlmaus-Postexpress eingetroffen war, war Geerths Aufregung täglich gestiegen. Sein berühmter Onkel würde kommen und schon allein dessen größere Statur, die urwüchsige, traditionelle Kleidung und die Ausstrahlung eines ungezähmten Freigeistes würden sicher auch ein wenig auf ihn, den eher unscheinbaren Geerth, abfärben. Unwillkürlich richtete Geerth sich bei dieser Vorstellung auf, zog seinen linken Fuß aus der Erde und schüttelte sich eine Nacktschnecke vom Schuh, die sich dort festgesaugt hatte. Er sprang auf die Füße, klopfte seine grüne Hose aus und machte sich an die Arbeit. Bis zum Nachmittag gab es noch viel zu tun. Gezielten Schrittes trat Geerth den Rückweg nach Hause an. Dieser führte von der Parzelle P4 (im Übrigen ein äußerst aufgeräumter Garten, an dem alles seinen festen Platz hatte) durch einen unterirdischen Zugang zurück zu dem Hohlbau, in dem seine Familie wohnte.

Der Eingang in den unterirdischen Bau lag unter einer Baumwurzel, die knorrig aus der Wiese der Parzelle P7 herausragte und den Zugang zu Geerths Zuhause bildete. Der Garten P7 gehörte seit einigen Jahren den Menschen Urs und Hilde Rüttli, einem Ehepaar aus der Schweiz. Dies war unschwer am roten Fähnchen mit weißem Kreuz zu erkennen, welches am Dachrand der Gartenhütte befestigt war. Urs und Hilde waren dem Kleingärtnerverein beigetreten, um in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen und schnell Freunde zu finden. Urs hatte sich umgehend aktiv engagiert und sich für das Amt der Vereinskassenwarts angeboten, denn mit Geld konnte er korrekt und sehr diskret umgehen.

Der Bau, in dem Geerth wohnte, hatte neben seinem Haupteingang zwei weitere Zu- und Ausgänge, die unterirdisch aus dem Hohlbau weg führten. Ein Tunnel mündete auf der Frommberg-Parzelle P4, wo Geerth so gern im frisch geharkten Gemüsebeet saß. Der andere Tunnel führte zum Garten P5, den die betagten Geschwister Elsbeth und Albert Odenstein seit Jahrzehnten besaßen. Elsbeth und Albert waren beide verwitwet und hatten nach und nach ihre Parzelle in einen englischen Rosengarten verwandelt. Ihr Rosenparadies hatte inzwischen eine gewisse lokale Berühmtheit erlangt und der intensive Blütenduft wehte im Sommer bis weit in die anderen Wonne-Scholle-Gärten hinein. Damit hatten sich die Odensteins den Respekt der anderen Gartenfreunde verdient, die ihre Flächen eher für Obst- und Gemüseanbau oder einfach zur Erholung nutzten.

Geerth grub immer mal weitere Tunnel und Ausgänge vom Familien-Wohnbau zu anderen Parzellen, die er aber schon nach kürzester Zeit wieder zuschüttete. Sein Vater mochte es nicht, wenn es zu viele Ausgänge gab, denn er befürchtete, dass sie auch Eingänge für ungebetene Gäste werden könnten. Dabei war doch in der Wonne Scholle alles herrlich friedlich! Derzeit hatte Geerth keine Einwände zu befürchten, denn er war ganz allein in den großen Räumen des Hohlbaus. Seine Eltern waren mit Umweltaktivisten zu einer Mission in Richtung Nordkap aufgebrochen. Seine beiden Brüder Walter und Siggi verbrachten ein Studien-Austausch-Jahr in Südamerika in einer großen Edelsteinhöhle. Seit jeher war die Abenteuerlust in seiner Familie sehr ausgeprägt gewesen, doch irgendwie hatte diese Eigenschaft nicht auf ihn abgefärbt. Er war eher zaghaft, blieb gern im Hintergrund und schlagfertige oder lustige Bemerkungen fielen ihm immer erst hinterher ein. Ein echter Graus! Zudem war er ein wenig kleiner als seine Brüder, nicht so winzig wie ein Wichtel, aber doch erkennbar kleiner und feingliedriger. „Das sind Pianistenhände“, hatte seine Mutter immer gesagt mit Blick auf seine schlanken Finger. Leider war die Musik nicht Geerths Berufung. Wenn ab und zu bei festlichen Anlässen in der Familie gesungen wurde, dann baten seine Brüder ihn „feinfühlig“, doch bitte die Klappe zu halten, damit der elterliche Hohlbau nicht durch sein schiefes Gekrächze zusammenkrachte. Dafür war Geerth mit seinen hellgrauen Augen ein guter Beobachter und er konnte alles detailliert aus dem Gedächtnis zeichnen. Und ein weiteres bemerkenswertes Talent war ihm in die Wiege gelegt worden: Er konnte wunderbare Gedichte schreiben, behielt dies aber absolut für sich, denn eine schöngeistige Ader war unter Zwergen selten und deshalb nicht sehr anerkannt.

Geerths Äußeres wirkte offen und sympathisch, aber eher unauffällig. Nur seine großen hellgrauen Augen verrieten die Tiefe seines Wesens und ließen seine inneren Werte erahnen. Ansonsten hatte er eine schmale, drahtige Figur. Seine Hose musste er immer mit einer Extra-Kordel festzurren, damit sie ihm nicht über die schlanken Hüften rutschte. Seine Nase war fein geschnitten, ebenso wie die schmalen Lippen. An ihm war wirklich nichts Rustikales, Kräftiges oder Knorriges, wie man es bei Zwergen erwartete. Nicht einmal sein braunes Haar war borstig oder struppig, sondern schaute glatt und glänzend unter seiner Mütze hervor. Die Mütze, die leider nicht rot wurde. Noch nicht. Doch diesen Gedanken konnte Geerth nicht länger verfolgen. Er hatte schließlich zu tun. Zu Ehren seines Onkels würde man ein Willkommens-Picknick geben und Zwerge sowie alle Naturwesen der Wonne-Scholle waren eingeladen.

Geerth musste noch Himbeersaft auspressen, Tomatenspieße vorbereiten und mehrere Töpfe Kräutersuppe am Köcheln halten, die er schon gestern Abend aufgesetzt hatte. Die Zwergen-Frauen bereiteten verführerische Sauerampfer-Fladen und exquisite Salate zu und backten leckere Kuchen. Dazu würde es sicher noch die ein oder andere kulinarische Überraschung geben. Das war etwas, was sich Zwergenfrauen nicht nehmen ließen. Hauptsache, es war bis zum Nachmittag alles fertig, denn dann wollte Hargis bei ihnen eintreffen.

Das Picknick würde bei der tausendjährigen Eiche stattfinden, die auf dem zentralen Platz der Wonne-Scholle ihre mächtige Krone in den Himmel reckte. Da der Baum nicht gefällt werden durfte, hatte man die Gärten um diesen Platz herum angelegt, sodass die Wiese frei blieb und zu keiner Parzelle gehörte. Ein Grund mehr, warum dies der Treffpunkt aller Naturwesen war und ein passender Platz für ein Willkommensfest.

Hoffentlich erinnerte sich sein Patenonkel an den Weg zu ihnen, denn es war lange her seit seinem letzten Besuch. Aber für den berühmten Vogesen-Ranger und Abenteurer Hargis sollte das kein Problem sein. Als Geerth den Gang zur P7 betrat, sah er im Augenwinkel Hector, der missmutig kläffend den Kiesweg entlanglief und irgendetwas zu suchen schien. Wahrscheinlich hatte Geerths Zwergenkumpel Lurgi mal wieder den Kauknochen versteckt. Lurgi war Geerths bester Freund, der ständig irgendwelchen Unfug trieb und sich mit allem und jedem einen Spaß erlaubte. So auch regelmäßig mit Bernhardiner Hector. Mal sehen, ob Lurgi beim heutigen Fest ebenfalls Blödsinn in petto hatte. Geerth war es jedenfalls lieber, wenn das Picknick für seinen Onkel harmonisch und schön verlief, ohne Zwischenfälle. Aber dieser Gedanke sollte ein frommer Wunsch bleiben…

2

„Verflixt und verfluxt, verflixt und verfluxt!“ Hargis war genervt. Schon zum zweiten Mal umrundete er mit seinem schweren Gepäck den kleinen See und hatte immer noch nicht die richtige Wegbiegung zur Wonne-Scholle gefunden.

„Verflixter Mistkäfermurks!“, fluchte er nochmals leise. Wie hatte er den Abzweig nur übersehen können? In seiner Erinnerung war es ein ganz schmaler Pfad gewesen, am Anfang gesäumt von einer Reihe hoher Birken. Aber diese Birken hatte man anscheinend gefällt oder etwas anderes war passiert. Jedenfalls fehlte ihm ein wichtiger Anhaltspunkt, um zu Geerths Gartenkolonie zu gelangen. Überall sah er nur Büsche und wild wucherndes Unkraut.

„Umpf“, stöhnte Hargis, als er die Runde um den See abgeschlossen hatte und seine beiden Taschen zu Boden plumpsen ließ. „Das gibt es doch gar nicht! Das ist der richtige See und dieser Abzweig muss hier sein. Und das mir, einem Waldaufseher erster Güte!“

Hargis wischte sich mit dem Ärmel seiner braunen Weidengrasjacke den Schweiß von der Stirn, nahm seine dunkelrote Schirmmütze ab und sah sich dabei nochmals genau um. „Ich brauche eine kleine Pause“, dachte er, setzte seinen prall gefüllten Rucksack ab und ließ sich darauf nieder. Er war extra früh aufgebrochen in den Vogesen, um wie verabredet am Nachmittag bei Geerth anzukommen. Gnome waren in der Lage, ihre Schritte auf Überschalltempo zu beschleunigen, sodass sie auch große Distanzen in kürzester Zeit zurücklegen konnten.

Die heutige Abreise war von besonderer Bedeutung für Hargis gewesen. Es war ein Abschied für immer. Das große, ihm anvertraute Waldstück in den Vogesen gab es nicht mehr. Es hatte den Bauarbeiten für eine Brückentrasse der Menschen weichen müssen. Welch ein Jammer und welch ein Raubbau an der schönen Natur! Und mit dem Waldbezirk war auch Hargis Aufgabe, ja seine gesamte Berufung, verschwunden. Er hatte es in seinem Herzen gefühlt, als er den ersten Motorenlärm der Baufahrzeuge hörte. Eine wirklich begrumpfelnswerte Situation! Aber alles Jammern half nicht, er konnte sich nur für etwas Neues bereit und auf den Weg machen, so wie viele andere Gnome aus seiner Region auch. Schon nach kurzer Zeit hatte sich seine langjährige Gruppe in alle Winde zerstreut. Als erster Anlaufpunkt waren Hargis seine befreundeten Zwerge in der Gartenkolonie in den Sinn gekommen, die er ohnehin ewig nicht gesehen hatte. Dort war er nicht nur ein Freund, sondern gehörte fast zur Familie dazu. Zwar hielt er es als Wohnort für eine Art Rückschritt und nicht für etwas, was einem frei lebenden Gnom, wie er es war, behagte. Aber er brauchte einen neuen Startpunkt und etwas Trost und so hatte er sich für dieses erste Ziel entschieden. Mit einer Reise, die bisher prima und zügig verlaufen war, bis gerade eben.

Wenn er den Weg nicht bald entdeckte, würde er sich gnadenlos verspäten. Wie peinlich für einen Gnom und Waldaufseher. Oh je! Er würde natürlich niemandem sagen, dass er derzeit arbeitslos, obdachlos und ohne Berufung war. In seinem Alter von 127 Jahren war es zu erniedrigend, das zuzugeben. Schon gar nicht Geerth, sein Patensohn, durfte etwas mitbekommen, denn er hielt Hargis fast für eine Art Held, Vorbild, was auch immer. Geerth war so voller Bewunderung und Eifer, etwas ähnlich Bedeutsames zu tun, wie Hargis es all die Jahrzehnte getan hatte. Und dieses Ideal sollte er zerstören? Nein, das durfte er ihm nicht antun! Hargis‘ eigene Eitelkeit spielte gleichfalls in diesen Vorsatz mit hinein, denn es war sehr unangenehm, eine so angesehen Aufgabe zu verlieren.

Hargis war schon als Junge selbstbewusst und durchsetzungsstark gewesen. Er hatte für einen Gnom eine stattliche Größe, war kräftig gebaut und sein wettergegerbtes Gesicht, die wilde, lange Haarmähne und sein dunkler Bart wirkten beeindruckend. Und furchteinflößend, sobald seine schwarzen Augen einen finsteren Blick aufsetzten und er seine buschigen Augenbrauen zusammenzog. Alles an Hargis erschien urwüchsig. Seine Hände waren groß wie Teller, was aber gut zu seinen muskulösen Oberarmen passte. Eine kleine Beeinträchtigung hatte er jedoch: An seinem linken Fuß fehlte der vierte Zeh. Das Ergebnis einer unangenehmen Begegnung mit einem Wolf. Aber gut, diesem fehlte seither das linke Ohr. „Quid pro quo*“, wie Hargis gern zu sagen pflegte.

Jetzt saß er allein da, ein wenig ratlos, und blickte auf die friedliche Wasseroberfläche des kleinen Waldsees, in dem sich der Himmel und die Wolken spiegelten. Wie lange war sein letzter Besuch her? Eine Ewigkeit. Verrückt. Wo war bloß all die Zeit geblieben? Und warum hatte er es nicht mehr geschafft, seine guten alten Freunde zu besuchen? Darauf hatte Hargis keine klare Antwort parat. Es war halt passiert, die Zeit war dahin und irgendwie weg geflossen. Natürlich hatte er die Zwerge und die anderen Naturwesen vermisst. Allen voran seinen engen Freund Gribold und seine Frau Marianda, die Eltern von Geerth, und die zwei anderen Söhne Walter und Siggi. Gribold kannte er schon seit Jahrzehnten. Sie hatten sich im Schwarzwald während ihrer beider Wanderjahre getroffen und zusammengetan, wodurch ihre Freundschaft begann und bis heute gehalten hatte.

Hargis war trotz einiger ernsthafter Techtelmechtel und Verliebtheiten nie an den Punkt gekommen zu heiraten und somit war ihm Gribolds Familie sehr ans Herz gewachsen. Geerths Pate zu werden, war eine ganz besondere Ehre gewesen und während seiner Besuche hatte er immer gern mit Geerth und dessen bestem Freund Lurgi gespielt. Ja, der Lurgi. Der war immer zu Streichen und Späßen aufgelegt und zudem an allem und jedem interessiert gewesen. Mit zweitem Vornamen müsste Lurgi eigentlich Neugier heißen. Wer von beiden hatte wohl schon seine Bestimmung gefunden und würde ihn mit roter Mütze begrüßen? Und die gut gelaunte Fee und Freundin der beiden kam ihm in den Sinn: Toffy. Klein, quirlig, sommersprossig und schon als junge Fee ein Wildfang. Toffy war kein bisschen eitel und nur selten an mädchenhaften Dingen interessiert gewesen. Im Gegenteil. Sie wollte nie brav sein und tobte lieber mit Geerth und Lurgi herum, anstatt mit ihren Freundinnen zu spielen. Ein bisschen seltsam hatte er das schon gefunden. Ob sie sich in dem Punkt geändert hatte? Dann waren da noch die Zwerge Funz und dessen Cousin Hinntz, der immer im Schlepptau von Funz auftauchte. Funz war ein Zwergenfreund auf Augenhöhe und betätigte sich unter anderem als Heiler und Kräuterexperte. Hargis hatte manches von ihm gelernt und seinen Rat geschätzt, während Hinntz ihn mit seiner Redseligkeit und Angeberei nur genervt hatte. Aber Funz zuliebe war er immer diplomatisch geblieben und hatte seine leichte Ablehnung gegenüber Hinntz nie zum Ausdruck gebracht. Zum Zwergenvolk gehörten auch Knorfork und Furkina. Das recht betagte Zwergenpaar hatte ihn immer ein wenig an seine eigenen Eltern erinnert, die leider bei einem Unwetter und Erdrutsch auf tragische Weise und auf nimmer Wiedersehen vor gut fünf Jahrzehnten verschwunden waren. Knorfork musste mittlerweile schon über 200 Jahre alt sein, rechnete Hargis grob nach. Er war der Hüter der Steine und wusste nahezu alles über Kristalle und Mineralien. Furkina war ein wenig jünger, aber auch in einem weisen Lebensalter angelangt. Ob ihre Zöpfe wohl noch immer blond waren oder schon grau?

Und würden Wunhilda und ihr Gatte Timtam noch in der Kolonie wohnen? Gribold hatte ihm vor einigen Jahren geschrieben, dass der Garten, in dem das Paar wohnte, aufgelöst worden war. Die Menschen hatten den Platz für eine Vergrößerung ihres Vereinsheims und des Grillplatzes benötigt. Daraufhin mussten die beiden eine neue Parzelle und passende Aufgabe finden. Hargis hoffte sehr, dass dies gelungen war. Es wäre schade, wenn diese netten Freunde weiter gezogen wären. Ach, und wie schade erst um Wunhildas Kochkünste! Kochen war überdeutlich ihre Bestimmung. Vor dem inneren Auge des Gnoms tauchten herzhafte Pilz-Omelettes mit Kressesoße auf. Herrlich lockere und hoch aufgetürmte Früchte-Souffles und vor allem Wunhildas berühmter Streuselkuchen mit den knusprigsten Streuseln der Welt. Es wurde Zeit, dass er das letzte Stück seines Weges endlich fand, sonst würde er anstelle von leckeren Schlemmereien hier am See festsitzen – hungrig und allein im Mondenschein…

Verflixt und verfluxt!

Während Hargis über das Wasser hinwegschaute, brach die Sonne durch die Wolken und ein Strahl fiel direkt auf einen Hagebuttenbusch. Hargis sah noch mal genau hin, denn genau hinter dem Busch schien sich ein schmaler Pfad weiter zu schlängeln.

„Das könnte er sein“, überlegte Hargis, schob sich seinen Rucksack auf den Rücken, ergriff die beiden Taschen und marschierte hinüber zu der Stelle. Und richtig. Der Pfad war stark zugewuchert, nachdem nun keine Bäume mehr dort standen. Hargis schritt kräftig aus und hatte schon bald das Gefühl, auf der richtigen Route zu sein. Nach einer Wegbiegung hörte er ein heiseres Bellen, das nicht mehr weit weg war.

„Dich kenne ich noch nicht, lieber Kläffer, aber ich wette, du gehörst zu der Gartenanlage, die ich suche“, murmelte Hargis und beschleunigte wieder seine Schrittgeschwindigkeit. Er pfiff fröhlich vor sich hin und vergaß natürlich nicht, sich bei der Sonne zu bedanken, die ihm rechtzeitig den Weg gewiesen hatte.

3

Geerth stand draußen vor dem Baumwurzel-Eingang der Wohnung, presste die letzten Himbeeren durch ein Sieb und fing den Saft in einem riesigen Tonkrug auf, der darunter stand. Der Saft war hauptsächlich für die Verköstigung der Wichtel gedacht, denn diese vertrugen keinerlei Alkohol. Er war sehr konzentriert bei der Sache, seine Lippen waren fest aufeinander gepresst und sogar ein Stückchen seiner Zunge lugte dazwischen hervor. Geerth liebte Himbeeren und ganz besonders Himbeersaft. Ab und an dachte er sich fantasievolle, leckere Mischungen wie zum Beispiel Apfel/Himbeere oder Himbeere/Kirsch/Hagebutte aus. Wer weiß, vielleicht war es seine Bestimmung Safthersteller zu sein? Ein Saftologe…? Während er diesem Gedanken nachging, sah er ab und an in das Vogelbad hinein, das nah bei ihm auf der Wiese stand. Auf der glatten Wasseroberfläche prüfte er sein Spiegelbild. War seine Mütze beim Gedanken an die Saftherstellung eventuell rot geworden? Doch nein, im Wasser schimmerte sein Spiegelbild Grün, auch die olle Mütze.

„Hallooo!“, tönte plötzlich hinter ihm eine raue, tiefe Stimme.

Geerth wirbelte herum. „Onkel Hargis! Hey, da bist du ja endlich!“

„Na sowas, die Mütze ist immer noch grün. Aber du bist ganz schön erwachsen geworden, mein Lieber!“

Geerth legte das Sieb zu Seite, wischte sich die Hände an einem großen Rhabarberblatt ab und rannte seinem Patenonkel entgegen. Hargis ließ sein Gepäck auf den Rasen fallen und breitete seine kräftigen Arme weit aus. Kaum zwei Sekunden später drückte er seinen Patensohn ganz fest an sich und ließ dabei ein brummendes Lachen hören. Dann hielt er Geerth von sich weg und blickte in das noch junge, aber dennoch gereifte Gesicht.

„Meine Güte, wie lange ist das her, mein Junge?“

„Ziemlich lange, Onkel Hargis, aber ich habe dich gleich wieder erkannt, du hast dich kaum verändert.“

„Alter Schmeichler, Geerth!“, grölte Hargis und diesmal schallte ein lautes Lachen durch den Garten, während er Geerth mit seiner riesengroßen Hand kumpelhaft auf den Rücken klopfte. Dies allerdings so kräftig, dass Geerths Antwort nur aus Luft und einem knappen „Pffff“ bestand.

„Ich glaube, du musst mal ein paar Bütterken mehr essen“, meinte Hargis. „Ein paar mehr Muskeln würden dir nicht schaden.“

„Jawohl, Onkel Hargis, ich werde gleich beim Willkommensfest anfangen, mich rund und fett zu futtern“, grinste Geerth. „Übrigens hatte ich dich viel eher erwartet. Wurdest du aufgehalten?“

„Tja, irgendwie waren die Birken weg, die mir als Orientierung gedient hatten“, entschuldigte sich Hargis. „Deshalb hat’s etwas länger gedauert. Ich hoffe, heute Abend sind wenigstens die Bierken nicht weg…“

„Keine Sorge, es gibt genug Bier und Pflaumenschnaps. Und wie du siehst, meinen sehr leckeren Himbeersaft…“

„Pflaumenschnaps hört sich gut an.“ Hargis reckte und streckte seine von der Reise müden Glieder und ließ seinen Blick über den Garten schweifen. „Hier hat sich doch einiges verändert. Die Büsche und Bäume sind höher geworden, auch bei den anderen Grundstücken. Schade, dass deine Eltern und deine Brüder nicht da sind. Ich hätte auch sie gerne wieder gesehen. Aber ich bleibe ja ein wenig länger und wer weiß, vielleicht sind die Rumtreiber bald zurück.“ Hargis klopfte sich den Staub von der Jacke und seiner dunkelgrünen Hose.

„Ach, weißt du, Onkel Hargis, als ich dir per Telegramm antwortete, war das Austauschjahr von Walter und Siggi erst zur Hälfte rum. Sie sind also immer noch in Südamerika in ihrer Höhle. Und meine Eltern, na ja, die letzte Flugpost von ihnen hörte sich so an, dass die Umweltaktion, an der sie teilnehmen, gerade erst spannend wird. Aber du kannst natürlich bleiben, solange du magst, ich freue mich über deine Gesellschaft.“ Geerth ging zu dem vollen Saftkrug zurück und deckte diesen mit einem Strohteller ab.

„Ach ja, deine Familie - emsig und dauernd in Aktion, wie immer. Das hat sich in der Tat gar nicht geändert. Ich hoffe mal, dass wenigstens viele andere aus eurer Zwergenkolonie noch hier sind?“ Hargis sammelte sein Gepäck auf und marschierte in Geerths Richtung und auf den Eingang des Hohlbaus zu.

„Ganz bestimmt sind viele noch da, die du kennst, Hargis. Komm, ich helfe dir mit deinen Sachen. Huch, du hast aber viel eingepackt! Na ja, umso länger kannst du bleiben. Sicher bist du hungrig und durstig von der Reise. Wir fangen bald mit unserem Picknick an. Wir treffen uns alle an der großen Eiche und eine Menge Leute freuen sich schon auf dich. Vorher kannst du dich aber noch frisch machen.“

„Och, das geht schnell bei mir, weißt du doch…“

Geerth schnappte sich eine von Hargis Taschen und ging voraus in den Hohlbau. „Hey, Onkel Hargis, wir werden eine schöne Zeit haben! Es gibt so vieles, was ich dir zeigen möchte. Unsere Wohnung hat jetzt zwei gegrabene Tunnel-Ausgänge. Und ab und zu buddle ich immer einen dritten oder vierten Gang hinzu. Aber nach einer Weile verschütte ich sie wieder, weil Gribold sonst immer zu viel kriegt. Na ja, du wirst es sehen“, plapperte Geerth ganz aufgeregt vor sich hin.

„Schon gut, mein Junge, alles nach und nach und zu seiner Zeit. Ich bin ja gerade erst angekommen. Ist Wunhilda denn noch da? Den ganzen Weg über habe ich an ihren leckeren Streuselkuchen gedacht… mmh, herrlich. Ob es den wohl heute gibt?“ Hargis schnalzte mit der Zunge.

„Darauf kannst du wetten, lieber Onkel“, antwortete Geerth, „aber komm erst mal richtig rein.“

4

Die glühende Nachmittagssonne tauchte die Wiese im hinteren Drittel der Gartenanlage in ein sattes gelbes Licht. Inmitten der Wiese stand die alte, tausendjährige Eiche mit ihrem knorrigen, massiven Stamm und den weit ausladenden Ästen. Den Schatten des gewaltigen Baumes hatten die Zwerge genutzt und das Willkommensbuffet dort aufgebaut. Die Wiese rund um die große Eiche war völlig natürlich und wild bewachsen. Umso heimeliger fühlten sich dort alle Naturwesen zwischen den hohen Gräsern und den Wildblumen. Direkt hinter der kreisrunden Eichenwiese schloss sich linkerhand die so genannte Pappelwiese an, an deren Ende der Zaun der Gartenanlage verlief mit einem Hintertor zum Wald. Die Gruppe mit hohen Pappeln signalisierte den Übergang zum offenen Waldgelände. Die andere Seite der Eichenwiese flankierte der große Gemeinschaftsteich der Gartenkolonie, in dem die Nixen wohnten. Da es auf der Rückseite der Wiese nur zwei kleinere Gärten gab, war sie ein ruhiger, gemütlicher Platz. Nur Hector war ab und zu der Meinung, er müsste dort entlang schnüffeln und sich im Gras wälzen. Um ihn möglichst oft davon abzuhalten, hatten die Zwerge absichtlich ein paar niedrige Disteln gepflanzt. Mit mittelmäßigem Erfolg. Nur gut, dass Hector vor der Hecke von Parzelle P14, auf dem schmalen Rasenstreifen sein Geschäft erledigte und seine Haufen vorzugsweise dort ablegte. Dies allerdings zum Leidwesen von Wunhilda, die immer auf der Hut sein musste, wenn sie ihren Garten verließ.

Doch Hunde und Menschen waren derzeit weit weg. Auf der Grasfläche, unter den tiefen, ausladenden Ästen der Eiche, waren Tische und Bänke aufgestellt worden. Alle kleineren Lavendel- und Wildrosenbüsche des Areals sowie hoch gewachsene Blumenstängel waren mit bunten Girlanden geschmückt. Für den späteren Abend hatte man die Glühwürmchen gebeten, die Wiese zu beleuchten. Ein abgesägter Baumstumpf eines früheren Apfelbaums diente als Podest für den Dirigenten der Wichtel-Kapelle, die sich stets in mal mehr und mal weniger gelungenen Halbkreisen dahinter arrangierte. Hinter dem „Orchesterplatz“ hatte man hinter einer größeren Ansammlung aus Steinen und Findlingen den Getränkevorrat blicksicher platziert. Holzfässer mit Bier, Holunderlikör und Pflaumenschnaps sowie unzählige Tonkrüge mit Saft und frischem Quellwasser lagerten dort. Einige Meter weiter links vom Orchesterplatz war die Wiese füllig mit Moos bedeckt und der sehr ebene Boden eignete sich gut zum Tanzen. Mit genügend Abstand zur Tanzfläche stand linkerhand das Buffet. Die Holzplatten und Holzteller, die auf den langen Tischen standen, trugen eine Vielfalt leckerer Gerichte. Neben der Kräutersuppe standen dort noch weitere große Töpfe mit Bohnen- und Erbseneintopf. Es gab Holzplatten mit Salaten, Tomatenspießen, einer Auswahl an gegrillten und marinierten Gemüse, Schüsseln mit Bratkartoffeln und Kartoffelpüree. Mais- und Haferbrot füllten üppig die Strohkörbe an den Außenseiten der Tische. Die mit Radieschen und Klee gefüllten Sauerampferfladen sahen appetitlich aus. Auf den Tischen mit Desserts hatte man die Auswahl zwischen frischen Obstsalaten, Obsttorten und dem bei Zwergen so beliebten Waldmeistergelee. Und Wunhilda hatte sich mit drei Sorten ihres berühmten Streuselkuchens mal wieder selbst übertroffen. Ihre neueste Kreation überraschte mit einer Füllung aus in Honigwein eingelegten Heidelbeeren. Kurz und gut: Alles ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Genauso erging es Hargis, als er gebadet und in sauberer Kleidung – die allerdings nicht viel anders aussah als sein Reise-Ensemble – gemeinsam mit Geerth auf dem Festplatz eintraf und das köstliche Buffet erblickte. Doch Höflichkeit ging vor und es galt zunächst alle seine Zwergenfreunde und die weiteren Gäste, die bei der Eiche eintrafen, zu begrüßen. Darauf freute er sich von Herzen, dennoch gab ihm sein Magen mit deutlichem Knurren zu verstehen, dass es längst Zeit für eine ausgiebige Mahlzeit war. Hargis und Geerth stellten den riesigen Krug mit Himbeersaft ab, den sie zusammen getragen hatten.

„Alles klar, Onkel Hargis“, rief Geerth leicht verschwitzt und etwas aus der Puste. „Ich denke, das letzte Stück bis zum Getränkelager schaffe ich allein. Schließlich warten alle schon auf dich.“

Geerth umfasste fest und mit beiden Armen den Tonkrug und tappte weiter über die Wiese in Richtung des Getränkelagers davon. Hargis, der weder aus der Puste, noch verschwitzt war, stellte sich auf gesellige Begrüßungen ein, strich seine braune Hanfweste glatt und rückte seine dunkelrote Kappe zurecht. Sie war aus gepresstem Schilfrohr und trug vorne über dem Schirm die eingestickte Aufschrift Ranger. Ein Geschenk zu seinem letzten Geburtstag, lange bevor die ersten Baumaschinen auftauchten, und als in seinem Wald die Welt noch in Ordnung gewesen war. Hargis schluckte bei dieser Erinnerung einmal schwer, setzte dann aber sein breitestes Lächeln auf, als er auf die ersten Festbesucher zusteuerte, die sich zum Smalltalk zusammengefunden hatten. Er brauchte nur wenige Schritte gehen, als ihn schon Wunhilda entdeckte und sich aus der Gruppe von Zwergenfrauen löste, denen sie letzte Instruktionen zu Buffet und Essensausgabe erteilt hatte.

„Da ist ja mein Hargis! Ich glaub`s ja nicht, nicht zu fassen!“, juchzte Wunhilda und flog schnell, mit wehendem Rock und flatternder geblümter Schürze, über die Wiese. Schwungvoll landete sie in Hargis Umarmung.

„Ach ist das schön, dich wieder zu sehen“, murmelte sie an Hargis Brust, während sie ihn ganz übermütig drückte. Sie lachte fröhlich und mit ihren strahlenden blauen Augen sah sie fast aus wie ein junges Zwergenmädchen.

Hargis schob sie etwas von sich und antwortete gerührt: „Wunhilda, meine Beste! Ich bin so froh, dass ich wieder bei euch bin. Den ganzen Weg über habe ich schon an dich gedacht. Natürlich ebenso an deinen phänomenalen Streuselkuchen, wie ich zugeben muss.“ Hargis grinste verschmitzt bei diesen Worten. Ein lautes Magenknurren bestätigte diese Aussage, was Wunhilda so zum Lachen brachte, dass sie es kaum schaffte, sich eine der braunen Haarsträhnen in ihren Haarkranz zurück zu stecken.

„Hört sich nach langjährigem Streuselkuchen-Entzug an“, brachte sie kichernd hervor und klopfte auf Hargis flachen und muskulösen Bauch unter der Weste.

„Das sind innere Werte, was?“, meinte Hargis stolz.

„Mein Lieber, du bist zwar älter geworden, aber immer noch super in Form“, raunte Wunhilda ihm anerkennend zu. Allerdings verschwieg sie rücksichtsvoll ihren zweiten Gedanken, nämlich dass Hargis durchaus mal wieder einen ordentlichen Haarschnitt und eine Rasur gebrauchten konnte.

Hargis errötete ein wenig. Mit Komplimenten konnte er nicht besonders gut umgehen und um selbst welche zu machen, musste er sich gleichfalls überwinden.

„Ach und du liebe Wunhilda, bist immer noch in deinen besten Jahren. So herrlich aufgeblüht, wie die Blumen auf deiner Schürze“, brachte Hargis mit einem Anflug von Nervosität ungeschickt heraus.

„Oh. Danke!“ Wunhilda drehte ihren Oberkörper freudig hin und her. „Ach, aber die olle Schürze hier, die muss ich mal abmachen und gegen meine neue blaue Wollstola austauschen. Dann wirst du erst staunen“, witzelte sie und rückte ihr silbernes Seidenhalstuch wieder ordentlich zurecht. „Lieber Hargis, das Buffet ruft mich, ich muss nach dem Rechten sehen. Ich erwarte dich später dort und bastel dir dann einen riesigen Teller mit Köstlichkeiten.“

„Das sind leckere Aussichten, danke, Wunhilda.“ Hargis blinzelte ihr zu und strich ihr noch einmal freundschaftlich über den Oberarm. „Dann misch ich mich mal weiter unters Volk. Wo ist denn dein Göttergatte Timtam abgeblieben?“

„Ach der“, winkte Wunhilda ab, „der war der Meinung, er müsste unbedingt die lange Reise zu einem Familientreffen antreten. Alle Jubeljahre treffen sich alle seine Cousins und Cousinen in der Lüneburger Heide. In meinen Augen eine viel zu lange Reise für so ein Treffen, aber na ja, er wollte es halt so. Jetzt muss ich aber los, bis später.“

Wunhilda drehte sich flink auf dem Absatz um und marschierte zurück zur Essenstafel. Noch im Laufen machte sie sich hektisch an ihren Schürzenbändern zu schaffen. Hargis blickte ihr nach. Zwar hatte er sie lange nicht gesehen, kannte Wunhilda aber gut genug, um zu merken, dass etwas an Timtams Reise sie sehr wohl belastete. Zu stillerer Stunde würde er dazu ganz sicher ein paar Worte mit ihr wechseln. Doch momentan war ganz eindeutig zu viel Betrieb dafür. Die Wichtelkapelle hatte sich an ihrem Platz auf dem Baumstumpf eingefunden und jeder der kleinen Kerlchen begann, seinen Stuhl an den richtigen Platz zu rücken und sein Instrument zu stimmen. Ein lustiges Durcheinander von Tonfolgen in nicht zueinander passenden Tonarten schallte über die Lichtung. Hargis blendete diesen wilden Klangteppich so gut es ging aus und marschierte weiter. Zuerst begrüßte er den rundlichen, sehr gemütlich aussehenden Funz. Hargis und Funz waren im gleichen Jahr geboren und beide 127 Jahre alt. Allein dadurch gab es eine ganz besondere Verbindung zwischen ihnen. Funz galt als kluger und heilkundiger Zwerg und wohnte in Parzelle P3, wo er den Kräutergarten des Rentnerehepaars Herbert und Annelore Wollknecht mit Hingabe betreute. Hargis fachsimpelte gern mit ihm über die gesundheitsfördernden Wirkungen der Pflanzen.

Funz‘ rotes Gesicht leuchtete unter seinem spärlichen Bart vor Wiedersehensfreude, als er dem Gnom in die Augen blickte. Ein schöner Kontrast zu seinem tannengrünen Anzug.

„Hargis! Schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich und unsere guten Gespräche wirklich vermisst.“

„Hallo Funz, sei gegrüßt…“ Hargis umarmte seinen alten Freund kurz aber herzlich.

„Und, was machen die Vogesen?“, lachte Funz. „Stehen sie noch?“

„Och… öh…“ druckste Hargis. „Was macht denn deine Lampensammlung?“

Funz kannte sich nicht nur mit Heilkräutern aus, er besaß auch eine sehr umfangreiche Sammlung von Laternen und Lampen. In seiner Wohnhöhle gab es einen riesigen Raum, in dem viele seiner Sammlerstücke ausgestellt waren. Funz zeigte seine Schätze gern, und wer einmal an einer Führung durch sein Lampenreich teilgenommen hatte, erkannte sofort, dass Funz ein bedeutender Funzologe, also Lampenkundler, war. So leistete er sowohl auf dem Gebiet der Funzologie, als auch im Bereich der Heilkunde hervorragende Arbeit. Aber er war sich dessen oft nicht bewusst und zweifelte völlig zu Unrecht an seinen Fähigkeiten. Umso mehr freute er sich über Hargis‘ Ankunft. Dessen Zuspruch und Ansporn hatten ihm immer Mut gemacht.

„Oh, ich habe da ein paar wundervolle neue Exponate“, erklärte Funz. „Mehrere Kashbah-Laternen aus Algerien, handgeschmiedet. Und ich selbst habe einige Windlichter im orientalischen Stil angefertigt. Na, ich hoffe, du schaust bald bei mir vorbei, um dir meine Sammlung wieder einmal anzusehen.“

„Ganz bestimmt“, sagte Hargis und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Ich wette, die tollen Girlanden für das Fest waren ebenfalls deine Idee.“

Funz nickte lächelnd. „Das habe ich sehr gern gemacht, ich wollte zu deinem Fest etwas Schönes beisteuern. Für die Beleuchtung wurden ja schon die Glühwürmchen engagiert.“

Hinter Funz drängelte sich nun dessen Cousin Hinntz hervor.

„Jetzt lasst mich endlich Guten Tag sagen!“, bestürmte er die beiden. „Ich muss Hargis unbedingt von meinen vielen Abenteuern erzählen, die ich mutig bestanden habe, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

Die Abenteuer des recht beleibten Hinntz waren oft – nun ja – eher amouröser Natur und stellten sich fast immer als süße Wunschträume heraus. Als Funz‘ Cousin genoss er es sehr, dass dessen Beliebtheit immer ein bisschen auf ihn abstrahlte. Hinntz und Funz waren beide ganz in Grün gekleidet. Während Funz‘ Mütze jedoch mit einem satten Rot beeindruckte, sah die von Hinntz ganz undefinierbar farblos aus. Das belastete Hinntz aber nicht weiter. Er hielt sich selbst für einen Experten auf fast jedem Lebensgebiet und dass seine Mütze noch keine Bestimmung für ihn anzeigte, das schrieb er einer seltsamen Laune der Natur zu. Mit dem rustikalen Charme einer Nerven-Kettensäge schob er sich oft und gern in den Vordergrund.

Funz merkte, dass er sich nicht mehr ungestört mit Hargis unterhalten konnte, zwirbelte bekümmert seinen rudimentären Bart und trollte sich, um sich einen leckeren Pflaumenschnaps zu genehmigen. Dieser lagerte zu der noch frühen Stunde versteckt im Getränkelager hinter der Wichtelkapelle, wo sich just Lurgi mit einem sehr verschmitzten Gesicht am Himbeersaft zu schaffen machte. Gerade noch unbemerkt hatte er den Strohdeckel wieder auf den großen Krug gelegt, als hinter ihm Geerth auftauchte.

„Hey Lurgi, was geht ab? Ich hab dich schon überall gesucht. Ist was mit dem Saft nicht in Ordnung?“

Lurgi schaffte es gerade noch unauffällig, einen leeren Becher in die Taschen seiner blauen Jacke zu stecken, während er sich zu Geerth umdrehte. „Aber nein, Kumpel, alles bestens. Ich habe nur grad eben mal die Getränkesorten gecheckt. Du weißt doch, wie neugierig ich bin. Ich muss immer wissen, was es alles gibt. Also heute haben wir echt eine Auswahl… als ob die Nixenkönigin vom Titicaca-See auf Staatsbesuch da wäre…“ Lurgis Stimme war unbekümmert und selbstbewusst wie immer. Dennoch klangen seine Worte für Geerth eine Spur zu aufgekratzt. Hatte Lurgi was zu verbergen?

„Du hast doch nicht irgendwelchen Murks hier gemacht, oder? Der Saft ist außerdem für unsre Wichtel reserviert.“ Geerth nahm seinen Freund argwöhnisch ins Visier.

„Quatsch mit Waldmeister!“, winkte Lurgi ab, „Was du gleich immer denkst. Und viele meiner Streiche sind kein Murks, sondern sie sind erstens wirklich lustig und haben zweitens sehr oft einen pädagogischen Impetus.“

„Also, egal was für einen merkwürdigen Impetius, oder so, du gerade im Sinn hast: Das ist heute ein Fest für meinen berühmten Patenonkel und es wäre schön, wenn es einfach nur fröhlich und harmonisch zugeht. Was soll Hargis denn sonst von uns denken?“

„Ach komm, Hargis kennt uns doch und hat einen gesunden Humor. Weißt du noch, wie er früher immer über unsere Streiche gelacht hat? Zum Beispiel als wir den Vorrat an schwarzer Teichfolie von Egbert und Elli nachts über den Nixenteich gespannt haben. Und am nächsten Morgen dachten die Nixen, es wäre Sonnenfinsternis oder die Welt sei untergegangen, weil alles im Wasser dunkel blieb, hihi!“

Egbert Bröllemann, war seit Jahrzehnten der Platzwart des Wonne-Scholle e.V. Er und seine Frau Elisabeth – von allen nur Elli genannt- waren eine echte Institution. Sie sorgten für Ordnung und waren Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Kontakte innerhalb der Gärtnergemeinschaft. Weiterhin waren sie Herrchen und Frauchen von Hector, dem sie auf ihrer Parzelle P21, die rechts vom Eingangstor der Anlage lag, eine imposante Hundehütte errichtet hatten. Sogar mit seinem Namen über dem Eingang, der aus rot lackierten, einzelnen Holzbuchstaben bestand. Jeder Buchstabe war lediglich mit nur einem Nagel angebracht und Lurgi nutzte deren Beweglichkeit und drehte gerne mal das kleine c um neunzig Grad nach links, so dass es wie ein u aussah. Dann stand jedes Mal Heutor an der Hütte, bis Egbert das C wieder gerade setzte.

„Ich erinnere mich deutlich an das Teich-Drama“, schmunzelte Geerth, dessen Verdacht gegen Lurgi mittlerweile verflogen war. „Und ich erinnere mich an die Woche Hohlbau-Arrest, den meine Eltern mir dafür aufgebrummt haben. Und die Nixen haben noch einige Tage lang immer laut gezischt, sobald wir in die Nähe vom Teich kamen. Was war das für ein Gezeter unter der schwarzen Folie! Nur gut, dass die für Namen und Ereignisse kein Langzeitgedächtnis haben. Sonst wären sie heute noch sauer auf uns. Hach, lang ist‘s her…“ Geerth schüttelte den Kopf.

„Tja, Nixen merken sich halt nix dauerhaft. Nicht mal eigene Namen könnten sie behalten, deshalb verteilen sie nur Nummern an jeden. Mehr geht nicht rein in einen Nixenkopf“, grinste Lurgi. „Ob das bei der Nixenkönigin vom Titicaca-See wohl auch so ist…?“.

„Jetzt hör endlich auf mit diesem Titicaca-Blödsinn! Wahrscheinlich haben die gar keine Nixenkönigin dort in Peru! Und ich werde das ungute Gefühl nicht los, du willst mich nur von irgendetwas ablenken…“

„Ach was, so etwas käme mir niemals in den Sinn…“

„Trotzdem, Lurgi“, mahnte Geerth, „wenn du lustig sein willst, dann tob dich heute mal auf der Tanzfläche aus oder erzähl alle Witze, die du kennst. Halt dich mal ein wenig zurück, OK? Ich muss wieder zu meiner Suppe rüber.“

„Ja, grüß die schön von mir, die Suppe…“

„Bitte, Lurgi…“ Geerth machte Anstalten zu gehen und wäre dabei fast in Funz reingelaufen, der auf seinen ersten Pflaumenschnaps aus war.

„Ich werde mir echt alle Mühe geben!“, rief Lurgi ihm nach und kreuzte dabei Mittel-und Zeigefinger beider Hände hinter seinem Rücken.

Währenddessen redete Hinntz wie ein Wasserfall auf Hargis ein, der einfach hin und wieder nickte, dabei seine Ohren auf Durchzug stellte und die wohltuende Wärme der Sonne auf seiner Haut genoss. Dabei stellte er fest, dass auch Hinntz‘ Haut etwas Sonne vertragen konnte. Sie war blass und teigig, Pickel verteilten sich über Wangen und Kinn. Das sah nicht wirklich appetitlich aus. Das einzig Glänzende an Hinntz waren seine silbernen Stiefel, von denen keiner der anderen Zwerge wusste, aus welchem Material sie gefertigt worden waren. Hargis konnte das ebenfalls nicht ergründen, aber er wagte nicht zu fragen aus Angst vor weiteren wilden Geschichten. Würde er Hinntz an diesem Abend überhaupt noch loswerden?

Eine Unterbrechung durch Furkina, die einen ziemlich granteligen Knorfork am Ärmel hinter sich her zog, sorgte kurzzeitig für einen Hoffnungsschimmer. Aber zu früh gefreut, Hinntz blieb einfach stehen. Immerhin war es eine willkommene Unterbrechung, denn Hargis hatte sich bei dem älteren Zwergenpaar immer wohl und heimelig gefühlt.

„Mein lieber Hargis“, begrüßte ihn Furkina lächelnd und streichelte ihm wie einem kleinen Jungen über die Wange, während ihre dicken Zöpfe hin und her wackelten. Hargis befürchtete, es würde sich noch ein „Du bist aber groß geworden!“ anschließen, aber das blieb aus.

„Meine liebe Furkina…“, sagte Hargis etwas unbeholfen.

„Es ist gut, dass du da bist…“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

„Ja, das ist schön“, pflichtete Hargis bei. „Aber ist… irgendetwas nicht in Ordnung bei euch?“

Anstelle einer Antwort knuffte ihn Knorfork zur Begrüßung in die Seite. „Na, du verrückter Vogesenwäldler? Hätte nie gedacht, dass es dich noch mal hierher verschlägt! Oder haben sie dich aus deinem Wald rausgeworfen?“ Er lachte heiser, nichts ahnend, dass er damit den Nagel bitterlich genau auf den Kopf getroffen hatte.

„Aber nicht doch Knorfork…“ Hargis überspielte den Stich ins Herz. „Der große Wald ist mir einfach zu groß geworden und da wollte ich mal wieder in die Welt der kleinen brummeligen Gartenzwerge eintauchen.“ Er stuppste Knorfork freundschaftlich an, aber nur ganz sachte, damit der betagte Zwerg nicht plötzlich umfiel. Doch Knorfork war zäh und konnte noch einiges aushalten.

„Brummelige Gartenzwerge, so eine Unverschämtheit!“, knurrte Knorfork.

„Aber hey, Knorfork, du weißt doch, dass das nur Spaß war“, lenkte Hargis erschrocken ein.

„Ähm, Schnurzelhäschen, willst du unserem Ehrengast nicht etwas zu trinken besorgen?“, versuchte Furkina die Lage zu entschärfen.

„Ich geh jetzt zum Buffet“, verkündete Knorfork muffelig. „Hab Hunger. Der Ehrengast kann ja mitkommen, er hat ja schließlich zwei funktionierende Füße, oder?“ Mit diesen Worten entfernte er sich zu den Tischen mit den Köstlichkeiten.

„Entschuldige, bitte Hargis“, erklärte Furkina mit betretener Stimme, „wie du siehst, hat sich Knorfork verändert. Am Anfang war er nur ab und zu ein wenig harsch mit seinen Antworten. Und manchmal nörgelig. Mittlerweile ist daraus tägliche Gewohnheit geworden. Er hat sich sehr in seine Unfreundlichkeit verrannt und manchmal scheint es ihm sogar Spaß zu machen, sich mit anderen zu streiten.“ Furkinas Stimme wurde immer leiser. Hargis konnte sie nur noch schwer verstehen, denn mittlerweile hatte die Wichtelkapelle mit der Musik eingesetzt.

„Keine Sorge, liebe Furkina! Ich kann schon was aushalten und etwas brummelig war unser Knorfork doch schon immer. Sicher ist es nur eine Phase. Du weißt doch, harte Schale…“ Hargis drückte sanft Furkinas Schulter gedrückt, was sie mit einem dankbaren Lächeln quittierte.

„Weißt du, neulich hatte ich so einen Albtraum, dass mein Knorfork gar nicht mehr er selbst wäre, nur noch eine leere Hülle… gruselig.“

„Nun, jeder von uns hat mal komische Träume…“

„Wahrscheinlich hast du recht“, meinte Furkina. „Jedenfalls bin ich froh, dich zu sehen. Und ich werde mal nachsehen, was Knorfork dahinten so macht. Hoffentlich keinerlei Ärger. Bis später, Hargis.“

Damit trippelte sie davon und überließ den Gnom wieder ganz dem redseligen Hinntz, der die Gelegenheit nutzte, ihn sofort wieder mit einigen Episoden aus seinem scheinbar so bewegten Leben zu beglücken, die Hargis tapfer über sich ergehen ließ. Eine Viertelstunde später sagte er: „Ja, mein lieber Hinntz, das ist schön, dass wir über all das gesprochen haben. Nun will ich aber mal den guten Lurgi begrüßen.“

„Och, das ist aber schade“, meinte der liebe Hinntz. Doch der gute Lurgi, der seit einigen Minuten hinter ihm gewartet hatte und vor Aufregung von einem Bein auf das andere trampelte, nutzte den Moment. Er sprang mit einem großen Satz nach vorn, knuddelte Hargis ausgiebig und zog ihn von Hinntz weg. Dies fand der Gnom einerseits ein bisschen peinlich, andererseits war er froh, Hinntz entkommen zu sein. Dieser stapfte nun auch dem Pflaumenschnaps entgegen.

Als Lurgi Hargis nun noch einen dicken Schmatzer auf seine buschigen Augenbrauen geben wollte, befreite der sich rechtzeitig. Lurgi war oft überschwänglich und begeisterungsfähig, aber Hargis war sich nicht sicher, ob er sich jetzt nicht einen seiner Scherze mit ihm erlaubte.

„Neeneenee, jetzt ist es aber gut“, brummte er. „Hab mich vorhin schon gewaschen, du brauchst mich also nicht abzulecken.“

„Soso, du stehst also nicht auf stürmische Sympathiebekundungen“, lachte Lurgi.

„Na ja, alles in Maßen bitte“, sagte Hargis. „Jedenfalls war es eine sehr nette Begrüßung. Immerhin hat sie mich von dem Quassel-Hinntz befreit.“

„Tja, wieder habe ich eine gute Tat vollbracht“, grinste Lurgi.

„Und eine tolle, neue Jacke hast du auch.“

„Ja, die passt wirklich gut!“, strahlte Lurgi und seine wasserblauen Augen funkelten stolz unter seinem blonden Lockenschopf, als hätten sie gerade den Zauber aller Meere eingefangen. Passt wirklich gut kam allerdings nicht besonders oft bei Lurgi vor. Er war für einen Zwerg recht drahtig und sportlich. Oft schlabberten seine blauen Kleidungsstücke formlos um seinen Körper herum. Doch heute trug er eine sehr schicke, aus Flechten gewirkte Jacke, die seinen trainierten Körper zur Geltung brachte. Auf der Rückseite prangte in goldenen Lettern eingestickt die Aufschrift: Lernen mit Lurgi.

„Mit Werbung für deine Kurse“, staunte Hargis. „Ich bin beeindruckt.“

„Na, deine Ranger-Mütze ist aber auch echt knuffig“, meinte Lurgi.

Hargis fand nicht, dass knuffig der richtig Ausdruck für seine Kappe war, aber er freute sich über Lurgis gute Laune. Und über dessen mittlerweile rote Kopfbedeckung. „Also, gibst du immer noch die Kurse über die Pflege und Betreuung von Staudengewächsen?“

„Oh ja, aber nicht nur das. Ich habe inzwischen mein Themenspektrum sehr erweitert. Es gibt so viele interessante Wissensgebiete… Man kann unendlich viel lernen. Deshalb versuche ich mir immer neue Dinge anzueignen und sie weiterzugeben: Neulich habe ich zwei sehr spannende Seminare gehalten: Steine und Sterne – Das Element Erde im Kosmos und Wir basteln eine naturbelassene Glückwunschkarte. Ich plane demnächst einen Kurs über die Bedeutung von Wolkenformen für das Wetter.“

„Hm, das ist ja eine sehr bunte Mischung“, brummte Hargis. „Was machen denn eigentlich die Kartoffeln?“

Abgesehen von seiner Tätigkeit als Kursleiter war Lurgi für das Gedeihen der Kartoffeln in Parzelle P12 zuständig, die dem 85-jährigen Rentner Otto Schieber gehörte, den alle nur Pommes-Oppa nannten. Pommes-Oppa ernährte sich hauptsächlich von Kartoffeln in allen Variationen. Er liebte sie über alles, baute Unmengen davon in seinem Garten an und führte darauf seine robuste Gesundheit zurück.

„Och, das mit den Kartoffeln ist ein leichter Job“, sagte Lurgi. „Da bleibt mir noch viel Zeit, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Übrigens findest du nicht auch, dass sich die Wichtelkapelle heute besonders harmonisch anhört?“

„Nun ja, ich weiß nicht…“, zögerte Hargis. Zunächst hatten die fröhlichen Melodien, die die fünfzehn einheitlich in Hellrot gekleideten Wichtel den Instrumenten entlockten, ganz harmonisch geklungen. Wie üblich hatte sich der Elf Esnordur die Ehre gegeben, das kleine Orchester zu dirigieren und bisher die kleinen Racker gut im Griff gehabt. Denn es war ebenso schwierig, eine Wichtelgruppe im gemeinsamen Takt zum Spielen zu bringen, wie sie zu einheitlicher Kleidung zu überreden. Bis auf ihre roten, glockenförmigen Kappen, die oben in einen orangefarbenen Zipfel mündeten, kleideten sich die Wichtel recht bunt und individuell. Für die Festauftritte hatte Esnordur es immerhin geschafft, einheitliche Kleidung durchzusetzen. Mit weiterer Durchsetzungskraft schien es aber vorbei und Esnordur wirkte zunehmend besorgt. Gerade waren der rothaarige Ösenprink an der Piccolo-Rindenflöte und der schwarzhaarige Friedelprink an der Pilzpauke völlig aus dem Takt gekommen. Sie hatten Mühe, wieder in das Stück hineinzufinden.

„Ich glaube, dass ist ein sehr modernes Lied, das muss ganz bestimmt so sein“, feixte Lurgi.

„Und… bist du sicher, das gehört auch dazu?“, fragte Hargis und deutete mit dem Finger in Richtung der Musizierenden.

Ypsprink, der kleinste unter den Wichteln, der eine mit verschiedenen Gräsern bespannte Geige spielte, hatte gerade mehrfach ein dröhnendes Rülpsen zum Besten gegeben.

„Tja, die Musik entwickelt immer wieder moderne Ausdrucksöglichkeiten“, sagte Lurgi.

Inzwischen hatten Pantzprink und Glantzprink, die beiden Posaunisten des Ensembles, ihre Instrumente schwungvoll in die Menge geschleudert und begannen nach einer selbst erdachten Melodie mit eigenem Text: „Ein guter Gnom steht ständig unter Strom“ zu grölen. Das schien nun wirklich nicht ins ursprüngliche Werk zu gehören. Esnordur sprang verzweifelt wie ein Rumpelstilzchen auf seinem Dirigentenplatz herum.

„In der Tat, die Kunst erfindet sich immer wieder neu“, philosophierte Hargis.

Währenddessen kam Geerth herbei gerannt und rief: „Lurgi! Gib‘s zu, du hast doch etwas mit dem Himbeersaft gemixt! Die Wichtel sind total neben der Spur und alles, was sie bisher getrunken haben, war Himbeersaft. Was hast du angestellt?“

„Och, ich hab nur ein ganz kleines bisschen Pflaumenschnaps in den Saft reingeschüttet“, grinste Lurgi, „um ihnen das Lampenfieber zu nehmen.“

„Na, du bist ja äußerst hilfsbereit“, schmunzelte Hargis. „Bei dir hat sich offenbar nicht viel geändert, Lurgi.“

„Himmel!“, stöhnte Geerth. „Das ist überhaupt nicht witzig. Die Wichtel vertragen doch gar keinen Alkohol! Schau mal, Ypsprink kann sich kaum noch auf den Beinen halten.“

Als hätte er das gehört, kippte Ypsprink um und rollte kichernd im Gras umher.

„Ein Gnom frisst gar nicht gerne Chrom…“, improvisierten Pantzprink und Glantzprink eine neue Textzeile.

Die Reaktionen der Gäste waren geteilt. Einige waren so vertieft in die Buffetauswahl, dass sie den Niedergang des musikalischen Niveaus gar nicht richtig mitbekamen. Andere schauten zur Kapelle und schüttelten verständnislos die Köpfe oder quittierten die recht skurrilen Szenen mit Gelächter. Ösenprink hatte derweil seine kleine Rindenflöte in ein Nasenloch gepfriemelt und entlockte ihr dort seltsam klagende Laute.

Geerth eilte zum entnervten Esnordur, der sein Dirigat unterbrochen hatte, und wechselte mit ihm ein paar klärende Worte. Es stellte sich heraus, dass sieben der fünfzehn Wichtel von dem mit Alkohol versetzten Himbeersaft getrunken hatten. Die waren für ein sinnvolles Musizieren nicht mehr zu gebrauchen und wurden ausgemustert. Geerth gelang es schließlich, Esnordur zu besänftigen, sodass dieser mit dem verbliebenen Wichtel-Ensemble die Festmusik fortsetzte. Um die Stimmung nach dem kleinen Zwischenfall schnell wieder zu heben und die Gäste zum Tanzen zu animieren, wurde sogleich ein sehr beliebter Zwergenwalzer angestimmt.

Einige der männlichen Zwerge waren nicht sonderlich davon begeistert und es kam vereinzelt zu regelrechten Fluchtszenen. Denn Zwergenmänner feierten zwar gern, das Tanzen zählte hingegen nicht zu ihren Leidenschaften. Ein Zwerg namens Blubbah sprintete vor der tanzwütigen Wunhilda davon und rettete sich mit einem beherzten Sprung über die Hecke der P12, mitten hinein in Opa Schiebers Kartoffelparadies. Knorfork, mit seinen 223 Jahren schon ein Senior-Zwerg, rannte in rekordverdächtigem Tempo vor seiner Gattin Furkina davon und flüchtete in Hargis‘ Nähe, um dem tänzerischen Miteinander entgehen zu können. Aber so leicht gab Furkina nicht auf. Mit wehenden Zöpfen eilte sie hinter ihrem Gemahl her und erwischte ihn an seiner alten blauen Leinenjacke. Furkina hatte eine sehr sirenenhafte Stimme, wenn sie aufgeregt war und so wurden alle Festbesucher Ohrenzeugen, als sie zu Knorfork sprach: „Bitte Knorfork, mein Schnurzelhäschen, nur einen Tanz! Schon seit 26 Jahren hast du nicht mehr mit mir getanzt! Und weißt du, was wir außerdem schon seit 26 Jahren nicht mehr gemacht haben?“

„Sei still, Weib!“, knurrte Knorfork. „Das interessiert doch niemanden! Ich will nicht tanzen, ich will weiter mit Hargis reden!“

„Ich vertrockne wie eine Blume in der Sahara, wenn du nicht mit mir tanzt!“, rief Furkina.

„KNORFORK! KNORFORK!“, skandierten die umstehenden Gäste, um den rüstigen Zwergensenior zur Erfüllung seiner tänzerischen Ehepflichten anzufeuern.

„Ich verbitte mir die Einmischung in meine inneren Angelegenheiten!“, zeterte Knorfork, und sein langer grauer Bart zitterte empört.

„Und ich habe schon lange nichts mehr von deinen inneren Angelegenheiten zu sehen bekommen!“, jammerte Furkina enttäuscht.

„Was meint sie damit?“, hörte man den angeheiterten Wichtel Ösenprink leise fragen.

„KNORFORK – TANZEN!“, forderte der Chor der Festbesucher.

Hargis versuchte zu vermitteln: „Also mein lieber Knorfork, dann dreh doch schnell eine Runde mit Furkina. Das Stück ist doch sowieso gleich zu Ende. Und danach plauschen wir bei einem leckeren Bierchen oder bei einem Holunderlikör.“

Aber Knorfork war unaufhaltbar in Rage gekommen. „Ach, jetzt willst auch du mir vorschreiben, was ich zu machen habe! Dir ist wohl die Luft in den Vogesen bei den französischen Weichkäse-Gnomen nicht bekommen?“

„Nun beruhige dich doch…“ beschwichtigte Hargis.

„KNORFORK – TANZEN!“, johlten die Gäste.

„Von einem jungen Schnösel wie dir, mit nur 127 Jahren, lasse ich mir gar nix sagen!“, schnappte Knorfork.

Jetzt versuchte auch Furkina einzulenken: „Schnurzelhäschen, bitte sei wieder lieb…“

„Ihr könnt euren Holunderlikör alleine saufen!“, giftete Knorfork beleidigt. „Schnurzelhäschen geht jetzt nach Hause!“ Mit diesen Worten stapfte er forsch seinem trauten Heim entgegen. Furkina folgte ihm sichtbar enttäuscht. Fast wäre der Abgang der beiden sehr wirkungsvoll in den Sonnenuntergang erfolgt. Aber dafür war es noch zu früh. Doch der Himmel bezauberte bereits mit jenem durchdringenden vorabendlichen Türkis, das Hargis ganz besonders liebte.

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