10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 3 - diverse - E-Book

10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 3 E-Book

Diverse

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Beschreibung

Sherlock Holmes und Dr. Watson gehören zu den genialsten Privatdetektiven der Kriminalgeschichte. Diese Box enthält die Kriminalfälle 21 bis 30 der beiden weltberühmten Ermittler zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 410

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SHERLOCK HOLMES

Die neuen Fälle

Herausgeber:

ROMANTRUHE-Buchversand

Cover: Rainer Engel

Satz und Konvertierung:

DigitalART, Bergheim.

© 2020 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen sowie mit tatsächlichen

Ereignissen sind unbeabsichtigt.

Abdruck, auch auszugsweise,

Vervielfältigung und Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien zum

Zwecke der Veräußerung sind untersagt.

Internet: www.romantruhe.de

Kontakt:[email protected]

Produced in Germany.

Sherlock Holmes ist auch als

Print-Ausgabe erhältlich!

Inhalt

DAS RÄTSEL DER HMS DORIAN

DIE BROSCHE DES RICHELIEU

DAS THREE PENCE PROBLEM

DER RAUB DES GOLDENEN SCHMETTERLINGS

DIE ENTFÜHRUNG DER LADY HARRIS

DIE LETZTE HOFFNUNG DER DUNCANS

EIN VERHÄNGNISVOLLER BRIEF

EINE GRAUSIGE LIEFERUNG

DER RUBIN DER GRÄFIN

DER SELTSAME FALL DES ALOISIUS VAN HORN

DAS RÄTSEL DER HMS DORIAN

Box 3 – Fall 21

Sherlock Holmes ging mindestens viermal um den Toten herum.

Inspektor Lestrade trat nervös von einem Bein auf das andere. »Also, meiner Ansicht nach ist es ein klarer Selbstmord, Mr. Holmes. Ich weiß gar nicht, weshalb Lady Gregory Sie gerufen hat.«

Ich stand etwas abseits und ließ den Blick durch das große Wohnzimmer der Villa in Mayfair gleiten.

Einige Strahlen der Wintersonne brachen sich in den Butzenscheiben des Erkerfensters und warfen bunte, recht unpassende Schatten auf das verzerrte Antlitz der Leiche.

Sir Peter Gregory saß in einem mit Leder bezogenen Lehnstuhl, die rechte Hand mit dem langläufigen Armeerevolver schlaff über die Seitenlehne herunter hängend, dünne Blutflecken auf dem sonst schneeweißen Biesenhemd und schien auf einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Bücherwand zu starren.

Mein Freund Holmes steckte seine Lupe in die Tasche des Ulsters und richtete seine schlanke, hagere Gestalt in voller Größe auf. Ein leichtes spöttisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Sind Ihnen die Briefe dort drüben auf dem Schreibtisch aufgefallen, Inspektor?«

Der Blick Lestrades wirkte ein wenig irritiert. »Was haben die Briefe dort mit dem Selbstmord zu tun? Es sind reine Geschäftsbriefe.«

Holmes nickte bestätigend. »Ein Brief ist noch nicht signiert.«

Der Scotland-Yard-Beamte zuckte die Achseln. »Was tut das zur Sache? Der Sir wird es vergessen haben. Selbstmordkandidaten sind immer etwas … konfus.«

»Aber nur, wenn sie Selbstmord begehen. Außerdem sind diese Menschen in der Regel die Ruhe selbst. Sie haben die Tat geplant. Es erschüttert sie wenig. Der Sir war altgedienter Soldat. Einen Selbstmord würde er in aller Kühle begehen.«

Der Inspektor winkte ab. »Ich halte mich hier an das, was ich sehe.«

Sherlock Holmes steckte die Hände in die Manteltaschen. »Dann sehen Sie viele Dinge nicht, mein Guter. Zum einen die bereits erwähnte fehlende Unterschrift unter dem Brief. Zum anderen die Schrift. Sir Gregory war Linkshänder. Die Waffe befindet sich in der rechten Hand. Es handelt sich um eine großkalibrige Waffe. Bei dem Schuss in die Schläfe hätte auf der anderen Seite die halbe Schädeldecke wegfliegen müssen. Das war nicht der Fall. Sehen Sie sich das Einschussloch an. Die Kugel steckt tief im Kopf. Es kann sich höchstens um ein Kaliber .22 handeln. Diese Waffe besitzt das Kaliber 9 mm. Es wurde kein Schuss aus dieser Waffe abgegeben.«

Lestrade fuchtelte mit den Armen herum. »Sie verwirren mich! Sie denken, der Sir ist nicht hier erschossen worden?«

Holmes schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Vieles spricht dafür, dass die Tat hier begangen worden ist, aber nicht mit der Waffe, die der Tote in der Hand hält, und es handelt sich keinesfalls um Selbstmord.«

Lestrade biss sich auf die Lippen. »Aber wer sollte das getan haben? Die Lady selbst? Das würde zu dem kleinen Kaliber passen.« Er winkte seinen Sergeanten heran. »Haus durchsuchen. Jeden Winkel! Suchen Sie die Mordwaffe.«

Holmes lachte leise auf. »So kenne ich Sie, Inspektor. Ein Mann der Tat. Doch Vorsicht. Selbst wenn Sie den Revolver hier im Haus finden würden, gäbe es noch keine Rückschlüsse auf die Lady als Täter. Es können auch falsche Fährten sein. Weshalb sonst sollte sich jemand solche Mühe mit der falschen Waffe machen. Und …«, setzte er noch bestimmt hinzu, »… die Lady weiß, dass ihr Gatte Linkshänder ist.«

Der Inspektor riss die Augen auf. »Dann muss es jemand sein, der das nicht wusste!«

Mein Freund zuckte die Achseln. »Oder es in der Hektik vergaß.«

Als wir nach zehn Minuten in der kühlen Wintersonne im Vorgarten der Villa standen, fragte ich: »Was nun weiter?«

Holmes begann bedächtig seine Pfeife zu stopfen. Als der Tabak endlich brannte, schaute er den Rauchwolken hinterher. Sie kräuselten sich aufwärts und wurden vom leichten Wind davongetragen.

»Noch weiß ich zu wenig. Ich werde die Lady noch einmal aufsuchen, wenn sie etwas ruhiger ist und ihr ein paar Fragen stellen.«

»Gibt es überhaupt keinen Anhaltspunkt für die Tat?«

Mein Freund setzte sich in Richtung des halbhohen schmiedeeisernen Tors in Bewegung. Zwei Bobbies hielten dort einige schaulustige Nachbarn fern.

»Der letzte Brief war an eine Adresse in Kairo gerichtet. Es handelt sich um eine Anfrage, weshalb der Sarg des Imhotep nicht verladen worden sei.«

Ich schritt neben Holmes die Straße entlang, die von zahlreichen schmucken Häusern gesäumt wurde. »Nun ja«, merkte ich an, »er war Reeder und ein Kunde wird wohl etwas an der Ladung reklamiert haben.«

»Das ist möglich. Aber wie ich bereits im Vorfeld … Sie wissen, ich recherchiere immer sehr gründlich, wenn ich zu einem Fall gerufen werde … Also, wie ich im Vorfeld feststellte, kommt die HMS DORIAN, um deren Fracht es geht, erst in zwei Wochen in London an.«

»Ja und?«

Holmes schaute mich an. »Watson, das Postschiff kann auch nicht schneller sein als die DORIAN, und wie konnte Gregory schon wissen, dass etwas nicht verladen wurde?«

Ich schluckte. Also musste er die Information in London erhalten haben. Aber wie konnte in London jemand das wissen?

»Ein Telegramm vielleicht?«

»Das ist möglich, aber in diesem Fall nicht wahrscheinlich. Sir Gregory hätte sich darauf bezogen und nicht einen Brief verfasst. Er hätte zurückgekabelt. Also handelt es sich um etwas, was sonst niemand wissen soll. Auch kein Beamter im Telegrafenamt.«

Dieser logischen Schlussfolgerung konnte ich mich nicht entziehen.

Eine Droschke brachte uns in die Baker Street.

*

Die Dunkelheit brach früh herein um diese Jahreszeit.

Ich stand an einem der beiden Fenster unseres gemütlichen, unaufgeräumten Wohnzimmers und ließ den Blick über den Kamin gleiten, von dort zu dem Großkreuz des Prager Königshauses und zu der kleinen, ovalen Fotografie des Comte d’ Castillo. Daneben lag der persische Pantoffel mit Holmes’ Pfeifentabak. Etwas abseits steckte das alte Wurfmesser mit der unerledigten Korrespondenz.

Ein leichter Seufzer entfuhr mir.

»Stimmt. Sherlock Holmes bleibt immer der Alte«, durchbrach da die Stimme meines Freundes belustigt meine Gedanken.

Ich schreckte auf. »Wie …?«

Holmes kicherte und schaute dem Rauch seiner Pfeife nach. Er saß in seinem Lieblingssessel und hatte eine vergilbte Akte in der rechten Hand.

»Ich sagte: ›Sherlock Holmes bleibt immer der Alte.‹ Dass Sie recht haben. Dort ein Bild mit der Spitze des spanischen Adels, dort eine der höchsten Auszeichnungen, die ein Königshaus zu vergeben hat, und gleich daneben das Chaos. Ich folgte Ihrem Blick und konnte so Ihre Überlegungen erkennen.«

Ich räusperte mich. »Ja, ich muss es zugeben.«

Sherlock Holmes legte die Akte auf den Tisch, erhob sich und ging zu dem unordentlichen Bücherregal. Er entnahm einem Fach eine Flasche Sherry und zwei Gläser.

»Sehen Sie es so, Watson – ich bin, der ich bin. Ehrungen sind nett, aber sie bedeuten mir wenig. Die Tat ist entscheidend. Und da bin ich nur ein kleines Licht, das ab und zu etwas Erhellung in scheinbar finstere Abgründe bringt.«

»Nun, nun!«, rief ich aus und stieß mich von der Fensterbank ab. »Stellen Sie dieses Licht nicht unter den Scheffel. Wie vielen Menschen haben Sie schon geholfen! Wie viel Unheil verhindert!«

Mein Freund hielt mit dem Einschenken des Sherrys inne und meinte sinnend: »Das ist wohl richtig. Meistens half ich Menschen, die keine hohen Ehren zu vergeben hatten. Aber ihre Blicke zollten mir Dank genug.«

Dann lachte er. »Denken Sie mal, alter Kampfgefährte, wie gleich sie alle sind, wenn sie verzweifelt auf unseren Stühlen hier sitzen. Ob Oberhausmitglieder, Barone oder Arbeiter. Das Geschehen, dessen sie nicht Herr werden, zehrt an ihren Nerven. Oft bin ich der letzte Rettungsanker. Alle Blicke sind gleich flehendlich, wenn sie mir ihre Geschichte erzählen.«

Er stieß laut die Luft aus den Lungen. »Es ist mir egal, wo sie herkommen oder welcher Abstammung sie sind. Wenn sie der Hilfe bedürfen und es in meiner Macht steht, etwas zu tun, so tue ich es. Was nützen da Orden! Die Hilfe ist das Ausschlaggebende.«

Dem konnte ich nichts hinzufügen.

Unsere treu sorgende Hauswirtin Mrs. Hudson brachte uns das Abendessen herauf.

Ich warf noch einen Blick aus dem Fenster. Der Laternenanzünder hatte eben seinen Weg an unserem Haus vollzogen, die Gaslaternen brannten sanft gelb und tatsächlich schwebten wie Federn die ersten Schneeflocken durch die Lichtstrahlen.

Während des Abendessens – es erwies sich wieder hervorragend schmackhaft und ich überlegte, was wir wohl ohne Mrs. Hudson tun würden – kam das Gespräch auf den Mord.

»Wer, denken Sie, Holmes, könnte ein Mordmotiv gegenüber Sir Peter haben?«

 Mein Freund und Wohnungsgenosse kaute bedächtig. Dann nahm er einen Schluck Sherry, bevor er entgegnete: »Ich kann zu diesem Zeitpunkt nichts dazu sagen. Eigentlich erwarte ich eine Meldung von Inspektor Lestrade, ob eine Waffe des Kalibers .22 im Haus gefunden wurde. Ich bezweifle es aber. Der Mörder wird sie mitgenommen haben.«

»Demnach flüchtete der Täter?«

Holmes nickte. »Ich habe vor der Untersuchung der Leiche einen Rundgang um das Haus gemacht. Es gab tatsächlich etwas, was die Elefantenherde der Polizei nicht zertrampelt hatte. Jemand war im Parterre durch das Küchenfenster eingestiegen. Er muss gewusst haben, dass vom Küchenpersonal zu dieser Zeit niemand dort war. Also geschah es vor dem Fünfuhrtee. Die Lady hatte sich noch oben in ihrem Zimmer hingelegt. Da sie an Schlafstörungen leidet, benutzte sie für ihre Ruhe Ohrenwachs. Sie vernahm den Schuss also nicht. Erst die Dienerin fand den Sir. Die Lady hörte den Schrei, als sie eben dabei war, ihr Haar zur Tea Time zu bürsten. Sie rannte die Treppe abwärts und fand den Sir wie auch das Hausmädchen vor. Letztere in heller Aufregung.«

Ich runzelte die Stirn. »Wo hielt sich denn das Hausmädchen zum Tatzeitpunkt auf? Und wo befand sich das Küchenpersonal?«

Holmes griff zu einem weiteren Stück Pastete. »Das Personal wohnt in einem Gartenhaus etwa fünfzig Meter vom Haupthaus entfernt. Das Zimmer, in dem der Sir umgebracht wurde, zeigt zur entgegengesetzten Seite – also zum kleinen Park. Weder im Gartenhaus noch von der Straße konnte man etwas hören. Ich nehme an, deshalb wurde die kleine Waffe benutzt. Der Schuss aus einem Armeerevolver kommt einer Explosion gleich.«

»Hm … demnach alles gut geplant.«

»Sie sagen es, mein Guter. Aber noch etwas – die Abdrücke, die ich fand, stammten von Reitstiefeln. Die Spur führte zur Parkseite. Halb um das Haus herum. Es handelte sich um eine mittlere Schuhgröße. Die Person war, nach der Tiefe der Eindrücke zu urteilen, nicht sehr schwer.«

Ich richtete mich auf. »Wenn die Spur um das Haus herum führte, hätte man sie vom Gartenhaus nicht sehen müssen? Die Person, meine ich.«

Holmes wiegte den Kopf. »Nicht unbedingt. Es gibt einige dichte Büsche um das Haus herum. Vermutlich wird sich der Täter auch in Acht genommen haben.«

Wenig später traf per Boten eine Nachricht von Lestrade ein.

Keine Waffe vorgefunden.

»Gut«, sagte ich. »Wo kann man ansetzen?«

Holmes trank sein Glas aus. »Bei dem Schiff. Ich denke, ich sollte wieder mal den Kapitän Basil geben.«

Ich lachte rau auf. »Ihre altbewährte Verkleidung für die Hafengegend. Kann ich mit? Wir haben das doch schon mal zusammen gemacht.«

Holmes rieb sich die Hände. »In Ordnung. Dann auf die Pirsch. Watson – das Spiel beginnt!«

*

Nebel wallte von der Themse herüber und zog sich wie die Arme eines Polypen durch die Straßen der Stadt. Immer geringer wurde die Sicht. Holmes hatte einen knorrigen Eichenstock mitgenommen. Der Griff zeigte sich wie ein Bussard geformt.

»Der Herzog von Böhmen schenkte ihn mir«, hatte mir mein Freund Holmes nur auf eine diesbezügliche Frage geantwortet.

Er sprach nicht gerne über solche Zuwendungen. Wenn er einen Fall übernahm, dann wegen der Aspekte der Sache. Er brauchte die Gehirnarbeit. Alles andere interessierte ihn nicht. Holmes hatte schon finanziell lukrative Fälle abgelehnt, weil das gewisse Prickeln fehlte. Dafür hängte er sich in das Problem eines armen Schluckers mit aller Kraft hinein, nur, weil ihn die Sache reizte.

Ich spürte, dass der vorliegende Fall zu der letztgenannten Kategorie gehörte.

Die Gassen wurden enger, der Wind schärfer.

Wie ein Schornstein wirkten die nah aneinander stehenden Häuser. Hier entwickelte sich der Nebel zu jenem ›fetten‹ Gemisch, welches einem das Atmen schwer machte.

Hier fuhren keine Droschken mehr. Auch kaum ein Bobby verirrte sich in dieses Gebiet, welches wir aufsuchten.

Diffus drang der Schein einer Gaslampe zu uns und darunter knirschte im Wind ein recht verrottetes Schild. Es zeigte einen Walfisch.

Holmes schritt energisch auf die mit teils zersprungenen Butzenscheiben bestückte Tür zu. Bei ihrer Öffnung drang sogleich eine mächtige Wolke aus Rauch und Fuselgestank auf uns zu. Ich hustete. Obwohl ich ein begeisterter Zigarrenraucher bin – diese geballte Ladung war etwas zu viel.

Im Innern der schmalen, sich an einer Theke vorbei ziehenden Gaststube sah man kaum einen Meter weit. Das flackernde Licht tat sein Übriges. Der Wirt schien dem Fortschritt nicht zu frönen. Seine Beleuchtung bestand aus altmodischen Talglichtern.

»Herrgott, Ho…«, ich verstummte. Beinahe wäre mir der Name meines Freundes herausgerutscht. Ich räusperte mich. »Captain – was ist das hier?«

Sherlock Holmes sah mit dem angeklebten Schnauzbart und der Augenklappe, der speckigen Mütze zu seinem Seemannspullover recht furchterregend aus.

Rücksichtslos bahnte er sich den Weg durch eine Gruppe von Matrosen. Als einer ein »Hoho!« ausstieß, blieb mein Freund nur kurz stehen, richtete das freie Auge auf ihn und schon herrschte Ruhe.

»He – Basil! Wieder mal hier?«, kam es aus einer Ecke.

Ich richtete den Blick auf die beiden vierschrötigen Gestalten. Keinem hätte ich auch nur eine Minute lang vertraut. Vermutlich konnten sie besser mit dem Messer umgehen als mit ihrem Verstand.

Basil/Holmes blieb stehen, wandte sich den beiden zu und rief: »Jeremy und Sam! Ihr sitzt nicht hinter Gittern?«

Einer von ihnen kicherte. »Konnten uns auf dem Transport von Old Bailey nach Dartmoor dünnemachen.«

»Ah«, machte Holmes. »Und da bleibt ihr hier in der Nähe des Löwen?«

Erneut kicherte der Mann. »Wer sucht schon hier? Sollen sie sich doch draußen die Hacken abrennen.«

Hätten die beiden gewusst, mit wem sie sprachen – sie wären wohl kaum so vorlaut gewesen.

Holmes wandte sich zum Tresen und rief den allgemeinen Lärm übertönend: »Vier Bier! Auf die Rechnung von Basil!«

Wenig später bahnte sich ein rundliches, aber recht hübsches Mädchen in einem ländlichen Kleid mit vier Krügen den Weg zu uns.

»Hallo Kitty«, kam es halblaut von dem Mann am Tisch, der bisher geschwiegen hatte. »Tanzt du heute noch für uns?«

Die Angesprochene lächelte. »Wenn ihr dafür bezahlt …« Sie stellte das Bier ab und huschte davon.

Der Sprecher beugte sich vor und flüsterte Holmes verschwörerisch zu: »Nur deshalb sind wir hier. Sollen die schönsten Beine des Hafens sein.« Er lachte plötzlich dröhnend los.

Holmes nahm ungerührt sein Glas und prostete den beiden zu. Danach meinte er leichthin: »Ich könnte euch vor dem Arm des Gesetzes in Sicherheit bringen, wenn ihr mir etwas verratet.«

Beide Männer runzelten die Stirn.

So sagte Holmes: »Ich will etwas über die HMS DORIAN wissen.«

Mir fiel auf, dass beide Burschen etwas blasser wurden. Endlich räusperte sich einer und entgegnete rau: »Der Kahn gehört dem Satan persönlich. Dann lieber nach Dartmoor.«

Was war denn das? Ein Ganove, der lieber hinter Gitter ging, als etwas über das Schiff zu sagen?

Ich spürte, dass Holmes gleichfalls stutzte.

Er kam aber nicht mehr dazu, etwas zu fragen, denn alle Gäste drängten plötzlich zu der kleinen Bühne im Hintergrund. Akkordeonmusik erklang und ich sah das Mädchen auf die kleine Erhöhung vor dem roten Vorhang steigen. Wir wurden mitgerissen. Mein Bier, das ich eben zum Mund führen wollte, verschüttete ich.

Das Mädchen wiegte sich zur Musik, sie klang südländisch. Unter den Männern verbreitete sich Schweigen.

Holmes versuchte aus dem Pulk herauszukommen, aber vergeblich.

Das Mädchen bestieg einen kleinen runden Tisch, streifte die Schuhe von den unbestrumpften Füßen und begann zu tanzen.

Ich gestehe, dass ich mich der Faszination der Darbietung nicht entziehen konnte. Entfachte sie doch Sehnsüchte.

Der Tanz währte wohl zehn Minuten, dann sprang das Mädchen vom Podest, schlüpfte wieder in die Schuhe und verschwand hinter dem Tresen. Donnernder Applaus erfüllte den Raum. Als wir endlich wieder zu unserem Platz zurückkehren konnten, waren die beiden Männer verschwunden.

Holmes fluchte unterdrückt. Er schob mich zur Tür und bald umfing uns die kalte, nasse Nebelluft.

»Teufel, Watson, die Informationen wären wichtig gewesen.« Mein Freund stampfte mit dem Fuß hart auf.

Da sah ich etwas in einer Haustür, nur etwa zehn Meter entfernt. Ein Bein ragte aus dem Hausschatten hervor. Ich machte Holmes darauf aufmerksam. Nur eine Minute später blickten wir im flackernden Schein unserer Zündhölzer auf zwei Leichen.

Die beiden Männer aus der Spelunke. Man hatte ihnen sauber die Kehlen durchgeschnitten.

Holmes schnaubte. »Da ist ja jemand mächtig in Sorge, wir könnten etwas erfahren.«

»Denken Sie, es besteht ein Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und dem Mord an Sir Peter Gregory?«

Mein Freund richtete sich vollends auf. »Das denke ich doch. Jedenfalls hängt es mit der HMS DORIAN zusammen. Das Schiff werden wir einmal genau unter die Lupe nehmen. Es wird in zwei Wochen hier sein.«

Holmes warf noch einen Blick zurück. Der Eingang der Kneipe war kaum im Nebel auszumachen. »Wir müssen vorsichtig sein, alter Kamerad. Ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden.«

Unwillkürlich tastete ich in der Manteltasche der alten Schiffsuniform nach der Webley.

Erst als wir in ein belebteres Stadtgebiet kamen und eine Droschke ergatterten, entspannte ich mich etwas.

*

Der nächste Morgen brachte uns so dicken Nebel, dass es kaum möglich war, von unserem Fenster im ersten Stock die Baker Street zu erkennen. Ich kam mir vor wie in einem Wolkenturm. Völlig abgeschnitten von der anderen, realen Welt.

»Heute werden wir wohl kaum in unseren Ermittlungen weiterkommen«, merkte ich während des Frühstücks an.

Holmes stieß die Luft hart aus. »Dieses Wetter … es ist wie geschaffen für Meuchelmord und andere böse Dinge.«

Ich schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein. »Es hat den Eindruck, als erwarten Sie etwas.«

Mein Freund presste die Lippen zusammen. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Dann kam es leise: »Watson, Sie wissen, dass ich nicht viel auf Ahnungen gebe, aber es besteht die Möglichkeit eines Ereignisses.«

Kaum ausgesprochen, pochte es energisch an die Haustür. Wir schauten auf. Von unten vernahmen wir die Schritte und dann die Stimme unserer Mrs. Hudson. Dann schwere, rasche Schritte auf der Treppe. Die Tür ging auf und ein abgehetzter Lestrade stand vor uns.

»Was ist geschehen?«, fragte Holmes mit erzwungener Kühle.

Lestrade fuchtelte mit den Händen. »Etwas … etwas … ach ich weiß nicht!«

Holmes schob ihm einen Stuhl zurecht. »Nehmen Sie erst einmal einen Kaffee und dann erzählen Sie.«

Der Inspektor nahm das dankend an. Nach zwei Minuten beruhigte er sich etwas und platzte heraus: »Wir haben ein Herz gefunden.«

Holmes und ich müssen wohl etwas merkwürdig geschaut haben, denn Lestrade fuhr rasch fort: »In der Darlington Street. In einem Hausflur. Eine Bewohnerin wird seit zwei Tagen vermisst. Bei der Besichtigung des Hauses durch zwei Bobbies entdeckte man in einem Glas voll Spiritus ein Herz. Es stand in einer Nische auf dem Etagenabsatz zu ihrer Wohnung.«

Mein Freund blies die Backen auf. »War die vermisste Person Pathologin?«

Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Nein – Buchhändlerin. Bei Pasters & Co in der Burlington Road.«

»Eine angesehene Firma«, merkte ich an. Schon oft hatte ich dort medizinische Fachliteratur erstanden.

»Möglicherweise interessierte sich die Dame für Medizin?«, mutmaßte Holmes ohne großes Interesse.

Lestrade verzog das Gesicht. »Ich habe mich erkundigt. Niemand weiß etwas davon.«

Holmes schüttelte den Kopf. »Das besagt gar nichts! Haben Sie Verwandte oder Bekannte ausfindig gemacht?«

»Alles negativ.«

Mein Freund stopfte sich eine Pfeife. »Vielleicht ist es ganz simpel. Die Dame taucht wieder auf. Das Herz … vielleicht gibt es einen Medizinstudenten im Haus.«

»Auch negativ.«

Holmes wurde unwirsch. »Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass der Fund und das Verschwinden der Dame zusammenhängen könnten?«

Der Inspektor malte mit den Kiefern. Endlich platzte er heraus: »Es ist der zweite Fall. Vor drei Wochen verschwand ein Barmädchen auf dem Nachhauseweg zu ihrer Wohnung. Eine Freundin machte sich nach zwei Tagen Sorgen. Ich schickte ihr zur Beruhigung einen Beamten, der sich im Haus der Verschwundenen umhören sollte. Vor der Etagentür stand ein Glas mit einem Herzen.«

Nun horchte Holmes auf. »Ein weiterer Fall? Das ist natürlich seltsam. Ist das Barmädchen wieder aufgetaucht?«

Lestrade verneinte das.

Mein Freund legte die Pfeife zur Seite und stand auf. »Führen Sie mich zu dem Haus von Miss … Wie ist ihr Name?«

»Harriet Bernstein.«

Es dauerte unendlich, bis wir uns durch den dicken Nebel bis zur Darlington Street vorgetastet hatten. Mit einer Droschke zu fahren, erwies sich als völlig unmöglich. Jeder Droschkenkutscher weigerte sich. Allerdings trafen wir nur sehr wenige an den bekannten Standplätzen.

Das Haus zeigte sich alt, jedoch in passablem Zustand. Der matte Schein einer Polizeilaterne, die ein Bobby neben sich stehen hatte, wies uns die Haustür.

In dem Flur mit den hohen Decken war es kühl und uns umgaben zahlreiche Küchengerüche.

»Die Bewohner hier nehmen wenig Notiz voneinander«, merkte Lestrade an.

»Wo ist das Relikt?«, wollte mein Freund knapp wissen.

Der Inspektor zeigte es uns.

Ich schluckte. »Holmes!«, rief ich aus. »Das Herz ist … höchstens einen Tag alt.«

Mein Freund sah mich an. »Woran erkennen Sie das, Doktor?«

»An der Struktur. Läge es länger in Spiritus, wäre es grauer.«

Sherlock Holmes nahm das Glas hoch. Mit Argusaugen betrachtete er es. »Haben Sie etwas dagegen, Inspektor, wenn ich es an mich nehme und ein paar chemische Analysen durchführe?«

Lestrade hob die Hände. »Wenn es uns weiterbringt, bitte.«

Danach nahm Holmes die Wohnung der Dame unter die Lupe. Nach einer Stunde murmelte er: »Seltsam, sie hat zahlreiche Bücher über Ägypten.«

»Hm«, machte ich. »Das Land interessiert sie sicher. Die Kultur …«

»Und das Strafrecht«, vollendete mein Freund.

Ich schaute ihn irritiert an.

*

In unserer Wohnung baute Holmes sogleich sein Labor auf.

Interessiert sah ich ihm zu. Er hob das Glas – es erinnerte an ein Einmachglas, wie es Hausfrauen verwenden – gegen das Licht seiner Speziallampe. Lange blickte er, das Gefäß immer wieder drehend, auf das Organ. Endlich meinte er: »Watson, sehen Sie mal diese Verfärbung. Das ist kein Spiritus. Ich tippe auf eine Nährlösung.«

»Eine … Wozu denn das?«

Mein Freund stellte das Glas auf den fleckigen Tisch. »Ja … wozu? Spiritus würde das Herz vor der Fäulnis bewahren, aber hier hat es den Eindruck … Himmel, Watson!«

Er griff zur Lupe und hob das Gefäß erneut an. Nach vielleicht zehn Minuten setzte er es wieder ab und legte die Lupe auf die Tischplatte.

»Es hat den Anschein, als würden sich neue Zellen um das Organ bilden.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »So etwas geht nicht. Unmöglich!«

Doch nach eingehender Inspektion musste ich Holmes zustimmen.

Mein Atem ging schwer. »Holmes, das wäre … das wäre eine medizinische Revolution!«

Mein Freund öffnete nun das Glas und ein leicht süßlicher Duft entströmte ihm.

»Traubenzucker«, murmelte Holmes, nachdem er ein paar Mal intensiv geschnüffelt hatte.

Nun wurde auch mein medizinforscherisches Interesse geweckt. Holmes setzte zahlreiche Reagenzien an. Er erhitzte, er kühlte am offenen Fenster, er schickte mich los, Stangeneis zu besorgen. Letzteres war gar nicht so einfach, es heil in die Baker Street zu bringen. Die ganze Prozedur lief bis zum frühen Abend.

Endlich lehnte sich mein Freund erschöpft zurück, zündete sich eine Pfeife an und meinte: »Es ist fantastisch.«

Nervös und gespannt trat ich von einem Bein auf das andere. »Um was handelt es sich denn nun?«

Holmes stieß die Luft aus und schaute auf seine Aufzeichnungen. Ketten von Molekülen und Formeln.

»Die Flüssigkeit besteht im Schwerpunkt aus Extrakten von Eiweiß, Traubenzucker und Milchsäure sowie einer Anordnung aus Spurenmineralien, Essigsäure und …«

Ich trommelte auf die Tischplatte. »Und was?«

»Das Ganze wurde eine Zeit lang Kohlendioxidbegasung ausgesetzt.«

Ich war sprachlos. »Wozu das?«

Mein Freund schaute mich ernst an. »So entsteht ein Nährboden, in dem das Organ nicht verwest. Im Gegenteil. Es produziert neue Zellen.«

»Unmöglich!«, rief ich aus.

Holmes erhob sich. »Und doch ist es so. Derjenige, der das vollbracht hat, muss ein außerordentliches biologisches Wissen und ein besonderes Labor besitzen.«

Ich drehte mich im Kreis, lief aufgebracht durch das Zimmer und rief dann aus: »Holmes! Wissen Sie, was das bedeutet?«

Sherlock Holmes lehnte sich nachdenklich mit dem Rücken gegen den Kaminsims. »Jemand ist in der Lage, Organe neu zu züchten.«

Ich wedelte mit den Armen. »Das ist gegen jegliches Wissen … gegen jegliches …« Mir blieben die Worte weg.

Holmes lächelte nur. »Na, na, mein Guter. Weshalb so aufgebracht? Sehen Sie sich die technische Entwicklung an. Noch vor ein paar Jahren war man ernsthaft der Meinung, ein Eisenbahnzug dürfe nicht schneller fahren als 43 Kilometer in der Stunde, weil die Luft aus den Waggons gepresst würde und die Reisenden ersticken müssten. Heute fahren wir schon mindestens vier Kilometer schneller. Also weshalb sollte ein Forscher nicht auch in der Medizin weiterkommen?«

»Schon«, kam es lahm von mir. »Das müsste eine absolute Kapazität sein.«

Holmes nickte. »Die Frage ist nur: Was hat das Organ in dem Haus zu suchen und was hat Miss Bernstein damit zu tun?«

Ja – das war allerdings ein Rätsel.

Eine Stunde später tauchte Lestrade auf.

»Wir haben die Leiche von Harriet Bernstein gefunden. Sie wurde am Themse-Ufer angespült.«

Holmes sprang elektrisiert auf. »Und?«

Lestrade zuckte die Schultern. »Erwürgt.«

»Andere Verletzungen?«

Der Inspektor runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste. Die Leiche liegt im Schauhaus.«

Eine weitere Stunde später standen wir vor der Toten, die auf einem Tisch aus robustem Eichenholz lag. Holmes untersuchte den Körper genau. Dann meinte er leise: »Alles in Ordnung. Tot durch Erwürgen. Aber warum?«

Ich betastete die Oberarme. »Gut trainierte Muskeln für eine Frau.«

»So?«, machte mein Freund nur. »Elementar, Watson!«

*

Ich war heilfroh, als wir wieder unsere Wohnung betraten.

Der Nebel war so dicht, dass man kaum noch zu Fuß vorankam. Aufseufzend ließ ich mich in meinen Sessel vor dem Kaminfeuer fallen. »Keine zehn Pferde bringen mich noch einmal aus dem Haus«, knurrte ich.

Holmes lachte leise. »Die Menschheit kann froh sein, dass ich auf der guten Seite stehe. Dieses Wetter ist für Untaten aller Art wie gemacht.«

Wie recht er hatte!

Trotzdem sollte es mit unserem beschaulichen Abend nicht so ganz klappen. Gerade hatte ich mich in die Times vertieft, da sprang mein Freund auf.

»Ach Watson! Es ist klar! Miss Bernstein war ein Kurier!«

»Wie?« Ich musste mich etwas sammeln. Holmes stand vor dem Kamin und blickte über mich hinweg ins Leere. »Wir nahmen erst berechtigt an, dass man sowohl das Barmädchen wie auch Miss Bernstein eventuell umbrachte, um ihnen die Organe zu entnehmen. Die Leiche von Miss Bernstein ist unversehrt. Wozu also das Herz in einem Versteck vor ihrer Wohnung? Jemand hat es zu einem vereinbarten Ort gebracht und die Dame sollte es weiter transportieren.«

Ich nickte. »Das hat etwas für sich. Aber wohin?«

Holmes setzte sich wieder. »Ja«, murmelte er. »Wohin?«

Es klopfte unten energisch an die Haustür. Mrs. Hudson öffnete und Schritte trampelten zu uns herauf. Ohne zu klopfen wurde unsere Wohnzimmertür aufgerissen und ein abgehetzter Inspektor Gregson stand im Türrahmen.

»Holla!«, machte mein Freund. »Halb Scotland Yard gibt sich ein Stelldichein heute.« Es klang spöttisch.

Gregson machte ein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Mein Kollege Lestrade sagte mir, dass Sie in einen merkwürdigen Fall einbezogen sind. Nun – ich habe da was, was dazu passen könnte. In der Montague Road.«

Unten vor der Tür spürte ich, dass sich ein scharfer Wind aufgetan hatte. Der Nebel lichtete sich. Gregson war mit einer Polizeikutsche gekommen.

Nach gut zwanzig Minuten hielten wir vor einem Haus mit weiträumigem Vorhof in der Montague Road. Gregson sprang aus dem Wagen, bevor er völlig stand. Der Inspektor führte uns durch einen Torbogen zu einem gepflasterten Innenhof. Doch dann sahen wir es bereits im Schein zahlreicher Polizeilaternen.

Ziemlich in der Mitte, von einer Blutlache umgeben, lag eine Gestalt.

Wir traten näher und erkannten eine Frau um die dreißig Jahre. Der Kleidung nach stammte sie aus guten Verhältnissen. Holmes blickte auf das Blut und bemerkte: »Das kann erst vor knapp zwei Stunden passiert sein.«

»Korrekt!«, rief Gregson. »Sonst wäre schon mehr in das Pflaster eingezogen. Ein Bobby hörte einen Schrei. Er fand die Tote. Per Signalpfeife allarmierte er einen Kollegen. Der wiederum holte mich.«

Holmes trat nahe an die Leiche heran. Ich folgte. Unwillkürlich schluckte ich.

»Himmel! Ist der Ripper wieder am Werk?«

Fast schien es so. Der Oberkörper der Frau war fast entblößt. Unter der rechten Brust klaffte ein langer Schnitt.

Holmes schaute von der Hocke aus hoch. »Watson – was sehen Sie?«

Ich beugte mich nun auf die Leiche hinunter und untersuchte den langen Schnitt, zog ihn auseinander und rief: »Oh Gott – jemand hat die Leber entfernt!«

»Fachmännisch?«, erkundigte sich mein Freund.

Nach gut vier Minuten konnte ich das nur bestätigen. »Der Täter muss Chirurg sein.«

Holmes richtete sich auf. »Wie lange benötigt man dafür?«

Ich strich mir über das Kinn. »Wenn das Organ nicht verletzt werden soll, wenigstens zehn Minuten.«

Holmes machte ein paar Schritte auf den Torbogen zu. »Wie konnte dann der Bobby den Schrei hören, die Tote finden und den Kollegen informieren? Zwischen dem Schrei und dem Auffinden können doch höchstens zwei Minuten vergangen sein. Viel zu wenig, um das Organ zu entfernen, fachlich einzupacken und zu verschwinden!«

Gregson und ich sahen uns an.

»Wollen Sie sagen …«

»Wo ist der Beamte?«

Der Inspektor zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Nur der Kollege ist mit mir zurückgekommen. Er gehört zum zwölften Revier.«

Holmes winkte den Bobby herbei. »Wie ist Ihr Name?«

»Ferrer, Sir!«

Holmes nickte. »Okay, Sergeant Ferrer, kannten Sie den Kollegen, der Sie zur Hilfe rief?«

Der Polizist zog unter dem Helm die Augenbrauen hoch. »Wo Sie jetzt fragen – nein. Er gehörte sicher nicht zu unserem Bezirk.«

»Aha! Und was hat er hier zu suchen?«

Der Sergeant schluckte. »Ich … keine Ahnung … ich bin nur los. Er rief hastig, eine Person sei überfallen worden und der Mörder müsse sich noch in der Nähe befinden. Er würde ihn verfolgen. Ich sollte den Yard verständigen. Inspektor Lestrade.«

Eine steile Falte zeichnete sich im Schein der Torlampe auf Holmes’ Stirn ab. »Er nannte wirklich den Namen?«

»Ja, Sir. Aber Inspektor Lestrade war nicht da. Also kam der andere Inspektor mit.«

Wenig später sahen Holmes, Gregson und ich dem Abtransport der Toten zu.

»Merkwürdig, dass der Polizist den Namen Lestrade nannte.«

Gregson fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Denken Sie, der Polizist war der …«

»Aber natürlich!«, rief Holmes. »Nur – weshalb rief er einen Polizisten herbei? So, als wolle er, dass die Leiche gefunden wird.«

Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Völlig unsinnig!«

Holmes starrte in den nebelverhangenen Himmel. »Er wollte das Lestrade zeigen. Nicht Ihnen, Gregson.«

In der Baker Street zurück, lief mein Freund Holmes unruhig im Zimmer auf und ab.

»Weshalb Lestrade? Wie hängt das zusammen?«, murmelte er. »Ein Mord an einem Reeder. Das Auffinden eines Herzens in einer völlig neuen Nährflüssigkeit, die Zellen bilden lässt. Ein totes Mädchen, das eventuell als Kurier fungierte. Ein Mord in der Montague Street, eine Leberentnahme, eine Nachricht, die für Lestrade bestimmt ist … Watson, da ist ein direkter Zusammenhang. Ich muss die Ladeliste der HMS DORIAN haben und ich muss mit Lady Gregory sprechen.«

Am nächsten Morgen frühzeitig – der Nebel war einem Dunst gewichen – machten wir uns auf den Weg. Die Lady empfing uns im Salon.

»Konnten Sie etwas herausfinden, Mr. Holmes?«, erkundigte sie sich mit sanfter, weicher Stimme.

Die Lady mochte wohl um die fünfzig Jahre alt sein, wirkte aber noch sehr attraktiv. Allerdings bemerkte ich als Arzt, dass sie ab und zu mit der Atemluft kämpfte.

»Leider noch nicht, Mylady«, entgegnete mein Freund mit einer leichten Verbeugung. Lady Gregory bot uns zwei Sessel als Sitzplätze an. »Sherry?«, fragte sie. Ob der frühen Stunde lehnten wir dankend ab. Aber einem Tee waren wir nicht abgeneigt.

»Kann ich bitte mit dem Mädchen sprechen, das den Sir aufgefunden hat?«

Die Lady läutete und das Dienstmädchen erschien. Ein Ägypterin, wie ich gleich sah. Vielleicht zwanzig Jahre jung. Sie sprach ein ausgezeichnetes Englisch, was mich etwas verwunderte.

»Ihre Mutter ist … war Engländerin. Sie lernte in Kairo ihren Mann kennen. Einen begnadeten Arzt. Dr. Abhul Adda. Leider verstarb er vor einem Jahr bei einer Expedition.«

»Und Sie nahmen das Mädchen hier auf?«, erkundigte sich Holmes.

»Mein Mann nahm sie auf.«

Die Lady sagte das in einem Ton, der leichten Unwillen erkennen ließ.

Mein Freund befragte das Mädchen, aber es kam nicht sehr viel dabei heraus. Sie war in den Salon gekommen, um einen vermissten Ohrring der Lady zu suchen, und hatte den Toten vorgefunden. Sie hatte panisch geschrien, was die Lady auf den Plan rief.

Nachdem das Mädchen den Salon verlassen hatte, erkundigte sich Holmes nach dem anderen Personal.

»Da ist Henderson, der Butler, den Sie ja schon gesehen haben. Er arbeitet seit zwei Jahren für uns. Dann Ruth, die Köchin, Eileen, meine Zofe, und Chamal, der persönliche indische Diener meines Mannes. Allerdings ist er seit gestern verschwunden.«

Holmes horchte auf. »Der Mann ist verschwunden? Wie haben Sie das bemerkt?«

Die Lady nahm einen Schluck Tee. »Ich fragte gestern Abend nach ihm und niemand hatte ihn gesehen. Auch heute ist er nicht auffindbar.«

Mein Freund schaute auf den teuren Teppich. »Seit wann ist Chamal bei Ihnen?«

Die Lady zuckte die Achseln. »Plötzlich war er da. Vor sechs Wochen. Mein Mann sagte mir nur, er habe einem Freund einen Gefallen getan.«

»Sie wissen nichts über den Mann? Wer ist der Freund?«

Lady Gregory hob ein wenig die Hände. »Sie müssen wissen, Mr. Holmes – mein Mann und ich … wir gingen seit mehreren Monaten etwas … wie soll ich es sagen … getrennte Wege. Seit er in diesem merkwürdigen Club verkehrte, sprach er kaum noch mit mir. Er hatte sich sehr in sich zurückgezogen.«

Holmes blickte nun die Dame des Hauses fest an. »Was ist das für ein Club?«

»Der Science Club. In einem Haus in der Darlington Road.«

»Interessant, Mylady. Noch etwas – haben Sie Pferde?«

Die Lady blickte irritiert. »Pferde? Nein. Von uns reitet auch niemand.«

»Kennen Sie jemanden, der das tut?«

Lady Gregory verneinte.

Wir verabschiedeten uns.

Vor dem Haus stellte Holmes fest: »Ist es nur ein Zufall, dass dieser merkwürdige Club sich in derselben Straße befindet, in der auch Miss Bernstein wohnte?«

»Zufall?«, warf ich fragend ein.

Mein Freund schaute skeptisch. »Ich habe in meinem Leben feststellen müssen, dass es keine Zufälle gibt. Lassen Sie uns zur Darlington Road fahren, mein Guter.«

Etwas zurückgesetzt lag die ehrwürdige Villa. Ein Ehrfurcht gebietendes Portal mit einer Freitreppe. Über dem Vordach thronte ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Neben der Doppelflügeltür mit den beiden kleinen ovalen Fenstern prangten Winkelmaß und Zirkel.

Holmes warf mir einen Blick zu. »Sie sind doch auch Freimaurer, wenn ich mich recht erinnere.«

Ich stutzte. Nie hatte ich das ihm gegenüber erwähnt. Mein Freund lachte leise. »Zufällig sah ich vor ein paar Monaten, wie Sie das kleine schwarze Etui mit dem Logenabzeichen öffneten.«

»So … ja … nun …«

Holmes legte mir den Arm um die Schulter. »Würden Sie Zugang zu diesem Club erhalten?«

»Das geht nur über Einladungen und Empfehlungen«, erklärte ich.

Holmes nickte. »Gut, vielleicht kann uns jemand aus dem Diogenes Club weiterhelfen.«

*

Whitehall – eine halbe Stunde später.

Mycroft Holmes empfing uns im Sprechzimmer des skurrilen Schweigeclubs.

Ich erinnere mich, bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen zu haben, dass man wohl nicht oft auf ein so völlig ungleiches Brüderpaar treffen mochte. Holmes, der große, asketisch schlanke Mensch, Mycroft, der Behäbige. Aber im Geiste standen sie sich gleich.

Mein Freund hatte einmal erklärt: »Es gibt Situationen, da ist nicht das Parlament die Regierung, sondern Mycroft.«

»Der Science Club«, brummelte Holmes der Ältere bedächtig und nippte an dem Sherry, den eine Ordonnanz uns gebracht hatte. »Das ist ein sehr abgeschlossener Verein. Eigentlich weiß man gar nichts. Aber sie tun nichts gegen das Gesetz. Einige Ärzte und Physiker sind dort vertreten. Gegründet hat den Club vor zwei oder drei Jahren ein Inder namens Karan Chugtai. Er soll aus Bombay stammen und Arzt sein. Aber auch Metaphysiker.«

»Ein Inder!«, rief mein Freund aus. »Das ist interessant.«

Mycroft zuckte leicht die Achseln. »Auch Ägyptologen sind vertreten. Zum Beispiel Sir Norman Croft, der die Ausgrabungen unter dem Sphinx leitet. Es geht ja das Gerücht um, unter diesem riesigen Denkmal gäbe es eine geheime Bibliothek, in der alles Wissen der Menschheit aufbewahrt werde.« Er hob die Hände. »Wie auch immer – es sind renommierte Leute und die Freimaurer spinnen ja um ihre Logen immer Geheimnisse.«

»Könnte jemand aus dem Diogenes Club Dr. Watson dort einführen?«

Mycroft blickte uns erstaunt an. »Also ein Fall?« Er griff zu der kleinen Klingel, die vor ihm auf dem Glastischchen stand. Als die Ordonnanz erschien, sagte er leise: »Bitten Sie doch Sir Archibald Easter zu uns.«

Zu uns gewandt erklärte er: »Sir Archibald ist Biologe – mehrfach für seine Studien ausgezeichnet. Ich denke, er wird euch helfen.«

*

Am folgenden Abend regnete es wie aus Kannen.

Eine Droschke brachte mich zur Darlington Road. Sir Archibald erwartete mich an der Auffahrt zum Portal. Ich trug – seit Jahren wieder einmal – mein Freimauerabzeichen am Revers.

»Die Wales Loge«, bemerkte Sir Archibald.

»Ja«, bestätigte ich. »Nach meiner Abschlussprüfung als Mediziner hat mich mein Professor dort eingeführt. Sir Henry McRyme.«

»Oh«, machte mein Begleiter. »Eine Kapazität. Er wird nächsten Montag einen Vortrag über Arterienerweiterungen halten. Vollkommenes Neuland. Er vertritt nämlich die Auffassung, dass verengte Blutgefäße mit einem speziell von ihm entwickelten System geweitet werden könnten, um so Ohnmachtsanfällen entgegen zu wirken.«

Ich blieb kurz stehen. »Ach, da wird er aber bei der Fachwelt auf gutes Gehör stoßen.«

Zu meinem Erstaunen schüttelte Sir Archibald den Kopf. »Als ein kleiner Artikel vor einigen Monaten in der Times darüber erschien, ergoss sich ein Fass von Spott über ihn. Fantast war noch ein sehr gelinder Ausdruck. Arterien weiten! Wie stelle er sich das vor? Der Patient würde verbluten oder kollabieren.«

Wir setzten unseren Weg fort. Gemeinsam schritten wir unter einem großen Regenschirm.

»Aber er hält trotzdem hier in der Loge einen Vortrag darüber?« Ich staunte sehr.

»Nun«, erklärte Sir Archibald, »wir sind hier eine Gruppe Wissenschaftler, die in die Zukunft denkt und nicht sofort alles ad acta legt, nur weil es noch nicht ausprobiert worden ist.«

Ich nickte. »Das ist gut, aber man darf, trotz aller Forschungen, Menschenleben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.«

Nun blieb der Sir stehen. »Da gebe ich Ihnen vollkommen recht, Dr. Watson. Deshalb stellen sich auch Mitglieder der Loge freiwillig für diverse fortschrittliche Experimente zur Verfügung.«

Mir stockte der Atem. »Wie? Auch auf die Gefahr des Todes hin?«

Sir Archibald nickte ernst. »Auch auf diese Gefahr hin. Ja! Wir sind Wissenschaftler und das Resultat ist wichtig.«

Ich schluckte. »Und … gab es schon …?«

»Tote? Ja – leider. Vier an der Zahl. Aber man muss für den Fortschritt Opfer bringen.«

Wir hatten das Portal erreicht und ein livrierter Diener ließ uns ein.

Ich muss gestehen, mich packte etwas Furcht. Was war das für ein Verein? Enthusiastische Forscher, die bereit waren, sich selbst zu opfern?

Wir gelangten in eine Halle mit hoher gewölbter Decke – einem Kirchenschiff ähnlich –, deren Wände mit gewaltigen, mystischen Gemälden verziert waren. Vieles kam mir motivisch bekannt vor … und doch verfremdet.

Unzählige Kerzenkandelaber erbrachten flackerndes Licht, in dem die dargestellten Szenen noch unheimlicher – ja gewaltig wirkten.

Mein Begleiter führte mich nun durch eine kleine Bogentür in einen Saal, bei dessen Anblick mir tatsächlich für Sekunden der Atem stillstand. Ich kann es mit Worten einfach nicht beschreiben. Doch so – oder ähnlich – muss die Halle der Tafelrunde des legendären Königs Artus ausgesehen haben. Tiefblaue Töne, die den Sternenhimmel wiedergaben, Alabastersäulen, Goldstuck und mindestens fünfhundert Kerzen. Mitten darin in U-Form eine festlich gedeckte Tafel, die selbst im Buckingham Palace nicht pompöser sein konnte.

»Kommen Sie, Doktor.«

Die leisen Worte von Sir Archibald weckten mich aus meiner Erstarrung. Er führte mich zur rechten Seite zu einem Stuhl, der aus Versailles stammen mochte.

Leise, mystische Musik erklang.

Nach und nach füllte sich der Saal und die Männer nahmen ihre Plätze ein. Alle trugen Abendanzüge. Ich saß neben Sir Archibald und zur anderen Seite nahm ein großer, hagerer Mann mit dichtem, schwarzem Vollbart Platz. Am Ringfinger der linken Hand prangte ein Goldring, in dessen Achat das Emblem der Freimaurer-Loge eingraviert war.

Vorn, am Kopf der Tafel nahm ein Fünfer-Gremium die Plätze ein. Zu meinem Erstaunen erkannte ich dort den Leibarzt unserer Königin.

Ein hell tönendes Glöckchen erklang. Ein Mann erhob sich vorn an der Stirnseite der Tafel.

»Sir Henry Dorson – der Meister vom Stuhl«, raunte Sir Archibald mir zu.

Sir Henry schaute langsam in die Runde und hub dann an: »Verehrte Brüder – heute ist ein besonderer Tag, an dem auch einige Gäste zur Tafel geladen sind. Es sind gleichfalls Männer der Wissenschaft. Männer, die sich nicht mit sogenannten Fakten zufriedengeben, sondern weiter forschen. Dingen einen Wandel – einen Fortschritt geben wollen. Dass dies in einem ausgesuchten Kreis fern der Öffentlichkeit stattfindet, hat seinen Grund. Verengte Gehirne, starre Sinne und das Verfechten einer irrigen göttlichen Fügung würden unsere Forschungen blockieren. Sogar mit Hohn und Spott unglaubwürdig machen. Daher sind wir hier in einem engen, internen Kreis. Offen für alle Theorien. Offen für alles Experimentelle. Der heutige Tag ist ein besonderer, weil nach langer Zeit der Gründer dieser Loge – Karan Chugtai – seinen Besuch angekündigt hat. Er bringt sensationelle Neuigkeiten. Wie Sie wissen, befand er sich lange Zeit auf einer Forschungsreise in Ägypten, befasste sich mit dem Totenbuch und drang in Sphären ein, die sich mit der Schulwissenschaft nicht erklären lassen. Dinge, die den frühen Ägyptern von den Sumerern überliefert wurden und direkt von den Göttern stammen. Dinge, die erstaunen und doch wirklich sind. Liebe Brüder – wir alle sind keine Fantasten, sondern Wissende und auch immer Suchende. Aber nun wollen wir uns erst das Mahl schmecken lassen, wie es Brauch ist.«

Erneut erklang das Glöckchen und Diener in prachtvollem Ornat trugen erlesene Speisen auf.

Während des Essens entwickelte sich der übliche Small Talk, in dem mich mein Nachbar zur Linken in ein Gespräch über seelische Transmissionen verwickelte. Er ließ sich darüber aus, dass die ägyptische Priesterkaste der festen Überzeugung gewesen sei, die Energie oder die Seelen der Verstorbenen würde sich nicht auflösen, sondern im Äther sozusagen geparkt werden und man könne durch geeignete Meditation diese Energie wieder abrufen. »Möglicherweise wurde der Ausdruck Meditation erst später erfunden. Sicher handelte es sich um ein Gerät. Denken Sie an die mysteriösen Vorgänge in den Pyramiden.«

»Ist das nicht etwas weit hergeholt?«, warf ich ein.

Mein Tischnachbar hob leicht die Hände. »Nur eine Theorie. Aber interessant, wenn man Havelocks Vermutung hinzuzieht, dass wir überirdisch nur die Hälfte der Pyramiden sehen. Dass die andere, völlig gleiche Hälfte im Boden steckt.«

Ich atmete heftiger. »Sie denken an einen auf der Spitze stehenden Würfel?«

»Genau das.«

Ich wollte etwas erwidern, aber das Glöckchen erklang wieder.

Der Meister vom Stuhl erhob sich erneut.

»Verehrte Brüder – wie ich eben hörte, ist Sir Karan Chugtai eingetroffen. Begrüßen wir ihn.«

Nun ist er schon Sir, durchfuhr es mich.

Applaus erhob sich und ein kleiner, dunkelhäutiger Mann, gleichfalls im Abendanzug, trat an das Rednerpult.

»Liebe Brüder, ich komme eben von einer interessanten Reise zurück. Daher kann ich sagen, dass uns ungewohnte Hilfe bei unserem größten Experiment zuteilwerden wird. Hator, die große Göttin des Seins, hat mich im Traum aufgesucht und mir genaue Instruktionen gegeben. Unser Experiment wird gelingen. Es fehlen nur noch geringe Erkenntnisse, die ich in Kürze erhalten werde. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich im Moment in dieser Runde noch nichts dazu sagen werde. Aber von heute an gerechnet beim nächsten Mond wird sich die Göttin uns allen offenbaren. Ja – sie wird sogar persönlich hier in diesem Tempel erscheinen.«

Erstauntes Raunen füllte die Halle. Ich wollte eben etwas zu meinem Tischnachbarn sagen, als ich verblüfft feststellte, dass dieser verschwunden war.

Nach dieser Rede erhoben sich heiße Diskussionen. Zu meiner Verwunderung schien auch Karan Chugtai verschwunden zu sein.

Sir Archibald diskutierte erregt mit seinem Nachbarn zur Rechten, so war ich froh, als nach zwei Stunden die Versammlung aufgelöst wurde mit dem Hinweis auf den Vortrag von Sir Henry McRyme in einer Woche im kleinen Saal des Logentempels.

Kühle Nachtluft empfing mich und ich sog diese tief ein. Meine Gedanken wurden klarer. Neben mir schritt Sir Archibald.

»Na, Dr. Watson? War das nicht ein spannender Abend?«

»Oh ja«, gab ich zu. »Der Einblick in völlig neue Sphären.«

Sir Archibald zuckte leicht mit den Schultern. »Nun ja – die Ausführungen von Sir James Baltimore waren nicht sehr neu. Schade, das Karan Chugtai nicht erschienen ist. Er kommt wohl erst mit der HMS DORIAN die Tage an.« Er winkte einer Droschke.

Völlig perplex stand ich da. Was hatte Sir Archibald da gesagt?

»Kommen Sie, Doktor!«, rief er von der Kutsche her. Benommen stieg ich ein.

In der Baker Street erwartete mich Holmes. Er schaute mir aus seinem Lehnstuhl entgegen.

Ich war noch immer verstört und mein Freund reichte mir ein Glas Sherry.

»Sie haen also Karan Chugtai gesehen und gehört«, kam es feststellend.

Ich hielt mit dem Glas mitten in der Bewegung inne. »Wie … woher …?«

Holmes winkte ab. »Eins nach dem anderen, Watson. Also Sie haben ihn gesehen und gehört?«

Ich nickte stumm.

»Hm«, machte Holmes. »Mit Ihnen etwa zehn andere Personen. Die meisten hörten den Vortrag von Sir James über die Unmöglichkeit einer Organentnahme ohne Infektionen. Sir Archibald auch. Aber eine Zahl anderer Personen sah und hörte den Inder.«

Ich musste mich setzen. »Wie ist das möglich?«

»Eine Droge. Im Wein. Die Ordonnanzen hatten genaue Anweisungen, wem sie ein entsprechendes Glas gaben. Es handelt sich ausnahmslos um Mitglieder der Loge, die politischen Einfluss in England besitzen.«

»Zum Teufel Holmes! Woher wissen Sie das?«

»Ich habe es genau beobachtet. Vorausgeahnt. Daher rührte ich den Wein nicht an.«

Nun war es mit meiner Beherrschung total vorbei. Da fuhr Holmes ungerührt fort: »Übrigens hat mich Ihr Wissen um ägyptische Geschichte fasziniert.«

Mir fiel das Glas aus der Hand. »Sie … Sie waren …?«, stammelte ich.

Mein Freund bestätigte das. »Ich würde Sie doch nicht unvorbereitet und allein in die Höhle des Löwen schicken, Watson. Mycroft war so hilfreich, mir Zugang zu der Loge zu organisieren.«

Ich war fassungslos!

»Alles dreht sich um die HMS DORIAN, mein Bester. Wir müssen aufmerksam sein.«

Ich fingerte nervös nach meinem Zigarrenetui. »Was soll es für einen Sinn machen, einige einflussreiche Leute unter Halluzinationen zu setzen?«

Mein Freund blickte sinnend in das Kaminfeuer. »Das weiß ich noch nicht. Möglicherweise für etwas Bestimmtes, um im Parlament für Chaos zu sorgen. Ich habe übrigens Sir James Baltimore nach seiner Rede verfolgt. Deshalb bin ich auch unauffällig verschwunden. Sir James traf sich mit einem Inder im Hotel CROWN in der East Street. «

»Ein Inder? Etwa dieser …?«

Holmes wandte sich um und lächelte. »Chamal Hindah – ein Archäologe aus Delhi.«

Ich riss die Augen auf. Holmes nickte. »Sie denken richtig, lieber Watson.«

»Aber was hatte Sir Gregory mit ihm zu tun?«

Sherlock Holmes klopfte die Pfeife aus und stopfte sich eine andere. »Ja, da laufen merkwürdige Dinge zusammen. Harriet Bernstein, die möglicherweise als Kurierin fungierte, vorher noch ein Barmädchen, der tote Reeder Sir Gregory, eine Organentnahme in einem Hof mit offensichtlichen Zeichen an Lestrade und die Vorgänge in der Loge. Dem undurchsichtigen Science Club, dem sogar der Leibarzt der Königin angehört. Gegründet von einem mysteriösen Mann, den ich mit Chamal Hindah gleichsetze. Ein in Indien und in Ägypten bekannter Archäologe. Allerdings mehrfach in Ägypten und Arabien mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, weil er ungenehmigt und heimlich Ausgrabungen vornahm. Dieser Mann taucht bei dem Reeder Gregory auf, der eine Schifffahrtslinie zwischen London, Ägypten und dem vorderarabischen Raum betreibt. Ich hatte noch ein ausführliches Gespräch mit Bruder Mycroft. Allerdings sieht er keine Möglichkeit einzugreifen, ohne sich lächerlich zu machen.«

Ich schaute dem Rauch meiner Zigarre nach. »Da steckt doch ein lange Zeit ausgedachter Plan hinter.«

Holmes nickte. »Sie sagen es!« Mein Freund rieb sich nachdenklich die lange Nase. »Watson, ich muss noch einmal in die Wohnung von Miss Bernstein. Ich habe etwas übersehen.«

*

Sherlock Holmes hatte in nur wenigen Sekunden die Wohnungstür geöffnet.

»Sehen Sie sich das an, Watson! Jemand ist gründlich gewesen.«

Tatsächlich sah die Wohnung aus, als habe ein Wirbelsturm hier gewütet.

»Da hat jemand etwas gesucht!«, rief ich aus.

Holmes schritt schweigend durch die Berge von Büchern, Wäsche und anderem Kram zielstrebig auf ein kleines Bücherregal zu. »Da haben wir es ja«, murmelte er.

»Was ist das?«

Holmes hielt das abgegriffene Buch hoch. »Ich denke, hier werden wir schlauer werden.«

Ich schaute ihn verwirrt an. »Arabisches und Ägyptisches Strafrecht, was soll das bringen?«

Mein Freund lächelte. »Es ist davon auszugehen, dass der Titel über etwas hinwegtäuscht. Gehen wir!« Dann blieb er stehen und blickte in eine Ecke. Ich folgte dem Blick und sah ein Paar alte Reitstiefel.

Danach deutete ich auf die Einbruchspuren. »Und das hier?«

Holmes winkte ab. »Das geht uns nichts an. Wer immer etwas gesucht hat – gefunden haben wir es!«