107 Hill Road - Samara Summer - E-Book

107 Hill Road E-Book

Samara Summer

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Beschreibung

Von höllischen Kopfschmerzen und Schwindel geplagt, will Mortimer "Momo" Mitchell sich ein Haus für seine Renovierungsfirma ansehen. Doch die Besichtigung läuft alles andere als nach Plan. Nicht nur, dass der angebliche Hausbesitzer einen äußerst merkwürdigen Eindruck macht - Im Gebäude begegnet Momo einem Wesen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Zunächst schiebt er den unheimlichen Vorfall auf das betäubende Hämmern in seinem Kopf, dann hört er immer deutlicher den Ruf des Hauses. Dieser führt ihn nicht nur zu einer tragischen Geschichte, sondern weckt auch seine eigenen inneren Dämonen.

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Inhaltsverzeichnis

MORTIMER

ANTONIO

DER JUNGE

MORTIMER

DER JUNGE

MORTIMER

DER JUNGE

MORTIMER

ANTONIO

DER JUNGE

MORTIMER

DER JUNGE

MORTIMER

DER JUNGE MANN

MORTIMER

JOSEPH

ANTONIO

MORTIMER

ROBERT

MORTIMER

ANTONIO

MORTIMER

JOSEPH

MORTIMER

JOSEPH

MORTIMER

JOSEPH

CALE

JOSEPH

MORTIMER

JOSEPH

MORTIMER

ANHANG

1. MORTIMER

Alles begann mit Kopfschmerzen und dem Haus in der 107 Hill Road, das auf den ersten Blick völlig uninteressant aussah.

Der Schmerz hatte schon kurz nach dem Aufwachen in meinen Schläfen pulsiert. Ich hatte mich aus dem Bett gequält, zwei Tabletten mit Kaffee runtergespült, kalt geduscht, den Vormittag im Büro hinter mich gebracht und mich am Nachmittag, nach einer weiteren Tablette, irgendwie durch eine Wohnungsbesichtigung In der Lincoln Avenue gekämpft.

Diese war sterbenslangweilig gewesen. Kein schlechtes Objekt, das muss ich zugeben, aber ein wirklich ödes Projekt. Das Hauptproblem der Wohnung war die Besitzerfamilie. Sie hatten die Immobilie einfach unfassbar schlecht präsentiert. Die Fotos im Internet waren allesamt unscharf, viel zu dunkel und zeigten hauptsächlich die Einrichtung im Stil »Nun-ja-man-braucht-eben-Möbel«: viel helles Holz, Polster mit geometrischen Mustern in den Farben Rosa, Graublau und Dottergelb, kombiniert mit weißen Spitzenvorhängen. Das Bildmaterial ließ nichts von den Vorzügen, wie der Weitläufigkeit der Räume und der naturnahen Lage, erkennen.

Zudem war ich mir nahezu sicher, dass die Flächenangabe nicht stimmte. Ich habe einen guten Blick für so was und nahm an, dass die Wohnung bestimmt zehn Prozent größer war als im Angebot angegeben. Gewissheit würde aber erst eine Messung bringen – die wir definitiv würden vornehmen müssen. Denn obwohl mir das Projekt nicht spannender erschien als Fußnägelschneiden, war mir natürlich klar, dass wir uns dem annehmen mussten. Die Gewinnaussichten waren einfach zu verlockend. Die Wohnung war schon lange auf dem Markt und der Angebotspreis von den verzweifelten Besitzern immer wieder gesenkt worden. »Wir haben wirklich keine Ahnung, warum keine Interessenten kommen.« Nun, das würde ich ihnen bestimmt nicht verraten. Stattdessen sagte ich, dass mein Chef sich innerhalb der nächsten zwei Tage melden würde. Mit ein paar Schönheitsreparaturen könnten wir das Objekt für bestimmt ein Drittel mehr auf den Markt bringen. Ein gutes Geschäft.

Ich zog mein Handy aus der Hosentasche, um meine Einschätzung mit Toni zu teilen. Toni, eigentlich Antonio, ist nicht nur mein Chef, sondern auch irgendwie mein Stiefvater. Ich sage irgendwie, weil das kaum von Belang ist, da meine Mutter zu diesem Zeitpunkt schon seit 19 Jahren tot war. Mit Toni hatte sie damals nur noch zwei Jahre gehabt und diese lagen schon so weit in der Vergangenheit begraben, dass ich kaum glauben konnte, dass es sich um meine eigenen Erinnerungen handelte. Vielmehr erschien es mir wie die Geschichte eines anderen Menschen, die mir irgendwann mal jemand ziemlich lebhaft geschildert hatte.

Toni ist für mich definitiv mehr Chef als Familie. Vielleicht auch ein bisschen Kumpel, wenn er sich nicht gerade wie ein alter Stinker benimmt. Nachdem ich jahrelang für uninspirierte große Unternehmen gearbeitet hatte, war ich in seine Firma »Toni's Homedreams« eingestiegen. Wir kaufen Bruchbuden in Lagen mit Potenzial, verhelfen ihnen möglichst kostengünstig zu neuem Glanz und verkaufen sie gewinnbringend weiter. Neben einer Buchhalterin, die nur halbtags kommt, bin ich die einzige festangestellte Person, wobei wir natürlich regelmäßig mit verschiedenen Handwerkstrupps zusammenarbeiten. Toni hat Visionen und das Herz am rechten Fleck. Das macht seine gelegentlichen Launen und seine Brummigkeit wett. Er hat vorher als Maurer, Künstler, Fotograf und Einkäufer für eine Baustofffirma gearbeitet. Ich bin Innenarchitekt. Wir ergänzen uns gut und wissen die Qualitäten des anderen zu schätzen.

Eine kurze Textnachricht an Toni reichte aus, um ihm die Besichtigung zu schildern:

Schlag zu. Kleines Beauty-Makeover, großer Profit. Ich mach Feierband, wenn’s okay ist. Mein Kopf. Momo

Toni kennt das. Er hat ebenfalls Migräne. Glücklicherweise wechseln wir uns mit unseren Anfällen meist ganz gut ab. An besagtem Tag wollte er mich jedoch noch nicht von der Leine lassen:

Schaffst du noch eine schnelle Besichtigung? Cholla Hills. Hill Road. Gerade reingekommen. Ist ja nicht weit. Absoluter Spottpreis. Einfamilienhaus! Bruchbude, klar, aber noch zu retten? Kurzer Blick reicht.

Ich seufzte. In jedem anderen Fall hätte ich nein gesagt, mich lieber zu Hause auf mein Bett geworfen und mit einer Schlaftablette betäubt, aber das klang einfach zu gut. Es ist so, dass ich wirklich für diesen Job brenne und die Cholla Hills, oft auch nur Chollas, gerade voll im Kommen sind. Stadtrand. Ein paar protzige Villen thronen dort schon über der City. Früher war das anders. In den Siebzigern bauten in dem Viertel die Leute, die ein Haus wollten, sich aber die Innenstadtlage nicht leisten konnten. Sämtliche Mehrfamilienhäuser zeugen noch von dieser Zeit. Uniforme, an den Hang geklatschte Betonkästen, Wand an Wand. Eine Firma namens Benn's & Mark's hatte damals gemerkt, dass diese Art von Immobilien sich eignet, um junge Familien anzulocken. Einige wurden später zu Einfamilienhäusern umgebaut, als die ersten Leute mit Geld die Vorzüge der Lage erkannt hatten.

Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch selten Schnäppchenhäuser in den Chollas auf dem Markt – und sie waren schneller wieder weg, als ich blinzeln konnte. Hätte ich die Besichtigung auf einen anderen Tag verschoben, hätte es womöglich schon nichts mehr zum Besichtigen gegeben. Also tippte ich:

Ok. Ein kurzer Blick.

Zurück kam:

Ich geb‘ dir die Adresse durch und schick dir das Exposé (ist aber dürftig, keine Bilder). Du wirst in 40 Minuten erwartet. Tausend Dank, mein Guter, Toni

40 Minuten – na super, wie großzügig. Von meinem Plan, mir einen Green Smoothie auf dem Weg zu gönnen, konnte ich mich verabschieden. Im Feierabendverkehr von Salsola Springs war die Strecke auch ohne Zwischenstopp kaum so schnell zu bewältigen. Ich klemmte mich hinters Lenkrad, rieb mir die Schläfen und fluchte. Schließlich erreichte ich die Chollas und folgte den Anweisungen der Navigations-App. Von den Häusern, die oberhalb an den Hang gebaut sind, konnte ich aus dem Auto heraus kaum etwas sehen. Die Straße verläuft unterhalb von ihnen und am Gehsteig ragt eine weiß gestrichene Betonmauer auf, die, von meiner Sitzposition im Wagen aus, fast das ganze Sichtfeld einnahm, hier und da von Treppen unterbrochen, wo es zu den Anwesen geht. Die meisten Häuser waren hinter Palmen und Kakteen versteckt.

Ich fuhr weiter und weiter. Mit einem Blick auf das Handydisplay vergewisserte ich mich, dass ich noch auf Kurs war. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie so weit oben gewesen war. Die Villengegend mit der weißen Mauer hatte ich bereits hinter mir gelassen, der Gehsteig war schmal und so desolat, dass er an manchen Stellen kaum noch als solcher bezeichnet werden konnte. Jenseits von ihm gab es keine bepflanzten Ruheoasen, die die Wohnungen von der Straße abschirmten. Eintönige Häuserfassaden grenzten direkt an den Gehsteig – oder das, was davon übrig war. Dazwischen befand sich das ein oder andere Brachgrundstück und eine Brandruine.

Ich stellte fest, dass es sich bei meinem Ziel tatsächlich um das letzte Haus in der Straße handelte. Den Firmen-Pickup parkte ich am Straßenrand, stieg aus, schirmte meine Augen gegen die Sonne ab und begutachtete die Immobilie. Das Haus war groß und wirkte irgendwie in die Höhe gezogen. Im besten Fall ließ es sich als schnörkellos bezeichnen. Lieblos beschrieb es aber besser. Vollkommen funktional, keine baulichen Besonderheiten. Eine gradlinig aufragende Betonfassade, die einen langen Schatten warf und die von Schmutz nur so starrte. Abgase und der Wüstenstaub hatten ihre Spuren hinterlassen. Nur wenige kleine Fenster, hinter denen Finsternis herrschte, ein flaches Dach. Die Haustür war von der Straße aus nicht zu sehen. Die Entfernung zu den nächsten, Schulter an Schulter gebauten Mehrfamilienhäusern war nicht allzu groß. Außerdem war der Baustil exakt derselbe.

Benn's & Mark's hatte dem oberen Teil des Viertels gnadenlos seinen Stempel aufgedrückt. Dieses Haus hatte nichts von dem, was sich unsere Kunden wünschten. Es sah auch nicht nach einem Einfamilienhaus aus. Sicher war es eines von den Gebäuden, die früher einzelne Apartments beherbergt hatten, die später zu einem großen Wohnraum zusammengefasst worden waren.

Niemand wartete auf dem Gehsteig auf mich, obwohl ich ziemlich gut in der Zeit war. Gerade mal sechs Minuten zu spät – und mehr konnte man bei dem Verkehr wirklich nicht erwarten. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, konnte jedoch keinen einzigen Menschen ausmachen. Unterhalb lag die Stadt, abgeschirmt von ihrem nachmittäglichen Smog. Die anderen Autos, die hier oben geparkt waren, standen alle so weit weg, dass es unwahrscheinlich war, dass sie von der Person stammten, mit der ich mich treffen sollte. Vermutlich war diese selbst im Stau steckengeblieben. Ich nahm meine Brille ab, um die Augenlider zu massieren, schnappte mir die Wasserflasche, die auf dem Beifahrersitz lag und trank den letzten lauwarmen Schluck. Dann wollte ich das Exposé aufrufen, zu dem Toni mir den Link geschickt hatte, aber die Seite lud nicht und das Handynetz war allgemein ziemlich schwach. Ich setzte diesen Umstand gedanklich auf die Liste der vielen Minuspunkte, die das Haus unattraktiver machten. So viele, wie es inzwischen waren, musste es ein echtes Schnäppchen und in gutem Grundzustand sein, um für uns irgendeinen Wert zu haben. Die Chollas allein reichten als Verkaufsargument nicht. Vor allem, da es sich um die schlechteste Lage innerhalb des Viertels handelte.

Ich ging langsam an der Hausfassade entlang. Ein paar Minuten würde ich noch warten, aber nicht länger. Ich konnte einfach nicht mehr. Da entdeckte ich auf einmal Betonstufen, die auf der linken Seite des Hauses den Hang hinaufführten, vermutlich zu einer Terrasse. Wahrscheinlich befand sich dort oben auch der Hauseingang. Ich legte den Kopf in den Nacken, um hoch zu schauen, aber die Sonne stand in einem derart ungünstigen Winkel, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Das helle Leuchten setzte mir noch mehr zu und ich fasste einen Entschluss: Ich würde jetzt die Treppen hinaufsteigen, schauen, ob dort jemand auf mich wartete und falls dem nicht so war – und sich auch darüber hinaus keine neuen reizvollen Blickwinkel ergaben – würde ich einfach nach Hause fahren.

Langsam erklomm ich die Stufen, wobei sich in meiner Magengrube geballte Übelkeit sammelte. Es war diese spezielle Art von Übelkeit. »Halt dich nur noch kurz auf den Beinen«, sagte ich mir, als ich eine niedrige Balustrade mit einem Gartentürchen erreichte. Als ich dieses öffnete, spürte ich, wie sich ein trockener stachliger Zweig in meinem Hemd verfing. Die Treppe war gesäumt von dürrem Gestrüpp. Ich versuchte fluchend, den Zweig loszumachen, ohne dem neuen, schick gemusterten Hemd Schaden zuzufügen. Als ich den Kopf – wohl etwas zu schnell – hob und mich wieder dem Türchen zuwandte, schlug die Übelkeit voll zu. Mir wurde der Atem abgeschnürt und ich wusste, dass mir nur noch Sekunden bis zu einem Ohnmachtsanfall blieben. Ich war schon lange nicht mehr bewusstlos geworden und es war mir noch nie im Job passiert, aber ich wusste, dass ich nichts tun konnte, um es zu verhindern. Schadensbegrenzung war alles, was mir blieb und glücklicherweise erspähte ich eine Bank. Es gelang mir, mit tanzenden Sternchen vor meinen Augen und einem Pfeifen in den Ohren, sie zu erreichen. Ich ließ mich darauf sinken, legte mich auf den Rücken. Für einen Moment glaubte ich, mich übergeben zu müssen. Stattdessen überfiel mich einfach nur Schwärze.

Als ich die Augen wieder aufschlug, mich immer noch schlecht, aber nicht mehr ganz so erbärmlich fühlte, fiel mir erst auf, wie exzentrisch diese Terrasse anmutete. Sowohl vor als auch hinter der weiß gestrichenen Betonbank, auf der ich lag, befand sich je ein ovaler, kleiner Pool mit türkisblauen und weißen Mosaikfließen. Das Wasser war klar und sauber und ich war nicht sicher, ob diese Becken der Abkühlung oder einfach nur der Dekoration dienten. Ich blickte von meinem Platz aus auf einen Hauseingang mit einer dunklen Tür, in die schmiedeeiserne Elemente eingefügt waren. Ein Weg aus unebenen Steinplatten führte von ihr weg, an den Pools und meiner Bank vorbei und bis zu der Gartentür, durch die ich gekommen war. Der Rest der Fläche war mit Terracotta-Töpfen dekoriert, aus denen mediterrane Pflanzen wuchsen. Das Seltsamste waren jedoch die Vorhänge. Transparent weiße, dünne Bahnen aus Vorhangstoff begrenzten das kleine Gartenareal sowohl zur Seite und auch nach oben. Sie waren an dunklem Metallgestänge befestigt. Im ersten Moment nach meinem Ohnmachtsanfall hatte ich daher geglaubt, mich in einem Innenraum zu befinden. Wo war ich hier nur gelandet?

Ein Geräusch, eine Art gedämpftes Klappern, ließ mich hochschrecken und die plötzliche Bewegung löste einen Schmerz aus, der sich anfühlte, als sei ein Blitz in meine Schädeldecke eingeschlagen. Aber wenigstens war mein Kreislauf wieder so stabil, dass ich nicht gleich zu Boden ging. Ich ignorierte den Schmerz, während ich rückwärts stolperte, weil irgendetwas mir den Eindruck vermittelte, mich an einem Ort zu befinden, an dem ich nicht sein sollte. Ich war auf dieser Terrasse ein ungebetener Gast, auch wenn ich zu einer Besichtigung eingeladen worden war.

Grundsätzlich war es auch nicht üblich, einfach auf den Grundstücken der Häuser von Interesse herumzuschleichen. Es gehörte sich, auf der Straße zu warten, bis man hineingelassen wurde. Ich steuerte mit leisen Sohlen auf das Gartentürchen zu, um mich davonzumachen. Bei früheren Besichtigungen hatte ich schon die düstersten Rattenlöcher gesehen, aber das hier – die gespenstischen und viel zu sauberen Vorhänge und die seltsamen Pools – das war unheimlicher als alles, was ich bisher gesehen hatte. Obwohl ich nicht genau sagen konnte, warum.

Als ich gerade die Hand nach dem Türchen ausstreckte, vernahm ich hinter mir ein leises Geräusch. Ich beschloss, es zu ignorieren, doch dann folgten Worte: »Willst du reinkommen?« Eine ruhige, dunkle Männerstimme in meinem Rücken. Ich erstarrte. Wo kam die Person, die gesprochen hatte, auf einmal her? Ich hatte zuvor zwar dieses gedämpfte Rascheln vernommen, jedoch nicht gehört, dass sich eine Tür geöffnet hatte. Hatte sich die Person hinter den Pflanzen versteckt? Im ersten Moment wollte ich meine Flucht einfach fortsetzen, als hätte ich nichts gehört, aber dann dachte ich: »Nimm dich zusammen!« Was würde Toni sonst sagen? Also drehte ich mich um.

Es dauerte einen Moment, bis ich die Person ausmachte, die zu mir gesprochen hatte, denn sie war viel weiter weg, als ich zunächst vermutete hatte. Der Mann saß auf derselben Bank, auf der ich zuvor aufgewacht war und als ich ihn sah, verspürte ich sofort wieder das Bedürfnis wegzulaufen. Ich habe in meinen Jahren in dieser Branche nicht nur Rattenlöcher gesehen, sondern auch schon mit so einigen abgewrackten oder bedrohlichen Typen zu tun gehabt. Aber das hier war anders. Das Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte, verstärkte sich, als ich den Mann sah. Er saß oberkörperfrei und leicht vornübergebeugt auf der Bank und stellte dabei seine zahllosen Tattoos zur Schau. Seine dürren Unterarme ruhten auf den Oberschenkeln, die Finger seiner Hände waren ineinander verschränkt. Ich konnte sein Gesicht kaum erkennen, weil er zu Boden blickte und weil die starken Schmerzen sowieso alles unscharf wirken ließen. Sein haselnussbraunes, schulterlanges Haar war teilweise in einem Hipster-Dutt zusammengefasst, teilweise offen.

Ich war unfähig zu antworten, da ich beinahe das Gefühl hatte, ich hätte mir nur eingebildet, dass er mich angesprochen hatte. Er vermittelte nicht den Eindruck, als sei er gerade durch die Tür nach draußen gekommen und habe einen Fremden auf seiner Terrasse vorgefunden. Vielmehr wirkte es, als säße er schon seit einer halben Ewigkeit auf dieser Bank, um über irgendetwas zu sinnieren. Ich wagte es kaum, ihn anzusehen und als die Stille bereits unangenehm lange andauerte, muss ich irgendetwas wie »Entschuldigung« gestammelt haben. »Geh einfach rein und schaue dir an, was du sehen musst. Ich bin der Besitzer«, sagte er, der Klang seiner Stimme immer noch völlig ruhig. Er ließ nicht im Geringsten vermuten, dass die Situation merkwürdig war. Nun, vielleicht war sie das auch einfach nicht. Womöglich war ich der Einzige, der sich seltsam benahm. Vielleicht hatte er drinnen auf mich gewartet, weil er ein unerfahrener Privatverkäufer war und hatte beim Herauskommen gesehen, dass ich gerade dabei war, wieder zu gehen. Ich wünschte mir nur, er hätte ein Hemd angezogen und würde mir in die Augen sehen.

»Das wäre in Ordnung, ja?«, fragte ich zur Sicherheit. »Bist du Journalist?«, fragte er, weiterhin ohne mich anzusehen. Die Frage überraschte mich nur im ersten Moment, denn tatsächlich hatten einige unserer besichtigten Objekte auch die Aufmerksamkeit der Presse auf sich gezogen. Nämlich die, in denen kürzlich ein Verbrechen geschehen war. Ja, wir hatten beispielsweise schon einmal ein Haus gekauft, nachdem die Bewohnerin im Wohnzimmer von ihrem Mann erschossen worden war.

»Nein. Du hattest wahrscheinlich mit meinem Chef zu tun. Wir wollen das Haus eventuell kaufen und wir waren verabredet. Ich bin schon etwas spät, aber ich hatte zuerst unten gewartet und würde nur einen ganz kurzen Blick hineinwerfen. Mortimer Mitchell ist übrigens mein Name. Aber alle nennen mich Momo.« Ich verspürte die dringende Notwendigkeit, mich zu erklären, aber er antwortete nicht und die Vorhänge wehten gespenstisch neben ihm im Wind. War er es, der sie regelmäßig wusch oder austauschte? Hier und da hatte sich ein trockenes Blatt darin verfangen, doch während die Hausfassade zeigte, was Staub und Abgase anrichten konnten, war bei den Vorhängen nichts davon zu sehen. Womöglich hatte er sie auch ganz frisch aufgehängt. »Die Vorhänge sind ungewöhnlich«, sagte ich, weil er immer noch nicht antwortete. »Die Vorhänge? Ja?« Nach einer kurzen Pause schob er ein »Ach ja« hinterher, als sei ihm gerade etwas klar geworden und er nickte. »Okay… Ich werfe dann mal einen kurzen Blick rein«, sagte ich und nickte ebenfalls langsam. Gerne hätte ich sein Gesicht gesehen. Am besten über einem Hemdkragen.

Ich ging vorsichtig an ihm vorbei und fühlte mich sofort unwohl, als er sich in meinem Rücken befand. So, als würde er mich jede Sekunde anspringen. Er hatte etwas Unberechenbares, Arglistiges an sich. Ob er wohl auf Drogen war? Nun wünschte ich, ich hätte ihn mir doch besser angesehen und auf seine Tattoos geachtet. Was waren es für Motive, die fast die gesamte Fläche seines Oberkörpers und seiner Arme zierten? Was für ein Typ war das? Egal. Ich würde das jetzt ganz schnell hinter mich bringen. Zwar war ich nicht gerade muskulös, aber er hatte diesbezüglich noch weniger zu bieten und im Notfall würde ich auf das Kampfsporttraining aus Teenagerjahren zählen können. Salsola Springs ist kein ungefährliches Pflaster. Für den äußersten Notfall habe ich normalerweise eine kleine Pistole in meiner Messengerbag, aber die hatte ich nicht bei mir. Da ich ganz spontan beschlossen hatte, die Treppen hinaufzusteigen, lag sie noch im Auto.

Ich öffnete die Tür und blinzelte in einen halbdunklen Innenraum. Ich fand einen Lichtschalter neben der Tür, doch als ich ihn betätigte, blieb die Wandleuchte neben mir dunkel. Nichts Neues. Oft war in den Gebäuden, die wir besichtigten, der Strom abgestellt. Für den Fall hatte ich immer eine Taschenlampe in meiner Tasche – die ich nicht bei mir hatte.

Nur spärliches Licht fiel durch ein erhöhtes Fenster und die offene Tür. Ich brauchte einen Moment, um klar zu erkennen, was vor mir lag. Ich befand mich in einem erschreckend kurzen Flur, in dem es nichts gab, als nackte Wände und eine Holztreppe gegenüber, nur wenige Schritte entfernt. Sie wirkte völlig fehl am Platz, wie ein Fremdkörper: ein einfaches Konstrukt, bestehend aus einem tragenden Mittelbalken, auf den einzelne, ungleichmäßig zugeschnittene Bohlen als Stufen aufgesetzt waren. Ich bin grundsätzlich ein Verfechter luftiger Bauweise, allerdings wirkte die Ausführung in diesem Fall einfach nur besorgniserregend. Der Winkel war viel zu steil, fast wie bei einer Leiter, und das, obwohl genug Platz gewesen wäre, um die Treppe weiter vorn im Flur auslaufen zu lassen. Auch das beidseitige Geländer wirkte stümperhaft zusammengesetzt. Es wurde von dünnen Holzstreben getragen. Um ihm Stabilität zu geben, hätte auf jeder einzelnen Stufe links und rechts eine solche Strebe aufgesetzt sein sollen. Stattdessen war gespart worden. Nur auf jeder zweiten bis dritten Stufe war eine Strebe angebracht. Nicht einmal in gleichmäßigen Abständen! Die ganze Konstruktion wirkte völlig dilettantisch und perfekt, um sich den Hals zu brechen.

Und was war eigentlich mit der Ebene, auf der ich mich befand? Auf keiner Seite zweigten Türen ab, obwohl dort aufgrund der Größe des Hauses auf jeden Fall weitere Räume sein mussten. Es sah beinahe so aus, als wäre beim Bau des Gebäudes nahezu das komplette Stockwerk versehentlich mit Beton gefüllt worden. Um wenigstens die Etage darüber erreichen zu können, hatte man eben diesen Fremdkörper, die hastig provisorisch zusammengezimmerte Treppe eingebaut. Anders konnte ich mir das Ganze kaum erklären.

Ich hätte als Innenarchitekt wahrscheinlich erschüttert sein sollen. Eigentlich genügte dieser eine Blick, um zu bestätigen, was ich bereits vermutet hatte: dass das Haus völlig unbrauchbar für unsere Zwecke war – und vermutlich auch für so ziemlich alle anderen Zwecke. Stattdessen war ich aber fasziniert von der Dreistigkeit dieses Einbaus, der alle Regeln brach. Ich machte mich also auf den Weg zu den Überraschungen, die da auf mich warteten. Doch schon als ich meinen ersten Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte, merkte ich, dass die Konstruktion nicht vertrauenswürdiger war, als sie aussah. Zuerst dachte ich, lediglich das morsche Holz würde unter meinem Gewicht ein wenig nachgeben, aber dann merkte ich, dass die ganze Treppe besorgniserregend schwankte.

Ich würde mich als vernunftgesteuerte und pragmatische Person bezeichnen. Also wundere ich mich im Nachhinein darüber, dass ich nicht sofort kehrt gemacht und mich stattdessen auf eine lebensbedrohliche Treppenkonstruktion in einem ohnehin unverkäuflichen Haus eingelassen habe. Warum ich es getan habe, kann ich nicht sagen. Ich hielt mich mit beiden Händen an den Geländern links und rechts fest und mir war beinahe, als würde das ganze Haus und die Terrasse mitsamt dem Hang ebenfalls schlingern. Womöglich kam der Eindruck auch ein wenig durch meine Kopfschmerzen und den Schwindel zustande. Aus der oberen Etage strahlte mir Licht entgegen. Da es mich, als ich die letzten Stufen erreicht hatte, auf einmal blendete, kniff ich kurz die Augen zusammen – und als ich sie wieder öffnete, sah ich etwas. Jemanden? Eine Gestalt?

Sie kam aus dem Licht und leuchtete selbst heller und beißender als die Sonnenstrahlen: eine Kreatur mit durchscheinender Silhouette. Vom einem auf den anderen Moment aufgetaucht. Auf der Galerie oberhalb der Treppe. Ein dürrer Pferdekörper, auf dem der Kopf einer Frau saß. Obwohl das Wesen nur ein Schemen war, schlugen die Hufe hart auf dem Boden auf. Schwarze Haare umwehten ihr Gesicht. Oder eher: ihre verzerrte Fratze. Ein einziger Schmerzensschrei. Das Wesen steuerte auf mich zu und – wie soll ich sagen – griff nach mir. Aber ohne mich physisch zu berühren, ohne auch nur Hände zu besitzen. Es griff in meine Brust hinein, bohrte sich durch meine Haut und die Rippen. Ich krümmte mich vor Schmerz. Ihr und mein Leid verschmolzen. Meine Fingernägel gruben sich ins Treppengeländer. Sie hatte mein Herz gepackt. Meine Seele. Dieses Geschöpf presste all meine Gefühle aus mir heraus und las meine dunkelsten Geheimnisse. Dann wendete es noch oben am Treppenabsatz und verschwand in der Wand. Der Griff lockerte sich. Der Schmerz ließ nach. Es wurde dunkler. Doch mein Herz hämmerte immer noch und ich hatte ein Bild vor Augen:

Schwärze und ein Schlüsselloch, durch das Licht fiel. Ich griff nach meiner Brust und spürte dabei, wie die Treppe unter mir immer noch schwankte und schlingerte.

Weg! Weg hier! Ich hatte einen Moment geglaubt, mein Ende wäre gekommen und hätte es beinahe einfach so akzeptiert. Doch nun war mir klar, dass ich überleben wollte. Ich fokussierte meinen Blick und machte mich daran, meine Tritte so vorsichtig wie nötig und so schnell wie möglich zu setzen. Ich ging rückwärts, um die Galerie über mir nicht aus den Augen zu lassen und klammerte mich mit beiden Händen an die Geländer. Mit schwitzenden Fingern. Kurzer Blick über die Schulter: Nur noch fünf Stufen, dann drei, geschafft. Kaum hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen, dankte ich zur Sicherheit allen Göttern sämtlicher Glaubensrichtungen, die mir spontan einfielen, für ihren Schutz, drehte mich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Haus.

»Ah, du hast es dir schon angeschaut«, sagte der Mann auf der Bank nickend. Über meinen Schock hatte ich komplett vergessen, dass er da war. Er klang trotz der Tatsache, dass ich vermutlich gerademal ein bis zwei Minuten in dem Haus verbracht hatte, bevor ich herausgerannt war, nicht verwundert. »Ja, ist nichts für uns, sorry«, brachte ich irgendwie aus trockenen Lippen hervor und versuchte, nur so schnell zu laufen, dass es sich noch als würdevoll bezeichnen ließ. Dabei bildete sich kalter Schweiß auf meiner Stirn. Ich folgte dem Steinweg zum Gartentor, winkte noch mal über die Schulter, ohne mich umzudrehen, die Autoschlüssel bereits in der Hand. Dann folgte ich der Betontreppe nach unten, wobei mein Hemd erneut kurz in wucherndem trocknem Gestrüpp hängenblieb.

Ich kam unten auf der Wendeplattform an, in die die Straße mündete und fragte mich, was das eben gewesen war. Hatte ich vielleicht einfach zu viele Schmerztabletten auf leeren Magen geschluckt? Es waren die normalen Pillen vom Arzt gewesen. Ein paar Mal hatte ich stattdessen auf stärkere zurückgegriffen, die mir ein Kumpel empfohlen und besorgt hatte, aber das war nichts für mich. Sie halfen mit den Schmerzen, lösten aber eine ganz besondere Art von Nebenwirkungen aus, die übler waren als das schlimmste physische Leiden.

Als ich zurück in den Pickup stieg, bemerkte ich eine Vibration in meiner Jeanstasche. Eine Nachricht war eingegangen. Sie war von Toni und bescherte mir gleich den nächsten Schreck, denn sie enthielt die folgenden Worte:

Sorry, Bill hat kurzfristig abgesagt (blöder Wichser). Fahr heim, ruh dich aus. Wir schauen uns das morgen an. Toni

Ich bemerkte den Zeitstempel: 4:51 Uhr am Nachmittag. Das musste ungefähr die Zeit gewesen sein, zu der ich angekommen war. Wegen des schlechten Empfangs war sie erst jetzt, um 5:11 Uhr zugestellt worden.