17 - Andres Männer - E-Book

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Andres Männer

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Beschreibung

Der schüchterne und verträumte Teenager Peter hat es nicht leicht, Freunde zu finden. Ständig schweifen seine Gedanken ab und anstatt dem Unterricht zu folgen, flüchtet er sich in Fantasiewelten mit merkwürdigen Wesen. Doch ein neuer Mitschüler zeigt großes Interesse an seiner Gedankenwelt. Er spricht von einer besonderen Gabe ... was natürlich vollkommener Blödsinn zu sein scheint. Als die beiden jedoch in einem Einkaufszentrum in letzter Sekunde einen Terroranschlag verhindern, werden Wissenschaftler auf Peter aufmerksam. So wird er immer weiter aus der ihm bekannten Welt in eine finstere Welt voller geheimer Organisationen und verborgener Machenschaften gezogen. Was als vermeintlicher Urlaub beginnt, entpuppt sich langsam zu einem Alptraum. Dieses Buch vermischt die Elemente eines Fantasy - Jugendromans mit moderner Digitalisierung und Gesellschaftskritik und verpackt diese in einem packenden Thriller.

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… trotz allem bin ich ein Mensch geblieben.

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die darin nach einem Sinn suchen.

Mögen wir gemeinsam diese Welt verbessern.

Inhaltsverzeichnis

Ich

Traum

Rauch

Fest

Angst

Kontakt

Theorie

Wissen

Freunde

Sehen

Schock

Gefahr

Tod

1

Ich

Das Auge ist kein Tor zur Welt,

es ist nur ein Schlüsselloch.

Tagebücher des jungen Valandar

Band 1, Kapitel 1

Der Grünling lachte. Dabei warf er den Kopf weit in den Nacken und hielt sich den runden Bauch, welcher vor Freude auf und nieder hüpfte, mit beiden Händen. Die grüne Haut des Wesens spannte sich straff und glänzend über diesem Bauch, so dass dieser aussah, wie ein praller, aufgesetzter Luftballon, der die roten Hosenträger einer kurzen, braunen Lederhose weit auseinanderdrückte.

Bis auf diese Lederhose war der Grünling nackt. Ein langer Schwanz wedelte um ihn herum, als hätte er seinen eigenen Willen. Es sah so aus, als versuche dieser Schwanz mit dem langhaarigen Fellbüschel seiner Spitze, die Umgebung von unsichtbarem Staub zu befreien.

Die Füße des Grünlings waren fast menschlich, nur überdurchschnittlich groß, und ebenso wie an seinen Fingern wuchsen an den Enden der Zehen gelblich braune Nägel. Wahrscheinlich mussten seine Füße auch diese außerordentliche Größe haben, um den immensen Bauch auszugleichen, durch dessen Gewicht das Wesen sonst ziemlich sicher vorne übergekippt wäre.

Der Grünling stand auf dem Blatt eines großen Ahornbaumes, und dieses Blatt schaukelte gemeinsam mit dem Bauch im Rhythmus seines Lachens. Grund der Freude war ein Tautropfen, oder vielmehr das verzerrte Bild der Grimasse des Grünlings, welche sich in dem Tautropfen spiegelte.

Als sich der Grünling wieder beruhigt hatte, postierte er sich erneut vor dem Tropfen. Dabei machte er einen Schmollmund, stemmte die Hände in die Seiten und schob seine Hüfte zu einer Seite heraus. Beim Blick auf sein verzerrtes Spiegelbild fing er sofort wieder herzlich an zu lachen.

Doch plötzlich erschrak er. Er erschrak so sehr, dass er rückwärts auf seinen Hintern fiel. Das Lachen verstummte. Ängstlich hielt er sich die Hände vor die Augen. Das Blatt erbebte bei dem Sturz, beruhigte sich jedoch rasch wieder.

Langsam öffnete der Grünling einen Spalt zwischen seinen Fingern, um zwischen ihnen hindurchzuspähen. Erstaunlicherweise war der Tropfen nicht geplatzt. Aber hinter ihm … da bewegte sich etwas. Etwas Kleines, Pelziges zuckte hin und her. Der Grünling betrachtete verängstigt das durch den Tropfen verzerrte Bild dieses Dings. Es schien ständig seine Form zu ändern.

Nun hatte dieses Fellknäuel wohl auch den Grünling bemerkt, denn es kam abrupt zur Ruhe und schien zu lauern. Lange passierte nichts. Grünling und Fellknäul beobachteten sich still und reglos. Nach einer Weile wurde der Grünling mutiger. Vorsichtig näherte er sich dem Tropfen. Da begann das Knäul nervös zu zucken. Sofort versteckte er sein Gesicht wieder hinter den großen Händen.

So wartete er ab.

Das Schaukeln des Blattes hatte nun gänzlich aufgehört und auch der Tautropfen war still geworden. Ein kleiner Punkt gebündeltes Sonnenlicht spiegelte sich in ihm. Als nichts weiter geschah, nahm der Grünling eine Hand vom Gesicht, drehte ängstlich seinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung und schlug rücklinks nach dem felligen Etwas. Seine Hand zerplatzte zuerst den Tropfen, und traf dann … auf die Spitze seines Schwanzes.

Erschrocken sprang er hoch.

Mit einem Plopp war der Grünling verschwunden und hinterließ nur ein kleines grünliches Wölkchen, welches von einem Windhauch erfasst wurde und verschwand. Das Blatt, auf welchem nun eine winzig kleine Pfütze perlte, schaukelte noch ein wenig.

»Peter!«

Peter schrak hoch, wodurch seine Klasse in lautes Gelächter ausbrach. Er war Schüler der Klasse 8c auf dem Eisenacher Gymnasium, und saß gerade in der fünften Stunde. Geschichtsunterricht. Unglaublich langweiliger Geschichtsunterricht. Seine Lehrerin, Frau Petermann, wirkte auf ihn wie eine hochdosierte Schlaftablette. Mit monotoner Stimme betete sie ihren Stoff herunter. Es war derselbe Stoff, der schon in der letzten Stunde niemanden interessiert hatte. Da fiel es ihm wirklich schwer, sich zu konzentrieren. Außerdem hatte Frau Petermann seit Neuestem die Angewohnheit, beim Sprechen permanent auf ihr Handy zu schauen, und schien daher während des Unterrichts geistig abwesend zu sein. Würde er es sich trauen, so hätte Peter ihr am liebsten angeboten, den Unterricht zu pausieren, damit sie ihre wichtigen Kontakte pflegen konnte. Immerhin würden sie alle davon profitieren. Doch Peter fehlte für solche Aktionen der Mut. Also machte er es Frau Petermann gleich, gab sich seinen Fantasien hin, und war geistig abwesend. Für Schüler waren Handys im Unterricht verboten. Wie unfair war das denn?

Peter hatte es durch seine verträumte Art nicht gerade leicht, in seiner Klasse Freunde zu finden. Es kam nicht selten vor, dass er einfach so auf einer Bank saß, seine Umgebung ignorierte und apathisch in die Ferne starrte. Außerdem war er oft so in Gedanken versunken, dass er die Hälfte seiner Schulsachen im Klassenraum vergaß, und daher noch einmal zurück in die Schule laufen musste, wenn alle anderen bereits nach Hause gingen. In der fünften Klasse hatte er seinen Turnbeutel in der Sporthalle vergessen und seine Klassenkameraden hatten ihn an der Deckenlampe der Jungenumkleide aufgehangen. Bei dem Versuch, die Tasche mit einem Sprung herunterzuziehen, riss Peter die gesamte Lampe von der Decke, wodurch er gleich in seinem ersten Monat auf dem Gymnasium einen Tadel des Direktors kassierte. Ungeschickt nannten ihn die Lehrer, spastisch seine Mitschüler. Diesen Ruf war er bis heute noch nicht losgeworden.

Frau Petermann schüttelte den Kopf.

»Schön, dass Sie uns wieder Gesellschaft leisten, Herr Richter!«

Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde – ein deutliches Zeichen für Erröten, was gleich doppelt peinlich war. Warum kann ich nicht einmal eine ganze Stunde zuhören?

Peter ärgerte sich oft über sich selbst. Er versuchte wirklich, sich in der Klasse einzufügen, stellte sich mit in den Kreis der coolen Jungs und lauschte ihren Gesprächen. Dabei zwang er sich, an den richtigen Stellen zu lachen, obwohl er genau wusste, wie sehr er sich damit selbst zum Idioten abstempelte. Besonders schlimm war es, wenn Mädchen mit in der Gruppe standen. Durch intelligentes Schweigen hatte noch niemand eine Freundin bekommen. Durch dümmliches Grinsen oder dämliche Bemerkungen jedoch auch nicht. Peter verstand es nicht, wie die Jungs seiner Klasse mit ihren arroganten und nichtsnutzigen Kommentaren bei den Mädchen so beliebt sein konnten. Manchmal dachte er, er wäre nicht von dieser Welt und würde sich am liebsten vor allen Menschen verstecken.

Nach der fünften Stunde war Schulschluss. Gleich als die Glocke ertönte, machte er sich auf den Heimweg. Heute wartete er nicht einmal auf Hannes, seinen besten Freund. Na ja, eigentlich war Hannes nicht wirklich sein Freund. Hannes war – ebenso wie er selber – ein Außenseiter. Viel zu dünn, fettige Haare … Hannes sah irgendwie komisch aus. Dazu lispelte er und hatte auch eine ganz seltsame Art von Humor. Im Prinzip war Peter aus Mitleid mit Hannes befreundet, obwohl Peter selbst noch mehr als Hannes geärgert wurde. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass sich Hannes seiner Außenseiterrolle durchaus bewusst war und er diese sogar zu genießen schien. Hannes mied die anderen Klassenkameraden, wohingegen Peter immer wieder die Nähe der Gemeinschaft suchte.

Er ging direkt durch den Wald nach Hause, auch wenn er sich vor diesem Weg ein wenig gruselte. Normalerweise gab es auch eine Strecke durch die Ortschaft, doch diese war weiter und außerdem liefen dort auch alle anderen entlang. Er wollte heute einfach niemanden mehr sehen.

Auf dem Weg durch das Wäldchen hingen manchmal alte Kleidungsstücke in den Bäumen. Er dachte sich dann viele grausame Verbrechen aus, die an diesem Ort begangen wurden. Daher kam es nicht selten vor, dass er diesen Weg bis nach Hause rannte.

Als Peter das Wäldchen hinter sich gelassen hatte und die Weggabelung erblickte, welche am Eingang zu seinem Wohngebiet in eine Gartenanlage führte, spürte er, wie sich sein Brustkorb zusammenzog und sein Herz für einen kurzen Moment verkrampfte. Das Atmen fiel ihm plötzlich um ein Vielfaches schwerer. Direkt am Wegesrand saßen auf einer morschen Bank zwei Gestalten, und stocherten mit langen dünnen Stöcken gelangweilt in der Erde herum. Es waren Alexander und Lars, die schlimmsten Großmäuler der Schule. Scheinbar hatten sie heute mal wieder die letzte Stunde geschwänzt und sich lieber im Wald versteckt, um heimlich zu rauchen oder sonstigen Unfug anzustellen. Für solche Aktionen hatten sie schon zahlreiche Einträge kassiert.

Peter versuchte, sich zu beruhigen und möglichst gelassen an ihnen vorbeizugehen. Er setzte ein teilnahmsloses Gesicht auf, schlenderte mit den Armen und hoffte, dass ihn die beiden ignorieren würden. Trotz aller Bemühungen, cool zu wirken, blieb jeder seiner Muskeln angespannt. Selbst seine Mundwinkel zuckten nervös.

Er war schon fast an der Parkbank vorbei, als Alexander plötzlich aufsprang und sich vor Peter aufbaute. Dabei stützte er sich auf seinen dünnen Stock, der sich unter seinem Gewicht gefährlich bog, und blickte ihm arrogant ins Gesicht. Alexander hatte auf einem Grashalm gekaut, welcher ihm aus dem Mundwinkel ragte. Mit einem Grinsen spuckte er ihn aus, so dass er an Peters Jacke kleben blieb.

»Verdammt«, murmelte Alexander. »Zu tief getroffen.«

»Haha, wie witzig, Alex. Und, was geht bei euch so?« Peter versuchte, eine coole Masche aufzusetzen, und wischte sich lässig den Grashalm von der Jacke. Mittlerweile war auch Lars von der Bank aufgestanden und stellte sich hinter Peter. »Schau mal, der Kleine möchte cool sein.« Die beiden Jungen lachten. »Hast du uns etwas Schönes mitgebracht?«

»Tut mir leid, ich habe es heute wirklich eilig. Lass uns doch morgen weiterquatschen.« Peters Stimme wurde zittrig und er versuchte, sich an Alexander vorbeizuschieben. Doch Lars packte ihn von hinten am Ranzen und zog ihn zurück.

»Weißt du, das hier ist unser Weg. Meinen Eltern gehört nämlich der Wald. Und dieser Weg ist nicht gratis. Zeig doch mal, was du so dabeihast.«

Lars riss den Reißverschluss des Rucksacks auf, griff hinein und zog einen ganzen Satz Hefter und Bücher heraus.

»Langweilig«, meinte er und warf den Stapel hinter sich.

Peter begann, wütend zu werden. »Lass das, du Penner!« schimpfte er, drehte sich ruckartig um und riss sich los. Er schubste Lars zur Seite. Seine Sachen waren über den Waldboden verteilt. Zum Glück gab es keinerlei Pfützen, doch das Gras war noch immer feucht. Die Bäume des Waldweges spendeten genug Schatten, um die Frühlingssonne vom Trocknen des Grases abzuhalten. Hastig begann er, die Hefter wieder in den Rucksack zu stopfen. Auf ein paar Eselsohren kam es jetzt auch nicht mehr an. Er wollte nur schnell weg von diesen Idioten.

»Schau mal, das Mädchen zickt rum.« Alexander umklammerte Peter von hinten und zog ihn wieder auf die Beine. »Komm her, du Zicke. Kleine Mädchen haben auf große Jungs zu hören. Oder hast du etwa von Macht geträumt?« In Peter verdrängte die Wut allmählich seine Unsicherheit. Er dachte an die Judobücher, welche er in der Büchersammlung seines Vaters gefunden hatte, und die er nun allabendlich las, wobei er die Bewegungen und Würfe mit seinen großen Plüschtieren übte. Die Bücher waren eines der wenigen Dinge, die ihm von seinem Vater zurückgelassen worden waren. Er hatte ihn und seine Mutter verlassen, als Peter gerade fünf Jahre alt war.

Peter griff den Arm von Alexander, beugte sich nach vorne, schlang einen Arm um ihn und zog. Mit Schwung wurde Alexander über seine Hüfte geschleudert und landete vor ihm auf dem Rücken. Im ersten Moment schaute Peter genauso überrascht wie Alexander. Er hätte nie gedacht, dass das wirklich funktionieren würde. Doch plötzlich fing Alexander schallend an zu lachen.

»Huch, ich bin wohl ausgerutscht.« Er kugelte sich regelrecht vor Freude. Peter begann vor Wut zu kochen. Was hatte er denn erwartet? Ein wenig Respekt vielleicht? Ehrfurcht? Oder wenigstens ein überraschtes: »Aua, das Mädchen ist ja doch ein Kerl!«. Aber dieses Gelächter … das war zu viel für ihn. Von seiner Unsicherheit war nun nichts mehr zu spüren. Adrenalin brachte sein Herz zum Rasen. Mit einem Knurren ging er auf Alexander los. Viel mehr als einen halben Schritt konnte er jedoch nicht machen. Lars packte ihn von hinten an den Schultern und trat ihm die Beine weg. Nun lag Peter neben Alexander auf dem Boden.

»Hey!« Ein Junge kam um die Wegbiegung und lief mit stechendem Blick auf die Gruppe zu. Es war Smarden, der neue Schüler aus seiner Klasse. Smarden war etwas kleiner als Peter, hatte eine etwas zu kleine Nase und ein kugeliges Gesicht, welches ihm ein kindliches Aussehen verlieh. Eingerahmt wurde dieses puppenhafte Gesicht von roten Haaren, welche ihm bis auf die Schultern reichten. Trotz seines besonderen Aussehens umspielte immer ein selbstbewusstes Grinsen seine Mundwinkel, und hielt ihn erfolgreich von allem Ärger fern. Peter fand dies äußerst beneidenswert.

»Kann ich mitspielen?«

Alexander sprang auf und stellte sich neben Lars, um den neuen Gast zu begrüßen. »Verzieh dich, Frischobst! Oder brauchst du einen vor die Latte?«

Smarden kicherte. »Schade.«

Irgendetwas geschah. Peter konnte nicht genau erkennen, was es war. Alles wirkte normal und doch spürte er etwas Ungewöhnliches. Er sah es in Smardens Augen. Genau genommen sah er nichts in seinen Augen, sondern durch sie hindurch. Sie wirkten tief und endlos, wie ein reißender Strudel in eine andere Welt. Dann blitzte er auf – so, als ob man eine Glühbirne einschaltete. Trotzdem sah Smarden völlig unverändert aus. Er leuchtete nicht wirklich, nicht sichtbar. Peter zweifelte an seinem Verstand. Er konnte das Leuchten zwar wahrnehmen, aber es nicht wirklich sehen. Wahrscheinlich spielte ihm seine Fantasie wieder einmal einen Streich, doch es fühlte sich so real und übermächtig an, dass er nach Atem rang.

Etwas ließ die Luft erzittern. Für seine Ohren war nichts zu hören, doch Peter spürte ein dumpfes Dröhnen tief in seinen Knochen. Alexander und Lars stolperten fast gleichzeitig und fielen vor Smarden auf den Boden. Dann wurde die Welt wieder klar. Das Dröhnen verstummte, das Leuchten verschwand. Smarden kicherte noch immer. »Ich würde jetzt lieber nach Hause gehen, es beginnt bestimmt gleich zu regnen«, sagte er amüsiert. Alexander und Lars blickten in den Himmel.

»So ein Blödsinn. Keine Wolke zu sehen.«

»Der hat sie doch nicht mehr alle! Komm, lass uns abhauen. Die Looser langweilen mich.«

Sie nahmen ihre Stöcke und schlenderten den Weg hinunter, als wäre nichts geschehen. Kurze Zeit später waren sie nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten die beiden gar nichts von dem ganzen Spuk mitbekommen und wunderten sich bloß, warum sie zeitgleich gestolpert waren. Es war bestimmt nur Smardens sicheres Auftreten gewesen, was sie verjagt hatte, und nicht irgendein seltsames Leuchten. Immerhin wäre es nicht das erste Mal, dass Peter sich in Tagträumen verlor. Manchmal sah er sogar kleine grüne Trolle auf Blättern sitzen oder geisterhafte Schemen um Ecken schweben. Andererseits: noch nie waren die Bilder so mächtig, so fühlbar gewesen. Und noch nie hatte er in einer solchen Situation zu träumen begonnen.

Er bemerkte, dass er noch immer auf dem Boden saß. Ein wenig verwirrt kam er wieder auf die Beine und begann, seine Sachen einzusammeln. Smarden hatte bereits ein paar Hefte aufgehoben und reichte sie ihm.

Musste ihm ausgerechnet der Neue helfen? Es war äußerst unangenehm, dass ihn jemand so gesehen hatte – und erst recht, dass es der Neue war.

Na toll. Einer mehr, der mich für einen Volldeppen hält. »Danke, aber ich wäre schon zurechtgekommen.« Er schwang sich den Rucksack über die Schulter und machte sich auf den Weg nach Hause. Von hier aus war es nichtmehr weit.

»Warte!« Smarden holte auf und ging neben ihm den Weg hinunter. Kann er nicht einfach verschwinden? Peter hasste es, sich mit anderen zu unterhalten. Erst recht, wenn er sie nicht kannte. Und noch viel mehr, wenn sie ihn in einer peinlichen Situation gesehen hatten. Obwohl – wer hatte das noch nicht? Gleich würde er wieder etwas Unpassendes sagen und blöd wirken. Am besten, einfach stumm weiterlaufen.

»Ich habe nach dir gesucht. Du hast ihn vorhin auch gesehen, stimmts?«

Was meint der Spinner?

Alex und Lars waren ja nicht zu übersehen. Sein kindischer Judo-Ausraster auch nicht.

»Den Elftroll meine ich. Vor dem Klassenraum auf dem Blatt. Er hat dort gespielt.«

Peter zuckte zusammen und blieb vor Schreck kurz stehen.

»Elf was? Du spinnst doch. Keine Ahnung, was du da gesehen hast. Ich habe geschlafen, Geschichte war langweilig.«, entgegnete er trotzig und ging weiter.

»Ich bin Smarden.« Smarden reichte ihm die Hand herüber.

»Und du Peter, richtig?«

»Ich kenne dich!« Peter erwiderte den Handschlag nicht. »Ich bin jetzt daheim, hier wohne ich.«

Sie hielten vor einem schwarzen Hoftor, welches die Einfahrt einer schmalen Doppelhaushälfte verschloss.

»Okay, dann sehen wir uns morgen?«

»Klar, bis morgen«, stöhnte Peter genervt und hoffte, Smarden würde seinen Widerwillen bemerken. Er öffnete eine quietschende Tür neben dem Tor und ging die Einfahrt bis zur Haustür herunter. Er versuchte, sich nicht erneut umzudrehen, obwohl er spürte, dass Smarden am Tor stehenblieb und ihm nachsah. Erst als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, lehnte er sich erschöpft an die Wand und seufzte.

2

Traum

Definition des Selbst

Wäre ich mein Körper, könnte man dann Teile von mir entfernen?

Wäre ich mein Gehirn, könnte ich dann nicht jeden Vorgang des Körpers steuern?

Wäre ich meine Sinne, könnte ich dann ohne sie leben?

Wie ein Computer ohne Bediener, so wäre auch der Mensch ohne das Selbst nur ein lebloses Werkzeug. Ich bin mehr als die Summe aus Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe.

Ich bin ein Splitter des Übernatürlichen!

Geist und Seele eine wissenschaftliche Betrachtung

{X}

Die nachfolgende Woche verlief ohne weitere Vorkommnisse. Peter wurde von Alexander und Lars weitestgehend in Ruhe gelassen. Bis auf ein paar beleidigende Bemerkungen, hatte er nichts mit ihnen zu tun. Das lag aber auch daran, dass Peter normalerweise den Kontakt zu seinen Mitschülern mied. Er war äußerst geschickt darin, ihnen aus dem Weg zu gehen, und für sich zu bleiben. Somit war eigentlich alles so wie immer – zumindest in dieser Hinsicht.

Doch seit seinem ersten Kontakt zu Smarden machte Peter etwas zu schaffen. Es wollte ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf und immer wieder drehten sich seine Gedanken um diese eine Frage. Smardens Frage. Konnte es wirklich sein, dass er den Grünling ebenso gesehen hatte? Nein, das konnte nicht sein. Immerhin waren diese Hirngespinste nicht real. Smarden schien sich über ihn lustig zu machen. Es war ja nicht zu übersehen gewesen, dass Peter im Unterricht einen Baum vor dem Fenster anstarrte und vor sich hin träumte. Vielleicht hat Peter auch unbewusst gelächelt, als er sich den Grünling beim Spielen vorgestellt hatte. Es musste Smarden also leichtgefallen sein, zu erraten, dass er in seiner Fantasie irgendetwas in den Bäumen gesehen hatte. Aber wie konnte Smarden dann erraten, dass er ein kleines grünes Männchen auf einem Blatt herumhopsen gesehen hatte? Wie hatte er es genannt? Einen Elftroll? Doch wenn sich Peter richtig erinnerte, hatte Smarden nicht von grüner Hautfarbe gesprochen. Diesen Annahme hatte Peter selbst gezogen.

Wahrscheinlich war das nur eine ganz fiese Verhörmethode, um sich später über ihn lustig zu machen. Ja, so musste es sein. Smarden wollte ihn verhöhnen, um schnell Freunde in der neuen Klasse zu finden. Immerhin war es cool, den Außenseiter zu verarschen. Damit konnte man sich Anerkennung verschaffen; sich ins Klassengefüge integrieren. Dieser Blödmann scheint clever zu sein. Fies und clever, eine böse Kombination.

Peter blinzelte, um aus seinen Gedanken zurückzukehren. Er machte es schon wieder: Er träumte im Unterricht, während er abwesend auf seinen Zeichenblock starrte.

Der Kunstunterricht bei Frau Dornenkleid war wie immer eine Herausforderung. Die quirlige Frau wirbelte durch das Klassenzimmer und beschallte die Schüler mit ausgelassener Heiterkeit. Über seine Fähigkeiten, bei dieser aufgedrehten Person träumen zu können, war Peter selbst erstaunt.

An der Tafel prangte das Motto der heutigen Stunde:

»freies Zeichnen zum Thema Natur«.

Peter hatte vor, ein Schaf zu zeichnen. Das dürfte nicht allzu schwer werden. Ein Batzen Wolle mit Augen und Beinen. Selbst Peter sollte das mit einem Bleistift hinbekommen. Es entsprach zwar nicht ganz dem Niveau einer achten Klasse, aber immerhin versuchte er es.

»Was ist das denn?« Hannes schielte auf sein Blatt. »Sieht aus wie eine Hummel mit Beinen.«

Peter hatte sich echt Mühe gegeben. Auf dem Blatt entstand gerade das beste Schaf seines Lebens. Frustriert deckte er das Bild mit seiner Hand ab und versteckte es vor Hannes‘ Blick.

»Mann, das ist ein Schaf. Das sieht man doch. Eine Hummel wäre gelb.«

Hannes schüttelte den Kopf und malte weiter an seinem Gemälde. Auch wenn Peter Hannes gar nicht leiden konnte, saßen sie in vielen Unterrichtsstunden nebeneinander. Peter bildete sich ein, dass Hannes noch peinlicher und unbeliebter war als er selbst. Auf eine eigenartige Art und Weise machte sie das zu so etwas wie Freunden. Das Schlimmste an Hannes war, dass er keinerlei Sinn für Humor hatte. Er meinte seine Kritik durchaus ernst.

»Und was machst du da?« Peter schielte zu ihm herüber und sah, dass Hannes gerade mit einem Lineal hantierte.

»Ich mache die Mathehausaufgaben. Malen ist etwas für Idioten.«

»Okay, klar.« Irgendwie passten die beiden wohl doch ganz gut zusammen.

Nachdem Frau Dornenkleid Peters Bild im Vorbeigehen mit den Worten »Das ist aber ein lustiges Tier. Fein, fein.« bedacht hatte, faltete Peter einen Flieger aus seinem Gemälde und versenkte es nach dem Unterricht im Papierkorb. Sie hatte ja gesehen, dass er etwas gemalt hatte. Ein Versuch war immerhin die Note 5 statt 6. Das musste reichen.

Die Schule war vorbei, und Peter eilte aus dem Schulhaus. Smarden stand bereits in der Tür und rief ihm zu.

»Hey, Peter. Sehen wir uns am Wochenende?« Peter ignorierte ihn und drückte sich ohne eine Antwort an ihm vorbei. Der Typ sollte ihn in Ruhe lassen.

Peter schwebte durch das Nichts. Dunkle Nebelschwaden umspielten seine Füße und ließen ihn erschaudern, während sie durch jede noch so kleine Öffnung seiner Kleidung krochen. Seine Haut prickelte bei dem Versuch, sich gegen die feuchte Kälte, welche der Nebel mit sich brachte, zu wehren. Dieser Nebel war überall, war unendlich – ohne Anfang und Ende, ohne oben und unten. Eine matt leuchtende, wabernde Leere, welche unermüdlich auf ihn eindrang und drohte, ihm die Sinne zu rauben. Hin und wieder zuckten Lichtblitze durch den Nebel, als würde er nicht aus Wasserdampf, sondern aus purer Energie bestehen.

Peter wollte schreien, doch nicht der leiseste Ton drang aus seinem Mund. Nur mühsam unterdrückte er die Panik, welche langsam in ihm aufstieg.

Zeit spielte keiner Rolle mehr. Trieb er bereits eine Ewigkeit durch das Nichts, oder war es doch erst ein kurzer Moment gewesen? Er wusste es nicht.

Plötzlich veränderte sich etwas. Eine Säule aus purem Licht wurde sichtbar und raste auf Peter zu - oder vielleicht bewegte sich auch Peter, das konnte er nicht genau sagen. Ohne Orientierung hatte er kein Gefühl für Bewegung. Erst jetzt bemerkte er, dass das eisige Gefühl auf seiner Haut und das Brennen in seinem Gesicht gar kein Wind sein konnte. Es schien Energie zu sein. Energie, welche wie ein elektrisierendes Knistern seine Haut reizte. Dieser Reiz schwoll an, als er sich der Lichtsäule näherte.

Er bewegte sich immer schneller. Ihm wurde schwindelig und sein Magen rebellierte. Sein Körper fühlte sich mittlerweile an, als würde er von tausend kleinen Nadeln durchbohrt. Er konnte die Panik nun nicht mehr unterdrücken. Wie eine Welle übermannte ihn die Angst, sein Körper verkrampfte sich und er schrie nach Leibeskräften. Doch nicht der leiseste Ton drang aus seiner Kehle.

Unvermittelt wurde er langsamer. Genau vor sich sah er die Lichtsäule. Sie pulsierte leicht. Der Nebel verschwand und hinterließ einen dunklen Raum, in welchem in der Ferne bunt leuchtende Kugeln wie Sterne schimmerten. Die leuchtende Säule, welcher er sich genähert hatte, spannte sich zwischen zwei solcher Kugeln auf und verband diese. Peter steuerte weiter genau auf diese Säule zu, was das Prickeln seiner Haut weiter anschwellen ließ, bis es sich anfühlte, als ob kleine Blitze durch seinen Körper jagen. Jeglicher Widerstand half nichts. Er war auf Kollisionskurs und die Energie wurde zunehmend unerträglich.

Je näher er kam, desto mehr Details konnte er erkennen. Was er zuerst als Säule wahrgenommen hatte, sah nun eher wie eine Art Riss aus. Ein Riss im Raum. Dieser Riss zog viele bunte Kugeln und wellenförmige Blitze an und verschluckte sie.

Als Peter in den Riss fiel, veränderte sich die Welt.

Plötzlich fiel er aus dem Himmel und jagte auf die Wüste zu. Einen Moment später befand er sich vor einer kleinen Hütte mitten in der Wüste. Die Luft war heiß und flimmerte über dem sandigen Boden. Trotzdem verspürte Peter plötzlichen Frieden und Sicherheit. Dies war ein Ort der Geborgenheit. Ganz so, als wäre er hier daheim.

Vor der Hütte saß ein dunkelhäutiger Mann. Sein Gesicht war mit eigenartigen weißen Zeichen bemalt. Diese schlängelten sich um die Gesichtszüge des Mannes und leuchteten in einem matten, pulsierenden Licht. Unzählige eiserne Dornen durchdrangen seine Ohren, Lippen und Nase. Scheinbar eine Art Schmuck. In der einen Hand hielt er den blutenden Leichnam eines Tieres.

Peter konnte nicht genau erkennen, um was für ein Tier es sich dabei handelte.

War das eine Katze?

Der Mann blickte auf und seine Augen bohrten sich tief in Peters Seele.

Ein Lächeln umspielte sein Gesicht. Dann bewegte er die Lippen. Das Flüstern, welches Peter hörte, kam nicht von diesen Lippen. Es erklang vielmehr mit vielen Stimmen gleichzeitig und hallte direkt in seinen Gedanken wider.

»Gefunden«

Mit einem Schrei erwachte Peter. Er saß schweißgebadet im Bett. Seine Hände hatten sich in der Bettdecke verkrampft, welche nass vom Schweiß auf ihm lag. Er glaubte, noch das elektrische Knistern des Nebels und die Hitze der Wüste auf seiner Haut spüren zu können, und es dauerte eine Weile, bis er die Eindrücke des Traumes abgestreift und sich in der Realität wiedergefunden hatte.

Keuchend schob er die Bettdecke beiseite. Die Uhr, welche mit rot leuchtenden Zahlen seinen Nachttisch erhellte, zeigte ihm, dass sie noch lange nicht klingeln würde. Kurz nach Mitternacht. Zu früh, um aufzustehen.

Peter wankte die Treppe hinunter in die Küche. Der Weg kam ihm endlos vor. Die Wände waberten, kamen auf ihn zu und entfernten sich wieder, schienen zu schwanken, als wären sie elastisch und bemühten sich, den schaurigen Nebel seines Traumes aus dieser Realität fernzuhalten. Als würde ihn sein Albtraum lauernd verfolgen.

War er denn bereits wach?

Die Stille des verlassen Hauses wirkte leblos und falsch. Nur das Ächzen der Treppenstufen war zu hören. Peter erinnerte sich, dass seine Mutter am Abend zu einem Notfall in die Klinik aufgebrochen war.

Er erreichte die Küche und schöpfte sich eine Hand voll kaltem Wasser in sein Gesicht. Das Wasser vertrieb die Angst und die letzten Fetzen des Traumes. Die Welt um ihn herum kam allmählich zur Ruhe und wieder zu ihm zurück. Nach einem Glas Wasser kehrte er mit neuem Bettbezug zurück nach oben.

Als Peter das nächste Mal die Augen öffnete, spürte er bereits Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Der Albtraum war vergessen, lag wie ein unbedeutender Schatten in seiner Vergangenheit. Ein fröhlicher Vogelgesang begrüßte den Tag.

Er schaute durch das Dachfenster über dem Bett und genoss den schwachen Luftzug, welcher einen herrlichen Duft von Frühling hinterließ. Helles Sonnenlicht ließ seine Bettdecke in frischem Weiß erstrahlen und hob ihre Wellen und Falten durch einen leichten Schattenwurf hervor. Eine flauschige Landschaft aus Hügeln und Schluchten, welche durch Peters Atemzüge in permanenter, sanfter Bewegung gehalten wurde. Er liebte es, sich in diesem Labyrinth aus unzähligen Wegen und Schatten zu verlieren und darin versteckte Muster und Regelmäßigkeiten zu finden. Dieses Spiel befreite seinen Geist.

Verschlafen streckte er sich und betrachtete fasziniert die vereinzelt herumfliegenden Staubkörnchen, deren lustiges Treiben erst durch den hellen Sonnenschein sichtbar wurde. Sie schienen nur in dem schmalen Lichtstrahl zu existieren, welcher durch die kräftige Morgensonne in Richtung seines Bettes geworfen wurde. Außerhalb dieses Strahls waren sie unsichtbar. Wie ein Riss in der Realität, welcher einen Blick auf dahinterliegendes Leben gewährte.

Heute war ein herrlicher Tag.

Er wusste genau, dass er auf dem Küchentisch einen liebevoll geschriebenen Zettel seiner Mutter finden würde, gleich neben einer gefüllten Schüssel Müsli und einem geschmierten Schokoladenbrot. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass seine Mutter ja schon am gestrigen Abend in die Klinik aufgebrochen war. Somit würden Zettel und Müsli fehlen, wodurch Peter einen kurzen Anflug von enttäuschter Traurigkeit verspürte. Heute war einer jener Samstage, an welchen er allein sein würde.

Seine Mutter musste oft über das Wochenende arbeiten und Peter hatte schon früh gelernt, sich selbst um den Haushalt zu kümmern. Auch wenn er es liebte, in dem großen Haus mit den verwinkelten Räumen, den kleinen Dachbodenkammern und dem zweistöckigem Keller, herumzustromern, so fühlte er sich doch oft recht einsam und suchte, um sich die Zeit zu vertreiben, nach allerlei Arbeiten im Haushalt. Seine Mutter hatte ihm vor einem Jahr, als sie die neue Stelle in der Klinik angenommen hatte, einen Hund geschenkt. Aras war ein großer, schwarzer altdeutscher Schäferhund und sein liebster Spielkamerad geworden. Mit ihm tobte er durch den Garten, machte ausgedehnte Spaziergänge in dem angrenzenden Wald und hin und wieder ließ er den großen Hund auch in seinem Bett schlafen. Das tat er meist, wenn er allein einen gruseligen Film gesehen hatte und sich am Abend in dem verlassenen Haus fürchtete. So wusste Peter auch, dass Aras genauso laut schnarchte wie sein Großvater, welchen er früher immer in den langen Sommerferien besucht hatte und der von seiner Großmutter wegen seines Schnarchens zur Nachtruhe in das Gästezimmer ausquartiert worden war. Aras machte sich in dem Bett immer so breit, dass Peter sogar einmal vor dem Bett schlief, als ihn der Hund mit seinen Pfoten herausgeschoben hatte. Zugegeben, Aras war ein recht verwöhnter Hund.

Peter war gerade dabei, Schüssel und Teller seines Frühstücks abzuwaschen, da klingelte es. Sofort hörte er seinen Hund mit lautem Bellen durch Keller, Garten und Hof bis hin zum Eingangstor jagen. Peter konnte noch immer nicht unterscheiden, ob dieses Bellen eher als freudige Begrüßung oder als warnender Alarm gedacht war – auf jeden Fall war es ohrenbetäubend.

Als Peter aus der Eingangstür trat, war ihm seine Überraschung wahrscheinlich anzusehen. Oben am Tor stand Smarden und winkte zu ihm herunter. Peter hatte bereits verdrängt, dass Smarden wusste, wo er wohnte. Aras sprang vor ihm am Tor auf und nieder, und machte dabei einen ohrenbetäubenden Lärm. Sein Schwanz drehte sich mit jedem Sprung wie ein Propeller von einer Seite zur anderen. Der Hund hatte ein seltsames Gespür dafür, welche Gäste er mochte, und welche er mit einem Knurren empfing. Smarden schien seine Gunst bereits erhalten zu haben.

Peter hob zaghaft die Hand zum Gruß und ging die Einfahrt hoch, um Smarden zu fragen, was er hier wollte. Gegen das Gebell von Aras würde er auf diese Entfernung eh nicht ankommen können.

»Hey Peter, hast du Zeit? Ich muss dir unbedingt etwas zeigen! Im Wald.«

»Ähm…« Peter war überrumpelt. Andererseits … was hatte er heute schon vor? Vielleicht war diese Ablenkung gar nicht so schlecht, und eventuell würde es sogar witzig werden, Smarden auf eine Runde mit dem Hund mitzunehmen. Immerhin hatte Smarden ihn bis jetzt noch nicht blöd behandelt und der aufgedrehte Hund würde für Gesprächsthemen sorgen.

»Ja,«, stotterte er »warte kurz. Ich nehme Aras mit!«

Er kraulte Aras hinter den Ohren, wodurch dieser sich mit einem quietschenden Winseln und einem nassen Handkuss bedankte.

»Der ist ja niedlich. Klar kommt der mit!«

Peter holte noch schnell seine Jacke und schloss das Haus ab. Obwohl die Frühlingssonne kräftig strahlte, war sie noch schwach und es wehte ein recht frischer Wind. Als Peter die Leine vom Haken neben dem Garagentor nahm, preschte Aras in Freudengebell los. Er rannte um Peter herum, nahm Anlauf und versuchte, in das Halsband zu springen. Der erste Versuch ging am Halsband vorbei und Aras donnerte mit Kopf und Pfoten gegen Peters Bauch. Auch der zweite Versuch schlug fehl.

»Ist ja gut, mein Großer. Ich freu mich ja auch!«, lachte Peter. Beim dritten Anlauf schaffte er es, Aras im Sprung das Halsband über den Kopf zu ziehen, und stolperte fast, als der nun angeleinte Hund einen Haken schlug, zum Hoftor rannte und ihn dabei hinter sich herzog.

Sie nahmen den schmalen Waldweg, welcher zwischen den wuchernden Hecken des Waldrandes kaum zu erkennen war. Er schlängelte sich einen steilen Hang hinauf, streifte eine kleine Plantage mit Pflaumenbäumen, wurde dort etwas breiter und führte letztendlich zu einer sonnigen Lichtung. Peter kannte den Weg gut, schließlich war er am Fuße dieses Berges aufgewachsen. Gemeinsam mit Aras durchkämmte er den Wald fast täglich.

Es dauerte nicht lange, bis Peter sich von Smardens beschwingter Fröhlichkeit ansteckten ließ. Abwechselnd warfen sie Stöcke den Weg entlang, worüber sich der Hund sichtbar, und vor allem auch hörbar, freute. Gelegentlich schleppte Aras so lange Stöcke an, dass er nur schräg über den schmalen Pfad laufen konnte, um nicht zwischen den Bäumen stecken zu bleiben.

»Letzte Woche ist er mir mit so einem Stock durch die Beine gerannt. Das hat ganz schön weh getan«, erzählte Peter lachend.

»Wo kommst du eigentlich her? Smarden ist ein eigenartiger Name, den habe ich vorher noch nie gehört.«

»Ach, ich habe schon überall gewohnt«, antwortete Smarden, während er einen neuen Stock zwischen zwei Büschen hindurchwarf. »Manchmal denke ich, meine Eltern sind auf der Flucht. Wir ziehen ständig um. Meine Mutter arbeitet bei so einem Coaching-Unternehmen und betreut jedes Jahr eine andere Firma. Und wir ziehen eben mit.«

»Krass.«

»Na ja, finde ich nicht.«

»Und dein Name? Woher kommt der?«

»Keine Ahnung. Meine Mutter fand den wohl irgendwie ausgefallen. Ich habe mal danach gesucht und so ein kleines Kaff in Südengland gefunden. Seitdem nennt mich meine Mutter ›Dorfkönig‹. Sie hat mir zwar versichert, dass ich nicht nach diesem Dorf benannt wurde, aber ich finde es trotzdem ganz cool, nicht so einen langweiligen Namen zu haben. So wie Karl, Paul oder Peter. Das wäre schrecklich.« Smarden knuffte ihm grinsend in die Seite.

»Du Arsch!«, lachte Peter und knuffte zurück. Er begann Smarden zu mögen. Vielleicht konnten sie wirklich Freunde werden? Das wäre sein erster richtiger Freund – wenn man die Sandkastenfreunde und die Zwölftklässler aus der Klasse seines Cousins Timon nicht mitzählte. Sofort schob er diesen Gedanken wieder beiseite. Er glaubte noch immer, dass Smarden nur mit ihm spielte. Smarden war viel zu cool, um ernsthaft mit einem Versager wie ihm abzuhängen. Das würde seinem Ruf schaden.

»Wir sind da.«

Smarden riss ihn aus seinen Gedanken. Sie standen auf der kleinen Lichtung, auf welcher der Weg endete. Genau genommen war die Lichtung keine richtige Lichtung. Vielmehr standen die Bäume hier nur so weit voneinander entfernt, dass sie genug Licht für das Wachsen eines grünen Rasens ließen. Der Weg schlängelte sich hier durch eine hügelige Landschaft. Die Blätter der Bäume warfen ein tanzendes Muster auf das frische Gras. Links und rechts vom Weg wuchsen einige Maiglöckchen und auf einem der Hügel stand ein alter, mit Moos bewachsener Meilenstein. Hier hatte Peter schon oft stundenlang einfach nur gesessen und das Rauschen der Bäume genossen. Aras lag dann immer geduldig zu seinen Füßen, und wartete darauf, den Kopf gekrault zu bekommen.

»Was wollen wir hier? Die Lichtung kenne ich schon.«, gab Peter zurück. »Du vergisst wohl, dass ich schon länger hier wohne als du?«

Smarden hob den Finger an seine Lippen. »Sei einfach nur still und sieh dich um.«, flüsterte er. »Siehst du etwas Ungewöhnliches?«

Peter fühlte sich veralbert, drehte aber dennoch den Kopf.

»Ähm, außer dich? Nein.«, gab er irritiert zurück. »Für solche Spiele sind wir doch etwas zu alt, findest du nicht?«

Smarden sah enttäuscht aus. »Schade. Scheinbar ist er