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Kannst du sehen, was dich umgibt, oder siehst du nur was alle sehen? Wenn wir verlernen zu hinterfragen, verliert unsere Meinung an Bedeutung. Dieses Buch ist wie ein Strudel. Ein Strudel von der Traumwelt des Himmels hinunter in die Abgründe der Hölle.
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Seitenzahl: 244
Veröffentlichungsjahr: 2021
… und trotz allem bin ich ein Mensch geblieben.
Dieses Buch ist all jenen gewidmet,
die darin nach einem Sinn suchen.
Mögen wir gemeinsam diese Welt
verbessern.
Ich
Traum
Rauch
Fest
Angst
Kontakt
Theorie
Wissen
Freunde
Sehen
Schock
Gefahr
Tod
Das Auge ist kein Tor zur Welt,
es ist nur ein Schlüsselloch.
Tagebücher des jungen Valandar
Band 1, Kapitel 1
Der Grünling packte seinen großen runden Bauch mit beiden Händen und warf den Kopf vor Lachen in den Nacken. Dabei wirkte der hüpfende Bauch wie ein aufgesetzter grüner Luftballon, welcher aus einer kurzen braunen Lederhose herausquoll. Er drückte die roten Hosenträger weit auseinander. Außer dieser Lederhose war der Grünling nackt. Der lange Schwanz wedelte um ihn herum, als hätte er einen eigenen Willen. Es sah so aus, als versuchte er mit dem langhaarigen Fellbüschel der Spitze, seine Umgebung von unsichtbarem Staub zu befreien.
Die Füße des kleinen Kerls waren fast menschlich, nur überdurchschnittlich groß und mit gelblich braunen Nägeln. Wahrscheinlich mussten sie auch diese Größe haben, um den immensen Bauch auszugleichen, durch dessen Gewicht der kleine Kerl sonst bestimmt nach vorne überkippen würde.
Der Grünling stand auf dem Blatt eines großen Ahorn Baumes und das Blatt schaukelte gemeinsam mit dem grünen Bauch im Rhythmus des Lachens. Er lachte über einen Tautropfen, oder vielmehr über das verzerrte Spiegelbild der Grimassen, die er vor dem Tropfen zog.
Plötzlich erschrak er. Er erschrak so sehr, dass er rückwärts auf seinen Hintern fiel. Das Lachen verstummte. Ängstlich hielt er die Hände vor seine Augen. Das Blatt erbebte bei seinem Sturz, beruhigte sich jedoch rasch wieder.
Langsam öffnete der Grünling einen Spalt zwischen seinen Fingern, um zwischen ihnen hindurchzusehen. Erstaunlicherweise war der Tropfen noch da. Aber hinter dem Tropfen bewegte sich etwas. Etwas Kleines, Pelziges zuckte hin und her. Der kleine Kerl war sichtlich verängstigt, als er dieses Ding verzerrt durch den Tropfen beobachtete. Es schien ständig seine Form zu ändern.
Nun hatte das Fellknäuel wohl auch den Grünling bemerkt. Abrupt kam es zur Ruhe und lag ganz still da. Fast so, als würde es auf ihn lauern. Nach einer Weile wurde der Grünling mutiger. Vorsichtig näherte er sich dem Tropfen. Das Knäul zuckte nervös. Schnell versteckte er sein Gesicht wieder hinter seinen großen Händen.
Er wartete ab.
Das Schaukeln des Blattes hatte nun gänzlich aufgehört und auch der Tautropfen war still geworden. Ein kleiner Punkt gebündeltes Sonnenlicht spiegelte sich in ihm. Alles war still. Als nichts weiter geschah, nahm der Grünling eine Hand vom Gesicht, drehte ängstlich seinen Kopf weg und schlug blind mit der freigewordenen Hand nach dem felligen Etwas. Seine Hand zerplatzte zuerst den Tropfen. Danach traf sie auf die Spitze seines Schwanzes. Erschrocken sprang er hoch. Mit einem Plopp war der Grünling verschwunden und hinterließ nur ein kleines grünliches Wölkchen, welches von einem Windhauch erfasst wurde und verschwand. Das Blatt, auf welchem nun eine winzig kleine Pfütze perlte, schaukelte wieder ein wenig.
»Peter!«
Peter schrak hoch, wodurch seine Klasse in lautes Gelächter ausbrach. Er war Schüler der Klasse 8c auf dem Eisenacher Gymnasium und saß gerade in der fünften Stunde. Geschichtsunterricht. Unglaublich langweiliger Geschichtsunterricht. Seine Lehrerin, Frau Petermann, klang wie eine Schlaftablette. Mit monotoner Stimme betete sie den Stoff herunter. Der selbe Stoff, der schon in der letzten Stunde niemanden interessierte. Es fiel ihm wirklich schwer, sich zu konzentrieren. Außerdem hatte sie seit neuestem die Angewohnheit, beim Sprechen permanent auf ihr Handy zu schauen. Am liebsten würde Peter ihr anbieten, den Unterricht zu pausieren, damit sie ihre wichtigen Kontakte pflegen konnte. Davon hätten alle etwas. Für Schüler waren Handys im Unterricht verboten. Wie unfair war das denn?
Peter hatte es durch seine verträumte Art nicht gerade leicht, in seiner Klasse Freunde zu finden. Es kam nicht selten vor, dass er einfach so auf einer Bank saß und in die Ferne starrte. Außerdem vergaß er oft die Hälfte seiner Schulsachen und musste daher noch einmal zurück in die Schule, wenn alle anderen nach Hause gingen. In der fünften Klasse hatte er seinen Turnbeutel in der Sporthalle vergessen und seine Klassenkameraden hatten ihn an der Deckenlampe der Jungenumkleide aufgehangen. Bei dem Versuch, die Tasche mit einem Sprung herunterzuziehen, riss Peter die gesamte Lampe von der Decke, wodurch er gleich in seinem ersten Monat auf dem Gymnasium einen Tadel des Direktors kassierte. Ungeschickt nannten ihn die Lehrer, spastisch seine Mitschüler. Diesen Ruf war er bis heute noch nicht losgeworden.
Frau Petermann schüttelte den Kopf. »Schön, dass Sie uns wieder Gesellschaft leisten, Herr Richter!« Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde – ein deutliches Zeichen für Erröten, was gleich doppelt peinlich war. Warum kann ich nicht einmal eine ganze Stunde zuhören? Peter ärgerte sich oft über sich selbst. Er versuchte wirklich, sich in der Klasse einzufügen, stellte sich mit in den Kreis der coolen Jungs und lauschte den Gesprächen. Er lauschte einfach den Gesprächen und versuchte, an den richtigen Stellen zu lachen, obwohl er genau wusste, wie sehr er sich damit selbst zum Idioten abstempelte. Besonders schlimm war es, wenn Mädchen mit in der Gruppe standen. Durch intelligentes Schweigen hatte noch niemand eine Freundin bekommen. Durch dümmliches Grinsen oder dämliche Bemerkungen jedoch auch nicht. Peter verstand es nicht, wie die Jungs seiner Klasse mit ihren arroganten und nichtsnutzigen Kommentaren bei den Mädchen so beliebt sein konnten. Manchmal dachte er, er wäre nicht von dieser Welt und würde sich am liebsten vor allen Menschen verstecken.
Nach der fünften Stunde war Schulschluss. Gleich als die Glocke ertönte, machte er sich auf den Heimweg. Heute wartete er nicht einmal auf Hannes, seinen besten Freund. Na ja, eigentlich war Hannes nicht wirklich sein Freund. Hannes war – ebenso wie er selber – ein Außenseiter. Viel zu dünn, fettige Haare … Hannes sah irgendwie komisch aus. Dazu lispelte er und hatte auch eine ganz seltsame Art von Humor. Im Prinzip war Peter aus Mitleid mit Hannes befreundet, obwohl Peter selbst noch mehr als Hannes geärgert wurde. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass sich Hannes seiner Außenseiterrolle durchaus bewusst war und er diese sogar zu genießen schien. Hannes mied die anderen Klassenkameraden, wohingegen Peter immer wieder die Nähe der Gemeinschaft suchte.
Er ging direkt durch den Wald nach Hause. Normalerweise gab es auch eine Strecke durch die Ortschaft, doch dort liefen auch alle anderen entlang und er wollte heute niemanden mehr sehen. Daher nahm er den etwas längeren Weg durch das kleine Wäldchen, auch wenn er sich vor diesem Weg ein wenig gruselte. Manchmal fand man hier alte Kleidungsstücke in den Bäumen hängen und hin und wieder hörte er gruselige Geschichten dazu. Er selber malte sich viele grausame Verbrechen aus, die in diesem Wäldchen verübt wurden. Wenn er diesen Weg ging, verspürte er dieselbe Angst, die ihn auch regelmäßig in dem dunklen Keller ihres neuen Hauses ergriff. Es kam nicht selten vor, dass er diesen Weg nach Hause rannte.
Als Peter die Weggabelung erblickte, spürte er, wie sich sein Brustkorb zusammenzog und sein Herz für einen kurzen Moment verkrampfte. Das Atmen fiel ihm plötzlich um ein Vielfaches schwerer. Direkt am Wegesrand saßen auf einer morschen Bank zwei Gestalten und stocherten mit langen dünnen Stöcken gelangweilt in der Erde herum. Es waren Alexander und Lars aus der Parallelklasse, die schlimmsten Großmäuler der Schule. Scheinbar hatten sie heute mal wieder die letzte Stunde geschwänzt und sich lieber im Wald versteckt, um heimlich zu rauchen oder sonstigen Unfug anzustellen. Für solche Aktionen hatten sie schon zahlreiche Einträge kassiert.
Peter versuchte, sich zu beruhigen und möglichst gelassen zu wirken. Er setzte ein teilnahmsloses Gesicht auf, schlenderte mit den Armen und hoffte, dass ihn die beiden ignorieren würden. Trotz aller Bemühungen, cool zu wirken, blieb jeder seiner Muskeln angespannt. Selbst seine Mundwinkel zuckten nervös.
Er war schon fast an der Parkbank vorbei, als Alexander plötzlich aufsprang und sich vor Peter aufbaute. Dabei stützte er sich auf seinen dünnen Stock, welcher sich unter seinem Gewicht gefährlich bog, und blickte ihm arrogant ins Gesicht. Alexander hatte auf einem Grashalm gekaut, welcher ihm aus dem Mundwinkel ragte. Mit einem Grinsen spuckte er ihn aus. Der Grashalm blieb an Peters Jacke kleben, direkt auf seinem Brustkorb. »Verdammt«, murmelte Alexander. »Zu tief getroffen.«
»Haha, wie witzig, Alex. Was geht bei euch so?« Peter versuchte, eine coole Masche aufzusetzen, und wischte sich lässig den Grashalm von der Jacke. Mittlerweile war auch Lars von der Bank aufgestanden und stellte sich hinter Peter. »Schau mal, der Kleine möchte cool sein.« Die beiden Jungen lachten. »Hast du uns was Schönes mitgebracht?«
»Tut mir leid, ich hab es heute wirklich eilig. Lass uns doch morgen weiterquatschen.« Peters Stimme wurde zittrig und er versuchte, sich an Alexander vorbeizuschieben. Doch Lars packte ihn von hinten am Ranzen und zog ihn zurück.
»Weißt du, das hier ist unser Weg. Meinen Eltern gehört nämlich der Wald. Und dieser Weg ist nicht gratis. Zeig doch mal, was du so dabeihast.«
Lars riss den Reißverschluss des Rucksacks auf, griff hinein und zog einen ganzen Satz Hefter und Bücher heraus. »Langweilig«, meinte er und warf den Stapel hinter sich. »Lass das, du Penner!« Peter drehte sich ruckartig und riss sich los. Er schubste Lars zur Seite. Seine Sachen waren über den Waldboden verteilt. Zum Glück gab es keinerlei Pfützen, doch das Gras war noch immer feucht. Die Bäume des Waldweges spendeten genug Schatten, um die Frühlingssonne vom Trocknen des Grases abzuhalten. Hastig begann er, seine Sachen wieder in den Rucksack zu stopfen. Auf ein paar Eselsohren kam es jetzt auch nicht mehr an. Er wollte nur schnell weg von diesen Idioten.
»Schau mal, das Mädchen zickt rum.« Alexander umklammerte Peter von hinten und zog ihn wieder auf die Beine. »Komm her, du Zicke. Kleine Mädchen haben auf große Jungs zu hören.« In Peter verdrängte die Wut allmählich seine Unsicherheit. Er dachte an die Judobücher seines Vaters, die er allabendlich las, und die Bewegungen und Würfe mit seinen großen Plüschtieren übte. Die Bücher waren eines der wenigen Dinge, die er noch von seinem Vater hatte. Er verließ sie, als Peter gerade fünf war. Er griff den Arm von Alexander, beugte sich nach vorne und zog. Mit Schwung wurde Alexander über seine Hüfte geschleudert und landete vor ihm auf dem Rücken. Im ersten Moment schaute Peter genauso überrascht wie Alexander. Er hätte nie gedacht, dass das wirklich funktionieren würde. Doch plötzlich fing Alexander schallend an zu lachen. »Huch, ich bin wohl ausgerutscht.« Er kugelte sich regelrecht vor Lachen. Nun kochte Peters Wut erst richtig. Was hatte er erwartet? Ein wenig Respekt vielleicht? Ehrfurcht? Oder wenigstens ein »Aua, das Mädchen ist ja doch ein Kerl!«. Dieses Gelächter war jedoch zu viel. Von seiner Unsicherheit war nun nichts mehr zu spüren. Adrenalin brachte sein Herz zum Rasen. Mit einem Knurren ging er auf Alexander zu. Viel mehr als einen halben Schritt konnte er jedoch nicht machen. Lars packte ihn von hinten an den Schultern und zog ihm die Beine weg. Nun lag Peter neben Alexander auf dem Boden.
»Hey!« Ein Junge kam die Wegbiegung herum und lief mit stechendem Blick auf die Gruppe zu. Er war etwas kleiner als Peter. Eine zu kleine Nase und ein kugeliges Gesicht verliehen ihm etwas Kindisches. Es war Smarden, der neue Schüler aus seiner Klasse. Das selbstbewusste Grinsen, welches seine Mundwinkel umspielte, hatte ihn bisher von allem Ärger ferngehalten. Das, und sein stechender Blick. Die roten Haare reichten ihm bis auf die Schultern und rahmten das puppenhafte Gesicht ein. Stolz wie immer kam er der Gruppe näher.
»Kann ich mitspielen?«
Alexander sprang auf und stellte sich neben Lars, um den neuen Gast zu begrüßen. »Verzieh dich, Frischobst! Oder brauchste einen vor die Latte?«
Smarden kicherte leise. »Schade.«
Irgendetwas geschah. Peter konnte nicht genau erkennen, was es war. Alles wirkte normal und doch spürte er etwas Ungewöhnliches. Er sah es in Smardens Augen. Genau genommen sah er nichts in seinen Augen, sondern durch sie hindurch. Sie wirkten tief und endlos, wie ein reißender Strudel in eine andere Welt. Dann blitzte er auf – so, als ob man eine Glühbirne einschaltete. Trotzdem sah Smarden völlig unverändert aus. Er leuchtete nicht wirklich, nicht sichtbar. Peter zweifelte an seinem Verstand. Er konnte das Leuchten zwar wahrnehmen, aber es nicht wirklich sehen. Wahrscheinlich spielte ihm seine Fantasie wieder einmal einen Streich, doch es fühlte sich so real und übermächtig an, dass er nach Atem rang.
Etwas ließ die Luft erzittern. Für seine Ohren war nichts zu hören, doch Peter spürte ein dumpfes Dröhnen tief in seinen Knochen. Alexander und Lars stolperten fast gleichzeitig und fielen vor Smarden auf den Boden. Dann wurde die Welt wieder klar. Das Dröhnen verstummte, das Leuchten verschwand. Smarden kicherte noch immer. »Ich würde jetzt lieber nach Hause gehen, es beginnt bestimmt gleich zu regnen«, sagte er amüsiert. Alexander und Lars blickten in den Himmel.
»So ein Blödsinn. Keine Wolke zu sehen.«
»Der hat sie doch nicht mehr alle! Komm, lass uns abhaun, die Looser langweilen mich.«
Sie nahmen ihre Stöcke und schlenderten den Weg hinunter, als wäre nichts geschehen. Kurze Zeit später waren sie nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten die beiden gar nichts von dem ganzen Spuk mitbekommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Peter sich in Tagträumen verlor. Manchmal sah er kleine grüne Trolle auf Blättern sitzen oder geisterhafte Schemen um Ecken schweben, aber noch nie waren die Bilder so mächtig – und noch nie in einer solchen Situation.
Er bemerkte, dass er noch immer auf dem Boden saß. Ein wenig verwirrt kam er wieder auf die Beine und begann, seine Sachen zusammenzusammeln. Smarden hatte bereits ein paar Hefte aufgehoben und reichte sie ihm.
Musste ihm ausgerechnet der Neue helfen? Es war äußerst unangenehm, dass ihn jemand so gesehen hatte – und erst recht, dass es der Neue war.
Na toll. Einer mehr, der mich für einen Volldeppen hält. »Danke, aber ich wär schon zurechtgekommen.« Er schwang sich den Rucksack über die Schulter und machte sich auf den Weg nach Hause. Von hier aus war es nichtmehr weit.
»Warte!« Smarden holte auf und ging neben ihm den Weg hinunter. Kann er nicht einfach verschwinden? Peter hasste es, sich mit anderen zu unterhalten. Erst recht, wenn er sie nicht kannte. Und noch viel mehr, wenn sie ihn in einer peinlichen Situation gesehen hatten – obwohl – wer hatte das noch nicht? Gleich würde er wieder etwas Unpassendes sagen und blöd wirken. Am besten, einfach stumm weiterlaufen.
»Ich hab nach dir gesucht. Du hast ihn vorhin auch gesehen, stimmts?«
Was meint der Spinner?
Alex und Lars waren ja nicht zu übersehen. Sein kindischer Ausraster auch nicht.
»Den Elftroll meine ich. Vor dem Klassenraum auf dem Blatt. Er hat dort gespielt.«
Peter zuckte zusammen und blieb vor Schreck kurz stehen.
»Elf was? Du spinnst doch. Keine Ahnung, was du da gesehen hast, ich hab geschlafen«, entgegnete er trotzig und ging weiter.
»Ich bin Smarden.« Smarden reichte ihm die Hand herüber. »Und du Peter, richtig?«
»Ich kenne dich!« Peter erwiderte den Handschlag nicht. »Ich bin jetzt daheim, hier wohne ich.«
Sie hielten vor einem schwarzen Hoftor, welches die Einfahrt einer schmalen Doppelhaushälfte verschloss.
»O.k., dann sehen wir uns morgen?«
»Klar, bis morgen«, stöhnte Peter genervt und hoffte, Smarden würde seinen Widerwillen bemerken. Er öffnete eine quietschende Tür neben dem Tor und ging die Einfahrt bis zur Haustür herunter. Hinter sich spürte er noch Smardens Blick in seinen Rücken stechen. Erst als er die Haustür hinter sich schloss, lehnte er sich erschöpft an eine Wand und seufzte.
Definition des Selbst
Wäre ich mein Körper, könnte man dann Teile von
mir entfernen?
Wäre ich mein Gehirn, könnte ich dann nicht jeden
Vorgang des Körpers steuern?
Wäre ich meine Sinne, könnte ich dann ohne sie
leben?
Wie ein Computer ohne Bediener, so wäre auch der Mensch ohne das Selbst nur ein lebloses Werkzeug. Ich bin mehr als die Summe aus Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe.
Ich bin ein Splitter des Übernatürlichen!
Geist und Seele
eine wissenschaftliche Betrachtung
{X}
Die nachfolgende Woche verlief ohne weitere Vorkommnisse. Peter wurde von Alexander und Lars weitestgehend in Ruhe gelassen. Bis auf ein paar beleidigende Bemerkungen, hatte er nichts mit ihnen zu tun. Das lag wohl auch daran, dass Peter normalerweise den Kontakt zu seinen Mitschülern mied. Er war äußerst geschickt darin, ihnen aus dem Weg zu gehen und für sich zu bleiben. Somit war eigentlich alles so wie immer – zumindest in dieser Hinsicht.
Doch etwas machte Peter zu schaffen und wollte ihm nicht aus dem Kopf: Immer wieder drehten sich seine Gedanken um diese eine Frage von Smarden. Konnte es wirklich sein, dass dieser seltsame Junge den Grünling ebenso gesehen hatte wie er? Das konnte nicht sein. Immerhin waren diese Hirngespinste nicht real. Smarden schien sich über ihn lustig zu machen. Es war ja nicht zu übersehen gewesen, dass Peter im Unterricht einen Baum vor dem Fenster anstarrte und vor sich hin träumte. Vielleicht hat Peter auch unbewusst gelächelt, als er sich den Grünling beim Spielen vorgestellt hatte. Es musste Smarden also leicht gefallen sein zu raten, dass er in seiner Fantasie etwas Witziges in den Bäumen gesehen hatte. Aber wie konnte Smarden dann erraten, dass er ein kleines grünes Männchen auf einem Blatt herumhopsen gesehen hatte? Wie hatte er es genannt? Einen Elftroll? Im Prinzip hatte er nicht einmal von einem grünen Männchen gesprochen. Wahrscheinlich war das nur eine ganz fiese Verhörmethode, um sich später über ihn lustig zu machen. Ja, so musste es sein. Smarden wollte ihn verhöhnen, um schnell Freunde in der neuen Klasse zu finden. Immerhin war es cool, den Außenseiter zu verarschen. Damit konnte man sich Anerkennung verschaffen; ins Klassengefüge integrieren. Dieser Blödmann scheint clever zu sein. Fies und clever, eine böse Kombination.
Peter blinzelte, um aus seinen Gedanken zurückzukehren. Er machte es schon wieder. Er träumte im Unterricht während er abwesend auf seinen Zeichenblock starrte. Verdammt.
Der Kunstunterricht bei Frau Dornenkleid war wie immer eine Herausforderung. Die quirlige Frau wirbelte durch das Klassenzimmer und beschallte die Schüler mit ausgelassener Heiterkeit. An der Tafel prangte das Motto der heutigen Stunde: »freies Zeichnen zum Thema Natur«. Über seine Fähigkeit, bei dieser aufgedrehten Person träumen zu können, war Peter selbst erstaunt.
Er nahm sich vor ein Schaf zu zeichnen. Das dürfte nicht allzu schwer werden. Ein Batzen Wolle mit Augen. Das entsprach zwar nicht dem Niveau einer achten Klasse, aber immerhin versuchte er es.
»Was ist das denn?« Hannes schielte auf sein Blatt. »Sieht aus wie ne Hummel mit Beinen.«
Peter hatte sich echt Mühe gegeben. Auf dem Blatt entstand gerade das beste Schaf seines Lebens. Frustriert versteckte er das Bild unter seiner Hand vor Hannes‘ Blick.
»Mann, das is nen Schaf. Sieht man doch. Ne Hummel wäre gelb.«
Hannes schüttelte den Kopf und malte weiter an seinem Gemälde. Das Schlimme war, dass Hannes keinen Sinn für Humor hatte. Er meinte die Kritik durchaus ernst.
»Und was machst du?« Peter schielte zu ihm herüber und sah, dass Hannes gerade mit einem Lineal hantierte.
»Ich mach die Mathehausaufgaben. Malen ist was für Idioten.«
»O.k., klar.« Irgendwie passten die beiden doch ganz gut zusammen.
Nachdem Frau Dornenkleid Peters Bild im Vorbeigehen mit den Worten »Das ist aber ein lustiges Tier. Fein, fein.« bedacht hatte, faltete Peter einen Flieger aus seinem Gemälde und versenkte es nach dem Unterricht im Papierkorb. Sie hatte ja gesehen, dass er etwas gemalt hatte. Ein Versuch war immerhin die Note 5 statt 6. Das musste reichen.
Die Schule war vorbei und Peter eilte aus dem Schulhaus. Smarden stand in der Tür und rief ihm zu.
»Hey, Peter. Sehen wir uns am Wochenende?« Peter drückte sich ohne eine Antwort an ihm vorbei. Der Typ sollte ihn in Ruhe lassen.
Peter schwebte durch das Nichts. Dunkle Nebelschwaden umspielten seine Füße, krochen durch jede noch so kleine Öffnung seiner Kleidung und ließen ihn erschaudern. Seine Haut prickelte beim Versuch, sich gegen die feuchte Kälte zu wehren, welche der Nebel mit sich brachte. Dieser Nebel war überall, war unendlich – ohne Anfang oder Ende, ohne oben oder unten. Eine matt leuchtende, wabernde Leere, welche unermüdlich auf ihn eindrang und drohte, ihm die Sinne zu nehmen. Hin und wieder zuckten Lichtblitze durch den Nebel. Als würde er aus purer Energie bestehen. Peter wollte schreien, doch nicht der leiseste Ton drang aus seinem Mund. Nur mühsam unterdrückte er die Panik, welche langsam in ihm aufstieg.
Plötzlich veränderte sich etwas. Eine Säule aus purem Licht wurde sichtbar und raste auf Peter zu. Vielleicht bewegte sich auch Peter, das konnte er nicht genau sagen. Ohne Orientierung hatte er kein Gefühl für Bewegung. Erst jetzt bemerkte er, dass das eisige Gefühl auf seiner Haut und das Brennen in seinem Gesicht gar kein Wind sein konnte. Es schien Energie zu sein. Energie, welche mit einem elektrisches Knistern seine Haut reizte. Es schwoll an, als er sich der Lichtsäule näherte.
Er bewegte sich immer schneller. Ihm wurde schwindelig und sein Magen rebellierte. Sein Körper fühlte sich mittlerweile an, als würde er von tausend kleinen Nadeln durchbohrt. Die Panik konnte er nun nicht mehr unterdrücken. Wie eine Welle übermannte ihn die Angst, sein Körper verkrampfte sich und er schrie nach Leibeskräften. Nicht der leiseste Ton drang aus seiner Kehle.
Unvermittelt wurde er langsamer. Genau vor sich sah er die Lichtsäule. Sie pulsierte leicht. Er steuerte genau auf diese Säule zu, was das Prickeln seiner Haut weiter anschwellen ließ, bis es sich anfühlte, als ob kleine Blitze durch seinen Körper jagen. Jeglicher Widerstand half nichts. Er war auf Kollisionskurs und die Energie wurde zunehmend unerträglich.
Je näher er kam, desto mehr Details konnte er erkennen. Was er zuerst als Säule wahrgenommen hatte, sah nun eher wie eine Art Riss aus. Ein Riss im Raum. Dieser Riss zog viele bunte Kugeln und wellenförmige Blitze an und verschluckte sie.
Als Peter in den Riss fiel, veränderte sich die Welt.
Plötzlich fiel er aus dem Himmel und jagte auf die Wüste zu. Einen Moment später befand er sich vor einer kleinen Hütte mitten in der Wüste. Die Luft war heiß und flimmerte über dem sandigen Boden. Vor der Hütte saß ein dunkelhäutiger Mann. Sein Gesicht war mit eigenartigen weißen Zeichen bemalt. Diese schlängelten sich um die Gesichtszüge des Mannes und leuchteten in einem matten, pulsierenden Licht. Unzählige eiserne Dornen durchdrangen seine Ohren, Lippen und seine Nase. Scheinbar eine Art Schmuck. In seiner Hand hielt er den blutenden Leichnam eines Tieres. Peter konnte nicht genau erkennen, um was für ein Tier es sich dabei handelte.
War das eine Katze?
Der Mann blickte auf und schien Peter mit seinen Augen zu durchdringen. Ein Lächeln umspielte sein Gesicht. Dann bewegte er die Lippen. Das Flüstern, welches Peter hörte, kam nicht von diesen Lippen. Es durchdrang vielmehr seinen Kopf und erklang direkt in seinen Gedanken.
»Gefunden«
Mit einem Schrei erwachte Peter. Er saß schweißgebadet im Bett und hatte seine Hände in der Bettdecke verkrampft. Er glaubte, noch die Funken auf seiner Haut spüren zu können. Die Uhr, welche mit rot leuchtenden Zahlen seinen Nachttisch erhellte, zeigte ihm, dass sie noch lange nicht klingeln würde.
»Heilige Scheiße«, brachte er japsend hervor.
Kurz nach Mitternacht. Zu früh zum Aufstehen. Peter wankte die Treppe hinunter in die Küche. Der Weg kam ihm endlos vor. Die Wände waberten, kamen auf ihn zu und entfernten sich wieder, schienen zu schwanken. Es war, als würde er von diesem Albtraum verfolgt. Er steckte darin fest, obwohl er schon längst wach war. War er wach?
In der Küche traf er auf seine Mutter. Ihr Kuss auf seiner Stirn vertrieb die Angst und den Traum. Seine Welt kam wieder zu ihm zurück. Nach einem Glas Wasser brachte seine Mutter ihn mit einer neuen Bettdecke zurück nach oben.
Als Peter das nächste Mal die Augen öffnete, spürte er bereits Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Der Albtraum war vergessen, lag wie ein unbedeutender Schatten in seiner Vergangenheit. Fröhlicher Gesang von Vögeln begrüßte den Tag.
Er schaute durch das Dachfenster über dem Bett und genoss den schwachen Luftzug, welcher einen herrlichen Duft von Frühling hinterließ. Sonnenlicht ließ die Bettdecke in einem hellen Weiß erstrahlen und hob mit leichtem Schattenwurf ihre Wellen und Falten hervor. Es sah aus wie eine flauschige Landschaft aus Hügeln und Schluchten. Er liebte es, sich in diesem Labyrinth der unzähligen Schatten zu verlieren und darin versteckte Muster und Regelmäßigkeiten zu finden. Dieses Spiel befreite seinen Geist.
Verschlafen streckte er sich und betrachtete fasziniert die vereinzelt herumfliegenden Staubkörnchen, deren lustiges Treiben erst durch den hellen Sonnenschein sichtbar wurde. Sie schienen nur in dem schmalen Lichtstrahl zu existieren, welcher durch die kräftige Morgensonne in Richtung seines Bettes geworfen wurde. Außerhalb dieses Strahls waren sie unsichtbar. Als würde das Licht sie magisch anziehen.
Heute war ein herrlicher Tag.
Er wusste genau, dass er auf dem Küchentisch einen liebevoll geschriebenen Zettel seiner Mutter finden würde, gleich neben einer gefüllten Schüssel Müsli und einem geschmierten Schokoladenbrot. Es war einer der Samstage, an welchen er allein sein würde. Seine Mutter musste oft über das Wochenende arbeiten und Peter hatte schon früh gelernt, sich selbst um den Haushalt zu kümmern. Auch wenn er es liebte, in dem großen Haus mit den verwinkelten Räumen, den kleinen Dachbodenkammern und dem zweistöckigem Keller, herumzustromern, so fühlte er sich doch oft recht einsam und suchte, um sich die Zeit zu vertreiben, nach allerlei Arbeiten im Haushalt. Seine Mutter hatte ihm vor einem Jahr, als sie die neue Stelle in der Klinik angenommen hatte, einen Hund geschenkt. Aras war ein großer schwarzer altdeutscher Schäferhund und sein liebster Spielkamerad geworden. Mit ihm tobte er durch den Garten, machte ausgedehnte Spaziergänge in dem angrenzenden Wald und hin und wieder ließ er den großen Hund auch in seinem Bett schlafen, wenn seine Mutter einmal wieder erst tief in der Nacht nach Hause kam. So wusste Peter auch, dass Aras genauso laut schnarchte wie sein Großvater, welchen er meist in den langen Sommerferien besuchte und der von seiner Großmutter wegen seines Schnarchens zur Nachtruhe in das Gästezimmer ausquartiert wurde. Aras machte sich in dem Bett immer so breit, dass Peter sogar einmal vor dem Bett schlief, als ihn der Hund mit seinen Pfoten herausgeschoben hatte. Zugegeben, Aras war ein recht verwöhnter Hund.
Peter war gerade dabei, Schüssel und Teller seines Frühstücks abzuwaschen, da klingelte es. Sofort hörte er seinen Hund mit lautem Bellen durch Keller, Garten und Hof bis hin zum Eingangstor jagen. Peter konnte noch immer nicht unterscheiden, ob dieses Bellen eher als freudige Begrüßung oder als warnender Alarm gedacht war – auf jeden Fall war es ohrenbetäubend.
Als Peter aus der Eingangstür trat, war ihm seine Überraschung wahrscheinlich anzusehen. Oben am Tor stand Smarden und winkte zu ihm herunter. Vor ihm sprang Aras am Tor auf und nieder und machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Sein Schwanz schwang dabei wie ein Propeller von einer Seite zur anderen – scheinbar begrüßte er den Gast – bedrohlich sah das nun wirklich nicht aus. Peter winkte kurz zurück und ging die Einfahrt hoch. Gegen das Gebell von Aras würde er auf diese Entfernung eh nicht ankommen können.
»Hey Peter, hast du Zeit? Ich muss dir unbedingt etwas zeigen! Im Wald.«
Mist. Peter hatte ganz vergessen, dass Smarden wusste, wo er wohnte. Nun war er total überrumpelt. Na ja, andererseits. Vielleicht konnte Smarden ja wirklich ein neuer Freund werden?
»Ähm, ja klar, warte kurz. Ich nehme Aras mit!«
Er kraulte seinen Freund am Hals, wodurch dieser sich mit einem quietschenden Winseln und einem nassen Handkuss bedankte.
»Der ist ja niedlich. Klar kommt der mit!«
Peter holte noch schnell seine Jacke und schloss das Haus ab. Obwohl die Frühlingssonne kräftig strahlte, war sie noch schwach und es wehte ein recht frischer Wind. Als Peter die Leine vom Haken neben dem Garagentor nahm, preschte Aras in einem Freudengebell los. Er rannte um Peter herum, nahm Anlauf und versuchte in das Halsband zu springen. Der erste Versuch ging am Halsband vorbei und Aras donnerte mit Kopf und Pfoten gegen Peters Bauch. Auch der zweite Versuch schlug fehl.
»Ist ja gut, mein Großer. Ich freu mich ja auch!«, lachte Peter. Beim dritten Anlauf schaffte er es, Aras im Sprung das Halsband über den Kopf zu ziehen, und stolperte fast, als Aras einen Haken schlug, zum Hoftor rannte und ihn dabei an der Leine hinter sich herzog.
Sie nahmen den schmalen Waldweg, welcher zwischen den wuchernden Hecken des Waldrandes kaum zu erkennen war. Er schlängelte sich einen steilen Hang hinauf, streifte eine kleine Plantage mit Pflaumenbäumen und führte letztendlich zu einer sonnigen Lichtung. Peter kannte den Weg gut, schließlich war er am Fuße dieses Berges aufgewachsen. Gemeinsam mit Aras durchkämmte er diesen Wald fast täglich.
Es dauerte nicht lange, bis er sich von Smardens beschwingter Fröhlichkeit ansteckten ließ. Abwechselnd warfen sie Stöcke den Weg entlang, worüber sich der Hund sichtbar – und vor allem hörbar - freute. Gelegentlich schleppte er so lange Stöcke, dass er nur schräg über den schmalen Pfad laufen konnte, um nicht zwischen den Bäumen stecken zu bleiben.
»Letzte Woche ist er mir mit so einem Stock durch die Beine gerannt. Hat ganz schön weh getan«, erzählte Peter lachend.
» Wo kommst du eigentlich her? Smarden ist ein eigenartiger Name, den habe ich vorher noch nie gehört.«
»Ich hab schon überall gewohnt«, sagte Smarden, während er einen neuen Stock zwischen zwei Büschen hindurchwarf. »Manchmal denke ich, meine Eltern sind auf der Flucht. Wir ziehen ständig um. Meine Mutter arbeitet bei so einem Coaching-Unternehmen und betreut jedes Jahr eine andere Firma. Und wir ziehen eben mit.«
»Krass.«
»Na ja, find ich nich so.«
»Und dein Name? Woher kommt der?«