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Er heißt Monarch, Robin Monarch, und ist ein Agent der amerikanischen Regierung. Er ist der Mann, dem man nur die brandgefährlichen Aufgaben anvertraut. Sein Auftrag: Die Pläne einer Terrorgruppe in der Türkei auszuspionieren. Sein Ziel: Das Material unschädlich zu machen. Sein Plan: Die Regel # 1 seiner alten Bruderschaft zu befolgen, die da lautet: Du hast das Recht zu überleben. Doch überleben kann er nur, wenn er den richtigen Leuten vertraut. Der neue spannende Thriller von Millionen-Bestseller-Autor Mark T. Sullivan.
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Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2012
Mark Sullivan
18 - Das tödliche Gebot
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Irmengard Gabler
Fischer e-books
Für Victor D., der mir als Erster etwas über Diebe beibrachte.
Wie facettenreich ist doch der Schurke: Ist Schuster, Bogenschütze, Vogelscheuche – dies alles und ein Lügner obendrein!
Scott Lynch-Giddings
Zwei Uhr früh,Istanbul
Robin Monarch beugte sich über das Balkongeländer und starrte in die Dunkelheit, auf den Bosporus, der das Schwarze Meer vom Marmarameer trennt. Der Geruch der Meerenge wehte ihm mit dem Ostwind entgegen, salzig und brackig in der Hitze, die die Stadt gefangen hielt.
Monarch wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, schloss die Augen und atmete tief und langsam ein und aus, um seine Gedanken zu klären. Er holte noch einmal intensiv Luft und träumte sich an einen ruhigen Ort. Mit seinem Dreitagebart, dem kurz geschnittenen dunklen Haar und dem dunklen Teint sah Monarch auf lässige Weise gut aus. Er war eins achtundachtzig groß, muskulös gebaut und wog knapp über neunzig Kilo. Wie er so über das Geländer gebeugt stand und bedächtig ein- und ausatmete – mit geschlossenen Augen und in tiefer Meditation –, erinnerte Monarch an einen dösenden Panther. Gloria Barnett trat in die Balkontür hinter ihm. »Robin«, sagte sie leise. »Slattery meint, es sei Zeit.«
Monarch fuhr auf und wandte sich Barnett zu, einer hochgewachsenen Rothaarigen Mitte dreißig. Sie trug ein weißes Hemd, Jeans und war barfuß. Eine Lesebrille hing ihr an einer Kette um den Hals.
»Warum ist er hier, Gloria?«, fragte Monarch. »Und warum die Geheimnistuerei?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Slattery ist ein hohes Tier – der pisst nur gegen die dicksten Hydranten.«
»Hat dir schon einer gesagt, dass du die Beste bist?«
Barnett lächelte. »Nur du, Robin.«
Er küsste sie auf die Stirn. »Gib uns Rückendeckung«, sagte er.
»Immer doch«, sagte Barnett.
Monarch ging an ihr vorbei ins Schlafzimmer und von dort aus in den Salon der Luxussuite. Er ließ den Blick kurz über seine Teammitglieder schweifen. Auf dem Kaffeetisch verstreut lagen die Reste einer Mahlzeit. John Tatupu, aus Amerikanisch-Samoa, zwängte seine mächtigen Arme in die Ärmel eines Blaumanns. Der frühere Linebacker an der Ohio State University hatte sich das wellige, mahagonifarbene Haar zum Pferdeschwanz gebunden, war praktisch halslos und hatte einen kurz getrimmten Pharaonenbart.
Chanel Chávez saß auf dem Sofa, dem Samoaner gegenüber. Sie trug einen dunklen Rock, eine dunkle Bluse und ein schwarzes Tuch über dem kurzen dunklen Haar. Sie zerlegte gerade ein Gewehr und fügte die Teile in die Schaumstofffächer eines Koffers.
Abbott Fowler, am einzigen Tisch im Raum, schob sich den letzten Bissen von seinem Sandwich in den Mund und inspizierte dabei eine Luftaufnahme. Wie Tatupu trug auch Fowler einen Blaumann. Er war Anfang zwanzig, kleiner als der Samoaner, hatte eher hängende Schultern und Gesichtszüge, die wie bei Monarch auf eine Verschmelzung diverser Ethnien verwiesen.
»Ist das auch bestimmt die aktuellste Aufnahme, Yin?«, fragte Fowler.
»Ganz sicher«, bestätigte Ellen Yin, eine zierliche Asia-Amerikanerin, die beständig unter Strom zu stehen schien. »Kurz vor Sonnenuntergang.«
»An die Wand damit.«
Die Stimme kam aus dem Flur, vom anderen Ende der Suite. Jack Slattery bog um die Ecke. Seine Augen sondierten den Raum, ehe sie sich auf Monarch konzentrierten, der ihn ansah, gelassen, aber wachsam. Monarch mochte Slattery nicht sonderlich. Der Mann hatte gern die Fäden in der Hand und war ein Opportunist: beides Eigenschaften, die ihm zu seiner gegenwärtigen Machtposition verholfen hatten. Gerüchten zufolge war außerdem eine gehörige Portion Vitamin B im Spiel gewesen: Schließlich hatte er gemeinsam mit dem Kongressabgeordneten Frank Baron, einem Mitglied des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten, das College besucht. Doch gemäß den Lebensregeln, die Monarch für sich aufgestellt hatte, brauchte man einen Mitarbeiter nicht unbedingt zu mögen oder zu beneiden, schon gar nicht, wenn dieser Mitarbeiter das Sagen hatte und zudem Chef der Abteilung für Verdeckte Operationen bei der CIA war, dem amerikanischen Geheimdienst.
Ein Beamer, mit einem von Yins Computern verbunden, warf die Satellitenaufnahme dreier großer Gebäude an die Wand. Monarch betrachtete sie und sagte: »Dürfen wir erfahren, was sich darin befindet, Jack? Oder wollen Sie uns blind hineinschicken?«
Slattery war ein magerer Weißer Anfang vierzig mit angegrautem Haar, trüben, zinngrauen Augen und einem pickelnarbigen Gesicht, das keinerlei Gefühlsregung verriet. Schließlich antwortete er: »Ihr seid hinter dem Geheimarchiv von Al-Qaida her. Es enthält die Kopien zu sämtlichen Dokumenten, die das Netzwerk seit seiner Gründung erstellt hat, Abrechnungsnachweise, Personalakten, Geschichten, Pläne, geheime Unterkünfte. Alles.«
Chávez pfiff beifällig.
Eine Goldmine, dachte Monarch. Er begriff allmählich, warum Slattery den Einsatz persönlich überwachen wollte, und fragte: »Woher haben Sie die Information?«
»Grundsolide türkische Polizeiquellen«, erwiderte Slattery kurz angebunden, während er an die Wand trat und auf das mittlere der drei Gebäude tippte. »Unseren Informanten zufolge ist das Archiv in den Computern dieser Ingenieursfirma eines türkischen Staatsbürgers namens Abdullah Nassara als Green Fields gelistet.«
Abdullah Nassara, erklärte Slattery, sei der Präsident der Firma Nassara Engineering Ltd. und als Erfinder im Besitz mehrerer Patente. Er führe zwei Doktortitel, in Elektrotechnik und in Astrophysik, die er am Massachusetts Institute of Technology, der besten technischen Hochschule Amerikas, erworben habe. Bevor er seine eigene Firma gegründet habe, so Slattery weiter, sei er in der Europäischen Organisation für Kernforschung, dem CERN im Kanton Genf, tätig gewesen. Er gelte als gemäßigter Moslem und als verlässlicher Befürworter eines weltlichen Regimes in der Türkei. Doch Slatterys Quellen zufolge hege Nassara seit seiner Zeit in den USA und in der Schweiz insgeheim einen tiefen Groll gegen den Westen. Seine Firma sei inzwischen das Portal zu einem wichtigen Informationsdepot für die internationalen Operationen des Terrornetzwerks Al-Qaida.
»Warum lassen wir Nassara nicht einfach von den Türken verhaften und beschlagnahmen die Akten?«, fragte Monarch.
»Weil Al-Qaida nicht wissen soll, wie viel wir wissen«, sagte Slattery mit mehr als einer Prise Herablassung. »Außerdem sind Sie nicht hier, um strategische Entscheidungen zu treffen, Monarch. Sie sollen gehorchen, das ist alles.«
»Geht klar«, sagte Monarch.
»Dann los«, sagte Slattery und klopfte dabei auf seine Uhr.
Eine Stunde später, in den ausgedörrten Hügeln über dem östlichen Küstenstrich des Bosporus, schwang sich Monarch aus dem Renault, den Abbot Fowler fuhr. John Tatupu folgte Monarch mit einer Umhängetasche. Monarch trug ein schwarzes, weites Hemd über dem Pistolenhalfter und der schwarzen Gürteltasche. Nachdem Fowler weggefahren war, blickten Monarch und Tatupu prüfend über die verlassene Straße und schwangen sich dann über eine Stützmauer aus Backstein, die eine von Ranken und Gestrüpp überwucherte steile Böschung im Zaum hielt.
Monarch verfügte über ein ausgezeichnetes Nachtsehvermögen und führte Tatupu durch das Dickicht hügelaufwärts zu einem Wald aus aromatischen Zedern, die aus einer engen Schlucht dicht gedrängt aufragten. Dieser folgte er in sportlich geduckter Haltung, wobei er die filzbesohlten Schuhe so leise und vorsichtig aufsetzte wie eine jagende Katze ihre Pfoten.
Regel Nummer vier, dachte Monarch. Keine hastigen Bewegungen. Sie erregen Aufmerksamkeit. Hastige Bewegungen verraten, dass du ängstlich und unkonzentriert bist, dass du eher auf die Stimme in deinem Kopf achtest als auf deine Umgebung, ein Fehler, Junge, der dich das Leben kosten kann. Also keine hastigen Bewegungen.
Monarch erreichte das Ende der Schlucht und spähte durch einen hohen Maschendrahtzaun über einen kurzen Rasen auf den leeren Parkplatz hinter drei hölzernen Fabrikgebäuden. Tatupu neben ihm atmete auf. Monarch zog sich eine schwarze Sturmmaske über und war augenblicklich überhitzt. Er stand unter Strom, was nicht normal war. Doch er war nicht an der Planung beteiligt worden. Man hatte sein Team hierher geholt, um eine Mission zu erfüllen, die Slattery ausgekundschaftet und entwickelt hatte.
»Sieht unkompliziert aus, leicht verwundbares Ziel«, murmelte Tatupu Monarch zu. »Überwachungskameras, ein Wachmann an der Pforte. Kein Problem.«
»Theoretisch«, flüsterte Monarch zurück. »Doch wenn das wirklich ein Terroristenarchiv ist, wo sind die bewaffneten Sicherheitsleute? Die Hunde? Der Sperrdraht?«
Der Samoaner zuckte die stämmigen Schultern. »Manchmal ist das beste Sicherheitssystem auch das unauffälligste. Dann sieht es nach dem aus, was es sein soll, nämlich eine Konstruktionsfirma.«
Bevor Monarch widersprechen konnte, kam über die Freisprecheinrichtung in seinem Ohr die Stimme von Chanel Chávez: »Bin auf Position. Weitwinkelsicht. Es kann losgehen.«
Monarch hatte ein Mikrophon am Hals. Er schaltete es ein und sagte leise: »Verstanden. Wir sind so weit.«
Wäre Jack Slattery ein Poker-Profi gewesen, dann einer, der die Karten zählt, der unentwegt taktiert und rechnet. Der Leiter der Abteilung für verdeckte Operationen tüftelte Szenarios aus und klassifizierte sie nach ihrer Wahrscheinlichkeit. Das Glücksspiel war Slatterys Begabung und seine Aufgabe, als er hinter Gloria Barnett und Ellen Yin auf und ab ging und per Headset die Aktion mitverfolgte.
Barnett und Yin arbeiteten in der Hotelsuite Seite an Seite, während sie die Computerbildschirme im Blick behielten, auf denen verschiedene Video Feeds zu sehen waren, aufgenommen von den klitzekleinen Glasfaserkameras der Agenten im Einsatz. Monarchs und Tatupus Kameras übermittelten unterschiedliche Ausschnitte der Westfassade von Nassara Engineering. Chanel Chávez’ Kamera hatte das Gebäude aus nordöstlicher Richtung im Visier, von einer Zeder aus, die an den Industriepark grenzte. Die Mündung ihres Gewehrs war am unteren Ende des Bilds zu sehen. Fowlers Kamera zeigte das Fabrikgelände durch die Windschutzscheibe der Limousine, die er vor dem Haupttor langsam zum Halten brachte. In der Ecke der Monitore war eine kleine graphische Darstellung der Anlage zu sehen, mit einem beweglichen roten Punkt, der Monarchs Position angab.
Kein Detail auf den Bildschirmen vermochte Slattery umzustimmen. Die Szenarios, die er durchspielte, entsprangen zwei aufregenden, furchteinflößenden Gedanken, die er innerlich fortwährend wiederholte: Ich gehe hier das größte Risiko meines Lebens ein. Was hier geschieht, besiegelt mein Schicksal.
Slattery atmete tief durch, rief sich noch einmal sämtliche Risiken vor Augen und sagte dann: »Schicken Sie ihn los.«
Barnett nickte und sagte in ihr Mikrophon: »Monarch, auf geht’s.«
Auf Barnetts Monitor beobachtete Slattery, wie der Topagent Monarch und Tatupu ihre Fäuste aneinanderstießen und Monarch dann auf die Umzäunung zutrabte.
Monarch schwang sich hoch in den Zaun und hakte die behandschuhten Hände in die Maschen. Tatupu war ihm gefolgt und in die Knie gegangen, um einen tragbaren Hochenergielaser auf die Kameralinse oberhalb der Türen zu den Ladeflächen jenseits der Absperrung zu richten. Monarch setzte binnen Sekunden über den Zaun, ließ sich fallen und landete weich in einer tiefen Hocke.
Sein Herz fing an heftig zu schlagen. Er erinnerte sich: Regel Nummer drei: Sei auf der Hut. Es gibt nichts anderes in diesem Moment. Du hast keine Vergangenheit. Keine Zukunft. Nur deine Vorsicht. Sie allein hält dich am Leben.
Die Zeit schien sich für Monarch zu verlangsamen. Er überquerte den Parkplatz, wobei er die dunklen Schatten nutzte und alle Sinneseindrücke ringsum registrierte: das Geräusch seiner Schritte, die feuchte Würze in der Luft, das Rascheln von Vögeln in den Bäumen und den grellen Lichtstrahl, den Tatupu auf die Linse der Überwachungskamera richtete. Monarch stieg auf die Laderampe und schlich an den verschlossenen Rolltoren vorbei, bis vor eine Tür aus rostfreiem Stahl. Sie hatte keine Klinke, nur einen Schlitz für den elektronischen Schlüssel. Er zog eine flache Plastikkarte, die mittels Kabel mit seinem iPhone verbunden war, aus der Tasche.
Er steckte sie in den Schlitz und murmelte: »Dosenöffner, Yin?«
»Wir haben eine App für so was«, schnurrte Yin in Monarchs Hörmuschel.
Monarch hörte ein leises Ächzen in der Tür, und der Mechanismus gab nach. Er schob die Tür auf, glitt hinein und zog sie hinter sich zu. Er rührte sich nicht, bis seine Augen sich an das glühend rote Dauerlicht gewöhnt hatten, das sanft das Innere der Laderampe beleuchtete. Dabei bemerkte er einen Gabelstapler und Gasbehälter mit Brennstoff zum Schweißen – Acetylen und saturierten Sauerstoff.
Monarch verfügte über ein fotografisches Gedächtnis. Der Grundriss des Gebäudes stand ihm klar vor Augen. Durch eine zweite Tür gelangte er in einen Flur, der ebenfalls rot erleuchtet war. In der Luft lag der Geruch nach Öl und gelötetem Metall. Er bewegte sich auf die Gerüche zu und erreichte eine geschlossene Flügeltür aus Metall. Monarch fischte ein kleines Etui aus der Tasche, das mehrere schmale Dietriche enthielt, führte zwei in das Schloss ein, spielte damit, erspürte die Stifte und drehte den Zylinder. In weniger als fünfzehn Sekunden war er drin.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute Monarch in ein Labor und eine Werkhalle von der Länge eines Football-Feldes, angefüllt mit industriellen Drehbänken, Schleifsteinen, Schnellhoblern, Biegemaschinen, Schweißbrennern, Acetylen-Tanks und etwas, das am vorderen Ende aussah wie ein kleiner, kalter Hochofen und am hinteren Ende wie ein einfacher Würfel aus Glas, das Büro. Monarch schob sich am Abstichloch des Hochofens vorbei. Dabei bemerkte er auf Bänken in der Nähe Säcke mit diversen Erzen, woraus er schloss, dass Nassara Engineering unter anderem mit Metalllegierungen experimentierte.
Er warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr – 3:15 Uhr. Slatterys Informationen zufolge würde der Sicherheitsmann nicht vor vier Uhr dreißig seine Runden drehen.
»Umgebung?«, fragte Slattery in seinen Kopfhörer.
Während Monarch sich durch den Maschinenpark schlängelte, hörte er Tatupu, Fowler und Chávez ausrufen: »Alles ruhig.«
Kurz vor der Mitte der Halle stieß Monarch auf etwas Merkwürdiges: ein schweres Metallrohr, etwa zwanzig Zentimeter im Durchmesser und drei Meter lang, das gebogen, zurechtgeklopft und in eine Form wie ein Q gebracht worden war, dessen Strich direkt aus der Mitte ragte. Das Rohr war mit Bolzen in den Betonboden verschraubt. Dahinter befand sich ein zweites Q, nur kleiner, etwa fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und halb so lang wie das erste. Ein drittes, noch kleineres Q war unweit der Tür zum Büro hinter dem zweiten am Boden befestigt.
Monarch fand die Bürotür verriegelt und knackte das Schloss. Er knipste eine LED-Stirnlampe an und betätigte den Schalter. Es gab zwei Schreibtische im Büro, einen, an dem Abdullah Nassara offenbar seine Firmengeschäfte regelte, und einen zweiten – eigentlich eher ein Tisch –, auf dem vier große Computerbildschirme standen, allesamt mit einem Server verbunden, neben einem Panzerschrank. Nachdem Monarch ein kleines Übertragungsmodem aus seiner Gürteltasche hervorgeholt hatte, steckte er es in einen der USB-Anschlüsse des Servers. Er schaltete die Stromversorgung des Geräts ein und bemerkte ein grünes Licht.
»Yin, wirf den Chomper an«, murmelte Monarch.
»Eine Sekunde«, sagte Yin.
Der Chomper, wie Ellen Yin ihn gern nannte, war ein Großrechner der National Security Agency, der Nationalen Sicherheitsbehörde, und verfügte weltweit über die fortschrittlichste Software zur algorithmischen Kryptographie. Sobald der Chomper an einen Computer angeschlossen war, vermochte er in dessen Festplatte einzudringen und digitale Geister aufzustöbern, die zu einem Passwort führten.
Während der Chomper am Sicherheitssystem von Nassara Engineering nagte, betrachtete Monarch das gerahmte Foto eines Mannes, von dem er annahm, dass es Abdullah Nassara sei, ein eher verschroben aussehender Typ in einem Straßenanzug, der bei einer Schulabschlussfeier, wie’s aussah, die Arme um Frau und Kinder gelegt hatte. Monarch konnte sich Nassara schwer als Terrorsympathisanten vorstellen. Aber andererseits, wie sahen die denn aus heutzutage? Er hatte einmal gesehen, wie …
Der größte Monitor leuchtete auf und zeigte den Arbeitsbildschirm.
»Wir sind drin«, sagte Monarch. »Wie lautet das Passwort?«
Auch Slattery, zurück in der Hotelsuite, war interessiert.
»Al-Kindi«, sagte Yin. »Muslimischer Mathematiker und einer der ersten Kryptographen.«
»Schlau«, stellte Monarch fest.
»Auf geht’s«, sagte Yin und tippte drauflos. Dann drückte sie die ENTER-Taste. Als sich nichts tat, versuchte sie es erneut, vergeblich. »Die Firewall sträubt sich, lässt sich nicht durchbrechen.«
Slattery spürte einen Kloß im Hals, doch dann sagte Barnett in ihr Mikro: »Wir können dir nicht helfen, Robin. Versuch’s mit dem Flash.«
»Verstanden«, sagte Monarch.
Auf dem Bildschirm sah Slattery, wie Monarch das WiFi-Modul mit einem Flash-Speicher ersetzte, sich wieder der Tastatur zuwandte und Befehle eintippte, die dazu führen sollten, dass die Dateien auf den Speicher kopiert wurden. Aufgrund der Spiegelung konnte er nicht sehen, was sich daraufhin auf dem Bildschirm in Nassaras Büro tat.
»Kein Glück«, sagte Monarch. »Soll ich den Server mitgehen lassen?«
»Nein«, antwortete Slattery mit Nachdruck. »Die sollen weitermachen wie bisher, während wir ihre Dateien analysieren lassen.«
»Dann weiß ich nicht weiter, Jack.«
Nach kurzer Pause sagte Slattery: Geben Sie Green Fields ein.«
»Arabisch oder Englisch?«
»Beides.«
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie Monarch auf die Tastatur eintippte.
Dann kam John Tatupus Stimme über Kopfhörer: »Wir kriegen Gesellschaft.«
Slattery richtete seine Aufmerksamkeit auf Tatupus Video-Feed und sah, wie ein nagelneuer Mercedes-Kombi vor das Haupttor fuhr. Ein Mann neigte sich aus dem Fenster, um eine Karte in einen Leser an der Sicherheitsschleuse zu stecken.
»Mist«, sagte Slattery, weil ihm alles zu entgleiten schien. »Nassara ist zwei beschissene Stunden zu früh dran. Verziehen Sie sich, Monarch.«
Auf Monarchs Video-Feed sah Slattery, wie Monarch einen der Computer in Nassaras Büro anzapfte, und hörte ihn sagen: »Green Fields. Hier gibt’s tonnenweise Dateien.«
»Pforte ist offen«, warnte Gloria Barnett.
Slattery sagte: »Kopieren Sie in fünf Minuten, so viel Sie können, und dann nichts wie raus, Monarch.«
»Ein Wagen fährt in Richtung Parkgarage«, sagte Chávez.
Monarch sagte: »Die Dateien lassen sich nicht exportieren. Ich öffne eine und versuch’s mit ›Speichern unter‹.«
Slattery brüllte: »Nicht öffnen! Verziehen Sie sich! Wir versuchen’s später noch mal.«
»Ich hab den Wagen aus dem Blickfeld verloren«, sagte Chávez. »Er ist in die Tiefgarage gefahren.«
Monarch wusste, dass die Tiefgarage ziemlich weit von der Werkhalle entfernt war. Er wollte etwas von dem Raubzug mit nach Hause nehmen, zumindest einen Vorgeschmack auf das Archiv von Al-Qaida. Anstatt also Slatterys Anweisung zu befolgen und das Weite zu suchen, klickte er die erste Datei auf der Liste an: GREEN FIELDS-1.
Eine CAD/CAM-Datei öffnete sich und füllte den Bildschirm aus. Monarch besah sich den dreidimensionalen Entwurf, der aussah wie die Q-förmigen Dinger, die auf dem Boden verschraubt waren. Er klickte den Entwurf an und löste einen Hyperlink aus, der ein kniffliges Stück Technologie offenbarte. Anmerkungen in arabischer Sprache tauchten am Rand des Entwurfs auf, und Monarch überflog sie.
»Monarch!«, tönte Slatterys eindringliche Stimme in sein Ohr. »Hinaus mit Ihnen. Das ist ein Befehl!«
Monarch schaltete Kamera und Mikrophon aus, wodurch Slattery gleichsam taub und blind wurde, und öffnete zwei weitere Dateien auf der Liste. Es waren Dokumente, die den Zweck des Gerätes und seinen Aufbau beschrieben; und Monarch hatte schnell begriffen, was Nassara Engineering wirklich im Schilde führte und was Green Fields wirklich war.
»Monarch«, sagte Slattery in seinen Kopfhörer. »Wir haben Sie aus den Augen verloren. Sprechen Sie mit uns.«
In Monarchs Gedanken machten sich Enttäuschung und Ekel breit. Er knipste Ohrhörer und iPhone aus und auch den Ortungssender. Monarch hatte seine Arbeit stets als Berufung betrachtet, mit gemeinnützigem Aspekt, weil sie der nationalen Sicherheit diente. Jetzt dagegen sah er sie als das, was sie wirklich war – oder was offenbar aus ihr geworden war. Im selben Moment wusste Monarch, dass sich dieser Auftrag nicht mehr mit seinen Lebensregeln vereinbaren ließe.
In der Werkhalle ging das Licht an.
Monarch knipste die Stirnlampe aus und schnellte aus dem Stuhl, ging tief in die Hocke. Er entdeckte zwei Männer, die die Werkhalle durch dieselbe Tür betraten, die auch er benutzt hatte. Monarch erkannte Abdullah Nassara in weißer Tunika und schwarzer Hose. Der Ingenieur trug einen Aktenkoffer aus Metall, den er in den Armen wiegte wie ein Kind. Der Mann neben ihm war erheblich jünger. Er trug ein khakifarbenes Outfit, das wie eine Uniform anmutete, und war mit einem Karabiner bewaffnet.
Monarch zog sich die Gesichtsmaske über und holte seine Waffe aus dem Halfter unter dem Hemd. Er hatte sich für eine Selbstladepistole der Marke Heckler & Koch entschieden, vom Kaliber .45, die in der gegenwärtigen Lage seltsam unpassend und altmodisch wirkte.
Als die beiden Männer hinter einer riesigen Drehbank verschwanden, huschte Monarch geduckt aus dem Büro, in der Hoffnung, zwischen den größeren Schleifmaschinen Deckung zu finden und dann unbemerkt zu entkommen. Monarch hatte eben sein Versteck erreicht, als die Männer ungefähr vierzig Meter vor ihm wieder auftauchten.
Sie unterhielten sich auf Arabisch, was er verstand. Der Jüngere schien sich für den Inhalt des Aktenkoffers zu interessieren und fragte, ob der Tresor im Büro auch wirklich der beste Platz war, um ihn zu verwahren.
Sie kamen näher. Monarch warf einen Blick über die Schulter, und während er mit beiden Händen die Pistole hielt, zog er sich vorsichtig zurück. Seine Zehen tasteten vor jedem Schritt behutsam den Boden ab, ehe er den Fuß nach hinten abrollte. Nachdem ihm sechs langsame Rückwärtsschritte gelungen waren, verfing sich der lose Stoff seiner Hose am schartigen Ende eines der Metallrohre, die zu einem Stapel aufgeschichtet waren. Der kleine Rempler gab den Anstoß, dass sämtliche Rohre zu Boden schepperten.
Während der Jüngere ihm zurief, er solle stehenbleiben, wirbelte Monarch herum und rannte davon. Er jagte über eine freie Fläche zwischen zwei größeren Maschinen und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Jüngere auf zehn Uhr mit dem Karabiner auf ihn zielte. Unmittelbar vor dem ersten Schuss tauchte Monarch hinter eine Stoßmaschine. Das Projektil schlug im Metall hinter ihm ein.
»Leg ihn um!«, hörte er Nassara brüllen.
Die Waffe im Anschlag stürmte Monarch auf den Ausgang zu, jenseits der drei Q-förmigen Gebilde, zielte absichtlich über die Köpfe der Männer hinweg auf eines der Lichtbänder an der Decke und drückte ab. Die Reflektoren zerbarsten, es regnete Glas. Monarch löste sich vom Hochofen, wobei er noch zweimal an die Decke schoss, bevor er sich, Schulter voran, durch die Flügeltür drängte, als der zweite Mündungsknall aus dem Karabiner hervorbrach. Der Schuss zerdepperte das Glas in der Luke unmittelbar neben Monarchs Kopf, ehe er im Flur zu Boden stürzte und die Tür ins Schloss fiel.
Slattery war außer sich. Monarch hatte die Kommunikation abgebrochen und seinen Peilsender abgeschaltet. Jetzt konnten sie ihn nicht mehr orten.
»Es sind Schüsse gefallen«, ließ Tatupu ihn über Kopfhörer wissen. »Drei insgesamt.«
»Mach fünf daraus«, sagte Chanel Chávez.
»Sollen wir reingehen, Jack?«, fragte der Samoaner.
Im Flur des Fabrikgebäudes, außerhalb der Produktionshalle, hörte Monarch, wie Nassara seinem Begleiter etwas zurief, dann ertönte eine Sirene. Monarch rannte nicht zurück zur Laderampe, sondern den langen Flur entlang auf das Treppenhaus zu, das in die Tiefgarage führte. Während des Laufens rechnete er jeden Augenblick damit, erschossen zu werden. Als der dritte Schuss fiel, zuckte Monarch mächtig zusammen, erkannte dann aber, dass er gedämpft klang, als wäre er innerhalb der Produktionshalle gefallen.
Monarch zögerte kurz, wusste aber, dass ihm nur noch der Rückzug blieb. Sie hatten den Alarm ausgelöst, bald käme die Polizei. Jahrelanges Training zwang ihn, die Flucht zu ergreifen. Er stürmte durch die Tür ins Treppenhaus, sprang vier Stufen auf einmal nach unten, landete auf dem Treppenabsatz, wirbelte herum und sprang erneut.
Noch im Sprung hörte Monarch einen vierten Schuss, dem eine gewaltige Explosion folgte, die das ganze Gebäude ins Wanken brachte.
Slattery sah den Explosionsblitz auf Tatupus Video-Feed, gleißend hell, sah Fensterscheiben bersten und Feuerbälle rollen. Der Chef der Abteilung für verdeckte Operationen spürte, wie in seinem Magen ein wundes, brennendes Loch klaffte.
»Um Gottes willen, Jack!«, brüllte Barnett. »Schicken Sie Tats und Abbott los!«
Der Chef starrte sie wütend an. »Wir haben keine Ahnung, wo Monarch sich gerade aufhält. Ich weiß nicht, wohin ich –«
Da erfolgte tief im Inneren der Fabrik eine zweite Explosion, die sich in Slatterys Ohren anhörte, als habe man ihm vor der rosigen Zukunft ein riesiges Tor zugeknallt.
Nach der ersten Detonation landete Monarch neben der Tür zur Tiefgarage, durchgeschüttelt und benommen. Er stand vornübergebeugt da und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden, als die zweite Explosion erfolgte, noch gewaltiger als die erste, dann eine dritte, als würden die Ebenen über ihm in Schutt und Asche gelegt.
Monarchs Instinkt übernahm die Führung und trieb ihn durch die Tür in die Garage. Brocken aus Holz und Mörtel waren von der Decke gefallen. Andere Bereiche bröckelten und füllten die Luft mit Schwaden von Staub. Monarch ging in die Knie, zog sich die Maske zurecht und robbte dann auf dem Bauch weiter. Er wusste, dass ein Versuch, durch das Garagentor ins Freie zu gelangen, viel zu riskant war, weil jeden Augenblick Feuerwehr und Polizei kommen mussten. Also kroch er auf den einzigen gangbaren Ausweg zu.
Eine vierte Explosion erschütterte das Gebäude. Wieder bröselte Zement von der Decke, und er robbte mit geschlossenen Augen weiter, um sie vor Staub zu schützen. Endlich ertasteten Monarchs behandschuhte Finger die Löcher eines Metallgitters. Er steckte die Pistole weg, rappelte sich mit geschlossenen Augen auf, hakte die Finger in das Gitter und zog mit aller Kraft.
Das Gitter bewegte sich und ließ sich anheben. Monarch legte es beiseite und ertastete den Rand eines Abflusses. Er sprang hinein und fiel zwei Meter tief. Unten angekommen, spürte er Zugluft um die Schenkel. Er änderte mehrmals seine Position, bis es ihm gelang, Kopf und Schultern in das waagerechte Abflussrohr zu bringen, wo er sich mühsam vorwärts wand.
Regel Nummer eins, dachte er. Du hast ein Recht zu überleben.
Auf den Bildschirmen in der Hotelsuite waren Flammen zu sehen, die aus dem Dach des Nassara Engineering Building schlugen und die zertrümmerten Fensteröffnungen umzüngelten. Slattery waren durch Ereignisse, die sich gänzlich seiner Kontrolle entzogen, die Hände gebunden.
»Sirenen kommen näher«, sagte Chávez.
»Ich geh da jetzt rein«, knurrte Tatupu.
»Den Teufel werden Sie tun, John!«, brüllte Slattery in sein Mikrophon. »Dieses Gebäude ist randvoll mit Chemikalien, die explodieren immer wieder –«
Slattery entdeckte eine Bewegung auf Tatupus Video-Feed. Eine der Türen zur Laderampe splitterte nach außen. Ein Gabelstapler schoss von der Rampe und landete im Ladebereich. Sekunden später kam jemand aus dem Loch getaumelt, das der Gabelstapler gerissen hatte. Die Person war voller Dreck und Staub und hielt sich, vornüber gebeugt, mit einer Hand den Bauch. In der anderen hatte sie einen Karabiner.
»Ist er das?«, rief Yin in ihr Mikro. »Robin, hörst du mich?«
Da richtete der Mann sich auf und humpelte davon. Er war um einiges jünger als Monarch und hatte dunklere Züge. Seine Kleidung war zerrissen. Er blutete auf der Stirn und aus Schnittwunden an beiden Schultern. Als er etwa fünfundsiebzig Schritt von der Laderampe entfernt war, erfolgte ein gewaltiger Blitz, und Tatupus Feed erlosch.
Die mit Acetylen und Sauerstoff gefüllten Tanks in der Laderampe waren explodiert und sandten einen fluoreszierenden orangefarbenen Feuerball in den Himmel. Monarch duckte sich und riss die Hände in die Höhe, um seine Augen gegen das Licht abzuschirmen. Er war aus dem Kanal geklettert und saß im Dickicht der Böschung, etwa hundertfünfzig Schritt westlich von Tatupu.
Monarch richtete sich auf und starrte in die Flammen, als auf der Straße weiter unten Polizeiwagen vorbeijagten, mit kreischenden Sirenen und blinkendem Blaulicht. Er war von den Ereignissen der vergangenen zehn Minuten wie betäubt, wusste aber trotzdem, was er zu tun hatte.
Er nahm den Knopf aus dem Ohr und warf ihn in die Büsche. Das iPhone schleuderte er hinterher. Dann kehrte er der brennenden Fabrik den Rücken und fühlte sich zum dritten Mal in seinem Leben gänzlich verwaist.
Sechs Tage später …Hotel Willard Washington, D.C.
Jack Slattery lag unter zerwühlten Laken und sah einer statuenhaften rothaarigen Frau dabei zu, wie sie sich den lavendelfarbenen Spitzen-BH zuhakte. Normalerweise hätte Slattery diese Geste genossen. Doch in seinem Kopf wirbelte ein Gemisch zorniger Gedanken, aus denen eine einzige Frage hervorsickerte: Wie konnte die Sache nur so verflucht schiefgehen?
»Jack?«, sagte die Frau und rüttelte Slattery aus seiner Grübelei. Sie sah sich über die Schulter zu ihm um, wobei sie mit prüder Miene den Bund eines schmal geschnittenen schwarzen Rocks über der Mitte ihres nahezu vollkommenen Hinterns festhielt.
»Keine zweite Runde heute, Audrey«, antwortete Slattery.
Audrey machte einen Flunsch, zuckte mit den Schultern, zog den Rock hoch und knöpfte ihn mit den Worten zu: »Soll ich mich in Zukunft nicht mehr so anziehen?«
»Doch, sieht toll aus«, sagte Slattery. »Mir geht nur gerade so viel im Kopf rum.«
Die Rothaarige schlüpfte in einen schwarzen, ärmellosen Pulli, nahm das Kuvert von der Kommode und steckte es in ihre Handtasche. Sie kam an Slatterys Bett, beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Lippen. »Rufst du mich an?«, fragte sie.
»Wie könnte ich nicht?«, entgegnete Slattery.
Als Slattery hörte, wie die Hotelzimmertür hinter Audrey ins Schloss fiel, sagte er sich noch einmal, dass sie und die anderen gut für ihn waren, Phantasiespiele, die er kontrollieren und dann hinter sich lassen konnte, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Doch als Slattery in die Dusche stieg, waren die Entspannung und die Klarheit, die er sonst empfand, wenn Audrey gegangen war, einfach nicht da. Er war fahriger denn je und fand es nahezu unmöglich, darüber nachzudenken, was alles zerstört war, indem Nassara Engineering explodiert und in Flammen aufgegangen war. Die Belohnung war zum Greifen nah gewesen, und nun – puff – alles beim Teufel. Er fragte sich, ob er jemals wieder eine solche Chance bekäme, und war enttäuscht und besorgt, weil er genau derselbe war wie vor der Explosion: ein mächtiger unsichtbarer Mann mit großen Zielen. Und dennoch war er der Erfüllung seines Traums, den er seit Kindertagen wie eine Schmusedecke gehätschelt hatte, keinen Schritt näher gekommen.
Slattery zog sich an und versuchte, seiner Verbitterung über den Tiefschlag Herr zu werden, als sein Handy klingelte. Er ging dran, hörte zu, erstarrte und lief rot an.
»Sind Sie sicher?«, fragte er.
Er hörte erneut zu und blaffte dann: »Ich bin in zwanzig Minuten da. Legen Sie mir alles auf den Schreibtisch.«
Tags darauf, im Morgengrauen …Gravelly Point ParkAlexandria, Virginia
Von seinem Chevy Tahoe aus, in denselben Klamotten wie am Vortag, beobachtete Slattery eine vertraute Gestalt, die in der Morgendämmerung einen gepflasterten Weg entlangjoggte, westlich des Reagan National Airport. Er stieg aus dem Fahrzeug und trabte über das Gras, um den Läufer abzufangen, der eine kurze Hose und ein Sweatshirt mit hochgezogener Kapuze trug.
»Frank?«, rief Slattery.
Der Jogger stutzte und schob sich die Kapuze aus der Stirn. Der Kongressabgeordnete Frank Baron aus Georgia, ein hochrangiges Mitglied des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus, war ein fotogener Weißer mit einem extrem großen Kopf und einem normalerweise leutseligen Gesichtsausdruck. Doch heute schien er wenig begeistert, seinen alten College-Kumpel zu treffen.
»Diese Zeit gehört mir, Jack«, sagte Baron und lief an ihm vorbei. »Die einzigen Momente, in denen ich zum Nachdenken komme.«
Slattery rannte hinter ihm her. »Ich hab Neuigkeiten, Frank.«
Der Kongressabgeordnete wurde nicht langsamer. »Es war alles nur ein böser Traum?«
»Nein«, sagte Slattery.
»Dann haben wir nichts zu besprechen«, sagte Baron. »Oder doch?«
»Frank …«
Baron unterbrach ihn. »Weißt du, was du mit diesem Schlamassel angerichtet hast, Jack? Du hast uns um mindestens zwanzig Jahre zurückgeworfen. C.Y. kann nicht einmal darüber sprechen. Ein kompletter Mist.«
Slattery sagte: »Monarch ist nicht tot, Frank.«
Da blieb Baron wie angewurzelt stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Seine Brust hob und senkte sich, während er Slattery mit großer Skepsis musterte. »Du hast doch gesagt, das Gebäude sei dem Erdboden gleichgemacht.«
»Ist es ja auch«, sagte Slattery. »Anscheinend ist er irgendwie entkommen.«
»Anscheinend, oder hat ihn jemand gesehen?«
»Das nicht«, räumte Slattery ein. »Zumindest noch nicht.«
»Und was für Beweise hast du?«
Slattery erzählte Baron, die türkische Presse habe berichtet, dass es sich bei der Person, die aus dem brennenden Gebäude entkommen sei, um Ali Nassara handelte, den ältesten Sohn des jüngsten Bruders des verstorbenen Abdullah Nassara. Die Istanbuler Polizei habe den Neffen des Ingenieurs kurz nach Ankunft der Feuerwehr entdeckt. Er sei hilflos und blutend auf dem Gelände umhergeirrt und habe eine Gehirnerschütterung davongetragen.
Ali Nassara, siebenundzwanzig und erst vor kurzem aus der Türkischen Armee entlassen, hatte auf Teilzeitbasis als Leibwächter seines Onkels gearbeitet, seit mehrere wohlhabende Türken entführt worden waren. Und sein Onkel hatte es sich neuerdings zur Gewohnheit werden lassen, vor allen anderen in die Fabrik zu kommen, um an einem geheimen Projekt herumzubasteln, von dem er wie besessen war, über das der Neffe aber wenig zu wissen schien.
Ali Nassara habe angegeben, so Slattery, dass sein Onkel und er das Gebäude durch die Parkgarage betreten und eine Abkürzung zur Werkhalle genommen hätten. Sie hätten das Licht eingeschaltet, ein schepperndes Geräusch gehört und dann einen maskierten Mann gesehen, der mit einer Pistole im Anschlag durch die Halle gelaufen sei. Der Neffe behauptete weiter, der Mann habe auf sie geschossen, woraufhin er, Ali, das Feuer erwidert hätte. Der Eindringling habe ein zweites Mal geschossen und Abdullah Nassara dabei tödlich getroffen. Der Neffe habe daraufhin erneut auf den Mann angelegt, ihn verfehlt und entsetzt mit ansehen müssen, wie dieser im Hinausrennen in die beiden Acetylen-Tanks gefeuert habe.
Die Explosion habe den Neffen zu Boden geworfen und in der Halle ein tosendes Feuer entbrannt. Ali habe daraufhin versucht, die Leiche seines Onkels ins Freie zu schleppen, es aber nicht geschafft. Er sei vor der zweiten und der dritten Explosion aus der Produktionshalle entkommen, habe die Laderampe erreicht, doch die Alarmanlage habe sämtliche Türen verriegelt. In seiner Verzweiflung habe er den Gabelstapler beschossen und durch einen der Ausgänge gejagt, um ins Freie zu kommen, bevor das gesamte Gebäude in Flammen aufging.
»Und Monarch?«, fragte Baron, als Slattery geendet hatte.
Slattery erwiderte: »Das Team der Spurensicherung hat die Trümmer durchkämmt und die verkohlten Leichen Abdullah Nassaras und des Wachmanns an der Pforte gefunden. Keine weiteren Toten.«
»Wie ist Monarch entkommen?«
»Vermutlich über einen Regenkanal in der Parkgarage«, sagte Slattery. »Aber wenn du mich fragst, ist weniger das Wie interessant als das Warum.«
Baron überlegte. »Irgendwelche Theorien?«
»Drei bis jetzt«, sagte Slattery und erklärte sie ihm.
Nachdem der Kongressabgeordnete das dritte Szenario gehört hatte, wurde er blass. Er schluckte, blickte beiseite und sagte: »Das darf nicht sein. Nicht einmal im Entferntesten darf das sein.«
»Deshalb bin ich ja auch als Erstes zu dir gekommen, Frank«, sagte Slattery.
Baron warf Slattery einen Blick zu. »Schalt das Ding ab, Jack. Es wäre für uns alle das Beste.«
Es dauerte sechsundzwanzig Stunden, bis Slattery eine Audienz bei Willis Hopkins erhielt, dem derzeitigen Leiter der CIA und ehemaligen Mathematikprofessor an der Stanford University.
Hopkins, ein spindeldürrer Schwarzer, hatte als Gehirn ein Rechenzentrum. Er vergaß nichts und betrachtete und analysierte Sachverhalte anders als jeder, den Slattery kannte. So bemühte sich Slattery, ihm seine Version der Ereignisse in Istanbul rasiermesserscharf zu beschreiben, wobei er den Schwerpunkt auf Ali Nassaras Behauptung legte, Monarch habe zuerst auf seinen Onkel, dann auf die Gasbehälter geschossen, um seine Flucht zu decken. Er schloss mit der Vermutung, Monarch sympathisiere eventuell mit den Terroristen.
Hopkins hörte kommentarlos zu, während Slattery ihm die Fakten präsentierte. Als er geendet hatte, schob der Direktor seine Brille zurecht und sagte: »Wenn er tatsächlich mit ihnen sympathisiert, warum bringt er dann Nassara um, einen mutmaßlichen Terroristen? Nein, ich habe das ungeschnittene Einsatz-Video gesehen, Jack. Dabei kam mir der Gedanke, dass Monarch in den Dateien etwas bemerkt haben könnte, das ihm nicht gefiel.«
Slattery nahm den Kopf ein bisschen zurück, sichtlich erstaunt, dass der Direktor sich die Mühe gemacht hatte, sich die unbearbeiteten Feeds anzusehen. »Nun ja, Sir, gut möglich«, entgegnete er. »Den meisten Menschen würde der Inhalt missfallen, mir zuallererst.«
Hopkins lehnte sich zurück, spielte mit einem Stift und betrachtete Slattery. Er fragte: »Hat sich Monarch vor diesem Fiasko jemals unzuverlässig gezeigt?«
»Nein, Sir. Er war unsere Nummer eins. Deshalb habe ich ihn für diese Mission ausgesucht.«
»Und seine Teamkameraden? Vielleicht haben sie etwas bemerkt, das darauf hindeuten könnte, dass er ein Sympathisant war?«
»Sie behaupten, sie seien genauso vor den Kopf gestoßen wie ich. Doch vorsichtshalber habe ich sie alle vom Dienst suspendiert oder ihre Pflichten eingeschränkt, solange die Ermittlungen laufen. Man kann ja nie wissen.«
»Scheint mir auch das Klügste«, sagte Hopkins.
»Ja, Sir«, sagte Slattery. »Stellt sich die Frage, was wir mit Monarch tun.«
Der Direktor überlegte kurz. »Ich würde ihn gern ins Verhör nehmen.«
Slattery nickte. »Ich lasse nach ihm fahnden, unter seinem Klarnamen und sämtlichen Decknamen, allerdings mit der Warnung, dass er vermutlich bewaffnet und gefährlich ist und die Polizei vor Ort sich von ihm fernhalten soll.«
»Schlau«, sagte Hopkins, überlegte kurz und konzentrierte seinen durchdringenden Blick dann wieder auf Slattery. »Jack, wie verlässlich waren die Informationen bezüglich des Archivs?«
Der Chef der Abteilung für verdeckte Operationen wackelte heftig mit dem Kopf. »Erstklassig, Sir. Die Quelle ist immer tadellos gewesen. Türkische Staatspolizei.«
Hopkins beobachtete ihn, zwinkerte langsam und sagte dann: »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Slattery verließ das Büro des Direktors und fühlte sich, als wäre er eine Meile weit gerannt. Die Tatsache, dass Hopkins sich die Feeds angesehen hatte, vermittelte ihm den Eindruck, als würden Leute, die in der Nahrungskette über ihm standen, seine Entscheidungen im Nachhinein anzweifeln. Doch jetzt, nachdem er mit Hopkins gesprochen hatte, saß er wieder am Steuer. Mit ein bisschen Glück konnte er die Angelegenheit nahezu ins Lot bringen.
Slattery ging nach unten und durch die Hauptkantine der CIA, die er immer für einen merkwürdigen Ort gehalten hatte. Hier saßen Hunderte von Leuten – Analytiker, Agenten und Statisten – Seite an Seite zu Tisch, um gemeinsam zu essen. Viele kannten einander vom Sehen. Einige waren befreundet. Doch kaum einer von ihnen wusste, wie der andere seine Brötchen verdiente, und würde es auch niemals erfahren. Und genau das gefiel Slattery. In gewisser Weise fühlte er sich dadurch unsichtbar, wie einer, der tun und lassen konnte, was er wollte, und das kam ihm sehr zupass.
Als er den langen Flur betrat, der zum Kommandozentrum der Behörde führte, hörte Slattery das Geräusch trampelnder Schritte auf dem Marmorboden. Eine sonnengebräunte Frau Mitte vierzig mit attraktivem Gesicht, aber dem unglückseligen Körperbau einer Bulldogge, hastete auf ihn zu. Sie hieß Agatha Hayes. Sie war Slattery erst vor kurzem zugeteilt worden als Analytikerin und Einsatzleiterin.
»Tragen Sie Ihren Piepser nicht?«, fragte sie ihn mit leiser, atemloser Stimme.
»Nicht, wenn ich den Direktor über den neuesten Stand in Kenntnis setze, Agatha«, erwiderte Slattery.
»Wir haben ihn«, sagte Hayes. »Monarch. Er ist in Algier.«
Slattery setzte sich sofort in Trab. »Sind Sie sicher?«
»Ist auf einem Frachtschiff aus Istanbul eingereist, unter einem seiner bekannten Decknamen.«
Vierzig Stunden später …Algier
Französische und arabische Rap- und Reggae-Rhythmen tönten aus den Fenstern hoch über Monarchs Kopf, als er das Gewirr von Straßen betrat, die hinauf in die Kasbah führten, Algiers Altstadt, die sich über den steilen Hügel hinter der Großen Moschee und den Platz der Märtyrer erstreckte. Die Luft in der Kasbah roch nach köchelndem Knoblauch, nach Lamm und Tabak und nach Meer. Obsthändler priesen Monarch lautstark ihre Waren an. Ebenso Fischverkäufer, Teppich- und Kuriositätenhändler, während Wirte vor ihren leeren Lokalen standen, ein ums andere Mal ausspuckten und um Erlösung von der unbarmherzigen Sonne beteten.
Es war Monarchs vierter Tag in Algier, der fünfte Tag des heiligen Monats Ramadan, an dem von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet wurde. Die Härte des Fastens zeigte sich bereits in den Gesichtern und an den Gebärden der Menschen, die ihm begegneten. Er passte sich ihrem Verhalten an, schluckte seinen Speichel nicht hinunter und wurde zunehmend nervös, je tiefer er in die Kasbah vordrang und sich einer bekannten Adresse näherte. Es war außerdem ein Freitag, der Tag des gemeinsamen Gebets, und Monarch gab sich Mühe, den Bettlern, die in den Eingängen kauerten, verkrüppelt, blind oder halb wahnsinnig durch das Leben, das Allah ihnen aufgebürdet hatte, Münzen in die Schalen zu werfen.
Seit er vor vierzehn Tagen aus Istanbul geflüchtet war, hatte Monarch sich einen Bart stehen lassen. Seine Haut war dunkler von den vielen Stunden an der Sonne auf dem griechischen Frachtschiff, auf dem er über das Mittelmeer gereist war. Und er trug wohlweislich Kleidung, die ins Straßenbild passte: graue Freizeithose, schwarze Schnürschuhe, dazu ein langes weißes Baumwollhemd, das er im Hafen von Tripolis erstanden hatte. Für den beiläufigen Betrachter hätte Monarch alles sein können, vom rastenden Kaufmann bis hin zum Regierungsbeamten, der sich am Nachmittag ein wenig die Beine vertrat.
Monarch bedachte sehr genau, wann er sich bewegte, besonders, wann er längere Strecken zurücklegte. Während der sechstägigen Reise von Istanbul nach Bengasi und weiter über Tripolis und Tunis, war er von morgens bis abends über die verschiedenen Schiffsdecks geschlendert. Und seit seiner Ankunft in Algier war er kreuz und quer durch die Stadt gelaufen, hatte täglich zehn bis zwölf Kilometer zurückgelegt und über sein Leben nachgedacht, das ihm offenbar aus den Fugen geraten war, als hätte er zu oft gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen. Und trotz all dem Herumgelaufe, trotz aller Grübelei war Monarch der Lösung, wie er sich seine Zukunft vorstellte, noch keinen Schritt näher gekommen.
Es stand ihm frei zu tun, was immer er wollte. Er hatte in all den Jahren genügend Geld beiseitegelegt, um auf absehbare Zeit ein komfortables Leben zu führen. So verlockend diese Aussicht sein mochte, Monarch vermittelte sie eher das Gefühl, als habe er ohnehin schon ein Zuviel an Freiheit. Schon zweimal war die absolute Freiheit wie ein Erdbeben über ihn gekommen, und ein Krater hatte sich vor ihm aufgetan, unergründlich tief und dunkel. Jedes Mal war ihm sein früheres Leben abhandengekommen, hatte er sich völlig neu definieren müssen.
Auch jetzt, während er durch die Altstadt schlenderte, hatte Monarch nach einer gewissen Zeit das Gefühl, losgelöst von seinen Freunden jeden Rückhalt verloren zu haben. Er war fremd, ohne Ziel und wurde noch dazu verfolgt. Die Jungs in Langley, dachte er, dürften mittlerweile herausgefunden haben, dass er nicht tot war. Man würde nach ihm suchen, ihn zur Rede stellen wollen. Monarch beschloss, die Wahrheit zu sagen, wenn es dazu käme: dass er nicht die Absicht hatte, in den Schoß der Familie zurückzukehren. Was ihn anbelangte, so musste man sich, sobald die Erde sich in dieser Weise auftat, für die eine oder die andere Seite entscheiden.
Monarchs Gedanken zerstoben, als ihm in der schmalen Gasse eine Gruppe junger Burschen entgegenkam, sieben an der Zahl. Er bemerkte den Hunger in ihren Augen und wusste Bescheid. Sie waren ein Rudel. Ein Rudel auf der Jagd.
Die Bengel kreisten ihn ein, rempelten ihn an, drehten ihn herum. Monarch ließ es geschehen, hielt seine Hosentaschen von ihren Fingern fern, während er dem einen die Brieftasche, dem anderen ein Bündel Banknoten stibitzte.
Er hielt beides in die Höhe und starrte die Burschen wütend an. »Regel Nummer sechs: Kenne dein Ziel«, sagte er auf Arabisch und gab den verblüfften Taschendieben Brieftasche und Banknoten zurück.
Einige lachten und klatschen Beifall. Ein älterer Junge mit einem Goldzahn fragte: »Woher kommst du? Wo hast du das gelernt?«
»Regel Nummer dreizehn: Behalte deine Geheimnisse für dich«, erwiderte Monarch, drehte ihnen den Rücken zu und schlenderte davon, froh darüber, dass sich seine Geschicklichkeit nicht abgestumpft hatte.
In seinem Büro in Langley, Virginia, spürte Slattery in der Hosentasche die Vibration eines einfachen Prepaid-Handys. Er holte es heraus und meldete sich. »Ja?«
»Wir haben Ihren vermissten Kater lokalisiert«, sagte eine Frauenstimme mit leichtem französischen Akzent. »Wie Sie vermutet haben, ist er unterwegs zu Rafiq.«
Slattery nickte zufrieden. »Das war zu erwarten in Algier.«
»Und so ist es auch«, sagte die Frau und legte auf.
Slattery verließ sein Büro und stieg eine Metalltreppe hinunter ins CIA-Kommandozentrum, das mit drei Reihen Schreibtischen ausgestattet war und einer Wand voller Monitore. Agatha Hayes saß mit Kopfhörer in der vordersten Reihe.
»Agatha«, sagte er. »Gib mir Lynchs Feed, Splitscreen oben links.«
Hayes tippte einen Befehl ein, und der linke obere Quadrant des Bildschirms ging auf, um die Sicht aus dem Fenster eines Wagens zu zeigen, der an der Großen Moschee in Algier vorüberfuhr.
»Lynch«, sagte Slattery in sein Headset.
»Hier, Chef«, kam eine heisere männliche Stimme zurück. »Wir haben die Passagierlisten am Hafen kontrolliert, aber –«
Slattery fiel ihm ins Wort. »Ich glaube, ich weiß, wohin er unterwegs sein könnte. Ein Stoffgeschäft westlich des Boulevard de la Victoire, südlich von euch, den Hügel hinauf, nicht weiter als vier Kilometer.«
Er gab ihnen eine Adresse und sagte: »Fahrt hin und behaltet den Laden im Auge.«
»Schon unterwegs, Boss«, sagte Lynch.
»Kein Feuerwerk«, sagte Slattery.
»Wir sind nur da, um ihm heimzuleuchten.«
Slattery nahm sein Headset ab und war zufrieden mit sich. Die Choreographie, die er soeben in Gang gesetzt hatte, erschien ihm absolut perfekt, alles war logisch, akzeptabel und vertretbar.
Agatha Hayes beobachtete Slattery. Sie fragte: »Wieso glauben Sie, dass Monarch zu diesem Stoffladen unterwegs sein könnte?«
Slattery antwortete: »Der Deckname, den er hier in Algier benutzt, ist uns bekannt, also braucht er schleunigst eine neue Identität. Der besagte Stoffladen gehört Sami Rafiq, von den Beiruter Rafiqs. Die Familie besitzt Stoffgeschäfte in ganz Afrika und dem Nahen Osten. Die Rafiqs sind außerdem die besten Dokumentenfälscher der Welt, und Sami ist der allerbeste. Wir haben seine Dienste im Notfall ziemlich oft in Anspruch genommen, um ehrlich zu sein.«
»Die CIA?«, fragte Hayes überrascht.
»Neuerdings bekommen wir viel Druck von oben und müssen alles outsourcen«, sagte Slattery. »Um die Geschäftskosten einzuschränken.«
In Rafiqs Magasin de Tissu Extraordinaire drängten sich Angestellte und Kunden, zumeist Frauen, manche modern gekleidet, andere in traditionellen Gewändern und verschleiert. Sie inspizierten die Ballen teuren Tuchs, die sich auf langen, kurzbeinigen Tischen und auf Wandregalen stapelten. Monarch beachtete sie kaum, ging stattdessen zielstrebig in den hinteren Teil des Ladens. Dort führte eine Tür zu einer Treppe, über die man in ein Büro gelangte mit Blick auf die Verkaufsebene.
Er stieg die Treppe hinauf und hörte einen Mann auf Französisch blaffen: »Du nennst Sami einen Dieb? Ich habe dir einen fairen Preis genannt. Wie immer. Sami Rafiq ist kein Dieb! Ich bin ein ehrbarer Geschäftsmann!«
Monarch bog um die Ecke und blickte in das Büro, in dem ein kleiner, dicker Libanese mit Brille, einem Hemd, das er viel zu weit aufgeknöpft hatte über der haarigen Brust, und etlichen Goldketten um den Hals, in sein Handy brüllte: »Du verleumdest mich!« Er legte das Handy beiseite und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Dein Jähzorn bringt dich noch um Kopf und Kragen, Sami«, sagte Monarch auf Englisch.
Der Stoffhändler blickte auf, und ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. Er sprang auf und breitete die Arme aus. »Robin Monarch!«, rief er. »Mein lieber, lieber Freund! Wie geht es dir?«
Sami kam um den Schreibtisch herum und schüttelte Monarch herzlich die Hand, bevor er ihn abschätzig ansah. »Wer lässt dich denn so herumlaufen? Komm schon, wir gehen nach unten und suchen einen schönen leichten Leinenstoff für dich–«
»Ich hab’s eilig, alter Freund«, sagte Monarch.
»Natürlich!«, rief Sami, eilte wieder an den Schreibtisch, holte einen wattierten Umschlag aus der Schublade und reichte ihn Monarch. »Sechs Stück, wie du mich per E-Mail gebeten hast.«
Monarch öffnete den Umschlag und fand Pässe aus Chile, Brasilien, Kanada, Marokko, Indien und Australien. Er blätterte sie durch und sah sein Gesicht über Namen, auf die er bald einwandfrei reagieren würde. Er studierte mehrere der Dokumente und nickte dann zufrieden. »Gute Arbeit, Sami, wie immer.«
Der Stoffhändler strahlte und öffnete eine zweite Schublade. Er zog ein blaues Stoffbündel heraus, das nach Öl roch. Er warf es Monarch zu und sagte: »War nicht einfach, in so kurzer Zeit dieses besondere Modell aufzutreiben.«
Monarch fing das Bündel auf und hatte einen vertrauten Gegenstand im Arm. »H&K Selbstladepistole vom Kaliber .45«, sagte Monarch und legte die Hand aufs Herz. »Du hast es nicht vergessen, Sami. Ich bin gerührt.«
Der libanesische Kaufmann lächelte. »Die Rafiqs achten ihre alten, treuen Kunden.«
»Munition?«, fragte Monarch.
Sami schob zwei Patronenschachteln und zwei Ersatzmagazine über den Schreibtisch.
Bevor er sie an sich nahm, zog Monarch einen Bankscheck heraus, den er auf die Banque d’Algérie ausgestellt hatte. »Die Bezahlung, wie vereinbart.«
Sami nahm den Scheck mit einer Verneigung an sich und schob ihn schnell in die Hosentasche. »Mit dir Geschäfte zu machen, ist mir immer eine Freude, Robin«, sagte er. »Darf ich dich zu einem Tässchen Kaffee einladen?«
»Es ist doch Ramadan«, sagte Monarch.
»Ich bin Christ«, sagte Sami. »Und du?«
»Eine verlorene Seele«, antwortete Monarch, während er die Magazine mit Patronen auflud.
»Eine verlorene Seele, die Kaffee trinkt?«
Monarch schüttelte den Kopf. »So gern ich es auch möchte, Sami, aber ich hab’s eilig.«
»Wohin geht’s denn?«, fragte Sami.
»Das muss ich erst noch austüfteln.«
»Bist du noch bei der CIA?«
»Nein.«
»Selbständig?«
»Möglich wär’s«, räumte Monarch ein. Er griff sich eine Einkaufstasche von der Fensterbank mit einer Reklame für Samis Laden und warf Pässe und Munition hinein. Die Pistole steckte er unter dem Hemd in den Hosenbund am Rücken.
»Wenn mir ein Job für dich einfällt, lasse ich’s dich wissen«, sagte Sami.
»Das weiß ich zu schätzen.«
Sami verneigte sich wieder. »Dann will ich dich wenigstens zur Tür begleiten, mein Freund.«
In Langley marschierte Slattery unterdessen ins Operationszentrum der CIA. Agatha Hayes tippte einen Befehl ein, und ein Satellitenbild von Algier erschien auf dem mittleren Bildschirm. Sie zoomte auf die Kasbah, und schon sah Slattery auf dem Boulevard de la Victoire einen roten Punkt aufblitzen. Lynchs Position.
»Kannst du mir Bilddaten vom Laden geben?«, fragte Slattery in sein Mikro.
»Schon unterwegs«, sagte Lynch.
Einen Augenblick später füllte sich der Monitor rechts vom Satellitenbild mit der Straßenszene vor Rafiqs Magasin de Tissu Extraordinaire, wobei das Geschäft von einem steilen, schrägen Blickwinkel aus in Augenschein genommen wurde, einen Straßenzug weiter. Fußgänger tummelten sich auf den Gehsteigen vor dem Laden. Gegenüber schlenderten zwei Frauen in dunklen Gewändern und Schleiern langsam auf Lynchs Position zu. Ein Junge radelte in der Mitte der schmalen Straße, hinter ihm fuhr ein Taxi.
Durch das Schaufenster von Rafiqs Stoffladen sah Monarch den Jungen auf dem Fahrrad vorüberfahren, während der Ruf des Muezzin über die Stadt tönte, um die Gläubigen zum Gebet und zum Fastenbrechen aufzufordern. Er stand unter der Querblende und drehte sich um, weil er Sami zum Abschied die Hand schütteln wollte. Dabei sondierte er aus eingebrannter Gewohnheit die Umgebung im Geschäft, die Kunden und Angestellten.
Alles schien in bester Ordnung, bis er eine dunkel gekleidete, verschleierte Frau bemerkte, die am anderen Ende des Raums vor den Spiegelglasfenstern neben dem zweiten Ausgang stand und ihn heimlich beobachtete.
Monarch gab Sami die Hand. Der Fälscher drückte sie und sagte: »Und du willst wirklich keinen Stoff kaufen? Ich hab einen Schneider, der dir bis morgen Mittag ein paar schicke Klamotten nähen könnte.«
»Diesmal nicht, Sami«, sagte Monarch, ließ die Hand des Libanesen los und wandte sich ab, um unauffällig nach der Verschleierten zu schauen. Sie beobachtete ihn nicht mehr, sah stattdessen aus dem Fenster und nickte.
Monarch richtete seine Aufmerksamkeit auf den Gehsteig vor dem Geschäft, wo sich die Passanten drängelten. Er ließ den Blick über das hupende Taxi bis zur anderen Straßenseite wandern und bemerkte dort zwei weitere dunkel gekleidete, verschleierte Frauen, die sich miteinander unterhielten. Eine von ihnen hatte das Gesicht den Schaufenstern zugewandt. Irgendetwas an der Situation war oberfaul, trotzdem sagte Monarch: »Bis zum nächsten Mal, alter Freund.«
Das Gedränge auf dem Gehsteig war dicht genug. Monarch würde sich mit dem Strom zur nächstgelegenen Moschee schieben lassen und jeden abhängen, der versuchte, ihn zu verfolgen. Doch kaum war er auf die Straße hinausgetreten, als er erkannte, dass er in eine Lücke im Fußgängerfluss geraten war. Das Taxi war auf den Boulevard de la Victoire gebogen, und die verschleierten Frauen auf der anderen Straßenseite fassten in ihre Gewänder, gingen in die Knie und nahmen ihn ins Visier.
Die Tatsache, dass sie diese sportliche Pose einnahmen, genügte, um Monarch in Aktion treten zu lassen. Er duckte sich, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte in den Stoffladen zurück, wo er einen verblüfften Sami Rafiq antraf. Monarch warf sich mitsamt dem Fälscher auf den Holzfußboden des Geschäfts, als eine Gewehrsalve das Spiegelglas rings um den Eingang zerdepperte.
Slattery beobachtete die surreale Szene, die sich auf dem großen Bildschirm im Operationszentrum der CIA abspielte. Monarch hatte schon auf dem Gehsteig vor dem Laden gestanden. Doch dann hatte er es sich anders überlegt und wieder kehrtgemacht, ehe die zwei verschleierten Frauen ihre Maschinenpistolen gezogen, das Feuer eröffnet und die Schaufenster zu Bruch geschossen hatten. Das Video war ziemlich verwackelt.
Lynch brüllte dem Chef der Abteilung für verdeckte Operationen ins Ohr: »Wer sind die, verdammt?«
»Keine Ahnung«, gab Slattery zurück, während er wie gebannt auf die verschleierten Frauen starrte, die sich in geduckter Haltung auf den Laden zu bewegten und dabei kontrolliert Schüsse abgaben.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Lynch.
»Ihr könnt gar nichts tun«, sagte Slattery. »Haltet die Stellung.«
»Aber sie werden Monarch umbringen!«, protestierte Agatha Hayes.
»Oder Rafiq«, blaffte Slattery. »Wie dem auch sei, ich will meine Leute nicht gefährden. Wir warten erst mal ab, was passiert.«
Monarch rollte von Sami Rafiq herunter und warf sich hinter einen der mit Stoffballen beladenen Tische. Er zog seine Pistole und holte die Ersatzmagazine heraus, während Kunden und Angestellte schreiend in Deckung gingen. Wieder fielen Schüsse, zersplitterten den hölzernen Türrahmen.
Monarch ging in die Knie, riss die Pistole hoch und gab drei schnelle Schüsse auf die Tür ab, dann ballerte er zweimal durch die Vitrine. Aus dem linken Augenwinkel heraus bemerkte er, wie Sami sich unter einem Tisch verkroch.
Rechts von Monarch fielen Schüsse. Er hörte die Projektile dumpf in die Stoffballen über seinem Kopf eindringen, warf sich bäuchlings zu Boden, spähte unter den niedrigen Tischen hindurch und bemerkte unter dem Saum eines schwarzen Gewands ein Paar dunkle Sneaker. Monarch zielte auf die Sneaker und drückte ab.
Er hörte die Frau schreien, sprang auf und sah, wie sie die Waffe fallen ließ, sich wand und versuchte, in Deckung zu gehen. Monarch jagte ihr eine Kugel in die Brust, schwenkte die Pistole herum und feuerte zweimal in Richtung Straße. Er drehte sich weiter, wobei er den Schwung nutzte, um sich vom Vordereingang abzustoßen. Er landete, glitt aus, berappelte sich wieder und rannte geduckt zum hinteren Teil des Ladens, auf die Tür zu, die ins Treppenhaus führte. Dabei zielte er über die Schulter und verballerte die zwei letzten Patronen im ersten Magazin.
Er hatte die Tür beinah erreicht, als die zwei verschleierten Frauen, die ihn von der Straße aus attackiert hatten, erneut das Feuer eröffneten. Ihre Schüsse prallten von der metallenen Treppe ab und rissen Löcher in die Gipswand, aber keines der Projektile traf Monarch, der durch die Hintertür des Ladens flitzte, auf eine weißgewaschene Straße. Er wandte sich scharf nach rechts. Weitere Schüsse prallten hinter ihm vom Mauerwerk ab.
Er rannte, holte das leere Magazin aus seiner Waffe, schob es in die Hosentasche, griff sich ein Ersatzmagazin und legte es ein. Dann bog er in eine andere Gasse. Diese war mehr wie ein Schacht, überdacht und bestand aus alten Steinstufen, die hügelabwärts führten. Er duckte sich um die Ecke und wartete keuchend, wobei er sich beharrlich weigerte, die naheliegenden Fragen zuzulassen: Wer sind die? Warum wollen sie mich umbringen?
Monarch hörte Leute rufen, gleich darauf das Heulen von Polizeisirenen in der Ferne. Er dachte daran zu fliehen, fühlte sich aber bemüßigt, einen Blick um die Ecke zu werfen, auf den Hintereingang von Samis Laden. Bevor er dies tun konnte, kam ein Huhn gackernd von hinten auf ihn zu. Er griff sich das Huhn, das protestierte und versuchte, nach ihm zu hacken. Er warf es hinterlistig etwa mannshoch in die Luft, auf die Hauptstraße.
Prompt flogen ihm die Projektile um die Ohren und löcherten die Straße von einer Seite zur anderen. Monarch nahm die Pistole in die Linke, zielte damit blind um die Ecke und drückte ab. Auf den zweiten Schuss hin hörte er den unverwechselbaren Einschlag eines Projektils in Fleisch und einen leisen Aufschrei, bevor die Ecke, hinter der er sich versteckte, heftig unter Beschuss geriet. Abgesprengte Partikel von Putz und Ziegel zerstachen ihm Gesicht und Hände.
Er rannte die steinernen Stufen hinunter, vorbei an einer Reihe grell bemalter maurischer Türen. Er erreichte das Ende der überdachten Gasse, blickte die lange Treppe hinter sich hinauf und sah oben die verschleierte Frau auftauchen, die Waffe im Anschlag, bereit zum Feuern. Monarch sprang aus dem Schussfeld, doch sein Schuh verfing sich zwischen den Pflastersteinen. Er geriet ins Stolpern, stürzte, verlor die Pistole.
Er kämpfte sich auf allen vieren weiter, hörte, wie das Heulen der Polizeisirenen näher kam, und wusste zugleich, dass die Verschleierte ihm dicht auf den Fersen war. Als er nach seiner Pistole greifen wollte, trat plötzlich jemand mit dem Fuß darauf, der in einer Sandale steckte.
Monarch blickte auf und erkannte einen der Taschendiebe, den mit dem Goldzahn. »Komm mit«, sagte der Junge auf Arabisch und kickte Monarch die Pistole zu.
Monarch griff sich die Waffe und rappelte sich auf, um dem Jungen zu folgen, der nach links in eine schmale Gasse flitzte, die zwischen drei- und vierstöckigen Gebäuden hügelabwärts führte. Vor einer niedrigen grünen Tür im maurischen Stil kam der Junge schlitternd zum Stehen, drehte den Knauf herum und schob sie auf.
Er ging hinein, dicht gefolgt von Monarch, der sich ducken musste, um sich den Kopf nicht am niedrigen Querbalken zu stoßen. Der Junge ließ ihn hindurchgehen, zog die Tür zu und schob den Riegel vor. Monarch blickte um sich. Er stand im Innenhof einer alten Villa, die dringend einer Instandsetzung bedurfte. Der Junge deutete wortlos auf eine Treppe, die an der Innenseite der Mauer zu einem kleinen Absatz führte, ehe sie die Richtung wechselte und in einen Laubengang im ersten Stock mündete.
Der Taschendieb blieb auf dem Treppenabsatz vor einem kleinen Holzbrett stehen, das dieselbe Form aufwies wie die Tür und in die verputzte Mauer gesetzt war. Er hakte den Finger in den Eisenring, der daran befestigt war, und zog behutsam. Das Brett ließ sich herausziehen und brachte zwei waagerechte Eisengitter in einer Maueröffnung zum Vorschein. Durch sie sah Monarch von oben Personen in die Gasse biegen. Er hörte ihre erschrockenen Stimmen, die sich über den Schusswechsel wunderten. Dann entdeckte er die letzte verschleierte Frau, die in die Gasse gelaufen kam, die Schusshand samt Pistole unter dem weiten Gewand versteckt.
Der Taschendieb berührte Monarchs Schulter. Er drehte den Kopf und sah, dass der Junge mit dem Goldzahn ihm zulächelte und mit den Fingern eine Pistole formte.
Monarch spähte durch die Luke, sah, wie seine Angreiferin unter ihm vorbeiging, vorbei an den anderen Leuten in der Gasse und dann verschwand. Es dauerte eine Weile, bis er sich überzeugt hatte, dass sie tatsächlich fort war. Er setzte den Deckel wieder ins Loch.
Monarch drehte sich um und sah den Taschendieb an, der ihn beobachtete, als wäre er ein Zauberer. »Wie heißt du?«, fragte Monarch auf Arabisch.
»Bassam«, erwiderte der Junge.
»Warum hilfst du mir, Bassam?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Warum wollen sie dich umbringen?«
Monarch zögerte, dann sagte er: »Ich weiß es nicht.«
»Warum hast du sie nicht getötet?«
»Weil du dann eine Leiche vor der Tür und Fragen zu beantworten hättest. Und ich glaube kaum, dass das dir oder den Nachbarn gefiele.«
Das schien Bassam einzuleuchten. »Wer sind die?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und wer bist du?«
»Nur ein Typ.«
»Woher kommst du?«
»Von überall.«
»Dann hast du bestimmt supergeheime Feinde«, sagte Bassam.
Monarch dachte nach, brachte eine kurze Liste von Möglichkeiten zustande und entschied, dass er demjenigen, der hinter dem Angriff stand – wer immer das war –, gehörig auf den Schlips getreten sein musste.
»Willst du dir was verdienen?«, fragte er.
Der Taschendieb sah interessiert aus. »Was soll ich tun?«
»Ich brauche einen Anzug, eine Schere, Rasierzeug und das Handy eines Touristen.«
Slattery sagte: »Lynch, besser, Sie sehen sich um, bevor die Polizei den Laden versiegelt.«
»Alles klar«, sagte Lynch.
Auf dem großen Monitor an der Vorderwand des Operationszentrums sah Slattery aus Lynchs Blickwinkel, wie der Agent aus dem Wagen stieg und die Straße überquerte, auf die sechs oder sieben Menschen zu, die tapfer genug waren, sich so kurz nach dem Ende der Schießerei im Laden umzusehen. Er hörte die Polizeisirenen kommen.
»Beeilen Sie sich«, sagte Slattery.
Lynchs Kamera bewegte sich zur Vordertür und forschte hinein. Der Boden war mit Glas übersät. Mehrere Menschen waren verwundet und stöhnten. Eine verschleierte, schwarz gekleidete Frau, tot, lag mit dem Oberkörper über einem der Ladentische, während sich unter ihr eine Blutlache bildete.