1919 - Es ist doch eine neue Zeit jetzt - Michael Heger - E-Book

1919 - Es ist doch eine neue Zeit jetzt E-Book

Michael Heger

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Beschreibung

April 1919. Die bayerische Regierung flieht vor der Revolution in München nach Bamberg - verfolgt von einer Gruppe rechter Verschwörer mit Attentatsplänen. Im Gefolge der Ministerien erkennt der Brauer Gustav Grüner den Hauptmann, der ihm und seinen Kameraden die Jahre an der Front zur Hölle gemacht hat. Ihr einstiger Schwur, ihren Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen, führt die Freunde wieder nach Bamberg. Die Vollstreckung ihrer Rache, die Jagd auf die Attentäter und der drohende Anschlag gipfeln in einem furiosen Finale.

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Michael Heger

1919 Es ist doch eine neue Zeit jetzt

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Heinrich Hoffmann

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5934-4

Widmung

Für meine Kinder

*

Gehört zu den Aufrechten,

habt ein Herz,

seid dankbar,

lebt!

Bamberg, 7. April 1919

Gustav erkennt ihn sofort. Der Mann steht breitbeinig im Eingang der Gaststätte und sieht sich nach einem freien Platz um, in der Linken einen Lederkoffer, in der Rechten einen Regenschirm, den grauen Homburg tief in die Stirn gezogen. Gustav steht am anderen Ende des Raumes hinter der Theke, gerade hat er dem alten Nickel einen Bierwärmer in den Krug gehängt und das volle Tablett aufgenommen, um den Stammtisch hinten im Eck zu bedienen. Jetzt aber starrt er wie versteinert auf den Mann. Er kann es nicht glauben, er will es nicht glauben. Der hier? Dann reißt es ihm plötzlich beide Augen weit auf, sein Kopf zuckt nach links, die Finger versteifen sich und schon rauscht das Tablett mit sieben vollen Bierkrügen senkrecht nach unten. Die Krüge zerspringen mit einem dumpfen Knall, Tonscherben und Bier verteilen sich über die hellen Kacheln am Boden. Mit dem Knall geben auch Gustavs Knie nach. Er fällt, von Zuckungen geschüttelt, zu Boden und stößt mit dem Kopf gegen das Spülbecken. Mistkerle, jetzt haben sie uns erwischt, Achtung, noch ein Einschlag, zurück in den Graben! Duckt euch, runter, runter, Granaten überall, die decken uns zu mit ihren Geschossen. Es blitzt, ich muss in Deckung. Einschläge, links und rechts. Johann, wo bist du? Kein Schutz, nirgends, alles überflutet, nur Schlamm. Willy, komm! Hier, dieser Bretterverschlag, besser als nichts, mach dich so klein wie möglich! Sie schreien von überall her, die Elenden. Bin ich auch verletzt? Im Kopf, da wummert es, die Hand ist nass, ich blute, Mist. Das Ende? Alles bebt, Blitze im Kopf, jemand rüttelt mich, schreit mich an, ein Schlag, schon wieder getroffen, nein, das war … kein Geschoss …, das war …, alles gut …, das war eine … eine Ohrfeige, nur ein Backenstreich. Der reißt mich an den Haaren, zerrt mich aus dem Loch, schubst mich, tritt mich, der Bretterverschlag öffnet sich, hindurch, am Boden, nur weg von hier, weg von den donnernden Einschlägen. Sie werden leiser. Wer schreit denn da so? Hans, Kaspar, seid ihr verletzt? Nein, nein, es ist … es ist nur der Vater, der schreit, der so schreit, der Vater, ich bin zuhause, es ist nichts. Nichts. Der Krieg … der Krieg ist nicht mehr, aus ist er. Aber ich kann meine Hände nicht halten, sie zittern, unaufhaltsam. So hilf mir doch einer.

Er hängt über einem Stuhl in der Stube, Babette kniet neben ihm und hält ihn fest, der Vater steht über ihm, schimpft, eine Kanonade an Beschimpfungen, verletzend, gemein, derb. Aber es sind nur Worte. Die töten nicht, die treffen ihn nicht. Nicht mehr. Allmählich verringert Babette den Druck, lässt ihn wieder los, die Zuckungen gehen zurück, der Körper beruhigt sich, der Geist kehrt langsam wieder. Der Vater stampft zurück in die Gaststätte, wutentbrannt, schimpfend, kopfschüttelnd.

Der Mann. Dieser Mann. Das …, das war er doch. Oder nicht? Das kann nicht sein. Wieso hier? Der hat überlebt? Dieses Schwein? Wieso überleben immer die Falschen? Wenn jetzt der Kaspar da wäre, oder der Willy, und Hans. Die würden Augen machen. Die Haare stimmen nicht, und der kleine Schnauzer, aber dieses feiste Gesicht, unverkennbar, der Schmiss an der Schläfe, der protzige Gang, der gedrungene Körper, alles wie damals. Nur am falschen Ort. In der falschen Stadt. Und zur falschen Zeit. Nachkriegszeit. Und der lebt. Das Schwein lebt, immer noch.

»Alles wieder gut?«, fragt Babette, seine Frau, und tupft ihm mit einem Tuch das Blut vom Gesicht, nur ein kleiner Kratzer. »Musst halt doch mal wieder rauf in die Irrenanstalt, zur Behandlung.«

Nach St. Getreu? Nein, nicht schon wieder. Es wird ja doch nicht besser. Davon nicht. Es blitzt noch einmal durch das Hirn, er reißt die Augen wieder auf, ein letzter, ferner Einschlag, dann ist es endgültig still in ihm.

»Da war … da war dieser Mann, Babette, der gerade reingekommen ist. Hast du den gesehen?«

Babette öffnet die Tür zur Gaststube einen Spalt weit und linst hindurch. »Den vorne am Fenster? Volles braunes Haar, ziemlich dick, ziemlich klein, rotes Gesicht, Brille, Schnauzer? Was ist mit dem?«

»Der …, im Krieg, war der, der hat den …, weißt du, das war … unser …, also, ich glaube, das war einer von damals, von denen.«

Babette stöhnt und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Ach, Gustav, du kannst doch nicht bei jedem, den du im Krieg mal gesehen hast, gleich zusammenbrechen. Dein Vater war wieder fuchsteufelswild, der hätte dir die kaputten Bierkrüge und sein heiliges Bier am liebsten gleich noch obendrauf geschmissen, als du unter der Theke gelegen bist. An den Haaren hat er dich hier rüber gezerrt. Er schämt sich so vor seinen Gästen. Gustav, wie soll das weitergehen? Du bist schon dreißig, so überschreibt er uns die Brauerei nie. Der Krieg ist vorbei. Wann ist er denn endlich auch bei dir vorbei?«

»Ich muss ihn noch einmal sehen. Lass mich schauen.«

Dem Mann ist der ganze Lärm offenbar entgangen, er hat sich in aller Ruhe einen freien Platz gesucht und sich ans Fenster, nahe der Tür gesetzt. Gustavs Vater bringt ihm gerade ein Bier. Als Gustav den Mann durch den Türspalt noch einmal ansieht, verschwindet der letzte Zweifel. Er ist es. Auch wie er dasitzt, mit weit gespreizten Beinen, düster dreinblickend, beide Ellbogen aufgestützt, wie er gierig trinkt und sich mit dem Ärmel den Schaum vom Mund abwischt, genau wie damals. Wie ein böser Traum. Das Schwein. Es lebt.

Gustav schließt die Tür. Er schwitzt. Sein Rücken ist nass. Ihn friert. »Ich kann da nicht raus, Babette. Ich muss weg, weg. Ich kann den nicht treffen, das geht nicht.«

Er reißt sich die Schürze vom Leib, wischt sich das Gesicht damit ab, hängt sie an den Haken und stürzt zum Hinterausgang.

»Und was soll ich deinem Vater wieder erzählen, wo du hin bist?«, ruft ihm Babette hinterher, aber er hört sie schon nicht mehr. Weit weg sind seine Gedanken, weit weg sein Körper, er spürt die Kälte der feuchten Erde, der Magen verkrampft sich, das Hungergefühl und dieser bestialisch süßliche Gestank nach nasser Erde und den Verwesenden, sie wühlen seine Gedärme auf, es drückt nach oben, er lehnt sich gegen die Hauswand im Hinterhof und kotzt vor sich auf den Boden. Noch während es ihn würgt, beschließt er, ihm zu folgen. Er muss wissen, was er hier will. Er muss es wissen. Und dann muss er den anderen Bescheid geben. Hans, Kaspar und Willy. Die müssen das wissen, dass der lebt. Die müssen …, das geht nicht, dass der lebt, das darf nicht sein.

Gegenüber der Domstern-Brauerei ist das Weiße Lamm. Ohne zu grüßen und ohne den Eingang zur Brauerei aus den Augen zu lassen, rückt er sich einen Stuhl ans Fenster, zieht den Vorhang zur Hälfte zu und bestellt einen Kaffee.

»Alles in Ordnung, Gustav?«, fragt die Bedienung. »Du bist ja ganz weiß im Gesicht, wie wenn du ein Gespenst gesehen hättest.«

»Ich wünscht, es wär so, Anna, ich wünscht, es wär so«, murmelt Gustav.

Er muss fast eine halbe Stunde warten. Der Kaffee beim Weißen Lamm ist sogar echter Kaffee, kein Gerstenkaffee oder Muckefuck, wie ihn seine Mutter seit Kriegsbeginn kocht. Entsprechend peitscht der heiße Kaffee seine Sinne so auf, dass er gespannt ist wie die überzogene Saite einer Geige, die jeden Augenblick zu reißen droht. Als der Mann endlich rauskommt, ist Gustav völlig verschwitzt. Er fährt sich mit der Hand über den Kopf, die Haare, kurz und grau seit dem Krieg, sind tropfnass, seinen Hut hat er in der Brauerei vergessen. Kalter Schweiß läuft ihm unterm Hemd den Rücken hinunter, der Schnurrbart klebt platt auf der Haut. Er erhebt sich, bewegt sich schwerfällig Richtung Tür, wie im Fiebertraum, wirft Anna, die ihn besorgt ansieht, ein paar Groschen in die Hand und tritt vorsichtig hinaus. Der Mann ist nach links abgebogen und geht die Königstraße Richtung Theuerstadt entlang. Erst jetzt sieht Gustav, dass er einen Koffer dabeihat, einen braunen Lederkoffer mit Metallbeschlägen, edles Material, von besseren Leuten. Er trägt einen langen Mantel und einen Seidenschal, den schicken Homburg und gepflegte Lederschuhe. Auf einmal fällt Gustav auf, dass sich ungewöhnlich viele Menschen in der Stadt bewegen. Sie scheinen vom Bahnhof zu kommen und streben der Stadt zu. Alle sind vornehm gekleidet und tragen Koffer, auch die Pferdedroschken und Automobile sind voll besetzt, haben riesige Kofferaufbauten auf dem Dach, auf den Droschken sitzen Kofferjungen mit auf dem Bock. Kommen denn die Leute jetzt schon zur Sommerfrische nach Bamberg? Mitten im April? Leichter Nieselregen vergällt den Besuchern wohl den ersten Eindruck, sie betrachten die vierstöckigen Stadthäuser links und rechts mit ihren abblätternden Fassaden mit kaum verhohlener Hochnäsigkeit. Wohl eher Großstadt gewöhnt, diese Besucher. Gleichzeitig fallen ihm die vielen Soldaten auf, die in kleinen Gruppen durch die Stadt schlendern, Patrouillen, irgendein Freikorps in feldgrauen Uniformen. Das war doch gestern noch nicht so?

Verwirrt und verschwitzt stolpert Gustav dem Mann hinterher. An der Kreuzung zur Luitpoldstraße bleibt er stehen und sieht sich ein Schaufenster an. Gustav duckt sich schnell in den Hauseingang einer Bäckerei.

»Gott zum Gruße, Herr Grüner!« Ausgerechnet jetzt muss der Alte von der Brauerei Fässchen vorbeikommen. Gustav späht zu seinem Mann, aber der steht immer noch vor dem Schaufenster, hat sogar seinen Koffer abgestellt und blickt sich in aller Ruhe genüsslich um. Gustav drückt sich noch näher in den Hauseingang und ist jetzt Schulter an Schulter mit dem alten Lutz.

»Na, wollen Sie sich auch ein bisschen die Flüchtlinge aus München ansehen? Lauter honorige Leute, Minister, Ministerialbeamte und Staatsräte, die hier anreisen. Bei uns übernachten auch einige, das ganze Haus ist voll. Wir haben sogar eine Sonderzuteilung an Fleischmarken erhalten, damit wir den Herrschaften was Ordentliches kochen können. In fünf Minuten soll übrigens der Ministerpräsident ankommen, mit dem 16.20 Uhr Zug. Der hat sich gestern erst einmal in Nürnberg die Truppen gesichert. Aber die Bamberger werden sich auch nicht lumpen lassen und ihm ihre Loyalität schwören, da bin ich sicher. Der Garnisonsrat hat gleich ein paar der übleren Subjekte unter den Soldatenräten verhaften lassen, damit da nichts schiefgeht, wie ich gehört habe. Sollen ja bei uns nicht solche Zustände herrschen wie in München. Völlig außer Kontrolle dort, die Revolution. Aber ist zweifellos eine große Ehre für unsere Stadt. Wo die Bewerbung für die Nationalversammlung schon nicht geklappt hat, kommt jetzt immerhin die bayerische Regierung zu uns. Der Oberbürgermeister ist schon vorbeigefahren zum Empfang am Bahnhof, mit schwarzem Zylinder. Muss sein Büro im Alten Rathaus räumen für den Ministerpräsidenten Hoffmann, das hätte er sich auch nicht träumen lassen, der Wächter. Aber …«

Gustav nickt und lächelt gequält, hört kaum zu. Auf einmal nimmt der Mann seinen Koffer wieder auf und schlendert weiter Richtung Luitpoldstraße. Gustav lässt den alten Lutz grußlos stehen, was der mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert, bevor er seinen Redefluss einfach auf die Dame überträgt, die ebenfalls im Hauseingang dem Regen entflohen ist.

Gustav quert die Königstraße, muss zwei Automobilen und einer Droschke ausweichen, rempelt einen Weichensteller, der ihn wüst beschimpft, und übersieht die herannahende Trambahn, die ihn wild anbimmelt, so dass er zurückweichen muss und seinen Mann kurze Zeit aus den Augen verliert. Er springt hoch und sieht ihn durch die Fensterscheiben gerade noch in die Luitpoldstraße einbiegen. Als er hinter der Tram auf der gegenüberliegenden Straßenseite ankommt, halten ihn zwei Soldaten an. Einer stößt ihn an der Schulter, während der andere den Lauf seines Gewehrs auf ihn richtet.

»Wohin so eilig? Weisen Sie sich aus, mein Herr! Hier ist Sicherheitszone. Wir müssen alle verdächtigen Subjekte überprüfen, und Sie machen sich äußerst verdächtig, indem sie mit übergroßer Eile die Straße überqueren und dabei den Verkehr behindern. Also los, Ausweis!«

Gustav kramt panisch in seinen Taschen – der Mann ist außer Sichtweite – und fördert nur seinen verkrumpelten Entlassungsschein zutage. Der allerdings wirkt Wunder. Die beiden Soldaten beruhigen sich und klopfen ihm auf die Schulter. »Kamerad, du hast gedient wie wir, 5er, die wir hier alle stehen. Wir wollen nur sicherstellen, dass uns keiner die Früchte unserer Hände Arbeit stiehlt, und schützen die Regierung. Wenn du kannst, tritt wieder bei. Wir brauchen noch viele wie dich zum Schutze der gewählten Regierung.«

Der andere Soldat dreht Gustav den Rücken zu und flüstert dem ersten Soldaten etwas ins Ohr. Da gibt ihm der seinen Schein zurück, schneller als notwendig, und sagt, schon im Gehen, er möge sich doch weiter seiner Genesung widmen, das würde schon wieder werden, sie könnten nur einsatzfähige Soldaten gebrauchen.

Gustav achtet gar nicht auf ihn, überhört die Demütigung und stolpert blindlings, den Entlassungsschein noch in der Hand, zur Kreuzung. Sein Mann ist fort. Einen kurzen Moment zittert die linke Hand, pendelt hin und her, er nimmt sie in die rechte und donnert sie gegen die Hauswand. Blutig geschürft vom rohen Stein steckt er die zitternde Hand in die Rocktasche und rennt die Luitpoldstraße hinauf. Als er in die Gerade auf den Bahnhof zu einbiegt, sieht er ihn wieder, ganz vorne, er muss einen gehörigen Zahn zugelegt haben. Gustavs Beine drohen einmal mehr nachzugeben, er rennt im Zickzack, stößt mit den Platanen zusammen, mit den Hauswänden, mit Fußgängern, die ihn einen Hammel schimpfen. Jetzt sacken die Knie wieder weg und er fällt auf das Pflaster. Die Einschläge kommen näher, Geschützartillerie von rechts vorne, Knattern und Rattern. Sind das Tanks? Oh nein, bitte nicht! Tanks sind mörderisch, die fahren über dich drüber, Johann, die zermalmen zu Brei, was noch übrig ist von dir. Granate, Deckung! Er wirft sich ins Gebüsch, während die dunklen Tanks an ihm vorbeidonnern, neben ihm zwei Menschen, die »Hoch« rufen und Fähnchen schwenken. Was machen die da? Runter, Mann, runter! Er springt auf, reißt die beiden um und zieht sie in das Gebüsch.

»He, was soll das? Sind Sie irr? Man wird ja wohl noch dem Ministerpräsidenten aus München zujubeln dürfen. Gemeingefährlich, Mann, sowas sollte man einsperren.« Die beiden rappeln sich wieder auf, putzen sich ab und rennen den Tanks hinterher. Es sind Automobile, schwarze, die knattern, mit Menschen mit Zylinderhüten drin, schwarzen Anzügen und Zylindern. Ja, sie winken sogar. Keine Tanks. Gustav sitzt auf der Erde unter dem Busch, die Finger in den Boden gekrallt, Speichel fließt aus seinen Mundwinkeln. Er sieht den Fahrzeugen hinterher. Es ist der Korso des bayerischen Ministerpräsidenten, der soeben bei strömendem Regen am Bahnhof vom Bamberger Oberbürgermeister Adolf Wächter empfangen wurde und nun mit ihm zur Kaserne des Infanterieregiments fährt, um rund tausend Soldaten auf die einzig legitime, nämlich seine, Regierung einzuschwören. Von Bamberg aus will er den Kampf gegen die Räterepublik mit ihrem Zen­tralrat, die München kurzerhand übernommen hat, führen.

Der Mann, wo ist er hin? Gustav kriecht aus dem Gebüsch, die Leute starren ihn an, er versucht, in den aufrechten Gang zu gelangen, zieht sich am Stamm einer Platane hoch, wie betrunken. Das Zittern, immerhin, ist wieder weg, die Sicht ist noch vernebelt, aber er läuft weiter Richtung Bahnhof, Augen nach vorne, auch wenn er selbst immer wieder seitwärts schlenkert.

Anzügliche Bemerkungen von Passanten, Gelächter und Fingerdeuten bemerkt er nicht, dafür sieht er seinen Mann wieder. Er biegt nach links ab. Schnell einen Schritt zugelegt, laufen, schneller, hier muss es gewesen sein, Heiliggrabstraße. Er blickt angestrengt die Straße hinunter, aber sein Mann ist weg. Er ist doch links runter. So viel Vorsprung hat er nicht gehabt. Sollte er …? Direkt hier an der Ecke ist Liebs Hotel National. Klar, er hat doch einen Koffer gehabt.

Gustav geht die paar Stufen zum Hoteleingang hinauf, keuchend beugt er sich langsam, tastend, um die Flügeltür, da sieht er ihn auch schon. An der Rezeption. Besser gesagt, er sieht den Koffer und ein paar Beine mit braunen Lederschuhen und den Saum eines dunklen Mantels. Er wendet sich schnell wieder ab, taumelt um die Ecke und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. »Gute Verpflegung – mäßige Preise« wirbt das Hotel auf einem Schild über seinem Kopf. Gustav schließt die Augen und schnauft tief ein und aus – das sagen sie immer in St. Getreu, wenn alles andere wieder mal nicht geholfen hat, die Anfälle veratmen, an was Angenehmes denken, im Kopf schon das Zittern bekämpfen. Er versucht, an etwas Schönes zu denken, hat aber nur das Gesicht des Mannes vor sich, den er bis hierhin verfolgt hat. Und dahinter, hinter dem Gesicht, ist die verdreckte Welt des Schützengrabens, das breiige Braungrau des Todesstreifens, von Stacheldraht und Panzersperren durchsetzt, hier ein Arm, da ein Bein, die durchwühlte Welt, von innen nach außen gestülpt, ja ausgespien. Dann, allmählich erst, kommen die Köpfe seiner Kameraden ins Sichtfeld, erst Willy, der Rotschopf, er lacht und hat ein Brot und eine Flasche Wein unterm Arm, dann Hans, der Pferde-Michel, wie er auf einem Baumstumpf hockt und sein Pfeifchen pafft, Kaspar, der Tastenheini, mit geschlossenen Augen, den Kopf hin und her wiegend, ganz in seine Musik versunken, und schließlich Johann, der Johann, sein Johann. Er steht direkt vor Gustav und lächelt ihn an, in einer Korona des Lichts, er reicht ihm die Hand, geht auf ihn zu. Dann reißt das Bild ab, und Gustav öffnet die Augen, sackt nach unten und bleibt auf dem Gehsteig sitzen, den Kopf in die Hände gestützt.

»Alles gut, Kamerad?« Eine weitere Patrouille hält bei ihm, geht aber weiter, als er den Kopf schüttelt und sie mit den Händen wegwischt, weiterwinkt.

Fünf Minuten sind vergangen, er hat sich jetzt wieder völlig im Griff. Gustav Grüner steht auf, streicht sich die Hose glatt, säubert die Hände an seinem Schnäuztuch, kratzt sich mit dem Taschenmesser die Erdreste aus den Fingernägeln, und wischt sich die Schuhe sauber. Erhobenen Hauptes stolziert er ins Hotel National, sieht sich unbefangen um, als ob er jeden Tag hier ein und ausgehen würde, und wendet sich an die Rezeption.

»Sagen Sie, junger Mann, war dieser Herr, der sich hier eben angemeldet hat, nicht der … na, wie heißt er doch gleich … der …«

Gottlob fällt der Mitarbeiter auf seine plumpe Falle herein und entgegnet: »Sie meinen den Herrn Staatsrat Walter Rupp von der SPD? Ja, das war er. Herr Staatsrat Rupp logiert in unserem Hause, solange die Regierung in Bamberg weilt. Soll ich Sie melden?«

»Nein, nein«, entgegnet Gustav schnell und überspielt sein Erstaunen. »Aber Sie meinen schon den eher kleinen, dickeren Herrn mit dem geröteten Gesicht, dem Schmiss an der Schläfe, braune Haare, kurzer Schnauzer, heller Hut?« Er kann es nicht glauben, will auf Nummer sicher gehen. Rupp? Wieso Rupp? Was soll das? Der Rezeptionist sieht ihn nun genauer an und ist sich offenbar im Unklaren, ob er diese Information überhaupt hätte geben dürfen. »Wer sagten Sie doch gleich, dass Sie sind?«

»Ist schon gut, ich wollte nur sicher gehen, dass es wirklich der Walter Rupp ist. Vielen Dank für die Auskunft.«

Gustav Grüners Abgang ist deutlich weniger souverän als sein gespielter Auftritt, er verpasst die zweite Stufe, strauchelt und fällt direkt in die Arme der Soldaten von vorhin.

»Holla, Kamerad. Gemach, gemach!«

»Schon wieder der! Jetzt wird es mir aber zu bunt. Erst dieses wilde Gerenne und jetzt ist er vor einem Hotel, das Teile der Regierungsmitglieder beherbergt. Und wie der ausschaut! Los, du kommst jetzt mit auf die Wache, das muss geklärt werden. Soldat Schultz, führen Sie ihn ab!«

Als ihn Babette am Abend von der Hauptwache abholt, reden sie kein Wort miteinander. Schweigend gehen sie an den zahlreichen Patrouillen vorüber, an den kleinen Grüppchen von Menschen, die alle paar Meter beisammenstehen und die Köpfe zusammenstecken, wild diskutieren und gestikulieren. Auf den Litfaßsäulen hängen Anschläge der Regierung des Freistaates Bayern, gezeichnet von Ministerpräsident Hoffman, der bekräftigt, dass die nun in Bamberg ansässige mehrheitssozialistische Regierung die einzige Inhaberin der höchsten Gewalt Bayerns sei und ihre Anordnungen und Befehle zu vollziehen seien. Es sei mitnichten wahr, dass die Regierung Hoffmann zurückgetreten sei.

»Ob sie das in München auch so sehen, die Herren von der Räterepublik?«, versucht Babette, das Eis zu brechen.

Als Gustav weiter schweigt, fragt sie: »Was war los heute Mittag? Das war doch mehr als bloß ein Kamerad von damals.«

Erst als sie schon fast die Brauerei erreicht haben, fragt Gustav: »Wie lange hat das Telegraphenamt offen? Ich muss den Hans kontaktieren. Und den Kaspar. Und den Willy. So schnell wie möglich.«

Hans. Kaspar. Willy. Und er. Das geht nur sie etwas an. Der Schwur. Ihr Schwur.

Bamberg, 12. April 1914

»Nein, nein, und nochmals nein! Alles bleibt wie es ist! Die Gaststätte hat noch all unseren Vorfahren gereicht, und uns reicht sie auch. Damit ist die Domstern-Brauerei seit 224 Jahren ausgekommen, und ich gedenke nicht, das zu ändern!«

Der Vater schlug mit der flachen Hand – und es war eine große Hand, mehr eine Pranke – auf den Tisch, dass die Bierkrüge in die Höhe sprangen und Sekundenbruchteile nach dem Aufschlag ein weiteres bedrohliches Scheppern verursachten.

»Aber Vater«, versuchte Gustav es noch einmal, »sieh doch! Der Eckenbüttner mit seinem großen Saal, der ist andauernd voll, und im Schützenhaus haben sie zwei große Säle, sogar der Erlanger Hof am Bahnhof hat einen Festsaal. Und wir? Haben nur diesen einen Raum. Nebenan, die Kunzes wollen verkaufen, das ist doch eine riesige Gelegenheit. Da könnten wir einen zweiten Gastraum eröffnen, gerade jetzt, wo es überall diese Vereinssitzungen gibt und so politische Sitzungen, und eine Kultur gibt’s, Kabarett und Salons und Vorträge, da kommen die Leute …«

»Sallonns und Vorträge! Wenn ich das schon höre«, unterbrach ihn sein Vater schroff. Den französischen Salon sprach er bewusst falsch aus, um seiner Verachtung für diese Art gesellschaftlicher Zusammenkünfte Nachdruck zu verleihen. »Ich weiß gar nicht, wer sich all diese Vooorträge andauernd anhören soll. Und diese Parteien und ihre sogenannten Politiker, die kommen mir schon gleich dreimal nicht ins Haus. Schwatzbasen sind das. Wollen König und Kaiser dreinreden und gescheit daherreden! Ja, wer sind wir denn? Ein Vereinslokal? Ist es das, was du willst? So ein Lokal? Nur über meine Leiche! Wir sind eine Brauereigaststätte. Hier gibt es unser gutes Domstern-Bier und sonst nix. Und so war es und so ist es und so wird es auch bleiben. Wir sind noch immer gut gefahren in den letzten Jahren. Und den Kunzes werfe ich schon gleich dreimal kein Geld in den Rachen!«

Gustav Grüner seufzte und nahm einen tiefen Zug aus dem Steinkrug, der vor ihm auf dem grob gezimmerten, über die Jahre blank gewienerten Eichentisch in der Stube stand. Ein Fehler. Denn so kam er nicht einmal in Vaters Pause dazwischen, bevor der seine Tirade einfach fortsetzte. Sein Vater, Braumeister in der siebten Generation, und mit seinen 55 Jahren noch so fest im Sattel, dass er keine ihm fremden Ideen dulden wollte. Und noch so rüstig, dass er es auch nicht musste.

»Du wirst schon noch sehen, die Leute wollen keinen so Firlefanz, wie du dir das vorstellst. Diese Sitzungen. Und dann noch Kabarett? Womöglich noch mit einer Bühne? Und die ganze Technik mit Elektrizität, wer soll denn das bezahlen? Das kommt doch nie und nimmer wieder rein. Ruinieren willst du uns mit deinen neumodischen Ideen! Ruinieren! Was wir und unsere Vorfahren zur Seite gelegt haben, das willst du in Bausch und Bogen aus dem Fenster werfen. Lieber enterbe ich dich, als dass ich dir mit solchen Hirngespinsten die Brauerei einmal übergebe! Nein, nein, nein, mit mir nicht! Jetzt sag doch auch mal was, Kunigunde!«

Er wandte sich an seine Frau, die mit am Tisch saß, aber noch kein Wort gesagt hatte, den Blick starr nach unten in den Schoß gerichtet, wo sie die Hände mit ihrer Schürze zu verkneten schien.

»Na ja, der Bub« – sie nannte Gustav immer noch »Bub«, aber er mochte das. Ihm wurde immer ganz warm ums Herz, wenn sie ihn so nannte, vor allem da sein Vater, der cholerische Patriarch, seinen Vornamen sonst immer mit einer Vehemenz wie ein Pistolenschuss auswarf, Gusstaff – »der Bub hört sich halt auch ein wenig um bei seinen Freunden und er ist viel in der Stadt unterwegs und da hört er halt so manches, was vielleicht auch für uns intere…«

Weiter kam sie nicht, denn Heinrich Grüner sprang auf und schob den Tisch ruckartig nach vorne.

»Genau, verteidige ihn auch noch! Diesen verlorenen Sohn, der nachts um die Häuser zieht und bei der Konkurrenz zecht! Der einfach nach Nürnberg verschwindet und erst Tage später wieder hier auftaucht. Und da soll der gute Ideen mitbringen? Ausgerechnet der? Bei einem solchen Lotterleben? Mutter, ich glaube, du gehst jetzt besser wieder in die Küche!«

Sofort stand Gustavs Mutter auf, strich mit den Händen die Schürze glatt und warf Gustav schulterzuckend einen wohl tröstlich gemeinten Blick zu. Sein Vater sprach jetzt stehend weiter, wie vor einem Tribunal: »Statt, dass er sich in der Brauerei blicken ließe. Oder in der Wirtstube mal Hand anlegt. Aber nein, der feine Herr muss ja in die Großstadt. Hier in der Provinz ist es ihm zu öde. Mit uns Bauern an einem Tisch zu sitzen. Wahrscheinlich ist er ja was Besseres, und wie man so einen Betrieb zu führen hat als Braumeister in der achten Generation, das lernt man ja ganz nebenbei, im Handumdrehen. Na klar.«

»Vater, jetzt hör mich doch nur einmal an! Ein einziges Mal!« Jetzt war es Gustav, der versuchte, zur Lautstärke seines Vaters aufzuschließen, und ebenfalls aufsprang. »Du weißt genau, dass ich unsere Brauerei liebe wie du, und dass es mir immer um unsere Brauerei geht, und ich verdammt nochmal genau deswegen will, dass wir uns für die Zukunft rüsten!« Auch Gustav schlug jetzt mit der Faust auf den Tisch, was ihm aber gründlich misslang, denn er traf seinen Bierkrug, der ins Schlingern geriet, umfiel und einen Schwall Braunbier über die Tischkante beförderte. Wie Blut lief das sämige Bier Tropfen für Tropfen direkt vor Gustavs Füße.

Heinrich Grüner würdigte seinen Sohn keines Blickes mehr und verließ den Tisch, griff sich den Schlüsselbund und drosch die Tür zur Gaststube auf. Wortlos stürmte er davon.

Gustav blieb alleine in der Wohnstube zurück. Ihm war kalt. Es roch nach dem verschütteten Bier, aus der Küche strömte der Geruch von Sauerkraut und Knöchla. Er beobachtete das Bier, wie es von der Tischplatte auf die roten und die schwarzen Steinplatten tropfte. Sosehr er sich auch bemühte, er vermochte nicht, die Tropfen von der Tischkante mit den Augen zu verfolgen, sobald sie ihr Fallgewicht erreicht hatten und hinunterfielen. Erst im Augenblick des Auftreffens hörte er das Aufklatschen und sah den Ring winziger Tröpfchen, die sich bei jedem Aufschlag um die Pfütze herum verteilten.

Über ihm hing die Lampe mit dem Hirschgeweih, das ihn als Kind immer so fasziniert hatte, ein echter Zwölfender – angeblich von seinem Ururgroßvater höchst selbst geschossen – und damit ein Heiligtum, denn sein Ururgroßvater Friedrich war es gewesen, der der Brauerei Domstern mit seinem neuen Rezept für ein Braunbier zum großen Durchbruch verholfen hatte. Hinter ihm die Ahnengalerie seiner Vorfahren, honorige Leute allesamt, Brauer, Büttner, Brauer, Geschäftsleute, Brauer und noch mehr Brauer. Gegenüber, in Gold gerahmt, König Ludwig, daneben ein Abreißkalender, für jeden Tag ein Bibelspruch. Das war sein Weihnachtsgeschenk für seine Eltern gewesen heuer. Der Kalender zeigte den 30. März 1914 an. Nun ja, schien auch nicht wirklich gut angekommen zu sein, der Kalender.

Weg, einfach nur weg! Der Vater war unbelehrbar. Immer weiter so, immer weiter. So haben wir es immer gemacht und so machen wir es weiter. Dass die anderen Brauereigaststätten ihnen allmählich den Rang abliefen, das wollte der Vater einfach nicht sehen. Vielleicht konnte er es nicht sehen. Vor lauter Ahnen und Hirschgeweihen und Geld, das ihm seine vergreisende Stammklientel noch einbrachte. Aber voll war es woanders. Da, wo die Jungen übernommen hatten, beim Grasser, beim Großkopf, den Maex’, den Schlegels. Die holten das Geschäft ins Haus. Jeden Abend waren da mittlerweile Parteisitzungen, von den Sozialisten, von den Katholiken im Zentrum, den Konservativen, den Vereinen für Fürsorge, den Kriegervereinen, den Königstreuen, den Wandervögeln. Und die hatten alle Zulauf, die brauchten große Säle. Die paar Stammtische, die noch bei ihnen stattfanden, in der Gaststube ins Eck gezwängt, die konnte man an einer Hand abzählen. Und das waren nur noch die alten Kartler, die tranken alle Stunde ein Bier, und dazwischen vielleicht mal einen Schnaps, wenn’s hoch kam. Aber das Geschäft machten die anderen. Was bei diesen politischen Sitzungen gesoffen wurde! Die redeten sich die Köpfe heiß und merkten gar nicht, wie sehr sie andauernd ihren Durst stillen mussten. Und in Nürnberg erst, die ganzen Arbeitervereine, die Gewerkschafter, die trugen am Monatsanfang ihren halben Lohn in die Gaststätten. Aber das hatte er alles schon so oft an seinen Vater hingeredet.

Die Tür der Gaststube ging auf und seine Frau Babette kam herein.

»Klang nicht gut!«

»Nein. Nicht gut. Der sture Bock ist nicht ansprechbar. Keine Chance. Babette, hier kommen wir nicht weiter. Vielleicht müssen wir doch weg von hier. Da könnten wir uns was Eigenes aufbauen. Ein ganz modernes Lokal. Bis der Alte tot ist. Dann übernehmen wir hier.«

»Nicht mit mir, Gustav. Ich geh nicht weg von Bamberg. Wieso, meinst du, hab ich dich geheiratet? Nein, nein, nein! Diese Brauerei hier – das ist unsere Zukunft! Hier machen wir was draus.«

»Aber wenn der Alte noch zwanzig Jahre lebt? Sollen wir so lange warten, bis sich hier mal was ändert? Schau, Babette, in Nürnberg, da läuft was, da schießen die Fabriken wie Pilze aus dem Boden, da gibt es Arbeiter ohne Ende. Und Arbeiter trinken nun mal gerne. Jetzt, wo sie auch mal frei haben, erst recht. Hier, in Bamberg, die Bürger, die trinken doch nur solange der Pfarrer nicht guckt, und hier gibt’s verdammt viele Pfarrer, in Nürnberg dagegen …«

»Das tät dir so passen, ha, Nürnberg! Noch näher zu deinen Männern? Reichen dir deine Ausflüge nicht mehr, oder was? Musst du einen Druck haben!«

»Psst! Bist du wahnsinnig? Die Mutter ist gleich nebenan in der Küche.«

»Na und? Wenn du dich mehr um die Brauerei kümmern würdest, statt immerzu nach Nürnberg zu fahren, dann müsste ich nicht immer deine Alten aushalten, alles erklären und vertuschen. Und die ganze Arbeit hab sowieso ich! Wenn es sich wenigstens lohnen tät! Aber wenn dir deine Bekanntschaften wichtiger sind …«

»Bist du jetzt ruhig, Babette! Das tut gar nichts zur Sache. Du kennst unsere Abmachung, also halt dein loses Mundwerk. Und wirf du mir nicht vor, dass ich nichts in der Brauerei mache. Reicht schon, wenn der Vater so denkt. Den Biergarten, den habe ich eigenhändig wieder aufgebaut letztes Jahr nach dem Brand. Wirst schon sehen, der läuft prächtig heuer!«

»Ja, sehr schön, Herr Grüner, und wer hat das Sagen auf dem Keller? Und wer behält die Einnahmen? Der Herr Papa! Nein, Gustav, wir haben gesagt, dieses Jahr werden Nägel mit Köpfen gemacht. Und wenn du es nicht schaffst, dass uns dein Vater wenigstens den Garten überschreibt, dann sind deine Besuche in Nürnberg gestrichen, sag ich dir!«

»Babette!«

Wie lange hielt ihr Abkommen jetzt schon? 1914 …, Emma ist 1913 geboren …, 1911 geheiratet, dann kannten sie sich jetzt schon über 4 Jahre. »Sag mal, bin ich wirklich so hässlich oder machst du dir nix aus Frauen, Gustav Grüner? So lange musste ich ja noch nie an ein Mannsbild hinbenzen, bevor der es endlich begreift!« Als Gustav damals in der Braustube nicht schnell genug widersprochen hatte, redete sie einfach weiter, leiser, so dass nur er es hören konnte. »Ich seh doch, dass du die ganze Zeit zu dem feschen Otto da hinten schaust. Aber mach dir keine Hoffnungen, der ist längst vergeben.« Dann neigte sie den Kopf noch näher zu Gustav, bis ihm ihr aufdringliches Maiglöckchen-Parfum in die Nase stieg und er, wollte er ihr nicht ins Gesicht sehen, unweigerlich in ihren Ausschnitt blicken musste. »Ich mache dir ein Angebot, Gustav Grüner. Wenn das hier rauskommt, bist du tot und erledigt. Das ist dir klar, und mir auch. Du interessierst dich also eher für Mannsbilder, aber du liebst auch deine Brauerei hier, richtig?« Er hielt sich ganz still und vermied weiter jeden Blickkontakt zu ihr, gespannt was jetzt folgen würde. Noch hatte ihm in seiner Heimatstadt niemand auf den Kopf zugesagt, dass er sich nicht für Frauen interessiere. Auf das, was jetzt kommen würde, war er nicht vorbereitet. »Weißt du was? Mir geht es genauso. Ich interessiere mich auch eher für die Mannsbilder und liebe diese Brauerei. Da sind wir doch schon zwei mit den gleichen Vorlieben. Bei so viel Übereinstimmung könnte man doch meinen, dass das eine gute Grundlage ist für ein wunderbares Geschäftsmodell!«

»Geschäftsmodell«, genau, so hatte sie das genannt damals, ein »Geschäftsmodell«.

Zwei Tage später schon trafen sie sich erstmalig im Hain auf einen Spaziergang und tranken einen Kaffee im Theresienhain. Sie war ihrer Arbeit in der Schneiderei überdrüssig und wollte unbedingt in eine Brauerei einheiraten, was nicht so einfach war. Da hatten Brauereltern meist andere Vorstellungen. Sie war tüchtig, ehrgeizig und schlagfertig und trotz ihrer Körperfülle, die ihre selbst genähten Kleider nicht zu kaschieren versuchten, wusste sie sich mit ihrem kastanienbraun gewellten Haar, meist mit einem breitkrempigen Hut verbandelt, in Szene zu setzen.

Sie bot ihm die Chance, in Ansehen und Würde Teil der Bamberger Gesellschaft zu bleiben und irgendwann die Brauerei zu übernehmen. Und dabei dennoch nicht auf seine Liebeleien zu verzichten, derentwegen er meist bis nach Nürnberg fuhr, um der Gefahr einer zufälligen peinlichen Begegnung so weit wie möglich zu entgehen. Sie würde sein Alibi sein, seine Vorzeigegattin, mit der Vorzeigefamilie. Seht her! Alles in Ordnung, der Junge hat einen Stammhalter gezeugt, er ist der würdige Nachfahre von Friedrich Grüner, dem Erfinder des Domstern-Braunbieres, die achte Generation ist bereit und hat für die neunte gesorgt.

Gut, bisher ist es nur eine Emma geworden, aber Babette würde schon noch einmal schwanger werden, so genau wollte er es nie wissen, sie fragte ja auch nie nach, mit wem er in Nürnberg so verkehrte.

Und jetzt? Nutzte sie ihre Abmachung, ihr Geschäftsmodell, um Gustav unter Druck zu setzen. Das war gemein. Sie wusste doch, wie schwierig der Vater war. Jetzt stand er zwischen zwei Fronten, eine so gefährlich wie die andere. Der Vater, der ihm nichts zutraute, nichts ändern wollte und die Zukunft der Brauerei aufs Spiel setzte, und Babette, die ihn jederzeit ins gesellschaftliche Aus katapultieren konnte. Sein rechter Schuh stand nun direkt in der Pfütze, rundherum das verschüttete Braunbier auf den Kacheln, die schwarzen glänzten, die roten wirkten dreckig.

Aber sie hatte ja Recht, er musste sich irgendwann einmal durchsetzen. Er war jetzt 26, und auch wenn sein Vater es nicht so sah, er war Braumeister, er kannte sich aus, er konnte ein ordentliches Braunbier brauen und ein gutes Kellerbier. Wie gerne würde er sich mal an einem Weizenbier probieren. Das schmeckte den Leuten, und es gab noch nicht viele Bamberger Brauereien, die eines brauten, und er hatte Ideen.

»Babette, wenn er doch so gar nicht zugänglich ist! Was soll ich denn machen?«

»Mach ihm den Biergarten madig, noch vor der Kellersaison. Mach ihm klar, dass er zu viel Arbeit hat damit, dass er nichts abwirft, dass die Gärten und das Draußen-Sitzen keine Zukunft haben, die Sommer immer kälter werden, es so weit oben am Berg ist, was weiß ich. Erzähl es ihm so, dass es ihm leichtfällt, den Keller loszuwerden, damit er sich auf die alte Gaststube hier unten konzentrieren kann. Vielleicht sieht er ja auch eine Chance, dich reinrasseln zu lassen, um dir mal wieder zu beweisen, was für eine Niete du bist. Lass dir halt was einfallen!«

»Ja, der Garten wäre schon ein schöner Anfang. Wir zwei im Biergarten! Eine gute Mischung. Noch eine ordentliche Küche da oben, dann läuft das. Das Bier kommt direkt aus dem Keller und der Blick, jetzt wo die Papsthardts die Eschen unten gefällt haben, ist einer der schönsten der Stadt.«

»Sag ich doch. Und dann die Remise hinten im Garten! Wenn wir die noch ausbauen, kriegst du endlich deinen Saal!«

Gustav hielt inne. »Babette, du bist ja eine Wucht! Die Remise, na klar! Da gehen gut und gerne 120 Leute rein, eine gute Größe, eine gute Größe. Die könnten wir sogar das ganze Jahr über bewirtschaften und den Garten halt im Sommer nur. Ja, das könnte klappen.«

»Siehst du? Wir wollen doch das Gleiche. Immer schon. Also halt dich ran! Noch in diesem Jahr muss das über die Bühne gehen!«

Aus der Stube nebenan hörte man Kindergeschrei.

»Oh, Emma hat Hunger. Gehst du rüber in die Gaststube, Gustav? Tisch 12 kriegt noch einen Viertel Weißen und zwei Braunbier.«

Bamberg, 28. Juni 1914

Der Abspann zu »Im Banne der Leidenschaft« lief noch, das Orchester spielte ein letztes Mal das Hauptmotiv in d-Moll mit dem pathetischen Solo der Klarinette. Helene spielte im Stehen und bewegte sich verführerisch im Takt ihrer Töne, das enganliegende rote Kleid betonte ihre Figur und Kaspar hatte nur Augen für sie. Beinahe hätte er die Schlusskadenz verpasst, rettete aber das verwirrte Orchester, indem er am Klavier noch ein paar Harmonien und ein kurzes Solo als Brücke einflocht, bevor er dann die Kadenz richtig einläutete. Applaus, Verbeugung, Stimmengewirr, Aufbruch, Abgang. Das Lichtspielhaus am Grünen Markt leerte sich, die Musiker des Salonorchesters Mohrs Melodien packten ihre Instrumente ein, als Emil Dotterweich auf Kaspar Mohr zukam, Zigarre im Mund und ein Papier in der Hand.

»Sehr schön, sehr schön. Vor allem die Klarinette war wie immer eine Wucht, in jeder Hinsicht Augenweide und Ohrenschmaus.« Sein Blick umgarnte Helenes Körper und er riss sich nur los, um ihr schwärmerisch in die Augen sehen zu können, gefolgt von einem tiefen Seufzer und einem zugeworfenen Kussmund.

»Wenn du nicht aufpasst, fallen dir die Augen aus dem Glubschkasten, Emil. Wenn du nur halb so viel Energie für deine Henriette aufbieten würdest, wie du an mich verschwendest, wärt ihr schon längst verheiratet.« Helene schulterte ihre Klarinette und hakte sich bei Kaspar Mohr unter.

»Wer sagt denn, dass ich sie heiraten möchte? Vielleicht kommt ja nochmal ein Angebot von anderer Seite …«

»Vergiss es, Emil! Deine Avancen sind so durchsichtig, wie es die Gläser deines Lokals bedauerlicherweise nie sind.«

Emil machte demonstrativ kehrt. »Na, wenn das so ist, dann nehme ich meine Aufträge für das zweite Halbjahr eben wieder mit und suche mir eine andere Augenweide.«

»Nichts da!« Kaspar Mohr entriss Dotterweich das Blatt Papier, mit dem er in der Luft gewedelt hatte, und überflog den Inhalt, während dieser die Gelegenheit nutzte, Helene noch einmal näherzukommen.

»He, das sind ja doppelt so viele Termine, wie wir vereinbart hatten.«

»Ja, ja, zu meinem allergrößten Leidwesen kommen die Leute nicht nur wegen der herausragenden Filme, die ich zeige, sondern besonders gerne dann, wenn wir ein großes Orchester zur musikalischen Begleitung haben, nicht nur das Klavier. Mohrs Melodien trifft den Ton der Zeit. Daher habe ich euch für alle Sonntagsvorführungen bis Oktober eingebucht, wenn es recht ist. Und ein paar Mal für einen Tanznachmittag im Café.«

»Bis Oktober? Vergiss es! Im September haben wir eine Tournee in Frankreich und in England. Alles schon festgezurrt und Reisepläne gemacht. Tut mir leid. Da wirst du dir jemanden aus der zweiten Garde suchen müssen. Frag doch mal den Reinhard!«

Mit diesen Worten schloss Kaspar den Klavierdeckel, rauschte mit Helene am Arm an dem verdutzten Emil Dotterweich vorbei und trat hinaus in die Dunkelheit der Nacht, auf die Straße. Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, legte Helene die Arme um Kaspar und drückte ihn gegen die Hauswand. Unter dem Schein der Laterne küsste sie ihn wild auf den Mund und fuhr ihm mit den Händen durch das dunkle lockige Haar. Ein Bein schob sie seitlich bis zu seiner Hüfte hinauf, ihr ganzer Körper drückte sich gegen seine verschwitzte Brust. Kaspar Mohr, Kopf und Seele des Salonorchesters Mohrs Melodien, war immer völlig durchnässt am Ende seiner Aufritte. Auswärts hatte er stets Wechselkleidung dabei, nur bei Engagements zuhause ließ er es bleiben. Helene war die einzige, die ihn davon abhalten konnte, sofort nach Hause zu eilen, um sich umzuziehen und frisch zu machen. Er erwiderte ihre Küsse und drückte sie mit einem festen Griff an sich.

»Fahren wir wirklich nach England, Kaspar?«, hauchte sie ihm ins Ohr, das sie bei dieser Gelegenheit gleich völlig mit dem Mund verschlang und mit der Zunge bearbeitete.

»Ja, alles unter Dach und Fach«, stöhnte er, unter ihren Liebkosungen kaum in der Lage zu reden. »Walter Goetschi hat mir gestern die Verträge aus London geschickt.«

Helene riss sich schlagartig los, fasste seine Hand und zog ihn mit sich fort. »London! Fantastisch! Das muss gefeiert werden. Lass uns noch was trinken gehen! Irgendwo wird schon noch was los sein!«

Immer wenn Kaspar Mohr und Helene Spiegel in einem Lokal auftauchten, drehten sich alle Köpfe nach ihnen um. Kaspar mit seiner schwarzen Lockenmähne, beethoven­gleich den Künstler mimend, groß gewachsen und schlank, mit einem bubenhaften Gesicht, und Helene mit ihrem frechen Kurzhaarschnitt, den breiten muskulösen Schultern, schmaler Taille und Brüsten, die sie durch ihre modische Kleiderwahl gerne betonte. Aber es war mehr als ihr Aussehen. Die beiden waren eine Einheit, nicht nur musikalisch, ihr ganzer Auftritt nahm Menschen für sie ein und begeisterte allein durchs Hinsehen. Helene war mitreißend und trug eine Zuversicht vor sich her, die ansteckend wirkte. In ihnen spiegelte sich die Zukunft, ein ganzes Leben voller großer Momente.

Manchmal konnte Kaspar sein Glück gar nicht fassen. Er hatte Erfolg mit seinem Salonorchester, ja, mehr als das, er war zum gefragten Musiker geworden. Geschickt arrangierte er die verstaubten Tanzstücke neu und verwob die populäre Marschmusik mit Elementen, die hierzulande keiner kannte. Ein Amerikaner hatte ihm vor zwei Jahren in München einige Stücke vorgespielt, die er Rag genannt hatte, oder Jass. Diese wollten Kaspar nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er baute sie in seine Arrangements ebenso ein wie die Klarinettensoli von Helene, die häufig die traditionellen Melodien ihrer jüdischen Vorfahren aufgriff. In Bremen hatte Kaspar einem ukrainischen Auswanderer ein paar Mark gestiftet, die ihm noch zum Preis seines Schiffsbillets nach Übersee gefehlt hatten. Als Dank hatte der ihm einen Haufen Noten überlassen, die ihm im Koffer für die Überfahrt den Platz stahlen. Klezmer war seitdem ein Zauberwort für Kaspar – und jüdische Hochzeiten waren gefragte Engagements, sie waren lang, gut besucht und feuchtfröhlich. Den Leuten gefiel es, die Aufträge und Auftritte purzelten nur so herein. Nur deswegen konnte er es sich leisten, mit Emil Dotterweich so umzugehen. Noch vor ein paar Jahren wäre er für jeden dieser Termine froh und dankbar gewesen, aber heute? Konnte er frei auswählen. Nach den Sternen greifen. Er wollte jetzt unbedingt ins Ausland, sich vergleichen, die Musikkulturen anderer Länder kennen lernen und aufsaugen, gebrauchen, verarbeiten. Daher hatte er sich erstmals einen Agenten genommen. Und der hatte ihm diese Tournee aufgetrieben. Ja, er fühlte sich gut. Er hatte seine Musik – und er hatte seine Helene. Seine Helene, die schöne Helene, die Göttin der Klarinette, seine Muse, seine Geliebte, seine Musikerkollegin, sein Ein und Alles. Sie beflügelte ihn, sie war ihm ebenso wichtig wie seine Musik und war der stete Antrieb seiner Schaffenskraft.

Auf dem Tisch im Eckenbüttner, wo tatsächlich noch Musik aus dem hinteren Saal in die große Gaststube hinüberklang, breitete Kaspar vor Helene die Reisepläne aus.

»Wir reisen natürlich in großer Besetzung, alle 16 sind dabei. Hier, schau! Zuerst spielen wir in ein paar Orten in Deutschland, das eine ist eine zweitägige Adelshochzeit von irgendeinem Grafen in Heidelberg, dann ein ›Tanz am Sommerabend‹ in Baden-Baden, da sind auch andere Orchester dabei, Straßburg und Metz im Elsass. Dann geht’s rüber nach Frankreich: Nancy, Verdun, Reims und dann Paris, dort haben wir gleich zwei Konzerte. Von dort über Rouen und Dieppe nach Le Havre und rüber nach Portsmouth. In England spielen wir in allen großen Seebädern, die haben tolle Seepromenaden da, mit grandiosen Music Halls: Poole, Bournemouth, Brighton, Eastbourne und Southend-on-Sea. In London spielen wir zwei Konzerte in kleineren Hallen und zum Abschluss geht es nach Glastonbury, wo zum ersten Mal ein Musik-Festival stattfindet. Das wird dir gefallen, von einem echten Sozialisten organisiert, aber da müssen wir was Klassisches spielen.«

»England!« Helenes Augen blickten verträumt in die Ferne. »Hast du gewusst, dass die Frauen in England schon lange richtig militant auf die Barrikaden gehen, um dem männlich dominierten Herrschaftssystem mehr Rechte abzutrotzen?«

»Und schließlich sind wir noch in Cambridge, bevor wir den Rückweg … Was?«

»Ja, ja, in England sind die Frauen schon viel weiter als wir, besser organisiert vor allen Dingen. Vorletztes Jahr haben sie über 200 Schaufenster im Einkaufsviertel Londons zerstört, um zu protestieren. Und letztes Jahr hat sich eine Frau geopfert und sich vor das Pferd – oder war es die Kutsche? – des englischen Königs geworfen.«

»Tot?«

»Ich glaube schon, ja. Für die Sache gestorben. Welch ein mutiger Einsatz.«

»Und? Hat sich was geändert?«

»Noch nicht. Aber diese Frauen werden etwas verändern, wart’s nur ab! Die Spießbürger nennen sie Suffragetten und wollten sie damit ursprünglich abwerten, aber die haben einfach den Spieß umgedreht und tragen den Titel nun mit Stolz. Denn letztlich geht es ja genau ums Wahlrecht, suffrage. Jetzt, wo die Parlamente immer mehr Macht bekommen, wollen wir gefälligst auch mitreden, wer da drin hockt und Politik macht! Als Mitglied der SPD will ich doch mitbestimmen.«

»Ja …«

»Wenn die Bamberger Frauen nur nicht so verdammt bürgerlich wären, wir hätten hier schon viel mehr erreicht. In unseren Frauenvereinssitzungen lenken die immer wieder von den politischen Themen ab und dann geht es nur noch um ihre Männer, um das liebe Essen, um die kleinen Bälger und um den Haushalt. Viel zu feige, die Weiber hier! Ich werde mich in England mal umsehen, vielleicht kann ich ja noch was lernen da.«

»Ja, vielleicht. Auf jeden Fall sind wir am 29. September wieder in Bamberg … und haben auch gleich wieder … irgendeinen … Tanzsalon, glaube ich …« Kaspar wollte sich partout nicht schon wieder auf Diskussionen mit Helene einlassen. Politisch kamen sie nicht auf einen Nenner. Genau genommen konnten sie keinen haben, denn Kaspar hatte schlichtweg keine politische Haltung. Helene hingegen war 1908 sofort in die SPD eingetreten, als es Frauen erlaubt wurde. Seitdem tummelte sie sich innerhalb der Parteistrukturen und in weiteren Vereinen für Mädchenbildung und für das Wahlrecht. 1911 hatte sie ihm sogar einen Konzerttermin abgesagt, weil sie als Delegierte zur sozialdemokratischen Frauenkonferenz nach Jena gegangen war. Das hatte Kaspar gar nicht verstanden. Wie konnte man nur auf ein Konzert verzichten, für so etwas! Nach ihrer Rückkehr war es zum ersten großen Krach zwischen den beiden gekommen. Ihm ging die Musik über alles. Er war nur insofern politisch, als er keine nationalen Grenzen für Musik sah. Deswegen war ihm diese Tournee so wichtig, denn er hatte wohl mitbekommen, dass die Stimmung zwischen den Völkern, oder zumindest der jeweiligen Eliten, nicht zum Besten stand. Musik war aber doch eine Sprache, die man überall verstand, verstehen musste.

Als er Helene die einzelnen Bahnfahrkarten und die Karten für die Schiffspassage nach Portsmouth zeigte, vergaß sie ihre Politik wieder und wollte alles genau ansehen. Sie bestellten noch ein Bier und machten auf mehreren Bierdeckeln Pläne zum Repertoire für die einzelnen Auftritte. Für jeden Ort einen Bierfilz. Am Ende hatten sie einen ordentlichen Stapel Bierdeckel, so dass die Bedienung pikiert die Nase rümpfte, als sie sich eineinhalb Stunden und drei Bier später anschickten, das Bierlokal mit den Pappdeckeln zu verlassen. Sie lachten über das missmutige Gesicht der Kellnerin, gaben ihr ein Trinkgeld und freuten sich auf die Reise. Nur noch gut zwei Monate, dann würde es losgehen. So eine Reise, zumal ins Ausland, war eine große Sache, nicht nur musikalisch, nein, auch das Zusammensein mit den Musikern bedeutete ihnen viel. Mit dem großen Ensemble spielten sie sonst nur selten, das würde eine Gaudi geben. Das schweißte zusammen. Aber auch für ihr Miteinander versprach es die große Freiheit. Zusammen, ohne die Blicke der Bekannten, zusammen, ohne die Kontrolle der Nachbarn und Neider, zusammen, ohne dass es jemandem gegen den Strich ging, dass sie nicht verheiratet waren.

Kaspar packte die Bierdeckel, nahm Helene an der Hand und stürmte mit ihr zum Ausgang. Sie küssten sich im Gehen, und so sahen sie den Zeitungsjungen nicht, den kleinen Burschen mit Schiebermütze und kurzen Hosen, der im gleichen Augenblick hereinkam. Inniglich in Umarmung mit Helene verschlungen, stieß Kaspar noch in der Tür mit ihm zusammen und stolperte die Stufen hinunter nach draußen, wo ihm alle Bierdeckel auf die Straße fielen. Helene half ihm auf, während der Junge drinnen lauthals seine Schlagzeile ausrief: »Attentat in Sarajevo. Erzherzog Franz Ferdinand samt Gemahlin ermordet. Thronfolger Österreich-Ungarns tot. Der Kaiser ist empört.« Kaum einer beachtete den Jungen, nur wenige hoben den Kopf, die meisten unterhielten sich einfach weiter und legten nicht einmal ihre Karten zur Seite. Nur zwei Zeitungen brachte er an den Mann.

Draußen knieten Kaspar und Helene auf der Straße und sammelten die Bierdeckel, die ihre Reise mit ihrer Musik abbildeten, einen nach dem anderen ein und hielten sie fest umklammert in den Händen.

Bamberg, 3. Juli 1914

Im eleganten Salon des Bamberger Hofes saßen zur Mittagszeit nur wenige Gäste. An einem Tisch in der Mitte hockte ein Mann, ziemlich kräftig, klein, ondulierte braune Haare, gepflegter Schnurrbart und Nickelbrille. Auf den freien Stuhl neben sich hatte er eine rote Ledertasche gestellt, leicht abgewetzt und ausgebeult. Er wählte eine exquisite Speisenfolge: Prinzessinnensuppe, Lammrücken auf ungarische Art, Parfait von der Gänseleber und Mokkakuchen. Einzig das Bier zum Essen ließ den Demichef de rang etwas stutzen, hatte der Maître d’hôtel ihm doch ein paar erlesene Weine empfohlen. Aber gut, der Kellner servierte, der Mann aß, zu dem Mokkakuchen kamen noch eine kleine Käseauswahl sowie eine Tasse Kaffee hinzu. Als der Mann schließlich nach der Rechnung verlangte, die, wie in diesem Hause üblich, auf einem Silberschälchen unter einer Serviette gebracht wurde, beobachtete der Kellner, wie der Mann sich die Rechnung ansah, an seine Rocktasche griff und auf einmal stutzte. Panisch klopfte er alle verfügbaren Taschen ab, öffnete die rote Ledertasche, kramte darin herum und ließ sich, offenbar erfolglos, gegen die Lehne seines Stuhls plumpsen. Mit dicken Backen stieß er die Luft aus. Der Demichef de rang sah den Zeitpunkt gekommen, nach dem Gast zu sehen.

»Stimmt etwas nicht mit der Rechnung, mein Herr?«, fragte der Kellner in dem süßen Ton überheblicher Freundlichkeit.

»Nein, nein, die Rechnung stimmt, das passt alles. Allein …«, er klopfte noch einmal alle Taschen ab, kramte in seiner Tasche, »allein, ich muss meine Geldbörse im Hotel liegen gelassen haben. Es tut mir leid, ich kann Ihnen die Rechnung gerade nicht bezahlen.«

Dem Kellner blieb die Luft weg – ein Zechpreller! Die hatte er gefressen. Erst letzte Woche hatte er für einen Teil des Verlustes durch ein solches Subjekt geradestehen müssen. Aber es gelang ihm, die Contenance zu bewahren, und er presste ein: »Warten Sie, ich hole den Maître d’hôtel«, hervor. Noch bevor er die Küche erreicht hatte, rief er nach dem Maître, etwas lauter und heftiger als nötig.

Der kam ihm schon entgegen und mahnte zur Ruhe. »Was geht hier vor?«

Nachdem der Mann seine Geschichte noch einmal erzählt hatte, wurde jedoch auch der Maître unwirsch und sagte dem Mann auf den Kopf zu, dass er ihn für einen Betrüger halte.

»Aber wenn ich Ihnen doch versichere, dass ich mein Geld lediglich im Hotel vergessen habe. Ich war vorhin in der Stadt unterwegs und habe einige interessante Einkäufe getätigt, zog mich danach im Hotel noch einmal um, und da muss ich die Geldbörse wohl in meinem Mantel vergessen haben. Es tut mir ja auch leid. Kann ich Ihnen vielleicht etwas zur Sicherheit dalassen, damit ich sie rasch holen kann?« Er öffnete seine Tasche und brachte ein Kistchen mit einem Satz kunstvoll geschnitzter Schachfiguren aus Elfenbein hervor, ein altes Buch, einen Kerzenständer aus Messing – die beiden Kellner schnaubten nur verächtlich – und schließlich einen goldenen Becher mit einem Ziffernblatt obenauf.

»Sie müssen wissen, ich handle mit alten Dingen, An- und Verkauf. Das hier, diese alte Uhr, eine Becheruhr, die könnte ich Ihnen als Sicherheit dalassen. Sehen Sie? Sie ist zumindest vergoldet. Alt muss sie auch sein, irgendwie, man kann das Gehäuse hier abmachen, darunter ist ein ganz köstliches altes Uhrwerk. Da ist sogar eine Inschrift, ich kann sie nicht lesen, aber der Wert dieses kleinen Schätzchens sollte den des Essens um ein Vielfaches übertreffen, will ich meinen. Was halten Sie davon? Ich bin ja in einem Viertelstündchen wieder da, meine Herren.«

Die beiden Kellner drehten und wendeten die klobige Uhr in Dosenform mit dem offenen Ziffernblatt und flüsterten kurz miteinander, bevor sie den Hotelbesitzer kommen ließen, Herrn Kommerzienrat Adolph Kemmnath, ein feister, barock anmutender Mittvierziger mit allen Allüren des gesellschaftlich etablierten Erfolgsmenschen versehen. Der hörte sich die Geschichte an, besah sich die Sachen, dann den Mann, um mit einem beifälligen Wischen der rechten Hand zuzustimmen. Allerdings müsse er alle Dinge dalassen, sie könnten ja schwer einschätzen, ob sie die Sachen für die geschuldeten 6 Mark 30 auch tatsächlich wieder losbrächten.

Der Mann zeigte sich äußerst dankbar, ergab sich in Ehrerbietungen und ging regelrecht rückwärts buckelnd aus dem Lokal. Während sich der Maître wieder in die Küche zurückzog und der Demichef sich dem Abräumen des Tisches widmete, bugsierte Kemmnath die Sachen nach hinten.

Er hatte sie kaum abgelegt, als auch schon ein gut gekleideter Herr mit Anzug, Weste und Taschenuhr an ihn herantrat. Es war ein anderer Gast, der bereits bezahlt hatte und im Begriff war zu gehen. Mit leiser, näselnder Stimme und französischem Akzent fragte er: »Tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber ich konnte nicht umhin, der Konversation mit diesem Herrn beizuwohnen, und habe dabei auch diese köstliche Uhr gesehen, die er Ihnen als Sicherheit geboten hat. Dürfte ich mir die einmal ansehen?«

Kommerzienrat Kemmnath stutzte. Das war jetzt schon der zweite Gast, der nicht so funktionierte, wie er sich das vorstellte – nämlich unauffällig kommen, unaufdringlich essen, unaufgefordert zahlen und unauffällig wieder gehen. Dennoch händigte er dem fremden Mann den Uhrenbecher aus.

Der führte die Uhr ganz nah an sein Auge heran, drehte sie auf den Kopf, besah sich die Inschrift, öffnete das Behältnis und legte das Uhrwerk frei. Dann nahm er eine kleine Uhrmacherlupe ans Auge und besah sich noch einmal die Inschrift. Auf einmal schüttelte er den Kopf. »Nein, nein, es kann nicht sein.« Er drehte die Uhr, hielt sie gegen das Licht und sah durch seine Lupe jede Ziffer, eine nach der anderen genauestens an. Er atmete aus, einmal tief ein und nochmal aus, bevor er sagte: »Wie ich es mir gedacht hatte, gleich als ich sie gesehen habe. Meine Herren«, der Maître und der Demichef waren mittlerweile wieder dazugestoßen, »diese kleine Becheruhr ist mit hoher Wahrscheinlichkeit – und diese Wahrscheinlichkeit darf ich als Emile Gaulthière, Uhrenhändler aus Strasbourg in der vierten Generation, als in der Tat sehr hoch einschätzen – das lange als verschollen gegoltene zweite Exemplar der sogenannten Henlein-Uhr, der ältesten Taschenuhr der Welt, vom berühmten Nürnberger Uhrenmachermeister Peter Henlein. Diese Uhr stammt aus der Zeit um 1510. Sehen Sie die Inschrift unten am Boden der Dose? Da steht es genau. Meine Herren, diese Uhr ist ein kleines Vermögen wert. Verkaufen Sie sie mir! Bitte! Ich muss sie haben. Ich gebe Ihnen 2.000 Mark, 3.000!«

Beinahe sprachlos murmelte Kemmnath: »Aber die gehört doch dem Herrn, der gleich wiederkommt. Den müssen Sie fragen, ob er sie Ihnen verkauft.«

»Ah, solange kann ich nicht mehr warten, mon Dieu. Meine Droschke steht schon vor der Tür, sehen Sie? Ich muss zum Bahnhof, ich habe heute noch einen wichtigen Termin in Coburg. Ich zahle Ihnen 4.000 Mark, ja? Bitte! Hier, sehen Sie, ich habe das Geld dabei.«

Der Demichef bekam große Augen und redete auf den Maître ein, dieser wiederum auf den Hotelbesitzer. Der wog die Taschenuhr in der Hand und schickte mit einem »Haben Sie nichts zu tun hier? Wofür bezahle ich Sie eigentlich?« seine beiden Angestellten fort, um sich wieder dem Herrn aus Strasbourg zu widmen.

»Nein, es geht nicht, ich kann Ihnen die Uhr nicht verkaufen. Sie gehört dem Herrn, der eben hier getafelt hat und seine Geldbörse holt.«

»Merde, Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich machen könnten mit dieser Uhr. 5.000! Bitte! 5.000! Jetzt und sofort, auf die Hand.«

Kemmnath schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Ehrenmann, ich kann doch nicht das Eigentum dieses Herrn verkaufen.«

Gaulthière sah auf seine Uhr und kramte in seinem Portemonnaie. »Dann geben Sie dem Herrn wenigstens meine Karte. Er soll mich unbedingt kontaktieren, am besten telegraphieren. Ich kaufe ihm diese Uhr ab, unbedingt. Morgen Abend bin ich wieder in Strasbourg. Ich brauche seine Adresse. Mon Dieu, diese Uhr, in meiner Hand. Ein Traum wird wahr. Ich muss sie haben.«

Mit einem letzten Blick zur Uhr packte der Mann seinen Mantel, rauschte aus dem Restaurant und sprang in die wartende Droschke.

Als der andere Mann nach einer halben Stunde mitsamt seiner Geldbörse wieder im Bamberger Hof auftauchte, um seine Rechnung zu begleichen und die Sachen abzuholen, nahm ihn der Hotelbesitzer Kemmnath zur Seite, wohl darauf bedacht, dass seine Angestellten kein Wort verstehen konnten von seiner Konversation. Er habe sich schon lange so eine Uhr gewünscht, zwar sei sie ja recht ramponiert, was man ja sehen könne, aber er würde sie schon wieder hinkriegen. Was er denn dafür bezahlt hätte, er würde ihm das Doppelte dafür geben, und das Essen obendrein übernehmen.

Der Mann nahm zunächst die Schachfiguren aus Elfenbein wieder an sich, dann den Kerzenständer und das Buch. Schließlich besah er sich die Uhr noch einmal genau.

»Ich weiß nicht so recht, ich habe ja selbst noch nicht überprüfen können, was sie wirklich wert ist. Alt scheint sie mir ja schon zu sein.«

»100! 100 Mark für die alte Uhr. Gehen tut sie ja auch nicht mehr.«

»Und diese Inschrift da unten, wenn ich die nur entziffern könnte. Ich kann sie nur nicht erkennen ohne Lupe, aber …« Er hob seine Brille an und kniff die Augen zu, um besser sehen zu können.

»500! 500 Mark! Vielleicht ist sie ja auch gar nichts wert, und gar nicht so alt, wie sie scheint.«

»Und wieso würden Sie dann 500 Mark dafür zahlen?«

»Sie gefällt mir einfach. Ich sammle Dinge, die eine Geschichte haben.«

»Hm …«

»750! Mein letztes Wort. Höher kann ich nicht gehen. Bitte! Sie haben sie doch für einen Bruchteil davon gekauft, sicherlich, da haben Sie doch einen guten Profit gemacht.«

»Ja, aber Profit kann man nie genug machen, das wissen Sie genau wie ich, mein Herr. Sagen wir, für 1.000 Mark gebe ich sie Ihnen. Das ist Geld genug für den Fall, dass ich einen großen Fehler mache, wenn ich Ihnen die Uhr verkaufe, ohne ihre wahre Geschichte zu kennen.«

»1.000 Mark. Gut. Ja, 1.000. Warten Sie! Die nehme ich gleich hier aus der Kasse und …, nein. Warten Sie! Ich muss kurz rauf in die Wohnung, ich brauche nicht lange.«

Der Mann mit den braunen Haaren, dem Schnurrbart und der Nickelbrille steckte das Bündel Geldscheine in die Hosentasche, dann bog er um die Ecke des Bamberger Hofs und ging am Theater vorbei über den Schillerplatz, wo er sich den buschigen Schnurrbart von der Oberlippe riss. An der Regnitz setzte er mit der Fähre über, verstaute die Nickelbrille in seiner Tasche, ging den Alten Graben hoch, zog die braune Perücke vom Kopf und fing an zu pfeifen. Als er die Seelgasse hinaufstieg, leuchteten seine roten Haare wie frisch poliertes Kupfer. Am Kaulberg steckte er sich eine winzige goldene Creole ins linke Ohr und verschwand im Hauseingang eines schmalen, heruntergekommenen Fachwerkhauses. In der Wohnung im zweiten Stock unterm Dach warf er seinen Mantel auf das ungemachte Bett gleich hinter der Tür, seine Tasche auf den Boden und das kleine gerollte Bündel Geldscheine auf den Tisch.

»Zehn Blaue, Harri! 1.000 Mark. Es hat wirklich funktioniert, unglaublich! Du hättest das Glänzen in seinen Augen sehen sollen. Pure Habgier. Eigentlich schade, dass ich deinen Auftritt nicht sehen konnte. Du musst wirklich gut gewesen sein. Emile Gaulthière, der Uhrenfachmann aus Strasbourg. Göttlich, diese Idee!«

»Die Welt ist voller Narren, Willy, und Geld regiert die Welt, also zumindest die kapitalistische.«

»Er hat regelrecht geschwitzt vor Gier, da hab ich ihn nochmal zappeln lassen und bin auf die vollen 1.000 gegangen. Hätte ich nie gedacht, dass das so reibungslos funktioniert.«

»Tut es aber, Willy. Denn genau so funktionieren die Börsen der Großkapitalisten. Ist doch alles nichts anderes als eine Wette auf den Wert eines Unternehmens. Unser lieber Kommerzienrat Kemmnath, der kennt sich damit bestens aus. Und heute hat er sich nun mal verzockt.«