1966 - Ein neuer Fall für Thomas Engel - Thomas Christos - E-Book

1966 - Ein neuer Fall für Thomas Engel E-Book

Thomas Christos

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Berlin, 1966: Eine Stadt regiert von den Siegermächten. Ost gegen West. West gegen Ost. Alles scheint dabei erlaubt, auch Mord?

Kriminalkommissar Thomas Engel hat es nach West-Berlin verschlagen, um bei der Mordkommission in der geteilten Stadt ermitteln zu können. Doch es kommt anders: Statt Mörder sind Spione sein täglich Brot, denn die Stadt ist voll davon. Die Alliierten tun alles, um an Informationen von der Gegenseite zu kommen. Dass sie dabei nicht zimperlich vorgehen, erfährt Engel gleich an seinem zweiten Tag im Dienst. Bei der Observation eines Verdächtigen geht alles schief, Engel nimmt die Verfolgung auf und gerät mitten hinein in den Kalten Krieg zwischen Ost und West …

Von Düsseldorf nach Berlin: der zweite Fall für Kriminalkommissar Thomas Engel.

Auch lieferbar: 1965. Der erste Fall für Thomas Engel. Beide Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 501

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Kriminalkommissar Thomas Engel hat es nach West-Berlin verschlagen, um bei der Mordkommission in der geteilten Stadt ermitteln zu können. Doch es kommt anders: Statt Mördern sind Spione sein täglich Brot, denn die Stadt ist voll davon. Die Alliierten tun alles, um an Informationen von der Gegenseite zu kommen. Dass sie dabei nicht zimperlich vorgehen, erfährt Engel gleich an seinem zweiten Tag im Dienst. Bei der Observation eines Verdächtigen geht alles schief, Engel nimmt die Verfolgung auf und gerät mitten hinein in den Kalten Krieg zwischen Ost und West …

Autor

Thomas Christos ist das Pseudonym des Drehbuchautors Christos Yiannopoulos. 1964 kam er als Sohn griechischer Gastarbeiter nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Pädagogik in Düsseldorf und schrieb bereits mit 24 Jahren sein erstes Drehbuch, das auch verfilmt wurde. Danach war er hauptsächlich Drehbuchautor für das Fernsehen und wirkte an vielen erfolgreichen Produktionen mit. Unter anderem wurde er für seinen Film »Schräge Vögel« für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Er lebt zurzeit in Düsseldorf.

Von Thomas Christos bereits erschienen

1965. Der erste Fall für Thomas Engel

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Thomas Christos

1966

Ein neuer Fall für Thomas Engel

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Reddavebatcave/Shutterstock.com und fStop Images GmbH/Alamy Stock Foto

Alamy Stock Photo und Reddavebatcave/Shutterstock.com

NG · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26097-2V004

www.blanvalet.de

Ach, da kommt der Meister!

Herr, die Not ist groß!

Die ich rief, die Geister

werd ich nun nicht los.

Aus: Johann Wolfgang Goethe, »Der Zauberlehrling«

Prolog

Augsburg, 1944 

Die Sonne brannte unbarmherzig, es herrschte eine unerträgliche Hitze. Meier schwitzte und war erschöpft. Der zehn Kilometer lange Streckenabschnitt, den er zu Fuß kontrollieren musste, hatte dem knapp vierzigjährigen Bahnarbeiter stark zugesetzt. Aber nun konnte er an einem Wasserhahn am Stellwerk etwas trinken. Auch die schwarze Dampflokomotive, die einen langen Güterzug anführte, hatte am Wasserkran hinter der Signalanlage ihren Durst gelöscht und ließ keuchend Dampf ab. Während sie auf die Weiterfahrt wartete, wirkte sie, als ob sie mit den Hufen scharrte. Sie erinnerte Meier daran, dass er weitermusste, der letzte Streckenabschnitt, gut fünf Kilometer lang, wartete auf ihn. Mit schweren Beinen machte er sich auf den Weg, musste an dem endlos langen Güterzug vorbei. Als er die ersten Waggons erreichte, fielen ihm mit einem Mal die unzähligen Hände auf, kleine und große, die sich durch die Luken reckten. »Wasser, bitte Wasser, Wasser!«, drang es dutzendfach nach draußen.

Meier begriff sofort. Das mussten Juden sein, die ausgesiedelt wurden. Diese Transportzüge, wie sie genannt wurden, waren schon oft an ihm vorbeigefahren, aber er hatte sie nie weiter beachtet, zumal der Kontakt zu diesen Aussiedlern strengstens untersagt war. Aber jetzt, wo er nur wenige Meter vor den eingepferchten Menschen stand, die unter der sengenden Hitze litten, verzweifelt um Wasser bettelten und ihm zuwinkten, empfand er Mitleid. Er musste einfach handeln, musste helfen. Entschlossen kehrte er zum Stellwerk zurück, füllte zwei Eimer mit Wasser und schleppte sie zu den Waggons.

»Halt, stehen bleiben! Hände hoch!«, schallte es hinter ihm. Meier drehte sich erschrocken um und sah einen grün uniformierten Mann, der mit einem Gewehr auf ihn zielte. Bevor er die Situation richtig erfassen konnte, eilte ein zweiter herbei und schlug ihn mit dem Gewehrkolben nieder.

Als Meier wieder zu sich kam, spürte er fürchterliche Schmerzen. Er tastete nach seiner Stirn, die notdürftig verbunden war. Seine Augen waren mit Blut verklebt. Vorsichtig drehte er den Kopf und sah sich um. Er befand sich in einem dunklen Verlies. Ihm blieb keine Zeit, sich irgendwelche Gedanken zu machen, weil im nächsten Moment die Tür aufgerissen wurde.

»Mitkommen!«, hörte er einen Uniformierten, der ihm einen Fußtritt gab.

Meier rappelte sich auf. Es ging eine dunkle Treppe nach oben, dann befand er sich, immer noch benommen, in einem Raum mit hohen Fenstern. Er versuchte, sich zu orientieren. Nur schemenhaft erkannte er die Umrisse einiger Männer, einer davon trug einen schwarzen Umhang. Der ergriff jetzt auch das Wort und ratterte seine Sätze runter. Meier verstand nur Bruchstücke wie »Sondergericht«, »Volksschädling«, »Judenfreund«, »im Namen des Volkes« und am Ende: »Heil Hitler!«.

Bei Meier brach der Angstschweiß aus. Ihn überkam Todesangst.

Ostberlin, 1966 

Dietrich Gromek war einer der Chefdolmetscher der DDR und wurde bei vielen Gesprächen der allerhöchsten Geheimstufe zwischen den Militärs des Warschauer Vertrags herangezogen. Der hochgewachsene Mittvierziger trug das Parteizeichen am Revers und sang vor seinen Genossen stets das Hohelied auf die Vorzüge des Arbeiter- und Bauernstaates – Gromek galt als ein Hundertfünfzigprozentiger. Niemand ahnte, dass er seine Zukunft trotzdem nicht im Sozialismus sah, sondern im kapitalistischen Westen, konkret in den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das Startkapital für sein neues Leben verdiente er sich durch konstantes Weiterleiten geheimer Gesprächsprotokolle an den Klassenfeind. Ihm war bewusst, was ihm bei einer Enttarnung blühte – auf Hochverrat stand die Todesstrafe. Aber er wähnte sich sicher, da er bei der Übermittlung seines brisanten Materials auf die übliche Tote-Briefkasten-Methode verzichtete. Vielmehr wählte er als Treffpunkt für seine Kontakte zu westlichen Agenten immer nur volle Restaurants, die eine Observation Spionageverdächtiger nahezu unmöglich machten – wie etwa das Café Warschau.

Da seine Frau seine Nebentätigkeit niemals gutgeheißen hätte, hatte Gromek vor einem Jahr die Scheidung eingereicht, was zur Folge hatte, dass er seinen Frühstückskaffee allein trinken musste.

Doch an diesem Morgen kam er nicht dazu. Gerade als er das Kaffeewasser aufsetzen wollte, sah er durch das Küchenfenster zwei dunkle Wartburg 312 vorfahren, aus denen Männer in grauen Anzügen stiegen. Er war sofort alarmiert. Die Operationsgruppe in der Spionageabwehr pflegte bei der Verhaftung öffentliches Aufsehen zu vermeiden und tauchte dementsprechend in den frühen Morgenstunden auf. Offensichtlich war er enttarnt worden. In seinem Brustkorb begann es zu brennen, Magensäure kroch die Speiseröhre hoch. Er versuchte, sich zusammenzureißen und den Schalter umzulegen. Tief durchatmen. Weg von der Panik, hin zu rationalem Handeln. Er wusste doch, was in solch einem Fall zu tun war.

Zunächst deponierte er die Minox in einer präparierten Spraydose, entsorgte anschließend den Zahlenstreifen, mit dem er die Funksprüche dechiffrierte, in der Toilette. Dass sein Radio, Modell Stern 3, für den Empfang von chiffrierten Funksignalen präpariert war, würde man nicht ohne Weiteres herausfinden.

Das Ganze hatte keine drei Minuten gedauert. Jetzt musste er schnellstens raus aus der Wohnung.

Über die Feuertreppe lief er nach unten. Klappte einwandfrei. Erleichtert verließ er das Haus durch den Hinterhof, den die Stasi-Leute merkwürdigerweise nicht gesichert hatten. Wurde er beschattet?

Im Laufschritt begab er sich in Richtung S-Bahnhof. Sein Ziel war der Treptower Park, in der Nähe der Spree Von dort aus würde er versuchen, in den Westen zu gelangen. Sein Plan schien aufzugehen, er war guter Dinge, als er die Stufen zum S-Bahnhof hochlief. Jedenfalls sah er nur drei Bauarbeiter am Bahnsteig stehen. Im nächsten Moment fuhr auch schon die S-Bahn ein. Euphorisiert wollte er einsteigen, da wurde er von dem Arbeitertrio zu Boden geworfen. Sie legten ihm Handschellen an, nahmen ihn in ihre Mitte und zerrten ihn zu einem Auto. Bevor sie ihm die Augen verbanden, konnte er gerade noch sehen, dass an der Autotür die Fensterkurbel und der Öffner fehlten.

Nach zehn Minuten Fahrt wurde Gromek in den Laderaum eines Lieferwagens verfrachtet. Der Wagen war nicht gut abgefedert, und obendrein stank es nach Abgasen. Er zweifelte nicht daran, dass er in das Geheimgefängnis der Staatssicherheit gebracht wurde. Als einer der wenigen wusste er von der Existenz dieser Einrichtung, die auf offiziellen Karten nicht verzeichnet war. Für normale Passanten unzugänglich, lag der Bau mitten in einem militärischen Sperrgebiet in Berlin-Hohenschönhausen.

Nach einer halben Stunde endete die Fahrt. Zwei Uniformierte führten ihn über endlose Treppen und lange Gänge in eine feuchtkalte Zelle, wo sie ihm das Tuch über den Augen entfernten. Das grelle Licht blendete ihn.

Gromek wurde bereits von einem Mann in einem dunklen Anzug erwartet.

»Sofort ausziehen!« Seine Stimme war kalt wie Eis.

»Jawohl«, hauchte Gromek matt und folgte dem Befehl. Die beiden Uniformierten begannen, seine Körperöffnungen und Achselhöhlen zu untersuchen. Gromek empfand die Prozedur als demütigend, wagte aber keinen Widerstand. Er hoffte, dass man ihn in der Zelle allein lassen würde. Er brauchte dringend Ruhe, um sich das weitere Vorgehen überlegen zu können. Aufgeben war keine Option. Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht.

»Anziehen!«, hallte es ihm entgegen.

Und wieder nahmen ihn zwei Uniformierte an die Kandare. Sie brachten ihn in ein schmales Verlies, gerade mal einen Meter breit. Es stank fürchterlich nach Fäkalien, und Gromek kämpfte gegen den Brechreiz.

»Du bleibst hier stehen, bis wir dich rufen! Wag es ja nicht, dich an die Wand zu lehnen!«

Gromek nickte matt. Endlich allein. Er musste Energie schöpfen für den einen Plan, der ihm noch blieb. Sein Körper war erschöpft, am liebsten hätte er sich hingelegt, aber das ging in diesem Loch nicht. Also versuchte er, sich an die Wand zu lehnen.

»Anlehnen verboten!«, brüllte ein Wärter, der durch das Guckloch in die Zelle linste. Gromek biss die Zähne zusammen und blieb stehen.

»Ich muss austreten!«, rief er nach einer Stunde.

»Nichts da!«, bekam er zur Antwort.

Gromek versuchte, sich zusammenzureißen, aber die Zeit schritt voran, und irgendwann konnte er seine Blase nicht länger kontrollieren. Die Reaktion des Wärters erfolgte prompt:

»Mitkommen zum Verhör!«

Man führte ihn in ein kleines, leeres Zimmer, wo er von zwei Männern in Zivil in Empfang genommen wurde. Auf dem Tisch stand die demontierte Spraydose, der darin eingerollte Film lag daneben. Damit wurde ihm seine Enttarnung vor Augen geführt. Er versuchte, die Nerven zu behalten und sich nichts anmerken zu lassen.

Einer der Männer, ein drahtiger Typ in einem abgewetzten Anzug, kam sofort zur Sache.

»Gromek, uns ist bewusst, dass Sie systematisch Informationen für den amerikanischen Geheimdienst gesammelt haben. Sie wissen, dass auf dieses Vorgehen die Todesstrafe steht.« Er hielt inne. »Aber Sie können Ihren Kopf aus der Schlinge ziehen«, schob er hinterher.

»Wir brauchen Namen. Mit wem arbeiten Sie zusammen?«, ergänzte sein untersetzter Kollege, während er ein Stück Käse auspackte, das Gromek bekannt vorkam.

»Ich bin ein kleiner Fisch. Ich kenne niemanden«, antwortete Gromek mit leiser Stimme. Die Stasi-Leute reagierten mit hämischem Gelächter.

»Ein kleiner Fisch, der Mikrofilme in einer Spraydose versteckt? Der mit seinem Radio Funksprüche empfängt?«, höhnte der Dicke und schnitt einige Käsestücke ab. »Kommt Ihnen der Emmentaler nicht bekannt vor? Ist aus Ihrem Kühlschrank. Den gibt’s bei uns nur im Intershop.«

»Kann sich nicht jeder leisten. Wie viel Honorar zahlen die Amis?«, ergänzte sein Kollege und nahm ein Stück Käse entgegen.

Gromek hatte für die beiden, die sich sogar an seinen Lebensmitteln vergriffen hatten, nichts als Verachtung übrig.

»Sagen Sie einfach: ›Ich gebe auf. Ich arbeite seit drei Jahren für die Amerikaner‹!«

»Ich habe meine Wohnung für jemanden zur Verfügung gestellt. Ich kenne nur seinen Decknamen.«

»Erzählen Sie uns doch keinen Mist. Wir wissen Bescheid. Schon mal was vom Maulwurf gehört?«, meinte der Drahtige und grinste. »Wie du mir, so ich dir.«

Gromek verstand sofort. Es ging das Gerücht um, dass es in Westberlin einen Maulwurf gäbe, der für den Osten arbeitete. War er ein Alliierter? Ein deutscher Polizist? Oder gar jemand vom Verfassungsschutz? Wenn der ihn verraten hatte …

»Ich bin ein kleiner Fisch!«, wiederholte er, obwohl ihm bewusst war, dass die beiden ihm nicht glaubten.

»Es reicht! Unsere Geduld ist zu Ende. Dann eben zurück ins Einzelzimmer!«, brüllte der Dicke und zeigte auf die Tür. Gromek stand langsam auf, senkte schuldbewusst den Blick und sagte dann mit leiser Stimme: »Ich will reden.«

»Ach ja?«, fragte der Drahtige und zog die Brauen zusammen. Das Eingeständnis sorgte offenbar für Skepsis.

Gromek nickte erschöpft. »Ich gebe auf. Hat ja doch keinen Sinn.«

»Dann mal los, hissen Sie die weiße Flagge, wir sind ganz Ohr!«

»Es gibt einen Block mit Aufzeichnungen«, begann er. »Der ist im Café Warschau deponiert.«

»Im Café Warschau? Wieso das denn?«

»Das war ein Treffpunkt«, erklärte Gromek.

»Und wo genau da?«

»In der Küche. Ich muss ihn selbst holen.«

Die beiden Männer tauschten sich leise aus, wandten sich dann an Gromek.

»Wir sind gleich zurück.«

Sie eilten aus dem Büro und ließen ihn mit einem Uniformierten zurück. Er vermutete, dass sie mit ihren Vorgesetzten über das weitere Vorgehen sprechen würden. Mit etwas Glück würde sein Plan aufgehen.

Er sollte recht behalten. Keine halbe Stunde später saß er mit den beiden Stasi-Männern in einem dunklen Wartburg, der zum Café Warschau fuhr. Das Restaurant in der Karl-Marx-Allee war sehr gefragt und bot über dreihundertfünfzig Gästen Platz. Auch an diesem Tag herrschte Hochbetrieb.

Vor dem Restaurant befreiten die beiden Stasi-Leute ihren Gefangenen von den Handschellen, um kein Aufsehen zu erregen.

»Ich gehe am besten vor«, meinte Gromek zu den beiden. Jetzt durfte er sich keinen Fehler erlauben.

»Na los!«

Gefolgt von seinen Bewachern, machte sich Gromek auf den Weg durch das Café. In der Küche duftete es herrlich nach Pilzen und Kräutern und zerlassener Butter, aber das Trio hatte keine Nase dafür. Gromek eilte an den Köchen vorbei, die Piroggen und andere polnische Spezialitäten im Akkord produzierten.

»Die Aufzeichnungen sind im Kühlraum«, sagte er dann. Sein Puls schnellte nach oben, als er die schwere Tür zum Kühlraum öffnete. Jetzt galt es das letzte Kapitel seines Plans aufzuschlagen.

Im Kühlraum entfernte er unter den strengen Blicken seiner Bewacher einige Kacheln von der Wand, bis er an einen Hohlraum gelangte. Darin lagerte eine kleine Metallbüchse.

Gerade als er sie öffnen wollte, ging der drahtige Offizier dazwischen.

»Lass mal, das ist unser Ding. Nachher holst du eine Knarre raus und spielst den Helden!«

Er nahm ihm die Metalldose aus der Hand und öffnete sie. Es war ein bisschen wie bei der Büchse der Pandora, auch wenn nicht alle Übel der Welt aus der Dose entwichen. Stattdessen schoss mit einem Zischen dichter schwarzer Qualm heraus. Er sorgte für Unruhe und Chaos, jedenfalls bei den Stasi-Offizieren. Gromek dagegen war vorbereitet, er hatte auf diesen Moment gewartet. Lautlos schob er sich an seinen Bewachern vorbei, schlug die schwere Eisentür hinter sich zu und ließ die beiden in ihrer kalten Zelle allein.

Er konnte es kaum fassen. Der schwierigste Teil seines Plans hatte problemlos funktioniert! Was jetzt folgte, war im Vergleich dazu weit weniger gefährlich. Aber er musste weiterhin die Nerven behalten und konzentriert bleiben. So, als wäre nichts geschehen, ging er in aller Seelenruhe durch das voll besetzte Café und fiel unter den zahlreichen Gästen gar nicht auf. Draußen warf er einen Blick die Karl-Marx-Allee entlang. Niemand Verdächtiges zu sehen. Die Luft war rein. Er atmete durch. Ein paar Minuten blieben ihm, höchstens. Dietrich Gromek musste schleunigst nach Westberlin, und zwar über den Teltow-Kanal.

Westberlin, 1966 

1966 wurde die Fußball-WM in England ausgetragen, die Beatles brachten ihr Album Revolver heraus, und an einem versteckten Uferabschnitt der Havel, umringt von unberührter Natur, gaben sich Bienen und Hummeln ein Stelldichein und tänzelten nach den Klängen von »Good Day Sunshine«, einem neuen Song der Beatles, der aus dem kleinen Transistorradio ertönte. Sie störten sich nicht an dem jungen Liebespaar, das auf dem Blumenteppich lag und die Handvoll Enten beobachtete, die durch das spiegelglatte Wasser auf Erkundungstour gingen. Sie schwammen an einer schwarz-rot-goldenen Boje vorbei, auf die ein aufgemaltes Hammer-und-Sichel-Symbol gezeichnet war, und befanden sich damit im östlichen Teil des Kanals. Der Entenfamilie war das egal, diese Grenzen waren von Menschen erschaffen, damit hatten sie nichts zu tun.

Auch Thomas und Peggy hatten kein Auge für die Ost-Boje, sie hatten nur Augen füreinander. Das Auffälligste an den beiden waren ihre Frisuren. Peggy trug einen mutigen Kurzhaarschnitt im Stil von Jean Seberg, Thomas eine sogenannte Pilzfrisur, inspiriert von den Beatles.

»I’m in love and it’s a sunny day …«, sang Peggy verliebt und gab Thomas einen sanften Kuss. Wider Erwarten reagierte der etwas unromantisch mit einem nachdenklichen Brummen.

»Was ist, Schatz?«

»Hoffentlich geht alles gut mit der Bewerbung.« Thomas richtete sich besorgt auf. Am nächsten Tag stand sein Bewerbungsgespräch bei der Berliner Polizei an.

»Aufgeregt?« Peggy rückte näher.

»Ein wenig schon. Obwohl das Unsinn ist, weil die Polizei hier unter Personalnot leidet. Aber man kann ja nie wissen …«

»Eben! Die werden mit Kusshand einen Kriminalkommissar nehmen, der als Bester seines Jahrgangs abgeschlossen hat.«

»Und der in Düsseldorf Ärger mit seinen Kollegen bekam, weil er Kadavergehorsam hasst!« Thomas spielte auf die Ereignisse in seiner letzten Arbeitsstelle an. Er hatte auf eigene Faust einen Serienmörder zur Strecke gebracht, der während der Nazizeit gedeckt worden war. Dabei hatten einige seiner Kripokollegen eine unrühmliche Rolle gespielt, unter anderem waren sie in Polen an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen. Auch sein Vater – ebenfalls Polizist – hatte sich an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung schuldig gemacht. Daraufhin hatte Thomas seine Konsequenzen gezogen. Er hatte den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen und den Dienst in Düsseldorf quittiert. Er wollte mit Peggy, die in Berlin eine Arbeit bei einem Modedesigner begonnen hatte, einen Neustart wagen.

»Aber in deinen Unterlagen steht nichts von dem ganzen Ärger«, versuchte sie ihn zu beruhigen und gab ihm einen Kuss. Beide ließen sich wieder zurücksinken, und Thomas’ Hand machte sich auf eine Erkundungsreise unter ihre Bluse. Das Bewerbungsgespräch war bald in weite Ferne gerückt. Peggys Haut fühlte sich samtweich an. Beide küssten sich, als müssten sie sich gegenseitig beatmen.

»Ganz schön heiß …«, flüsterte er.

»Zeit für eine Abkühlung!«

Peggy richtete sich auf und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen.

»Du willst doch nicht etwa schwimmen gehen? Wir haben keine Badesachen dabei«, wandte Thomas ein.

»Ja und?«, fragte sie frech.

»Nacktbaden ist bestimmt verboten!« Thomas schaute sich besorgt um.

»Wo kein Kläger, da kein Richter, oder? Weit und breit ist niemand zu sehen!«

Schnell hatte Peggy den BH und den Rest der Kleidung abgestreift. Lachend lief sie ins erfrischende Nass. Da konnte Thomas nicht zurückstehen. Auch er befreite sich in Windeseile von seinen Klamotten und folgte ihr mit einem Kopfsprung.

Zunächst tobten sie ausgelassen, dann nahm er sie in den Arm und küsste sie leidenschaftlich.

»Doch nicht hier!« Diesmal schaute sie sich besorgt um, und nun war es Thomas, der jegliche Bedenken über Bord warf.

»Ist doch keiner in der Nähe.«

»Stimmt! Nur der dahinten, am anderen Ufer.« Peggy zeigte auf die Uferseite jenseits der Grenzboje. Beide sahen einen Mann, der sich die Schuhe auszog und mitsamt seiner Kleidung ins Wasser stieg.

»Du, guck mal, der Mann schwimmt in seinen Klamotten.«

»Der kommt in unsere Richtung!«

Plötzlich wurde beiden klar, was der Mann vorhatte.

»Der will in den Westen fliehen«, raunte Thomas.

»Er muss es bis zur Boje schaffen!«, rief Peggy.

Aufgeregt verfolgten sie jeden einzelnen Schwimmzug des Mannes, der sich unaufhörlich näherte. Bald war er nur mehr zwanzig Meter von der Boje entfernt, dann zehn.

Plötzlich tauchten auf der anderen Uferseite zwei grau uniformierte Soldaten auf, die auf das Wasser schauten.

»Scheiße! Wenn die ihn nur nicht sehen!«

Im nächsten Moment zielte einer der Soldaten mit seiner Kalaschnikow auf den Mann im Wasser und drückte den Abzug. Die erste Garbe schlug neben ihm ein. Der Mann gab nicht auf, sondern schwamm hastig weiter. Jetzt hatte er die Boje fast erreicht. Thomas und Peggy hielten es vor Aufregung kaum aus.

»Weiter! Nur noch ein paar Meter!«, rief Peggy, die wie Thomas unter Strom stand.

»Jaaa!«, rief Thomas erleichtert, als der Flüchtende endlich den östlichen Teil der Havel hinter sich ließ. Bis zum rettenden Westufer war es nicht mehr weit. Der Mann legte eine Schippe drauf.

»Er schafft es!«, jubelte Peggy, aber dann stockte ihnen der Atem. Der Mann verlor anscheinend die Kontrolle über seinen Körper, begann hilflos, mit den Armen um sich zu schlagen, und geriet in Panik. Das Wasser um den sich windenden Mann schien zu kochen. Peggy und Thomas war klar, dass er sich in Lebensgefahr befand.

»Um Himmels willen! Er ertrinkt!«

»Er hat einen Krampf!«

Verzweifelt versuchte der Mann, den Kopf über der Oberfläche zu halten. Er schaffte es nicht. Thomas entschloss sich zu handeln. Er schwamm in langen Zügen auf ihn zu, wendete ihn in Rückenlage, packte den Mann und versuchte, ihn ans Ufer zu ziehen. In diesem Moment begannen die Grenzer zu schießen. Sie störten sich nicht daran, dass sich Thomas und der Mann im westlichen Teil befanden.

»Aufhören, ihr Schweine! Aufhören!« Empört nahm Peggy einen Stein und warf ihn in Richtung der Grenzer, was angesichts der Entfernung eher symbolischen Charakter hatte. Die Soldaten ihrerseits ließen sich von Peggys Protest nicht beeindrucken, sie schossen einfach weiter. Eine Kugel traf den Mann im Kopf. Er wand sich im Todeskampf und drohte Thomas in die Tiefe zu ziehen. Gefahr drohte auch durch die Soldaten, die einfach weiterschossen. Jetzt hatten sie es auf Thomas abgesehen.

»Thomas! Die bringen dich um! Schwimm zurück!«, schrie Peggy verzweifelt.

In letzter Sekunde konnte sich Thomas von dem Mann, der tödlich getroffen war, lösen und zum rettenden West-Ufer schwimmen. Erst als sie sahen, dass ihr Opfer sich nicht länger an der Wasseroberfläche halten konnte, senkten die Soldaten die Gewehre.

Erleichtert zog Peggy den erschöpften Thomas ans Ufer und versuchte, ihn zu beruhigen. Die Schüsse hatten indes einige Spaziergänger auf den Plan gerufen, die ihre Wut über die Ostberliner Grenzer hinausbrüllten. Auch zwei Polizisten waren herbeigeeilt und schauten nach dem Rechten. Sobald Thomas und Peggy in ihre Kleider geschlüpft waren, erklärten sie, was vorgefallen war.

»Wie kann man jemanden erschießen, der das Land verlassen will?«, fragte Peggy, der das Verhalten der Grenzsoldaten nicht in den Kopf ging. Die beiden Polizisten zuckten die Schultern. »So was kommt hier öfters vor«, meinte der eine.

Die Suche nach der Leiche, die noch in der Havel trieb, wollten sich Peggy und Thomas nicht anschauen. Sie machten sich auf den Weg nach Hause.

Der Schreck saß beiden den restlichen Tag über noch in den Knochen. Sie hatten zwar gelesen, dass der westliche Teil von Berlin von einer einundzwanzig Kilometer langen Mauer umklammert wurde und dass zahlreiche Bunker, Wachtürme, Unterwassersperren und mit Maschinenpistolen bewaffnete Grenzsoldaten jede Flucht verhindern sollten – aber dass diese Typen so rücksichtslos vorgehen würden, damit hatten sie nicht gerechnet.

»Das war eine vorsätzliche Tötung, nach dem Strafrecht gilt das als Mord!«, fasste es Thomas zusammen.

Noch am selben Tag gaben die westlichen Alliierten und der Berliner Senat eine Protestnote ab, aber wie immer in solchen Fällen – und davon gab es in Berlin einige – prallte alles an den östlichen Machthabern ab. Die Grenzsoldaten hätten nur ihre Pflicht erfüllt, hieß es knapp. Wie dem auch sei, man fand Gromek an einem Bootssteg, in Bauchlage dümpelnd. Seine Flucht in den Westen war insofern geglückt, aber er hatte einen hohen Preis bezahlt. Und wie hätte er wohl reagiert, wenn er geahnt hätte, dass sein Leichnam zurück in den Osten überführt wurde? Er war Bürger der DDR. Nach Feststellung seiner Identität war den westlichen Alliierten klar, dass sie einen Topspion verloren hatten, nur zeigten sie kein Interesse, sein geheimdienstliches Doppelleben zu offenbaren – genauso wenig wie ihre östlichen Gegenspieler.

So war das eben. Fast jeder wusste, dass Berlin die Stadt der Spione war, aber der Kampf der Geheimdienste spielte sich fernab der Öffentlichkeit ab. Auch Thomas ahnte nichts von den wahren Hintergründen der Flucht, er hielt den Mann für einen der vielen unzufriedenen Bürger der DDR, die in den Westen wollten. Der ganze Vorfall bedrückte ihn sehr, zumal er selbst nur knapp dem Tode entronnen war. Aber er musste nach vorne schauen, weil das wichtige Bewerbungsgespräch bei der Berliner Polizei anstand.

Dachau, 1944 

Man brachte Meier ins KZ Dachau, etwa zwanzig Kilometer von München entfernt.

Der buchstäblich kurze Prozess, der ihm gemacht wurde, und die unmittelbar erfolgte Deportation erschienen ihm wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Doch es kam noch schlimmer. Er musste eine grausame Aufnahmeprozedur über sich ergehen lassen. Vollständiges Entkleiden, Rasur aller Körperhaare, Desinfektion mit klebrigem Lysol, immer begleitet von brutalen Schlägen, Tritten und Beleidigungen des Wachpersonals, das ihn zur Eile antrieb. Anschließend wurde er in eine verlauste blau-graue Häftlingskleidung mit rotem Winkel gesteckt, der ihn als politischen Häftling auswies. Es folgte die Registratur.

»Du bist nicht mehr Meier, du bist jetzt diese Nummer!«, brüllte ihn ein Wachmann zusammen und nannte eine Zahl, die sich Meier fortan merken musste. Und sein Martyrium ging noch weiter. Der Wachmann führte ihn vorbei an zahlreichen kahlköpfigen Gestalten, die von Uniformierten mit bellenden Schäferhunden übers Gelände gescheucht wurden, in eine freistehende, isolierte Baracke. Das Erste, was Meier ins Auge fiel, als er durch die knarrende Tür geschoben wurde, war ein Messingschild mit folgender Aufschrift:

Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil;

ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.

Eid des Hippokrates

Meier kannte Hippokrates nicht, auch begriff er nicht, warum er hierhergebracht worden war. Und dann stand er einem hochgewachsenen Mann in einem sauberen Kittel mit markanter Narbe auf der Wange gegenüber, der sich als Dr. Stahl vorstellte. Meier fasste sofort Vertrauen zu ihm, da der Doktor sich in Ton und Auftreten grundsätzlich vom grobschlächtigen Wachpersonal unterschied.

»Befolgen Sie meine Anordnungen, und Sie haben nichts zu befürchten«, machte Dr. Stahl ihm klar und bat ihn, auf dem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen.

Kaum hatte Meier der Aufforderung Folge geleistet, betrat ein schwarz uniformierter Mann mit fettem, wuchtigem Hals und rasiertem Kopf den Raum. Sofort nahm er Haltung an und begrüßte Dr. Stahl, der eine Spritze aufzog, mit: »Heil Hitler, Herr Doktor!«

Anstatt den Gruß zu erwidern, richtete der Arzt seine Aufmerksamkeit auf den verschüchterten Meier, der nicht wusste, was ihn erwartete.

»Ich werde Ihnen nun ein Medikament verabreichen, bleiben Sie ganz ruhig«, kündigte Dr. Stahl an und injizierte ihm etwas in den Oberarm. Meier war so aufgeregt, dass er den Einstich nicht merkte.

»Was war das, Herr Doktor?«

Dr. Stahl ignorierte die Frage und blickte stattdessen auf seine Uhr. Nach gut einer Minute wandte er sich an den SS-Mann.

»Sie können jetzt anfangen, Sturmbannführer.«

Der stellte sich drohend vor Meier auf und fixierte ihn.

»Für welche Organisation arbeitest du?«

Meier wusste nicht, was er antworten sollte, und schüttelte hilflos den Kopf.

»Nenne die Namen deiner Genossen!«, drängte der SS-Mann.

»Ich habe keine Genossen!«

»Du lügst, du Kommunistenschwein!«

»Das tue ich nicht«, beteuerte Meier mit weinerlicher Stimme.

»Ich werde die Wahrheit aus dir rausprügeln!«, brüllte der SS-Mann und holte aus seinem Stiefelschaft eine Nilpferdpeitsche, was aber nicht im Sinne des Arztes war.

»Stecken Sie das Ding weg!«

Zu Meiers Überraschung trat der SS-Mann zurück und machte Dr. Stahl Platz, der eine zweite Spritze aufzog.

»Ich erhöhe die Dosis«, erklärte Dr. Stahl und verabreichte Meier eine zweite Injektion. Danach ließ er erneut eine Minute verstreichen, ehe er dem ungeduldigen SS-Mann mit einer Geste zu verstehen gab, das Verhör fortzusetzen.

»Also noch mal. Nenn mir die Namen deiner Genossen!«

Meier wollte antworten, dass er keine Genossen hatte, brachte aber kein Wort heraus. Er begann plötzlich, unkontrolliert zu kichern, konnte sich nicht dagegen wehren.

»Was gibt es da zu lachen, du Schwein?«

Obwohl Meier sah, dass der SS-Mann eine Pistole zog und auf seinen Kopf zielte, kicherte er weiter.

»Hör auf damit!«

Die Drohung bewirkte bei Meier das Gegenteil. Nun brach er in schallendes Gelächter aus. Dass er sich in tödlicher Gefahr befand, war ihm nicht bewusst, weil er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Der Sturmbannführer fühlte sich durch Meiers Verhalten offenbar provoziert und entsicherte seine Waffe.

»Legen Sie die Pistole weg!«, herrschte Dr. Stahl ihn an. »Der Patient weiß nicht, was er tut.«

»Ach was, der simuliert nur. Er spielt den Verrückten.«

»Das ist das Meskalin. Es sorgt für eine Affektstörung, die Stimmung kann zwischen Trauer und Heiterkeit schwanken«, erklärte Dr. Stahl, der eine weitere Spritze aufzog.

»Ich dachte, das Zeug sorgt dafür, dass der Kerl die Wahrheit sagt!«

»Nur nicht ungeduldig werden, Sturmbannführer. Unsere Forschung, was die Wahrheitsdroge betrifft, befindet sich noch in den Anfängen.« Und schon verabreichte er Meier, der plötzlich von einem Weinkrampf heimgesucht wurde, eine dritte Dosis. »Man muss die psychische Instabilität des Probanden durch eine erhöhte Dosis Meskalin überwinden.«

Der Schuss ging jedoch nach hinten los. Es war, als ob Dr. Stahl Feuer mit Öl löschen wollte. Meiers Zustand verschlechterte sich nach der neuerlichen Dosis radikal. Er bekam Schweißausbrüche, ihm wurde übel. Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er noch, wie der Sturmbannführer, der ohnehin nichts von Meskalin-Versuchen hielt, sich über das misslungene Verhör ausließ.

Dr. Stahl unterbrach ihn mit den Worten: »Schaffen Sie ihn in die Todesbaracke.«

Berlin, 1966 

Seit der Teilung der Stadt befand sich das Präsidium der Westberliner Polizei in einem der ehemaligen Gebäudekomplexe des Flughafens Tempelhof. Das Areal am Platz der Luftbrücke war während der Nazizeit entworfen und erbaut worden und kam monumental und protzig daher. Auf Thomas wirkte der Bau mit der Natursteinverkleidung und strengen Fassadengliederung nicht gerade einladend.

Viel lieber hätte er sein Bewerbungsgespräch im anderen Berliner Polizeipräsidium geführt, in der legendären »roten Burg« am Alexanderplatz, einem kriminalhistorisch bedeutenderen Ort. Während der Weimarer Republik war dort der berühmte Kriminalkommissar Ernst Gennat tätig gewesen, der Erfinder der »Mordkommission«, der unter anderem die Spurensicherung revolutioniert hatte.

Sei’s drum. Es ging jetzt nicht um Nostalgie, sondern um ein Bewerbungsgespräch, das Thomas unbedingt erfolgreich absolvieren wollte. Also rein in den seelenlosen Protzbau. Entgegen seiner Befürchtung lief zunächst alles positiv. Der zuständige Personalreferent, ein Beamter namens Caspari, war sehr angetan von Thomas’ Abschlusszeugnis und machte ihm klar, dass die Berliner Polizei unter Personalnot leide und frische, junge Kollegen suche. Nur leider nicht bei der Kripo, wo Thomas unbedingt hinwollte.

Aber so leicht gab er nicht auf.

»Ich könnte Ihnen im Mordkommissariat nützlich sein oder beim Einbruchdezernat oder auch bei der Sitte, ich bin sehr vielseitig einsetzbar!« Doch sosehr er sich auch ins Zeug legte, er biss bei seinem Gegenüber auf Granit.

»Bei der Kripo ist auf absehbare Zeit nichts zu machen. Was ich Ihnen anbieten kann, sind entweder die kasernierte Bereitschaftspolizei oder die Abteilung 1 der politischen Polizei. Dort könnten Sie bei der Observationstruppe anfangen.« Die kasernierte Bereitschaftspolizei kam für Thomas nicht infrage, da hätte er gleich beim Militär anheuern können.

»Politische Polizei?«, erkundigte er sich. »Könnten Sie mir deren Aufgabengebiete näher erläutern?«

»Als junger Beamter haben Sie keine Fragen zu stellen. Sie werden schon früh genug in den Dienst eingewiesen«, herrschte Caspari ihn an.

Thomas, der sich nicht als Bittsteller und Befehlsempfänger verstand, verzichtete auf eine saftige Replik und ballte die Faust in der Tasche seines Jacketts. Bloß keinen Streit mit Caspari beginnen, der saß schließlich am längeren Hebel.

»Sie haben natürlich recht. Aber es könnte doch sein, dass ich nicht über die erforderlichen Fähigkeiten verfüge. Insofern wäre es auch in Ihrem Interesse, wenn ich wüsste, was mich da erwartet«, sagte er höflich, ja, fast devot. Diese Melodie schien Caspari zu gefallen.

»Dann hören Sie mal zu. Es werden Beamte gesucht, die nicht nach Polizei aussehen, so wie Sie mit Ihren langen Haaren beispielsweise«, erklärte er und fügte ironisch hinzu: »Sie bekommen also keinen Tschako mit Kinnriemen.«

Zu Casparis Leidwesen gab sich Thomas mit der Antwort nicht zufrieden.

»Aber was muss ich da konkret machen? Nur observieren?«

Nun reichte es Caspari. »Wollen Sie oder wollen Sie nicht?!«

Thomas merkte, dass er nicht weiterkam. Da die kasernierte Bereitschaftspolizei auf keinen Fall infrage kam, blieb ihm nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Eine Viertelstunde später wurde er von einem Kollegen abgeholt, der ihn zu seinem neuen Chef bringen sollte: Regierungsdirektor Böhmer, der in einem Seitentrakt des Präsidiums saß. Thomas wunderte sich über die Hektik in den Gängen. Mehrere Beamte hetzten über den Flur und blätterten dabei in Unterlagen, andere wiederum diskutierten engagiert in Kleingruppen. Es ging zu wie im Taubenschlag.

»Ist das hier immer so?«, wunderte sich Thomas.

»Die Abteilung kocht, der Maulwurf macht uns Dampf«, erklärte der Kollege.

»Maulwurf?«

»Es heißt, dass in der Berliner Polizei ein Maulwurf für die Stasi arbeitet. Die Amis haben schon einen dicken Hals. Aber ich denke da anders. Der sitzt beim Verfassungsschutz und nicht bei uns!«

Thomas verstand nur Bahnhof.

»Und was ist mit diesem Maulwurf? Was verrät er?«

»Er liefert unsere Männer ans Messer, die drüben für uns arbeiten. Einer von ihnen ist gestern bei seinem Fluchtversuch erschossen worden. Er wollte durch den Kanal schwimmen.«

Diese Information kam für Thomas unerwartet. Der Mann, der in seinen Armen erschossen worden war, war ein Spion gewesen? Ihm blieb keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, weil der Kollege ihn in das Büro von Regierungsdirektor Böhmer führte, einem kleinen, untersetzten Mann, der hinter einem riesigen Eichenschreibtisch und unter einem Porträt des Bundeskanzlers Ludwig Erhard residierte. Thomas, der Böhmer um fast zwei Köpfe überragte, wunderte sich über die Einrichtung des Büros mit Ledersofas und -sesseln, dicken Perserteppichen und opulenten Ölgemälden an der Wand. Es roch stark nach Nikotin, denn Böhmer rauchte wie ein Schlot.

»Zeig mir deine Unterlagen«, forderte sein neuer Chef ihn grußlos auf.

Thomas, der zwar keinen roten Empfangsteppich erwartet hatte, ärgerte sich über den rüden Ton, reichte aber die Mappe rüber.

»Caspari hat mir am Telefon gesagt, dass du lieber zur Kripo gehen würdest?« Böhmer kreuzte die Füße über dem Schreibtisch, bot aber Thomas, der wie ein Schuljunge dastand, keinen Platz an. Und erst recht keinen Kaffee, den er sich aus einer Porzellankanne gönnte.

»Weil ich keine Erfahrung mit der politischen Polizei habe«, antwortete Thomas ausweichend.

»Übrigens – warum gibt es in der DDR keine Banküberfälle?«, fragte Böhmer plötzlich mit ernster Stimme.

»Wie bitte?«

»Weil man zehn Jahre auf ein Fluchtauto warten muss«, erklärte Böhmer und klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. »Auf einen Wartburg oder Trabant, verstehst du?«

Jetzt erst begriff Thomas den lahmen Witz und zog aus Höflichkeit die Mundwinkel nach oben.

»Es gibt nichts Schöneres als Witze über den Pleite-Sozialismus. Aber Spaß beiseite, ich will dich mal ein wenig schlaumachen über uns«, meinte Böhmer und erteilte Thomas eine Nachhilfestunde. »Die Abteilung 1 ist unterteilt in mehrere Inspektionen. Die erste ist für die Bekämpfung von Naziverbrechen zuständig. Die zweite widmet sich der internen Überwachung der Polizei und der Bekämpfung der Stasi, also des MfS. Ich persönlich konzentriere meine Arbeit darauf, ich mag keine Kommunisten. Eines kann ich dir sagen: Wir sind nicht sonderlich beliebt, weil wir als Schnüffeltruppe gelten, die andere Kollegen überprüft.« Allzu klagend klang das nicht. Böhmer schien in Wahrheit Gefallen an seiner Macht über die Abteilungen zu haben.

»Warum müssen wir andere Kollegen überprüfen?«

»Weil die Kommunisten unsere Polizei unterwandern wollen.«

Thomas nickte. »Ich habe vom Maulwurf gehört …«

»Woher weißt du vom Maulwurf?« Böhmer fixierte ihn mit einem Verhörblick.

Da Thomas seinen redseligen Kollegen nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, antwortete er ausweichend: »Das habe ich auf dem Flur aufgeschnappt.« Trotzdem brachte die Antwort Böhmer in Rage.

»Und so was nennt sich Diskretion! Ich habe diesen Idioten tausendmal gesagt, dass sie keine Interna ausplaudern sollen!«, polterte er los.

»Sie können beruhigt sein, Herr Regierungsdirektor, ich werde schon nichts ausplaudern«, versuchte Thomas, ihn zu beruhigen. »Würden Sie mir bitte erklären, welche Aufgaben auf mich warten?« Er gab Böhmer, der sich gerade eine neue Zigarette anstecken wollte, Feuer.

»Unser Aufgabengebiet ist die Abwehr des MfS und anderer Nachrichtendienste des Warschauer Paktes. Konkret heißt das, dass du verdächtige Subjekte observieren und Meldung erstatten musst. Und in Berlin schwirren die kommunistischen Spione wie Motten um das Licht, das kann ich dir sagen!«

Und das konnte er tatsächlich, und so erfuhr Thomas weiter, dass die politische Abteilung eng mit den Alliierten und dem Landesamt für Verfassungsschutz zusammenarbeitete. Dabei waren die Amerikaner die wichtigsten Partner.

»Die Franzmänner nehmen das alles nicht so ernst, manchmal habe ich das Gefühl, als ob die gerne mit den Russen Wodka trinken würden. Die Tommys wiederum sind kompliziert und stellen tausend Fragen, aber die Amerikaner handeln. Und das ist gut so, ohne die CIA würde Berlin untergehen!«

Just in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein Mann betrat grußlos das Büro. Unterschiedlichere Typen hätte sich Thomas nicht vorstellen können: Böhmer in vornehmem Zwirn, der fremde Besucher mit offenem Hemdkragen und verwaschenen Jeans, obendrein unrasiert. Ein wenig erinnerte er Thomas an den mexikanischen Banditen aus John Hustons »Der Schatz der Sierra Madre«. Dessen ungeachtet sprang Böhmer auf und nahm Haltung auf. Thomas glaubte sogar ein leises Hackenschlagen zu hören.

»Leutnant Lopez, ich habe hier die Akte des Neuen zur Begutachtung!« Böhmer reichte dem Mann Thomas’ Unterlagen und beeilte sich, ihm eine Tasse Kaffee einzugießen.

Der Mann nahm die Akte wortlos entgegen und ließ sich lässig in einen Ledersessel fallen. Während sein Kiefer unentwegt einen Kaugummi bearbeitete, überflog er die Schriftstücke, ohne Böhmer und Thomas eines Blickes zu würdigen. Böhmer meinte wohl, etwas erläutern zu müssen:

»Sein Vater war ebenfalls Polizist. Außerdem stammt er vom Niederrhein, das ist westdeutsche Provinz, er ist also kein Flüchtling aus dem Osten. Und da ist noch etwas … Er ist nicht sonderlich begeistert, in unserer Abteilung zu arbeiten.«

»Warum bist du nach Berlin gekommen?«, wollte Lopez von Thomas wissen. Sein amerikanischer Akzent war unüberhörbar.

»Weil ich einen Tapetenwechsel brauchte. Außerdem ist meine Verlobte hier«, antwortete Thomas, der sich fragte, wer dieser Mann war. Er sah Böhmer fragend an.

»Polizeileutnant Lopez ist unser amerikanischer Abwehroffizier.«

Die Antwort beeindruckte Thomas. Endlich lernte er einen richtigen amerikanischen Polizisten kennen. Er hatte während seiner Ausbildung sehr viel amerikanische Fachliteratur verschlungen. Thomas fand Amerika ohnehin faszinierender als Deutschland. Und das hatte viele Gründe. Die Amerikaner hatten die besseren Detektive, wie beispielsweise Sam Spade. Außerdem hatten sie die Jeans erfunden, hörten Rock ’n’ Roll, aber vor allem hatten sie die Nazis besiegt. Und nun saß ihm ein leibhaftiger amerikanischer Polizist gegenüber, der die Beine lässig auf dem Schreibtisch eines deutschen Regierungsdirektors abgelegt hatte und Thomas’ Akte überflog. Beeindruckender ging es nicht. Nur schade, dass er ihn nicht beachtete. Aber wenigstens hatte er nichts gegen seine Bewerbung einzuwenden.

»Sie können ihn einstellen«, kommentierte Lopez knapp, erhob sich und wandte sich grußlos zum Gehen. Vor der Tür aber blieb er doch noch stehen und schenkte Thomas zum ersten Mal einen Blick.

»Du trägst ja eine Levis.«

»Ja, und?«, wunderte sich Thomas.

»Gute Wahl!« Lopez blinzelte ihn an, und dann war er weg.

Jetzt erst traute sich Thomas die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge lag.

»Sie haben doch bestimmt eine SOKO Maulwurf. Ich würde da gerne mitarbeiten!«

»Kommt nicht infrage, du wirst dich vorerst von den anderen Kollegen fernhalten, ich traue denen wenig. Deine Aufträge wirst du nur von mir höchstpersönlich erhalten, ist das klar?«

»Verstanden.«

»Ich sehe dich morgen um sechs Uhr früh.«

Böhmer beendete das Gespräch und zeigte auf die Tür. Aber er gab Thomas noch eine Warnung mit auf den Weg. »Unterstehe dich, mit der S-Bahn zu fahren! Ulbrichts Klapperkiste gehört Pankow, und denen brauchen wir keine Westmark in den Hintern zu schieben!«

Trotzdem stieg Thomas auf dem Nachhauseweg vom Bus in die S-Bahn, die, wie Böhmer erwähnt hatte, unter ostzonaler Verwaltung, aber mit Westberliner Personal verkehrte. Ging einfach schneller, obendrein wohnte er unweit des S-Bahnhofs Heidelberger Platz. Unterwegs ließ er den Tag Revue passieren. Er war zwar jetzt bei der Berliner Polizei, aber er war nicht da, wo er hinwollte. Die Kripo konnte er zunächst vergessen. Stattdessen sollte er bei der sogenannten Schnüffeltruppe die Kollegen wegen möglicher Ost-Kontakte überprüfen. Was hieß das nun genau? Mehr Informationen hatte sein Chef bisher nicht rausgerückt. Überhaupt sein Chef … Er behandelte die Kollegen wie Untertanen und ihn persönlich wie einen völligen Anfänger. Er wollte ihm sogar vorschreiben, wie er zur Arbeit fahren sollte. Nur vor Lopez, dem amerikanischen Verbindungsoffizier, kuschte Böhmer wie ein kleiner Junge. Schon deswegen hatte Lopez bei Thomas gepunktet. Unabhängig davon, dass dieser amerikanische Polizist der lässigste Typ war, dem Thomas bisher begegnet war. Er würde alles dafür tun, ihn näher kennenzulernen.

Zu Hause angekommen, konnte er es kaum abwarten, Peggy, die gespannt auf ihn wartete, Bericht zu erstatten. Im Gegensatz zu Thomas sah sie alles optimistischer und versuchte, ihn aufzurichten.

»Immerhin haben sie dich genommen, alles Weitere wird sich ergeben. Außerdem kann es doch sein, dass du einen gefährlichen Ost-Agenten zur Strecke bringst!« Seit dem Zwischenfall an der Havel war sie nicht gut auf die »Ost-Fuzzis«, wie sie sie nannte, zu sprechen. Zum Glück konnte man von ihrer Wohnung aus die Mauer nicht sehen, wie es mancherorts der Fall war. Aber sie wohnten in Wilmersdorf in einem Gründerhaus mit sehr hohen Decken.

Es war fraglich, ob Thomas und Peggy dort eingezogen wären, wenn sie die traurige Vergangenheit dieses Hauses gekannt hätten. Bei den ursprünglichen Besitzern hatte es sich um eine wohlhabende jüdische Familie gehandelt, die das Haus 1938 für einen Spottpreis an einen Funktionär der Nazis hatte verkaufen müssen, um in die Niederlande auswandern zu können. Leider hatte diese Verzweiflungstat der Familie wenig genützt, sie war dennoch Opfer des Holocausts geworden. Das Haus dagegen hatte den Krieg einigermaßen gut überstanden und wurde von der Witwe des neuen Besitzers mehr oder weniger in Schuss gehalten.

Thomas und Peggy hatten die untere Wohnung gemietet, die aus zwei Teilen bestand. Zur Straße hin lagen die weitläufigen Zimmer der »Herrschaften«, hinten die kleineren Räume des Personals und die Küche. Verbunden wurden die beiden Wohnungen durch das sogenannte Berliner Zimmer. Unter normalen Umständen hätten Peggy und Thomas sich die große Wohnung niemals leisten können, aber die Witwe war dringend auf Miete angewiesen und verlangte nicht mehr als für eine Zweizimmerwohnung, zumal der Putz von den Wänden bröckelte und der Boiler nur ab und zu lauwarmes Wasser lieferte. Diese und noch mehr Mängel hatte Peggy in Kauf genommen, weil sie von einem eigenen Schneideratelier träumte und diese riesige Wohnung dafür geeignet wäre. Doch das war Zukunftsmusik. Noch arbeitete sie für einen bekannten Modeschöpfer, der in Grunewald einen Haute-Couture-Salon betrieb, welcher bei vielen Schauspielerinnen hoch im Kurs stand. Ihre Aufgabe bestand darin, die entsprechenden Kleidungsstücke nach seinen Entwürfen zu nähen. Ihr Chef schätzte ihre präzise und schnelle Arbeitsweise, ahnte aber nicht, dass sie seine Entwürfe im Unterschied zu den älteren Kundinnen nicht allzu aufregend fand. Peggy wollte in einer Modewelt leben, in der es farbenfroh, wild und unkonventionell zuging, so wie beispielsweise in der Carnaby Street oder Chelsea Road des »Swinging London«. Genauso wenig ahnte er, dass sie die Arbeit bei ihm nur als Zwischenstation ansah. Thomas wusste das natürlich besser und ermunterte seine Freundin, den nächsten Schritt zu wagen und sich selbstständig zu machen. Dass übrigens beide zusammenleben durften, war aufgrund des Kuppelei-Paragrafen, der unverheirateten Paaren ein gemeinsames Wohnen verbot, nur durch einen Trick der Witwe möglich. Sie hatte die große Wohnung einfach in zwei kleine unterteilt und logischerweise zwei Mietverträge ausgestellt. Außerdem hatten Thomas und Peggy ihr eine baldige Verlobung zugesagt. Die allerdings lag für beide in weiter Ferne. Sie hatten momentan andere Probleme. Beide wollten erst einmal in Berlin Fuß fassen.

Dachau, 1945 

Meier hatte im Unterschied zu vielen anderen Leidensgenossen die Todesbaracke überlebt – das Meskalin hatte nur für eine tiefe Bewusstlosigkeit gesorgt. Und Meier überlebte auch die folgenden Monate in der KZ-Hölle. Er vermied alles, was ihn das Leben gekostet hätte. Er hielt sich an die zahlreichen Verbote der Lagerleitung, sprach mit anderen Häftlingen nie über Politik und nahm immer Haltung an, wenn ein Wachmann vorbeiging. Aber sein Überlebenswille ging nie so weit, dass er andere denunzierte oder gar mit den brutalen Kapos – den niederträchtigsten Schergen der SS – gemeinsame Sache machte. Er wollte in dieser Stätte des Martyriums seine moralischen Prinzipien nicht über Bord werfen und in dem Sumpf der Unmenschlichkeit nicht ertrinken.

Zu Meiers Überlebensstrategie gehörte auch, dass er den Kontakt zu anderen Häftlingen mied, er blieb ein Einzelgänger und vertraute sich keinem an, nicht einmal seinen Kameraden in dem überfüllten und stinkenden Schlafsaal, mit denen er den schimmelnden Strohsack teilte, der als Matratze diente. Er hatte es geschafft, eine Aufgabe als Läufer zu ergattern – so wurden die Boten genannt, die zwischen der Blockverwaltung, dem Postbüro, der Krankenstation und anderen Sektionen hin- und herpendelten Als Läufer genoss er relativ viele Freiheiten im Unterschied zu den meisten Häftlingen, die ununterbrochener Zwangsarbeit ausgesetzt waren und unablässig mit Stiefeltritten und Knüppelschlägen traktiert wurden. Außerdem hatte seine Arbeit den Vorteil, dass er über die neuesten Neuigkeiten und Gerüchte außerhalb der KZ-Mauern informiert war, weil auch mancher SS-Mann verbotenerweise BBC hörte. Meier wusste also, dass an dem Sieg der Alliierten kein Zweifel bestand. Trotzdem weinte er vor Glück, als Ende April 1945 amerikanische Soldaten das Konzentrationslager befreiten.

Der Anblick der unzähligen Toten, nackt und dürr, die geschundenen Körper gestapelt wie Holz, führte den Soldaten, die Tod und Zerstörung gewohnt waren, vor Augen, wozu Menschen in der Lage waren. Die Überlebenden mit ihren glasigen Augen, leeren Blicken und ausgemergelten Körpern, die in völlig überfüllten Baracken eingepfercht vor sich hin vegetierten, litten an Ruhr, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten im Früh- und Endstadium. Und dann der unbeschreibliche Verwesungsgeruch, der unbarmherzige Duft des Todes, der Leiden und der Folter.

Aber Meier, obwohl entkräftet, wollte seinen Befreiern jede Frage beantworten und ihnen jeden Winkel der Todesfabrik zeigen. Zunächst führte er sie zu den Unterkünften der Wachmannschaften, die im Unterschied zu den Häftlingen in einer anderen Welt lebten. Ihre Wohnungen waren auf den ersten Blick behaglich ausgestattet, es fehlte an nichts, nicht einmal an frischen Blumen in den Vasen. Doch beim näheren Hinsehen sah man Lampen aus tätowierten Hautstücken der Häftlinge und kleine Schrumpfköpfe in den Vitrinen. Spätestens bei diesem Anblick dachten nicht wenige G.I.s daran, mit den SS-Schergen kurzen Prozess zu machen, aber die düstere Führung war noch nicht zu Ende. Meier brachte die amerikanischen Offiziere auch zur einstöckigen Krankenstation, die etwas abseits gelegen war.

»Hier wurden Menschenversuche durchgeführt.«

Ein Sanitäter, der vor den Amerikanern nicht hatte fliehen können, bestritt das vehement.

»Es ist nur an Mäusen und Meerschweinchen experimentiert worden«, behauptete er dreist. »Manchmal auch an Rindern und Pferden, aber …«

Meier fiel ihm ins Wort: »Lüge!« Nachdem er seit Langem auf diesen Augenblick gewartet hatte, führte er die Amerikaner zu einem hinteren Bau. Dort fanden sie eine funktionstüchtige Röntgenanlage und eine ausführliche Bibliothek mit zahlreichen Akten, in denen sich detaillierte Aufzeichnungen und Fotografien von den Menschenversuchen fanden. Die Regale waren voller Gefäße mit konservierten Körperteilen, alle fein säuberlich aufgereiht und katalogisiert. Nicht wenige G.I.s übergaben sich bei dem Anblick.

»Wer ist für dieses Schlachthaus verantwortlich?«, wollte ein Offizier mit stockender Stimme wissen, der noch bis an sein Lebensende mit diesen Bildern zu kämpfen haben würde.

Meier, der die Torturen in Dachau nur durchgehalten hatte, um eines Tages diese Frage beantworten zu können, gab bereitwillig Auskunft: »Dr. Stahl!«

Berlin, 1966 

Thomas trat wie befohlen frühmorgens seinen Dienst bei Böhmer an, der ihm Instruktionen für seine neuen Aufgaben gab. Dass Thomas pünktlich war, hatte er der S-Bahn zu verdanken, obwohl Böhmer deren Benutzung verboten hatte. Auch der Berliner Senat forderte zum Boykott auf, aber vielen Leuten war der Geldbeutel näher als korrektes politisches Bewusstsein, zumal die Benutzung der langsamen Busse die Geduld auf eine harte Probe stellte.

Geduld musste auch Thomas aufbringen. Böhmer ließ ihn quasi verhungern. Anstatt ihm konkret zu erklären, welche Aufgaben auf ihn warteten, schickte er ihn erst einmal zur Materialstelle. Dort händigte man Thomas zunächst seine Dienstwaffe aus, eine Walther PPK. Dann einen Regenschirm mit eingebauter Kamera und eine kleine Minox samt Gebrauchsanweisung.Damit sollte er losziehen und Leute observieren.

Den Anfang machte ein betagter Schutzmann.

»Du heftest dich an ihn ran und lässt ihn nicht aus den Augen. Wenn der sich mit jemandem trifft, machst du ein Foto. Und jetzt voran!«, lautete der knappe Befehl von Böhmer.

»Kann ich ein paar Informationen über ihn haben?«, wagte Thomas zu fragen. »Was hat er sich denn zu Schulden kommen lassen?«

»Du sollst ihn observieren und keine Fragen stellen!«, kanzelte ihn Böhmer ab und zeigte auf die Tür. »Warte mal!«, rief er ihm hinterher.

Thomas, der auf dem Sprung war, sah ihn erwartungsvoll an. Würde doch noch eine Erklärung folgen?

»Warum kleben die Ulbricht-Briefmarken so schlecht? Weil die Leute auf die falsche Seite der Briefmarke spucken, hahaha! Und jetzt ab an die Arbeit.«

Thomas war genervt. Er wollte keine Witze hören, er wollte Erklärungen, Hintergründe. Für einen kritischen Geist wie ihn, der seine Arbeit hinterfragte, war Böhmers Verhalten mehr als enttäuschend. Er hatte kein Verständnis für seinen neuen Chef, der ihn wie eine Schachfigur behandelte. Es mochte undichte Stellen in der Abteilung geben, aber Thomas erwartete, dass man ihm vertraute. Er musste den misstrauischen Böhmer, der wohl überall einen Maulwurf witterte, einfach von seiner Zuverlässigkeit überzeugen.

Also tat er, was ihm aufgetragen worden war, und observierte den Schupo. Der machte einen sehr harmlosen Eindruck, stand den ganzen Tag auf seinem Podest in Sichtweite des neu errichteten Europa-Centers, auf dessen Dach ein mächtiger Mercedes-Stern thronte, und regelte den Verkehr wie ein Dirigent das Orchester. Die Umgebung war nett anzusehen, aber nach einer Weile fragte sich Thomas, worauf er bei der Observation überhaupt achten sollte. Auf Kontakte mit anderen Personen? Die gab es nicht, da der Polizist die ganze Zeit allein auf seinem Podest stand. Die Autos fuhren an ihm vorbei, keines hielt an, es gab überhaupt keine Möglichkeit einer Kontaktaufnahme. Nach vier Stunden wurde es Thomas zu blöd. Warum hatte ihm Böhmer diesen Auftrag gegeben? Wurde der Mann der Spionage verdächtigt oder der Korruption? Thomas’ Ärger wuchs. Nur rumstehen und auf die Kreuzung starren wurde ihm zu viel. Er musste etwas tun, aber was? Vielleicht die Kamera am Regenschirm ausprobieren und den Schupo aufnehmen? Der Versuch scheiterte, weil der Mechanismus nicht funktionierte. Die Zeit zog sich endlos hin, und Thomas bekam Hunger. Aber die Currywürste und die fettigen Buletten, die in einem Imbiss um die Ecke angeboten wurden, reizten ihn nicht. Die Wampen seiner Kollegen, die sich offensichtlich nur von diesem Budenfraß ernährten, schreckten ihn ab. Gesünder erschien ihm die Lektüre einer Zeitung. Er zog aus einem Zeitungskasten eine KLICK, das auflagenstärkste Boulevardblatt Berlins. Doch schon die Schlagzeile stieß ihm übel auf. Da wurde gegen die langhaarigen Gammler gehetzt, die das Stadtbild verschandelten. Sie würden lieber Beatmusik hören, anstatt zu arbeiten. Thomas, der Rhythm & Blues liebte, beförderte das Blatt umgehend in den Abfalleimer und widmete sich wieder dem Schutzmann. Als dessen Ablösung kam, schrieb er einen äußerst unaufgeregten Bericht, den er spätnachmittags Böhmer vorlegte. Der las ihn zu seinem Erstaunen mit Interesse und machte sich eifrig Notizen. Thomas konnte nicht länger an sich halten und stellte eine Zwischenfrage.

»Gibt es Neuigkeiten in Sachen Maulwurf?«

Das war offensichtlich ein Fehler. Statt einer Antwort gab es von Böhmer einen neuen Auftrag. Thomas sollte als Nächstes einen Handelsvertreter für Alkohol-Zahncreme beschatten. Er wunderte sich nicht, dass er wiederum keine weiteren Informationen erhielt. Dennoch hakte er nach.

»Worauf soll ich denn bei dem Mann achten?«

»Du fährst ihm einfach hinterher und machst Fotos von seinen Kunden.«

Als Thomas auf den defekten Regenschirm hinwies, polterte Böhmer los und schimpfte auf die technische Abteilung. »Dann eben keine Bilder. Schreib die Namen und Adressen der Kunden auf!«

Die Observation des Handelsvertreters, der mit der U-Bahn unterwegs war, hatte im Unterschied zu der des Polizisten den Vorteil, dass Thomas viel herumkam und Berlin als Stadt der Gegensätze kennenlernte.

In den Cafés am Ku’damm räkelten sich die ondulierten Witwen und spähten nach dem einen oder anderen Prominenten, der sich gelegentlich hier blicken ließ. Doch oft schlurften Invalide vorbei, die im Krieg Arme oder Beine oder beides verloren hatten und sich jetzt als Hausierer und Bettler durchschlugen. So mancher zog auch mit einem Leierkasten durch die Straßen und Höfe und versuchte so, seine karge Rente aufzubessern.

Am interessantesten aber fand Thomas die sogenannten Geisterbahnhöfe, ehemalige Haltestellen, die sich nach dem Mauerbau im Osten befanden. Die westlichen U-Bahnen fuhren zwar hindurch, durften aber nicht anhalten. Während sie langsam an den verlassenen und nur spärlich beleuchteten Bahnsteigen vorbeiglitten, konnte er die bewaffneten Ostgrenzer sehen. Thomas fand das alles sehr gespenstisch und konnte nachvollziehen, dass man von »Geisterbahnhöfen« sprach. Er erfuhr von einem BVG-Kontrolleur, dass die Ausgänge auf Ostberliner Seite zugemauert waren, um potenziellen Flüchtlingen aus dem Osten den Zugang zu den Bahnschächten zu verwehren und eine Flucht in den Westen zu verhindern.

Auch oberirdisch war die Teilung offensichtlich. Das pulsierende Herz Berlins, der Potsdamer Platz, schlug nicht mehr. Der in den Zwanzigerjahren verkehrsreichste Ort der Welt fristete jetzt das trostlose Dasein einer Ruine. Die nahe Grenzbefestigung hatte ihm den Todesstoß versetzt. Auch das Arbeiterviertel Kreuzberg mit seinen grauen Häuserfassaden, baumlosen Straßen und dunklen Hinterhöfen, bevölkert von Arbeitern und türkischen Gastarbeitern, verfiel von Tag zu Tag, während anderswo fleißig gebaut wurde, schließlich war im Krieg rund ein Drittel der Wohnungen und Häuser zerstört worden. Allerdings gab es auch angefangene Baustellen, auf denen seit Wochen die Arbeit ruhte. Thomas hatte von illegalen Bauspekulanten gelesen und ärgerte sich, dass er nicht bei der Kripo war, um gegen diese Subventionsbetrüger vorgehen zu können. Die kassierten zwar fleißig Bauförderungen, dachten aber nicht daran zu investieren. Stattdessen vergeudete er seine Zeit mit der Observation eines Mannes, der mit seiner Zahnpasta zig Läden aufsuchte. Und was die Suche nach dem Maulwurf anging, so lief auch sie gänzlich ohne ihn ab.

Als Thomas am nächsten Morgen das Büro seines Chefs betrat, um seinen Bericht abzugeben, wurde er von Rauchschwaden begrüßt. Böhmer hatte Besuch. Lopez kannte er schon, aber die beiden anderen Männer hatte er bisher noch nicht gesehen. Der eine, gut zwei Meter groß, fett und mit einem Brustkorb wie ein Bierfass, war eine furchteinflößende Gestalt in einem zerbeulten Anzug. Der andere war zwei Köpfe kleiner, dürr und steckte in feinem Zwirn. Böhmer dachte nicht daran, ihm die beiden vorzustellen. Er kam sogleich zur Sache.

»Da bist du ja endlich, wo warst du denn so lange?«

Thomas verstand die Hektik nicht, zumal er sogar fünf Minuten vor Dienstbeginn erschienen war. »Heute wird nicht observiert, wir brauchen dich anderweitig«, fuhr Böhmer fort. »Ein Kollege ist ausgefallen. Hast du Erfahrung mit Durchsuchungen?«

Thomas horchte auf. Das hörte sich nach richtiger Polizeiarbeit an.

»Natürlich, worum geht es konkret?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Melde dich beim Kollegen Wagner, Büro 212.«

Trotz des Rauswurfs war Thomas Feuer und Flamme und suchte Wagner auf, der bereits auf ihn wartete. Im Dienstauto, einem dunklen Opel, ging es nach Charlottenburg. Wagner, der noch nach Schlaf roch, erwies sich als mundfaul, jedenfalls hielt auch er es nicht für nötig, Thomas mit Informationen zu versorgen. Irgendwann wurde es ihm zu blöd.

»Der Chef sprach von einer Durchsuchung?«

»Warte es ab, Kleiner.«

»Geht es nicht genauer?«, hakte Thomas nach, der sich nicht wie ein dummer Schuljunge abspeisen lassen wollte.

»Sag mal, du bist ja noch grün hinter den Ohren. Hast du überhaupt schon mal eine Wohnung durchsucht?«

»So frisch bin ich gar nicht, ich war bei der Düsseldorfer Kripo«, betonte Thomas, um klarzustellen, dass er kein Anfänger war.

»Warum bist du denn nach Berlin gekommen? Hier wohnen doch nur Witwen und Studenten.«

Wagners schroffe Art gefiel Thomas nicht, aber er sparte sich eine Antwort. So verlief der Rest der Fahrt schweigend. Erst als Wagner den Wagen gegenüber einem Altbau parkte, hielt er es für nötig, Thomas in den Einsatz einzuweisen.

»Wir warten jetzt, bis unser Mann aus dem Haus geht. Dann werden wir uns seine Wohnung vorknöpfen. Ich werde sein Radio unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob es präpariert ist und er Signale empfangen kann.«

Thomas fragte sich, ob der Einsatz etwas mit dem Maulwurf zu tun hatte. Er musste Wagner zum Reden bringen.

»Könnten Sie mir nicht auf die Sprünge helfen? Ich lerne gerne hinzu, vor allem von einem erfahrenen Beamten, wie Sie es sind!«

Seine Taktik verfing bei Wagner, der sich gebauchpinselt fühlte.

»Dann hör mir genau zu, Kleiner. Wir wissen, dass die Amis hier in der Nähe verdächtige Signale geortet haben. Daraufhin haben wir die Bewohner näher unter die Lupe genommen und sind auf den Kollegen Caspari gestoßen. Er ist der einzige Polizist, der hier im Haus wohnt.«

»Caspari? Heißt so nicht der Beamte, der die Vorstellungsgespräche führt?«

»Richtig. Wäre möglich, dass er unser Maulwurf ist.«

»Verstehe!«

Im nächsten Moment ging die Tür auf, und eine etwa vierzigjährige Frau verließ das Haus.

»Seine Ehefrau. Sie geht immer vor ihm zur Arbeit, damit sie die S-Bahn kriegt.«

»Caspari ist also schon mal observiert worden?«

»Nicht von uns. Ich habe die Information von den Heinis vom Verfassungsschutz.«

»Sind die auch hier?«, wunderte sich Thomas, der sich über die Arbeitsteilung zwischen politischer Polizei und Verfassungsschutz nicht im Klaren war.

»Glaube nicht.«

»Warum durchsuchen die nicht die Wohnung?«

»Das ist Polizeiarbeit … Da ist er!«

Thomas sah, wie Caspari, eine Aktentasche unter den Arm geklemmt, hektisch aus dem Haus trat. Wagner ließ ihn zunächst die Straße überqueren, bevor er ausstieg. Thomas folgte ihm brav und war gespannt, wie sein Kollege vorgehen würde.

»Kriegst du sie auf?«, fragte Wagner mit Blick auf die Haustür. Das ließ sich Thomas, ein Meister im Lockpicking, nicht zweimal sagen. Um das Zylinderschloss zu öffnen, benutzte er die Technik des Setzens. Dazu benötigte er zwei kleine Werkzeuge, die er immer dabeihatte. Zunächst setzte er den Spanner in den oberen Bereich des Schlosses ein, um die Verriegelungsmechanik zu bewegen und in Spannung zu halten. Dann führte er den Hook ein und drückte die Sperrelemente, oder auch Stifte, mit viel Fingerspitzengefühl einzeln herunter. In wenigen Sekunden war das Schloss geöffnet. Das nötigte sogar seinem ansonsten mürrischen Kollegen Respekt ab.

»Nicht schlecht, Herr Specht!«

Die beiden eilten die Holztreppe nach oben. Es knarrte unüberhörbar. Caspari wohnte auf der zweiten Etage. Wieder brauchte Thomas nur wenige Sekunden, um sich Einlass zu verschaffen. In der Wohnung widmete sich Wagner sofort dem Radio.

»Mal sehen, ob Kollege Caspari in Richtung Osten funkt.«

»Und was mache ich?«

»Keine Ahnung. War sowieso nicht meine Idee, dass du mitkommst.« Der Kollege konnte seine bärbeißige Art einfach nicht ablegen. Thomas nervte das, zumal Wagner noch einen draufsetzte: »Du kannst dich doch nützlich machen. Hol mir mal einen Ascher!«, befahl er und steckte sich eine Zigarette an.

»Ich würde hier nicht rauchen«, riet Thomas mit Blick auf den Aschenbecher.

»Warum das denn?«, fragte Wagner, der soeben mit einem Schraubendreher die Abdeckung des Radios entfernte.

»Es sieht so aus, als ob Caspari Pfeife raucht … Ihm würde eine Zigarettenkippe auffallen.« Thomas zeigte auf einige Pfeifen, die neben dem Aschenbecher lagen.

»Spielst du hier Sherlock Holmes, oder was?«, entgegnete Wagner lachend und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Thomas ärgerte sich über die ignorante Antwort. Anstatt für Wagner den Aschenbecher zu holen, ging er ans Fenster. Er hatte ein ungutes Gefühl bei diesem Einsatz.

»Was ist mit dem Aschenbecher, verdammt?«

»Ich stehe lieber Schmiere.«

»Überflüssig, Caspari muss zum Dienst.«

»Offenbar nicht. Der kommt gerade zurück!«, warnte Thomas mit Blick auf die Straße. Er sah, wie Caspari die Fahrbahn überquerte und sich dem Haus näherte.

»Was? Sicher?«

»Weg hier!«, mahnte Thomas.

Hastig drückte Wagner die Zigarette aus, schraubte die Abdeckung des Radios behelfsmäßig an und eilte dann mit Thomas aus der Wohnung. Aber der Weg nach unten war versperrt, weil Caspari gerade den Hausflur betrat. Thomas zeigte geistesgegenwärtig nach oben, und Wagner verstand. Sie eilten leise die Treppe zur höher liegenden Etage hinauf und warteten ab, bis Caspari in die Wohnung ging.

»Wenn er Ihre Zigarette riecht, haben wir ein Problem!«

»Ach was«, winkte Wagner ab und wollte über die Treppe nach unten. In diesem Moment wurde die Wohnungstür aufgerissen. Caspari trat mit gezückter Pistole in das Treppenhaus. Als er Wagner sah, fackelte er nicht lange und schoss. Wagner taumelte zu Boden, während Caspari das Treppenhaus hinunterhetzte. Thomas ließ ihn laufen und wollte sich um seinen Kollegen kümmern, doch das Einschussloch mitten in Wagners Stirn ließ keine Interpretationen zu, zumal kein Puls mehr zu fühlen war. Da Thomas ihm nicht mehr helfen konnte, eilte er durch das Treppenhaus nach unten. Er musste Caspari stellen! Der lief seinerseits in eine leere Nebenstraße und rannte, gefolgt von Thomas, über ein Trümmergrundstück.

In den nächsten Minuten lieferten sich die beiden eine wilde Verfolgungsjagd, die sich über Hinterhöfe und halb zerbombte Häuser erstreckte. Thomas ließ sich nicht abschütteln. Er riss Leinen mit flatternder Wäsche nieder, kletterte über Mauern und Mülltonnen und überwand ein Hindernis nach dem anderen, sogar eine lebendige Kuh, die ihm den Weg versperrte.

Doch dann schien die wilde Hatz ein Ende zu haben. Caspari, der rund fünfzig Meter vor ihm um die Ecke gebogen war, schien plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Thomas sah sich hektisch um, entdeckte ihn jedoch nirgends. Er konnte sich das nicht erklären, denn die Straße war menschenleer. Thomas zweifelte schon an seinem Verstand, da entdeckte er etwas, was ihm verdächtig vorkam. Das Gitter eines Notausstiegs der U-Bahn war ein wenig verschoben. Es führte direkt zum U-Bahn-Schacht.